Rosa Roth - Knut Boeser - E-Book

Rosa Roth E-Book

Knut Boeser

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Beschreibung

Ein Kriminalroman über die Liebe und ihre Verstrickung mit dem Tod – nach Motiven der gleichnamigen Fernsehserie mit Iris Berben Rosa Roth ist schön und alleinstehend und Kriminalkommissarin. Eigentlich hatte sie das Wochenende mit Moritz verbringen wollen, um das herbstlich triste Berlin zu vergessen. Doch dann vertraut ihr der Kunstkritiker und psychopathische Frauenmörder Katte in einem nachtlangen Gespräch seine ungeheuerlichen Obsessionen an. Noch hat sie die schrecklichen Bilder von Kattes Bekenntnissen im Kopf, als sie am Morgen zu einem weiteren Toten in eine Grunewald-Villa gerufen wird ... (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 360

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Knut Boeser

Rosa Roth

Roman

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Inhalt

O Liebe! was soll [...]1.2.3.4.5.6.7.8.9.10.11.

O Liebe! was soll es bedeuten,

Daß du vermischest mit Todesqual

All deine Seligkeiten.

HEINRICH HEINE

1.

Es regnet noch immer. Der Himmel ist grau und hängt seit Tagen tief. Der Wind reißt die welken Blätter von den Bäumen und treibt sie über die nassen Straßen. Herbst in Berlin. Regen, feuchte Kälte. Dreck. Überall Dreck. Auf den Straßen. Auf den Bürgersteigen. In den Köpfen der Menschen, das bleibt nicht aus. Rosa Roth fährt an der Gedächtniskirche vorbei und den Kurfürstendamm hinunter zum Adenauerplatz. Sie gähnt. Sie reibt sich die rotgeränderten, brennenden Augen. Den ganzen Sonntag und dann die ganze Nacht bis zum frühen Morgen hat sie mit dem Mörder Katte in dessen Haus auf dem Land verbracht. Vor wenigen Stunden, kurz bevor das erste fahle Licht über die Bäume kam, hatte Katte ihr Bilder gezeigt, die sie nie mehr vergessen wird. Erst Fotos, die der Franzose Carpeaux Anfang des Jahrhunderts gemacht hatte, als er in China Zeuge einer Folterung zum Tode wurde, dann schließlich gegen Morgen hatte er ihr nach langem Zögern die Bilder gezeigt, die er selber vom langsamen, qualvollen Sterben seiner Opfer gemacht hatte. Und damit hatte er endlich seine vielen Morde gestanden. Erleichtert ist Rosa darüber nicht. Was sie von ihm gehört hat, was sie von ihm zu sehen bekam, hat sie zu sehr erschüttert. Die schrecklichen Bilder gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf.

 

Rosa ist müde. Sie ist erschöpft. Sie möchte nur noch schlafen. An nichts mehr denken. Alles vergessen. Aber sie will jetzt nicht nach Hause fahren. Sie weiß, daß sie nicht einschlafen kann. Zu viele entsetzliche Bilder hängen in ihrem Kopf. Was soll sie im Bett, wenn sie wach liegt und sich in den Kissen wälzt? Wenn schlimme Träume sie im Wachen überfallen, gegen die sie sich nicht wehren kann?

 

Der Kudamm ist so früh noch leer. Jetzt ist die Schminke runter. Die Geschäfte sind noch geschlossen. Immer mehr geben auf. Der Schallplattenladen, in dem sie seit Jahren ihre Platten gekauft hat, existiert nicht mehr. Das Fotogeschäft daneben auch nicht. Nur noch leere, verdreckte Scheiben. Was rechnet sich noch? Ein paar alte Frauen führen ihre häßlichen, viel zu fetten Hunde aus. Die letzten Wessis, die zäh durchgehalten haben, kommen aus den Kneipen. Einer hält sich an einer Hauswand fest und erbricht sich. Wracks mit dicken Schädeln. Kater und Katzenjammer. Die Stadtreinigung spült den Dreck der Nacht in die Gullis. Jetzt sieht man, wie armselig und verkommen das alles ist. Ordinär und billig aufgedonnert für die lange Nacht. Jetzt bröckelt das Make-up wie der Putz von den Fassaden.

 

Katte hatte alles gestanden. Rosa hat ihn dann ins Gefängnis bis zu seiner Zelle begleitet. Das hatte er sich gewünscht. Sie hat ihm den Gefallen getan, denn sie wollte vermeiden, daß es noch zu einem Zwischenfall kam. Sie wußte, solange sie bei ihm war, würde nichts passieren. Zunächst war Katte auch ganz ruhig gewesen. Sie waren den Gang entlang gegangen, Rosa, Katte und die drei Beamten, dann die Eisentreppe hoch und zu der Zelle, die Katte beziehen sollte. Ein Beamter schloß die schwere Tür auf. Plötzlich hatte Katte einen wilden Schrei ausgestoßen. Alle waren zusammengezuckt. Ein Schrei, der aus der Tiefe seines Körpers kam, aus der Zeit vor aller Zeit. Katte gab dem einen Beamten einen gewaltigen Tritt zwischen die Beine, dem zweiten einen Faustschlag ins Gesicht. Beide lagen auf dem Boden und stöhnten vor Schmerz. Der eine krümmte sich, der andere blutete. Und dann, bevor der dritte Beamte reagieren konnte, stürzte sich Katte mit einem zweiten gellenden Schrei auf Rosa. Er riß den Beamten, an den er mit Handschellen gefesselt war, mit sich. Katte packte Rosa und fiel mit ihr auf den Boden. Er würgte sie. Er schrie und seine Stimme überschlug sich. Er schrie, daß er Rosa umbringen werde. Er werde sie töten, das Miststück, das ihn reingelegt hätte, das sich in sein Vertrauen geschlichen hätte.

»Ich bringe dich um«, schrie er. Und seine Hände umklammerten ihren Hals. »Ich bringe dich um. Wie die anderen auch.«

Katte drückte zu. Er hatte große Kraft. Seine Finger hatten ihren Hals umklammert und sich tief in ihrem Fleisch festgekrallt. Er schrie immer weiter, als würde er jetzt erst begreifen, was mit ihm passiert war. Daß er alles gestanden hat. Daß er verhaftet worden ist. Daß er nicht mehr aus dem Gefängnis kommen wird. Daß sein Leben zerstört ist. Er hatte sich von Rosa verführen lassen. Er hatte ihr vertraut. Er hatte sich von ihr verstanden gefühlt. Er hatte geglaubt, sie denke wie er, sei fasziniert vom Tod wie er. Deshalb hatte er ihr seine tiefsten Geheimnisse offenbart. Was hatte er denn gedacht? Daß sie seine Priesterin werden könnte und ihm assistieren werde bei seinen nächtlichen Blutopfern? Weil diese Seligkeit zu viel für ihn allein war? Weil er das alles allein nicht mehr ertragen konnte? Er war von Sinnen. Seine Adern traten an den Schläfen hervor. Seine Augen quollen aus den Höhlen. Schweiß stand auf seiner Stirn.

Rosa schnappte nach Luft. Konnte sich nicht wehren. Lief rot an. Katte drückte zu. Er hatte so viel Kraft. Er ließ nicht ab von Rosa.

Die beiden Beamten sprangen auf, stürzten auf Katte, rissen ihn von Rosa weg und hoch. Sie konnten ihn kaum bändigen, so stark war er. Er schlug um sich. Die Beamten zogen und stießen und traten ihn unter Mühen in seine Zelle.

Rosa stand auf. Sie schnappte nach Luft, atmete schwer. Sie rieb sich den Hals. Sie hustete. Der Hals tat weh. Sie konnte kaum schlucken. Sie strich den Rock glatt. In der Zelle tobte Katte. Seine Stimme überschlug sich. Er hatte Schaum vor dem Mund. Die drei Beamten konnten Katte nur mühsam bändigen. Einer schlug ihn brutal in den Leib. Katte krümmte sich. Die Beamten schlugen zusammen auf Katte ein. Traten ihn in den Bauch, in die Nieren, zwischen die Beine, schlugen auf seinen Kopf. Einer hatte seinen Gürtel aus den Schlaufen gezogen und prügelte auf Katte ein, peitschte ihm das Gesicht und den Rücken und schrie und war selber schon ganz tollwütig.

Drei Beamte kamen schnell die Treppe hochgelaufen, rannten an Rosa vorbei in die Zelle und halfen ihren Kollegen, den Tobenden zur Ruhe zu bringen. Ein Arzt kam mit einer kleinen Tasche. Er würde Katte ruhigspritzen.

 

Rosa ging schnell den Gang und die Treppen hinunter zum Ausgang. Sie hörte Katte noch immer schreien. Und seine wüste Stimme war noch in ihrem Ohr, als sie über den Hof zu ihrem Auto ging. Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter. Sie stieg ein. Sie rieb sich die Augen. Sie gähnte. Sie war müde und ausgelaugt. Sie spürte keine Genugtuung, daß sie den Mann aus seiner Reserve gelockt und überführt hatte. Nur tiefe Müdigkeit. Nicht, weil sie nicht geschlafen hatte. Diese Müdigkeit kam aus dem Entsetzen und der Resignation. Was macht sie denn da jeden Tag? Schlage der Schlange den Kopf ab, es wachsen ihr tausend neue nach. Nichts wird sich ändern. Nie. Woher soll man denn bloß die Kraft nehmen, jeden Tag weiter zu machen? Ohne Ende alles. Keine Hoffnung nirgendwo. Aber fragt sich das ein Müllmann? Der jeden Tag aufs Neue den Abfall der Stadt auf die Kippe fährt? Man darf nicht zu viel fragen. Die vielen Fragen, auf die es doch keine Antwort gibt, schwächen nur.

 

Rosa hatte das Radio eingeschaltet und war dann langsam über den Hof auf die Straße gefahren. Sie hatte dem Pförtner, der ihr das Tor geöffnet hatte, zugewinkt. Sie rieb sich den Hals. Der brannte und schmerzte.

Rosa sagte einen Vers auf. Sie wollte ihre Stimme hören. »›O ewig Licht, das in sich selber ruht, nur selber sich durchdringt und, so durchdrungen und sich durchdringend, lacht in Liebesglut.‹« Dante. Das Paradies. Mein Gott, wenn es das nur gäbe. Aber würde dann wirklich alles, was hier passiert, sinnvoller sein? Weil es ein Ziel gibt? Das Paradies, der Garten Eden, die Insel der Seligen, Kythera, El Dorado. Jeder hat seine Geschichte von der glücklichen, unschuldigen Vergangenheit. Was verloren ist, ist gleichzeitig auch Hoffnung. Was es einmal gab, muß es auch wieder geben können. Es muß möglich sein, das glückliche Leben. Wozu sonst all die Anstrengung und viele Mühe, wenn da nicht diese Hoffnung wäre.

Rosa fragte sich, warum Dante wohl sein großes Gedicht vom Paradies mit der Geschichte der Schindung des armen Marsyas begonnen hatte, der doch nur Flöte spielen wollte und darüber, weil Apoll eifersüchtig auf dessen Kunstfertigkeit war, zu Tode kam? Sollte Katte auf verquere Weise doch recht haben? Er hatte gelächelt, als er ihr die Stelle aus der Göttlichen Komödie vorgelesen hatte.

Rosa war heiser. Sie hustete. Sie wechselte den Sender. Sie fand eine Kammermusik. Der Tod und das Mädchen. Schubert. Sie schaltete das Radio aus. Ein geliebtes Stück, das sie oft hört, vor allem, wenn die Welt über sie zusammenbricht und sie nicht weiß, wie alles weitergehen soll, dann bezieht sie Kraft und Trost daraus. Immer wieder beziehen wir Kraft aus dem Unglück der anderen. Aber das wollte sie jetzt nicht hören. Sie wußte, wenn sie es jetzt mit diesen schrecklichen Bildern im Kopf hört, dann wird sie später, wann immer sie die Musik wieder hören wird, an diese Bilder erinnert werden. Das Stück wäre auf alle Zeit für sie verdorben. Nichts kann rein bleiben, alles wird mit der Zeit in den Strudel der Kloake gezogen.

 

Rosa biegt in die Wilmersdorferstraße ein. Da ist ein Café, das durchgehend und jeden Tag geöffnet hat, in dem man zu jeder Zeit frühstücken kann, nachts um drei, nachmittags um fünf. Sie findet gleich hinter der Ecke eine kleine Parklücke und fährt mit den Vorderrädern schräg auf den Bordstein. Sie steigt aus und läuft über den Bürgersteig. Es regnet noch immer. Sie hat keinen Hunger. Aber sie hat den ganzen letzten Tag und die ganze Nacht nichts gegessen. Ihr Magen schmerzt. Alles tut ihr weh.

 

Jetzt, kurz vor sieben, ist der Laden fast leer. An der Bar hängen ein paar ausgemergelte Typen. Strähniges Haar, große leere Augen. Haben sich vergessen. Sind taub und stumm und in sich gedreht. Grienen läppisch und wissen nicht warum. Rosa geht an ihnen vorbei. Niemand sieht ihr nach. Wozu? Rosa geht nach hinten durch. Geriffelte Eisenplatten liegen auf dem Boden. Stahlsessel, Stahltische. Nieten. Die roten Belüftungsrohre hängen frei unter der Decke. Grelle Neonzeichen leuchten an den weißen Wänden. Videofilme laufen auf verschiedenen Monitoren. Laute, aggressive, monotone Musik. Das ist gut. Da vergeht einem das Grübeln. Rosa nimmt sich eine Zeitung vom Haken und setzt sich an einen Tisch, der an einer der großen verglasten Türen steht, von wo man einen Blick auf die Straße hat. Sie sieht durch die Scheibe. Sie gähnt. Es regnet noch immer. Sie blättert in der Zeitung. Die Zahl der Arbeitslosen steigt weiter. Die Russenmafia hat wieder zugeschlagen. Drei ermordete Prostituierte in Frankfurt. Bürgerkrieg in Afrika. Atombombenversuche in China. Krach in der Koalition, Streit in der Opposition. Vier vietnamesische Zigarettenhändler erstochen. Das Übliche. Eine einsame Fliege sitzt auf der Scheibe und reibt ihre Vorderbeine aneinander. Jetzt noch zu dieser Jahreszeit. Wer alle anderen überlebt, ist einsam. Wie einsam muß die Ewigkeit sein.

Rosa wirft die Zeitung auf einen Stuhl. Eine junge Kellnerin kommt. Sie hat ein klitzekurzes, glitzerndes Miniröckchen an. Darüber ein altes rosa Korsett eng geschnürt. Darüber eine abgeschabte Fliegerjacke. Sie trägt rote Seidenstrümpfe mit Strapsen. Stiefel. In einem steckt eine geflochtene Reitpeitsche. Sie hat kurze, weißgefärbte Stoppelhaare mit einer grünen Strähne darin und schwarz lackierte Fingernägel. In der Mitte ihrer Unterlippe steckt ein kleiner Diamant. Eine Höllenbraut in bester Laune. Sie strahlt Rosa an. Das tut Rosa wohl. Jemand, der so früh am Morgen einfach gute Laune hat. Die Kellnerin gibt ihr die Karte. Rosa bestellt gleich. Ein Frühstück mit allem. Und frischen Orangensaft. Und Rühreier mit Schinken. Und gleich zwei Kannen Kaffee. Sie reibt sich ihren verspannten Nacken.

Die Kellnerin sagt, Rosa bräuchte wohl eine Massage und greift ihr mit einer Hand spielerisch in die Schulter. »Kann ich nämlich«, sagt die Kellnerin.

»Dann mach«, sagt Rosa.

»Ich hol dir erst mal dein Frühstück«, sagt die Kellnerin. »Damit du mir nicht zusammenklappst. Siehst mir nämlich so aus, als würdest du gleich umfallen. Zuviel Streß, was?«

»Mein Gott, mir geht es wirklich beschissen«, seufzt Rosa.

»Gott gibt es nicht«, sagt die Kellnerin trocken und geht zur Bar. Sie wiegt sich dabei im Rhythmus der Musik. Sie genießt, wie sie geht. Es ist ihr egal, ob ihr jemand dabei zusieht. Sie findet sich wunderbar. Rosa sieht ihr nach und lacht. Berlin. Zum Lieben, zum Verzweifeln. So eine aufgedonnerte, alberne, blöde, lustige, schräge Göre tut ihr jetzt gut. Sie streckt die Beine aus, reckt sich und schließt die Augen. Sie konzentriert sich darauf, an nichts zu denken. Immer sieht sie die furchtbaren Bilder, die in ihrem Kopf versammelt sind. Warum hängt die niemand ab? Die gehören in den dunkelsten Keller der Vergessenheit. An etwas Heiteres will sie denken. Glückliche Bilder will sie sehen. Die hat es doch auch in ihrem Leben gegeben. Fällt ihr denn gar nichts ein? Und sie muß lachen, denn ihr kommt nichts Besseres in den Sinn, als sich vorzustellen, sie sei ein Suppenwürfel. Das Konzentrat des ganzen Unsinns der Welt.

 

Die Kellnerin kommt mit dem Frühstück. Sie stellt das Tablett auf den Tisch. Rosa gießt sich gleich Kaffee ein. Ihr Handy klingelt.

»Bitte nicht!« sagt Rosa.

»Schon mal gehört, daß man so ein Ding auch abstellen kann?« Die Kellnerin massiert Rosa leicht den Nacken. Mit Hingabe macht sie das.

Rosas Kollege Karl Kubik ist am Apparat. Ein Toter liegt in der Halle einer Villa in Dahlem. Erstochen. Rosa hört Kubik eine Weile zu, dann sagt sie resigniert: »Gut. Ich komme.« Sie schreibt die Adresse auf die Serviette. Sie stellt ihr Handy ab, steckt es in die Tasche, steht auf, nimmt die Serviette mit der Adresse, legt Geld auf den Tisch, nimmt sich ein trockenes Brötchen, zuckt die Achseln und geht auf die Straße. Sie dreht sich noch einmal um und zwinkert der Kellnerin zu. »Ich komme wieder«, sagt sie. »Wegen der Massage. Das tut gut.«

Die Kellnerin grient. »Frag nach Zaza. Zweimal Z. Das bin ich. Das absolute Ende. Ich machs dir. Da fliegst du aber in den Himmel. Sieh dich vor. Nach mir wird man süchtig. Aber ich kann es nicht leiden, wenn man sich an mich hängt. Da dreh ich durch. Oder auch nicht.« Sie lacht. »Wir werden sehen.« Sie zeigt auf das Frühstück. »Und was mache ich jetzt damit?«

Aber Rosa ist schon auf der Straße.

 

Ein Penner schlurft an dem Café vorbei. Er hat eine zerschlagene, dick geschwollene, blutverkrustete Nase und ein blaues Auge. Ihm fehlen vorne zwei Zähne. Die fettigen Haare hängen ihm naß in Strähnen über den Kragen. Er hat zwei Mäntel übereinandergezogen und die mit einer Kordel zusammengebunden, weil die Knöpfe abgerissen sind. Er bettelt Rosa an. Er nuschelt, ob sie mal ’ne Mark zufällig vielleicht übrig hätte? Rosa schüttelt den Kopf und geht weiter. Der Penner geht ihr nach. Er habe aber seit zwei Tagen nichts mehr gegessen. Und es gäbe keine Liebe mehr unter den Menschen. Und überhaupt sei sie eine blöde Kuh, die wohl mal einen anständigen Fick bräuchte.

Rosa dreht sich um, nimmt das erschrockene Männlein, das wohl geglaubt hat, sie wird ihm jetzt eine dreschen und deshalb zusammengezuckt ist und die Hände instinktiv abwehrend hochgerissen hat, am Arm und geht mit dem Mann zurück ins Café. Sie zieht ihn zu dem Tisch, an dem sie saß, und zeigt auf das Frühstück.

»Was soll ich denn damit?« Er sieht sie ratlos an.

»Essen. Guten Appetit.«

Der Penner nimmt das Glas Orangensaft, riecht daran und rümpft angeekelt die Nase. Zaza nimmt ihm das Glas weg und fragt ihn, ob er lieber ein Bier möchte.

»Werden heute Gutscheine für den Himmel verteilt?« fragt der Penner. »Oder is’ hier irgendwo ’ne versteckte Kamera.

Will ich dann aber bezahlt haben. Für nix gibts nix und gar nix. Ohne Geld eß ich auch nix.«

Rosa lacht. Sie winkt Zaza zu und geht schnell zu ihrem Auto.

Hinter einem Scheibenwischer steckt ein Strafzettel. Mein Gott, um diese Zeit. Wen behindert sie denn da? Rosa nimmt den Zettel, zerknüllt ihn und wirft ihn auf die Straße, hebt ihn dann aber wieder auf und steckt ihn in ihre Manteltasche. Sie steigt ein und fährt los. Sie biegt rechts den Kudamm ein und fährt Richtung Halensee.

 

Links ist die Schaubühne. Da wird gerade Medea gespielt. Jason hat Medea verlassen. Jetzt liegt er mit der einfältigen, dafür jungen Glauke im Bett. Der Lauf der Welt. So werden die Herren, zumindest glauben sie das, noch einmal jung. Und Medea hat ihre Kinder umgebracht. Nichts Neues auf der Welt. Und immer wieder sehen wir uns das an. Warum? Weil es auch den Großen nicht besser geht als uns? Daß sie verzweifelt und betrogen und unglücklich sind wie wir? Tröstet das? Rosa hat die Inszenierung gesehen. Die Clever hat gespielt. Sie geht Rosa nicht mehr aus dem Kopf. Simonischek war Jason. Er spielt das am Anfang wie ein Boulevardstück. Ein Mann betrügt seine Frau. Und als sie ihm draufkommt, lügt er wie jeder Mann, streitet ab und hat Ausreden, verstrickt sich in Widersprüche. Der Stoff, aus dem Komödien geschneidert werden. Warum weiß Medea das denn nicht? Und das Stück nimmt seinen verhängnisvollen Lauf. Kurz ist die Zeit des Glücks. Rosa beißt lustlos von dem trockenen Brötchen ab.

 

Rosa fährt den Kudamm hoch, am Halensee vorbei, wo mitten auf dem runden Platz der einbetonierte Cadillac von Vostel steht, der sie jedesmal, wenn sie daran vorbeifährt, aufs Neue maßlos ärgert. Daß sie daran erinnert wird, wenn sie in ihrem Blechauto an all den häßlichen Häusern aus Beton vorbeifährt, daß sie in einem Blechauto durch lauter häßlichen Beton fährt? Danke für den Hinweis. Danke. Das könnte man ja glatt vergessen. Daran muß man ja ganz dringend erinnert werden. Vor allem und besonders im November morgens um sieben, wenn es regnet und der graue Himmel tief hängt. Da braucht man das. Und der Herr Künstler sitzt wahrscheinlich in Italien. Sitzt in der Toskana auf einem Weinberg unter einer Pergola und räsoniert bei einem Glas guten Vernaccia über die Scheußlichkeit der Welt. Der alberne Sophist soll doch, wenn es ihn freut, seine Worte verdrehen wie er mag. Und diesen dämlichen Cadillac bei sich zwischen die Reben stellen. Nur soll er, denkt Rosa wütend, sie nicht behelligen mit der Ödnis seiner abgestandenen Originalität. Gibt es eine häßlichere Stadt als Berlin? Kein Gesicht. Kein Charakter. Nichts. Verkommen. Verarmt und armselig. Eine Müllkippe. Zerstört, zu schnell wieder aufgebaut. Schon wieder im Verfall. Ein Rattennest. Aber Ratten sind intelligente Viecher.

 

Kattes Augen hatten geglänzt, als er die Fotos von Carpeaux aus seinem Schreibtisch geholt hatte. Er war sehr erregt gewesen. Seine Hände zitterten, als er die Bilder behutsam aus einer Mappe nahm und auf den Tisch legte. Alte Fotos, kostbare Originalabzüge. Er hatte Rosa gebeten, vorsichtig zu sein. Es gäbe von diesen Abzügen nicht mehr viele auf der Welt. Sie sollte sich die Fotos sehr genau und ganz in Ruhe ansehen, weil sie dann vielleicht verstehen werde, was er meine, wenn er von der heiligen Ekstase der Erotik, von der wollüstigen Verknüpfung der Sexualität und des Schmerzes mit dem Tode spreche. Katte hatte Rosa erklärt, was es mit diesen seltenen Fotos auf sich habe, die er für teures Geld in Paris aus dem Nachlaß einer französischen Gräfin mit Hang zu Okkultem nach langwierigen Verhandlungen mit den raffgierigen Erben hatte kaufen können.

Ein gewisser Fu-Tschu-Li, ein Chinese, ein gedungener Mörder, hatte im Jahre 1905 den Prinzen Ao-Han-Uan ermordet. Dafür sollte Fu-Tschu-Li bei lebendigem Leibe verbrannt werden. Aber der Kaiser hatte seinen Tod durch das Leng-Tsch’e verlangt, das nur den schwersten Verbrechen vorbehalten war. Und die Ermordung eines Prinzen war eines der schwersten Verbrechen überhaupt. Der Kaiser wollte, daß Fu-Tschu-Li durch die Folter der hundert Teile, also durch langsame Zerstückelung, starb. Und er sollte sein Sterben, wie es damals Brauch war, bis zum letzten Atemzug miterleben. Carpeaux hatte das alles fotografiert.

 

Fu-Tschu-Li ist an einen Holzpfahl gebunden. Er wird hinten von einigen kräftigen Männern aufrecht gehalten. Er ist nackt. Das Fleisch auf seiner Brust ist aufgeschnitten. Die Haut ist großflächig abgezogen, das Fleisch ist weggeschnitten worden. Man kann seine Rippen und dahinter seine Innereien sehen. Das bloßgelegte Herz, die Lungenflügel, die Milz, die Galle, die Leber. Blut läuft über seinen Leib, läuft über seinen Bauch und an seinem Geschlecht vorbei die Schenkel hinunter. Ein Arm ist schon knapp unterhalb der Schulter abgeschnitten. Jetzt versucht der Henker gerade, ihm das linke Bein mit einem großen Messer oberhalb des Knies zu durchschneiden. Man sieht, wieviel Mühe es ihm macht, das starke Muskelfleisch und die Sehnen zu durchtrennen. Um ihn herum drängen sich viele Zuschauer, die sich nichts von der heiligen Tortur entgehen lassen wollen. Ihre Gesichter sind beseelt von der obszönen Ungeheuerlichkeit, die sie da sehen. Was Rosa aber am meisten erschütterte: Fu-Tschu-Li hat die Augen weit offen. Sein Blick ist verzückt zum Himmel hoch gerichtet. Er ist in Ekstase. Ein beseligtes, verklärtes, glückseliges Strahlen ist auf seinem Gesicht. Sein Mund ist leicht offen. Er fühlt offensichtlich keinen Schmerz. Der Schmerz ist einer unendlichen Wollust gewichen.

 

Katte hatte mit dem Zeigefinger auf die Haare des Gefolterten gezeigt, die hoch vom Kopf und weit wegstehen. »Ein wunderbares Beispiel für die Horripilation«, hatte Katte gesagt. »Wie die Haare in der Ekstase des Schmerzes zu Berge stehen, so schön wie hier sieht man das selten. Aber ich kann Ihnen versichern«, hatte Katte gesagt und gelächelt, »es ist wirklich so. Ich habe es selber immer wieder erlebt. Ein phantastischer, mich immer wieder sehr erregender Anblick. Natürlich«, hatte Katte gesagt, »hat man dem Mann vorher Opium gegeben. Das war nötig, weil er sonst bei den unendlichen Schmerzen gleich in Ohnmacht gefallen wäre. Aber das sollte er ja nicht. Er sollte sein langsames Sterben miterleben. Ein Teil des beseligten Blicks kommt sicherlich vom Genuß des Opiums. Das ist schon so. Sicher. Aber die Wollust und die Ekstase rühren nicht vom Opium her, das kann das Opium wirklich nicht verschaffen. In solche Verzückung gerät kein Mensch, der nur Opium nimmt.« Er könne das beurteilen, sagte Katte, da er selber, wenn er seine Opfer töte, ein bißchen Opium nehme, um seine Sinne gleichzeitig zu beruhigen und zu schärfen, damit er die nötige Ruhe bekomme, um das Ritual auch in seinem von ihm vorher sorgfältig geplanten und präzise festgelegten Ablauf durchführen zu können und sich nicht etwa von der unendlichen Wonne, die ihm die Zeremonie bereite, mitreißen und fortschwemmen zu lassen. Denn schließlich wolle er auch noch das kleinste Detail des langsamen Prozesses des Sterbens bewußt erleben. Es ginge um Erkenntnis. Der Genuß sei zunächst vor allem ein analytischer. Zwar kämen seine Sinne während der Prozedur in Aufwallung, er sei, das gebe er ja zu, sexuell erregt, doch er zwinge sich, dennoch kalt zu bleiben und seine Hitze zu dämpfen. Er genieße seine sexuelle Erregung doppelt, indem er sie beobachte und kontrolliere. Entladung und Erlösung sollen kommen, wenn das Auge seines Opfers bricht. Das gelinge bedauerlicherweise nicht immer, weil er manchmal dann doch, trotz allen Kalküls, die Kontrolle über sich verliere, sei aber doch das erstrebenswerte Ziel der ganzen Unternehmung. Er zeigte auf das Foto und deutete auf das Gesicht des Opfers. Die Glückseligkeit, die man im Gesicht des Fu-Tschu-Li ablesen könne, komme also ganz sicher nicht vom Opium, sondern von der Folter und den Schmerzen und der Nähe des Todes.

Rosa hatte den Blick abgewandt. Was sie da sah, war zu scheußlich. Aber sie hatte die Bilder immer wieder ansehen müssen. Wozu waren die Menschen nur fähig? Sie fand keinen Satz, der beschreiben konnte, was sie empfand. Abscheu? Ja, natürlich. Widerwillen. Grausen. Ekel. Entsetzen. Und zugleich, sie wollte sich das gar nicht eingestehen, erregten die Bilder sie. Kattes Mund hatte ein feines Lächeln umspielt. Rosa hatte aus den Augenwinkeln gesehen, wie er sie sehr genau beobachtet und bemerkt hatte, wie sie angeekelt und zugleich fasziniert immer wieder auf die Fotos auf dem Schreibtisch sehen mußte.

»Ah«, hatte er gesagt, »ich sehe, die Szene erregt Sie. Sehr gut. Ich habe Sie richtig eingeschätzt. Sie sind wie ich. Voll unbändiger Sehnsucht nach dem Außerordentlichen. Das ist gut.« Katte hatte die Bilder wieder sorgfältig in die Mappe und zurück in die Schublade seines Schreibtisches gelegt. »Übrigens«, hatte er gesagt, »falls es Sie interessiert, die Bilder öfter zu sehen, was ich durchaus verstehen kann, ich bin auch süchtig danach geworden, das ist ja auch eine ganz einmalige Kostbarkeit, denn wir haben nicht viele Fotos von solchen Zeremonien, weil bis dahin nie jemand mit einem Fotoapparat zugelassen wurde, dann können Sie das tun. Einige der Fotos hat Bataille in seinem Buch Die Tränen des Eros abgebildet. Das kriegen Sie in jedem Buchladen.« Er hatte Rosa angesehen. Strahlend. Ja.

Rosa spürte seine Erleichterung. Wie eine Befreiung war das für ihn. Jetzt war es heraus. Endlich konnte er über das sprechen, worüber er immer hatte schweigen müssen, was er immer bei sich behalten und mit sich allein hatte abmachen müssen, dieses unendliche Glück, das er mit niemandem teilen durfte, das zu viel für ihn allein war, jetzt endlich konnte er sich offenbaren. Zumindest war mit diesen Bildern ein Anfang gemacht. Ihr war klar, er hatte sie damit zu seiner Komplizin gemacht. Was spielte es da für eine Rolle, daß sie bei der Polizei war und ihn jetzt verhaften würde. Sie mußte ihn ja verhaften. Aber sie würde ihn verstehen. Sollte er doch verurteilt und eingesperrt werden. Das war ihm egal. Rosa hatte verstanden, daß er glaubte, endlich eine Frau gefunden zu haben, die kühn war wie er. Die sich nicht scheute, in den Abgrund der menschlichen Existenz zu sehen, die keine Angst davor hatte. Im Gegenteil. Die sich von der dunklen Wahrheit des Ursprungs faszinieren ließ wie er. Die begriffen hatte, daß die Menschen in der Morgenröte ihrer Geschichte, im Exzeß ihrer Feste, ihren Göttern so nah wie später keine Generation mehr waren, weil sie instinktiv verstanden hatten, daß Leben und Tod und Sexualität und Gottesdienst und Opfer und Ekstase auf das Innigste miteinander verknüpft sind.

»Ah«, hatte er gesagt, »endlich kann ich mit jemandem darüber sprechen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie lange ich darauf gewartet habe.« Er nahm drei Holzscheite vom Stapel neben dem Kamin und legte die ins Feuer. Er gab den Flammen mit einem Blasebalg Luft. Die Funken stoben hoch. Dann setzte er sich in den Sessel neben ihr. Er sah in die Flammen. »Das Leben«, sagte er, »wurde nur in der Überschreitung zur orgiastischen, schwindelerregenden Tollheit in der Gemeinschaft gespürt. Da war man den Göttern und damit seinem Sinn und sich selber nah. Nicht dem Teufel. Der kam erst sehr spät in die Geschichte und feierte seine großen Feste, als die Religion Politik und damit vernünftig wurde. Da wurden Erotik und Sexualität und das Fleisch verdammt und mit Schuld belegt. Und die Lust war nicht länger kollektiv und rituell und sinnstiftend, sondern individuell und ein Verbrechen gegen Gott. Damit aber«, sagte Katte, »wurde der Mensch erst aus dem Paradies verstoßen und gehörte ganz dem Teufel, der ein Psychologe war, und lustvoll Krankheiten klassifizierte. Du bist ein Sadist. Du bist ein Masochist. Du bist krank. Du gehörst mir. Sei glücklich. Du brennst in den tausend Feuern der Glückseligkeit. Oder du fügst dich, paßt dich an, bist wie alle andern auch. Aber dann, mein Freund, verzichtest du auf dein Leben. Gibst dich auf. Du hast keine Wahl mehr, wenn du leben willst. Mit dem Teufel leben. Oder mit Gott sterben. Ach«, sagte Katte, »das ist krank. Das ist morbide. Das ist dekadent. Aber wer gilt als krank?« fragte Katte und antwortete sogleich: »Ich! Ich gelte als krank und pervers. Weil ich mich erinnere an die seligen Zeiten, in denen eine Umarmung und die Liebe und die Leidenschaft noch göttlich waren, und man selber göttlich wurde, wenn man in der Ekstase des wollüstigen Liebesrausches eins war mit der Frau, die man besaß, eins war mit der Erde und dem Himmel und dem Kosmos und dem ganzen Universum. Aber bitte«, hatte Katte gesagt, »ich füge mich eurem Urteil. Dann bin eben ich der Verbrecher. Ich kann das akzeptieren. Ich kann damit leben. Das zeichnet mich aus. Ich trage diese Schande als Ruhmestitel.«

Katte hatte Rosa am frühen Morgen seine geheimsten Geheimnisse offenbart. Rosa hatte sich dieser in seinen Augen als würdig erwiesen. Er hatte sie getestet. Sie hatten zunächst über Bücher gesprochen. Rosa kannte viele der Bücher, die ihn besonders faszinierten. Locus solus von Roussel, Die elftausend Ruten von Apollinaire, Der Garten der Folter von Octave Mirbeau, natürlich die Justine von de Sade. Sie kannte auch dessen Juliette. Sodom und Gomorrha sowieso. Dann Gegen den Strich von Huysmans und die Erzählungen von E.T.A Hoffmann und Edgar Allan Poe. Und dann natürlich Das Heilige und das Profane von Mircea Eliade. Und eine seiner Lieblingserzählungen war, kein Wunder, In der Strafkolonie von Kafka, in der Kafka, wie Katte schwärmte, mit der Präzision eines Mechanikers eine Maschine beschreibt, die einem Gefangenen mit den scharfen Dornen einer Egge, unter der er gefesselt liegt, das Gebot, gegen das er sich versündigt hat, als Strafe in seinen Rücken einschreibt, die ihm das Fleisch zerreißt, daß der Verurteilte unter furchtbaren Schmerzen schließlich verblutet und stirbt. »Und Kafka sagt«, sagte Katte, »daß der kurze Augenblick des Übergangs vom Leben zum Tod gleichzeitig der Augenblick der größten Lust im Leben des Sterbenden ist.«

Rosa ließ ihn in dem Glauben, daß sie das alles wie er tief in sich eingesogen hatte und mit den Bildern aus diesen Büchern, die alles Bilder aus der Frühzeit der Geschichte der Menschheit waren, lebte wie er. Er war begeistert. Er hatte über die Höhlenmalerei von Lascaux gesprochen, von der Wonne des Mannes mit der Vogelmaske, dessen Penis groß vor Erregung war, weil er den Bison getötet hatte, von den Riten der Eskimos, von den grausamen Zeremonien der asiatischen Schamanenpriester und von den Blutopfern der Azteken. Fast alle seine Geheimnisse hatte er ihr in der Nacht anvertraut. Bis auf eines, das eine, auf das Rosa die ganze Zeit gewartet hatte. Sie spürte, wie ungeduldig er war. Er wollte ihr jetzt endlich die Fotos zeigen, die er selber von seinen Opfern gemacht hatte.

Katte ging an einen Safe und schloß den auf. Er holte eine Ledermappe heraus. »Bitte«, hatte er gesagt. »Wenn Sie die Bilder vielleicht auch ansehen wollen. Lassen Sie sich Zeit.« Noch nie habe er die jemandem gezeigt. Eine ganz einzigartige Sammlung, wie es sie sicherlich nie mehr geben werde. Er werde ihr die jetzt zeigen, ja, sie solle sich die Bilder ansehen, denn er habe den Eindruck, Rosa werde begreifen, worum es hier geht. Er sei sicher, es gebe nicht viele Menschen, die das aushielten und verstünden. »Nur die wenigen Auserwählten, die die unstillbare Neugier nach Erkenntnis beflügelt, die keine Grenzen respektieren und kein Tabu akzeptieren, wenn es darum geht, das Geheimnis des Lebens und des Todes zu erforschen, die sich nicht feige abwenden vor den Tatsachen des Lebens, die die Kraft haben, zu verstehen, daß Erkenntnis, göttliche Ekstase und Grausamkeit ineinanderfließen und eins sind, die wissen, daß die Religion durchgängig auf dem Opfer basiert, und daß man teilhat am Heiligen und selber Teil des Heiligen wird, wenn man opfert.«

 

Rosa wollte die Fotos sehen. Sie würden der endgültige Beweis dafür sein, daß Katte der langgesuchte Serienmörder war. Aber sie wagte nicht, ihm die Mappe, die er fest mit beiden Händen umklammert hielt, abzunehmen. Noch war Katte nicht bereit, ihr die Bilder zu zeigen. Noch scheute er davor zurück, ihr sein größtes Geheimnis zu offenbaren, obwohl er doch, wie Rosa sah, nichts sehnlicher wünschte. Er wußte genau, daß er sich dann endgültig ausliefern und preisgeben würde. Er wollte sich ja opfern. Doch er wollte das langsam und kunstvoll tun. Er wollte seine Aufgabe und Preisgabe hinauszögern, so wie er den Tod seiner Opfer kunstvoll hinausgezögert hatte, so wie einer seinen Orgasmus hinauszögern möchte, um die Wonnen der Umarmung noch länger genießen zu können. Er mußte noch reden. Und Rosa mußte ihm aufmerksam zuhören. Die geringste Unaufmerksamkeit hätte er bemerkt. Und die hätte ihn, das wußte Rosa, zutiefst verärgert, weil dadurch das Ritual, in dem er sich und Rosa verbunden sah, unterbrochen worden wäre. Und womöglich hätte er das Unternehmen abgebrochen. Womöglich hätte dann jäh etwas ganz anderes begonnen, das, was als Idee spontan seit dem Augenblick in seinem Kopf gespukt haben mochte, in dem er Rosa vor seiner Tür gesehen hatte. Warum sollte er nicht sie töten? Statt der anderen, die er erwartet hatte, statt derer Rosa dann gekommen war. Es hätte kaum einer Änderung seines Planes bedurft. Rosa wußte, daß sie in der schwierigsten Phase des Rituals des Geständnisses waren, nämlich kurz vor dem Höhepunkt, auf dem er sich enthüllen und opfern wollte.

Rosa zwang sich zur Geduld, obwohl sie längst genug hatte und keine seiner Geschichten mehr hören wollte. Wie hatte Katte nur damit leben können? Eben so, daß er zum Mörder wurde. Und den Beweis für seine Taten hielt er in seinen Händen.

»Immer wieder«, sagte Katte, »gab es das in der Geschichte der Menschheit. Die Azteken zum Beispiel waren Meister darin. Sie waren ihren Göttern besonders nah und am nächsten, wenn sie ihnen opferten. Sie verstanden sich auf das Heilige wie kaum ein anderes Volk. Sie kannten die tiefsten Geheimnisse des Lebens und des Todes. Und natürlich die Chinesen. Aber jetzt glauben Sie nicht«, hatte Katte gesagt und gelächelt, »daß wir hier, die wir uns so aufgeklärt dünken, wirklich so anders sind. Nur, bei uns hat man immer geglaubt, Folter und Tod, die wir ebenso wie die anderen auch liebten, als Strafe rechtfertigen zu müssen. Unfähig, den Göttern nah zu sein, opferten wir vernünftig den Verbrecher als Strafe für sein irdisches Vergehen. Das ist ärmer. Ohne jede metaphysische Dimension. Fernab der Götter. Das hat mit unserer Religion zu tun, die das ganze Leben als Strafe empfindet, die das Fleisch verdammt und als Verheißung nur das Versprechen auf ein besseres Jenseits kennt. Das ist arm. Vor allem, wenn dann im Verlauf der Zeit die Strafe nur noch der irdischen Gerechtigkeit dienen soll. Ohne Metaphysik. Ohne Transzendenz. Aber immerhin waren wir da auch noch sehr erfindungsreich, wenn wir unsere Opfer auf dem Rost oder auf dem Spieß brieten, wenn wir sie in die eiserne Jungfrau steckten, wo sie von hunderten von eisernen Dornen durchbohrt wurden und verbluteten, wenn wir sie pfählten und ihnen einen langen Stachel aus Holz oder Eisen durch den After den ganzen Körper hoch stießen, wenn wir sie über das Rad zogen oder auseinanderrissen, wenn wir sie stäupten und steinigten und schliffen, wenn wir sie mit Honig bestrichen und von Insekten auffressen ließen, wenn wir sie mit Fackeln langsam verbrannten oder auf dem Scheiterhaufen schnell zu Asche machten.«

Katte legte die Mappe mit seinen Fotos, die er noch immer fest in seiner Hand hielt, auf den Schreibtisch. Er war noch nicht soweit. Rosa mußte sich noch gedulden. »Im Gebrüll des gepeinigten Opfers offenbarte sich die Kraft der Gerechtigkeit. Das Volk erkannte die unendliche Macht des Souveräns, der die Gewalt hatte, so grausam zu strafen, der sich vollsog mit der Kraft seiner Opfer und so immer mächtiger und immer unantastbarer wurde. Der Verbrecher wurde einem Prinzip geopfert, das sich so rigoros Geltung verschaffte. Einem Prinzip, aber keinem Gott mehr. Es ging um Gerechtigkeit. Und die kennt keine Gnade. Das Verbrechen des Verbrechers muß auf ihn zurückfallen. Nur so bleibt die Natur in der Balance ihrer unendlichen, sich immer wieder reproduzierenden Harmonie. So war es früher, als die auserwählten Jünglinge und Jungfrauen den Göttern geopfert wurden, um sie zu versöhnen und gnädig zu stimmen. So war es später, als die Souveräne sich anmaßten, die Verbrecher göttergleich zu strafen, weil sie glaubten, so den Göttern gleich zu werden. Aber da gab es schon lange keine Götter mehr. Sie hatten sich von uns und unserer Überheblichkeit abgewandt. Die Souveräne straften wie die Götter. Von denen hatten sie das gelernt. Deren Opfer wurden zerrissen wie der arme Marsyas von Apoll. Marsyas hatte zu schön auf der Flöte gespielt und damit den Gott beleidigt. Apoll hatte ihn zu einem Wettkampf herausgefordert, denn er wollte ein für alle Mal und öffentlich geklärt haben, daß er der größte Musiker sei. Die beiden spielten, Apoll auf seiner Leier, Marsyas auf der Flöte, aber auch dann waren alle, die verzückt den beiden zugehört hatten und jetzt urteilen sollten, sich nicht einig, wem denn nun der Lorbeer gebührt. Apoll wurde wütend. Er fühlte sich tief gekränkt und war beleidigt. Ihn empörte die Frechheit, einem Gott die Ehre zu verweigern. Das war Aufruhr. Rebellion. Größter Ungehorsam, Verbrechen und Verkehrung der Ordnung auf der Welt. Das konnte er nicht zulassen. Und er rächte sich furchtbar an dem armen, naiven Marsyas, der doch nichts anderes wollte, als auf seinem Instrument zu spielen.« Interessanterweise komme die Geschichte des Marsyas gleich am Anfang des Paradieses vor. Das sei den wenigsten bislang aufgefallen, daß Dante, wenn er das Paradies beschreibt, das Reich der Glückseligkeit, mit einem Bild von Folter und Schmerz und Qual beginnt. »So kommt man, das wußte Dante, ins Paradies. Die Folter ist der Liebestod, und kein Tod ist süßer, weil sich dem noch Lebenden schon die Wonne des Todes offenbart. Heinrich Heine hat das übrigens gesehen wie ich. Im Vorwort zur dritten Auflage seines Buches der Lieder, ausgerechnet da, im Zitatenschatz der glücklich Jungverliebten, ruft Heine Apoll an und sagt: ›Erinnerst du dich auch noch des Marsyas, den du lebendig geschunden? Es ist schon lange her, und ein ähnliches Beispiel täte wieder not.‹ Ja. Heine hatte völlig recht. So ein Beispiel tut wieder not, um die Menschen zu erinnern.«

Katte schwieg. Er sah ins Feuer und nickte leicht mit dem Kopf, versonnen, in sich vergessen, als wollte er noch einmal bestätigen, was er gerade gesagt hatte. Dann sah er auf und ging schnell zu einem Schrank. Er zog eine Lade auf und nahm vorsichtig ein Blatt heraus. Rosa sah ungeduldig auf die Mappe auf dem Schreibtisch vor ihr, in der die Fotos von den ermordeten Frauen waren. Sie mußte sich zwingen, nicht zuzugreifen. Sie hoffte nur, daß Katte ihre Ungeduld, die ihn sicherlich verärgern würde, nicht bemerkte. Katte legte vor ihr einen Stich von Hans Baldung Grien auf den Boden.

Der Tod umarmt eine nackte, junge Frau. Er steht hinter ihr und drängt sich schamlos an sie. Er hat seine Knochenhände um ihre schmale Taille gelegt und zieht sie leicht zu sich. Sie hat knospende Brüste, deren Warzen erregt hochstehen. Unter den Achseln und zwischen den Beinen ist sie enthaart. In einer Hand hält sie einen ovalen Spiegel. Mit der anderen bändigt sie ihr kräftiges, langes Haar und streicht es zur Seite, damit sie besser sehen kann.

»Es sieht so aus«, sagte Katte, »als würde sie sich ansehen. Als wäre sie nur mit sich selber beschäftigt und würde gar nicht merken, was ihr da gerade Ungeheuerliches passiert. Aber in Wirklichkeit hält sie den Spiegel so, daß sie den Tod hinter sich und seine Erregung beobachten kann, weil das ihre eigene Erregung steigert. Sie will sehen, wer sie so zärtlich und leidenschaftlich umfängt. Sie will wissen, was sie da so himmlisch und niegekannt verzückt. Sie will wissen, wen sie da so erregt. Es ist, als sei sie erstaunt darüber, daß sie das vermag. Das überrascht sie. Und es gefällt ihr. Sie will wissen, ob der Tod den Liebestod sterben kann. Das wäre ihr höchstes Glück. Und der Tod hinter ihr beugt den Kopf leicht zur Seite, damit auch er in den Spiegel sehen kann, weil er die Augen der Frau, die er umarmt, sehen will. Er will ihre Erregung und Lüsternheit sehen, die seine Lüsternheit und Erregung noch steigern. Ihre Augen treffen sich in ihren Spiegelbildern und durchschauen sich. Ach«, sagte Katte, »was für ein wunderbares Blatt.«

Er nahm den Stich vom Boden, legte ihn vorsichtig zurück in die Lade des Schranks und schob die wieder zu.

Und als Rosa seinen beselten Blick sah, hatte sie verstanden, als was Katte sich sah. Der feinsinnige, der so senible und gebildete Mann hatte die Rolle des Todes gespielt, er war der Tod, der seinen Opfern, die er getötet hatte, die Glückseligkeit bringen wollte. Er hatte geglaubt, er sei ihr Heiland und Erlöser. Er hatte seine grausigen Rituale nach Vorbildern aus der Kunst und Literatur nachgespielt. Was die Autoren und Maler in ihrer Phantasie ausgelebt hatten, hatte Katte im realen Leben inszeniert. Und wie jedes Bild seine kompositorische Architektonik und jedes Stück seine Dramaturgie hat, hatte er sein Leben einer strengen Ordnung unterworfen, der auch das Geständnis seiner Morde als letzter Akt seines Lebensdramas folgen mußte. Rosa mußte sich also gedulden und warten, bis Katte, der Autor, der Schauspieler und Regisseur seines Lebens, endlich gnädig den Vorhang fallen ließ.

Rosa erlebte in sich die widerstreitendsten Gefühle zugleich. Katte war ihr zuwider und zutiefst verhaßt, und doch war sie zugleich auch fasziniert und auf schon unheimliche Weise von ihm angezogen. Rosa ist es von ihrer Arbeit her gewohnt, komplizierte seelische Sachverhalte im kurzen, präzisen Protokoll zusammenzufassen. Und sie ertappt sich immer wieder, wie sie still für sich auch ihre eigenen Empfindungen schon während einer Unterhaltung in kurzen Sätzen stenogrammartig zusammenfaßt. So speichert sie ganze Gespräche. Aber in diesem Fall war das, wie sie merkte, schwierig. Es kam ihr so vor, als sie versuchte, sich ihre Eindrücke von Katte zu beschreiben, als seien ihre Gefühle und Gedanken einmal von einem Mixer durchgequirlt worden. Sie war verwirrt und von sich selber überrascht. Sie hätte es nicht für möglich gehalten, daß sie nach allem, was sie von Katte wußte, von dem Mann dennoch so angezogen sein könnte. Er stieß sie ab, ja, was er getan hatte, war abscheulich und widerwärtig. Krank ohnehin. Aber gleichzeitig zog er sie in seinen Bann. Sie hörte ihm tatsächlich gespannt zu und wollte immer mehr wissen und konnte gar nicht genug hören. Und Angst? Hatte sie Angst? Denn der Mann war ja gefährlich. Eine Bombe, die jederzeit explodieren konnte. Nein, Angst hatte sie merkwürdigerweise nicht. Und das nicht, weil sie eine Pistole in der Tasche hatte, mit der sie ohne Zögern geschossen hätte, falls Katte sie angegriffen hätte, nein, sondern sie war sich ganz sicher, daß ihr nichts passieren würde, denn Katte brauchte sie lebend als Zeugin seines Opfergangs. Aber vielleicht war sie leichtfertig und leichtsinnig und seiner Verführungskunst wie die anderen, die er dann getötet hatte, auch schon erlegen. Sie mußte auf der Hut sein. Mit seiner sanften, beruhigenden Stimme plauderte er ganz selbstverständlich von den größten Ungeheuerlichkeiten. Es klang, als würde er ihr ununterbrochen schmeicheln und Komplimente machen, als würde er um sie werben. Machte er sie sich so gefügig? Schläferte er so ihr Mißtrauen ein? Sie mußte wirklich auf der Hut sein.