Rot. Blut. Tot. - Anne Nordby - E-Book
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Rot. Blut. Tot. E-Book

Anne Nordby

5,0

Beschreibung

»Da war der Wolf. Er kam jede Nacht. Nebelgrau, mit gelben Augen und mächtigen Pfoten. Er konnte seine Krallen durch den Stoff seines Hemdes spüren. Sie drangen in ihn ein. Der ganze Wolf drang in ihn ein …« Nach 30 Jahren Haft kehrt ein entlassener Mörder in seine alte Heimat auf der Insel Møn zurück. Alle wissen, was der „Wolf von Møn“ damals getan hat. Als Leichen mit brutal auseinandergerissenen Kiefern auftauchen, beginnt für die Super-Recognizerin Marit Rauch Iversen und ihre Kollegen von der Kopenhagener Mordkommission eine Menschenjagd.

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GinoL

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Sehr spannend. Gerne gelesen.
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Griesi

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Sehr spannend geschrieben mit einem Ende mit dem man nicht so schnell rechnet
00
Pia09

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

spannend und gut geschrieben
00

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Anne Nørdby

Rot. Blut. Tot.

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung der Fotos von: © Yogi / stock.adobe.com und Micha Trillhaase / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-7436-1

1. Kapitel

Der Welt Untergang, der Asen Fall.

Grässlich heult Garm vor der Gnipahöhle.

Die Fessel bricht, und Freki rennt.

(Ältere Edda, 1. Völuspá, Der Seherin Weissagung, Vers 39 in der Übersetzung von Karl Simrock)

*

Winter 1990 – Ulvshale, Insel Møn, Dänemark

Die Raunächte legten ihre Schatten über die Insel, deren Felder und Wälder, und zwangen die Menschen in ihre Häuser. Es war Dezember, kurz vor dem Julfest. Eis hatte die Gräser und Büsche mit weißen Zähnen versehen, die nach allem schnappten, was sich draußen bewegte. Sie hielten gefangen, was im Frühling neu erwachen würde. Doch bis dahin sollten noch mehrere Monate vergehen. Die kahlen Bäume auf der Halbinsel Ulvshale duckten sich unter dem wolkenverhangenen Himmel gegen den eisigen Wind, der mit einem trockenen Rascheln durch das Schilf fegte. Dahinter lag die Stege Bucht wie eine Platte aus Stein. Schwer und grau.

»Steinwasser«, wie die kleine Line immer dazu sagte, wenn sie auf das Meer blickte. Fröstelnd zog sie den Kragen ihrer gefütterten Winterjacke fester um den Hals und versuchte, ihren zierlichen Körper durch rasches Trippeln auf der Stelle warm zu halten. Sie stand vor der Tür zum reetgedeckten Wohnhaus ihres elterlichen Bauernhofs und rief nach dem Hofhund. Eigentlich kehrte Basse nach Einbruch der Dunkelheit zuverlässig heim, um es sich in der Diele neben dem Holzofen gemütlich zu machen. Nicht so an diesem Abend, der Schäferhund war nirgends auf dem Gelände zu entdecken. Ob er sich bei den Kühen aufhielt?

»Basse? Hierher! Es gibt Futter!«

Line wusste, dass der Hund nicht immer hörte, doch drinnen im Haus wartete sein Fressen. Das ließ er sich nie entgehen.

»Basse!«, rief sie erneut, aber der Hund kam nicht.

Line ging zum Stall, obwohl ihr sehr kalt war. Sie wollte wissen, wo Basse war. Mit beiden Händen zog sie die große Tür auf, und der vertraute Geruch nach warmen Kuhleibern stieg ihr in die Nase. Eines der Tiere gab ein tiefes, brummendes Muhen von sich, und Line fühlte sich sofort geborgen. Mit einem Lächeln marschierte sie durch die Stallgasse und sah sich nach Basse um. Manchmal legte sich der Hund zu den Kühen ins frische Stroh, denn er mochte deren Wärme. Aber auch dort war er nicht. Line zuckte mit den Schultern und trat wieder ins Freie. Sie lief um das Backsteingebäude herum zur Scheune, wo sie den Kopf in das Dunkel hinter dem Tor steckte. Kein Hund weit und breit. Lediglich das Knacken der Dachbalken in der Kälte war zu hören.

Sie drehte sich um und folgte dem Trampelpfad zum Meer. Dürres gelbes Gras und ein dichter Gürtel aus Schilf säumten das Ufer. Das Eis, aus dem die Stängel herausragten, war weiß wie Milch, Raureif lag über allem. Die gefrorene Wiese knirschte unter ihren Stiefeln.

»Basse? Wo bist du?«

Hinter ihr fuhr ein Auto auf der schmalen Straße vorbei, die zur Insel Nyord und dem gleichnamigen Dorf führte. Hier auf Ulvshale war nie viel los, auch im Sommer nicht. Da gab es nur mehr Mücken. Line blieb stehen. »BAAASSE!«

Ein Platschen drang an ihr Ohr und sie spähte ins Schilf. War der Hund am Wasser? Verflixt. »Basse, komm da raus!«

Als Antwort erhielt sie ein Rascheln der hohen Stängel, die sich unter einer kalten Windböe beugten. Line erschauderte. Wieder hörte sie dieses Platschen, dem ein ratschendes Geräusch wie von reißendem Stoff folgte. Sie zögerte. Sollte sie sich ins Schilf wagen? Was, wenn dort gar nicht Basse war, sondern ein anderes Tier?

Plötzlich hörte sie ein Grunzen.

Ein Wildschwein? Lines Herz schlug angsterfüllt in ihrer Brust. Wildschweine waren gefährlich. Sie konnten Menschen töten. Doch schließlich erkannte sie das für ihren Hund typische Knurren, das er von sich gab, wenn er fraß. Dieser ungezogene Basse! Was machte er im Schilf?

Mit resoluten Schritten trat Line auf das Eis. Dabei passte sie auf, dass ihr die trockenen Schilfstängel nicht ins Gesicht schlugen. Unter ihren Füßen knackte es bedrohlich, und es war rutschig, aber das Eis trug ihr Gewicht. Line kämpfte sich voran, hatte ihre Augen auf die Stelle geheftet, von der die Geräusche zu ihr drangen. Und schließlich entdeckte sie Basse. Er stand am Rand des Schilfs vor dem offenen Meer, wo der Eissaum aufhörte, seine Pfoten halb im Wasser. Mit gesenktem Kopf grub er seine Zähne in etwas, das aussah wie ein grober Jutesack. Line verengte die Augen, konnte jedoch nicht erkennen, was da angespült worden war.

»Pfui!«, rief sie. Sie wusste, wie man mit großen Hunden umging, das hatte ihr Vater ihr beigebracht. Man musste streng sein. Sie packte Basse am Halsband, wollte ihn von dem Sack wegziehen, doch sie war nicht kräftig genug. Der Hund knurrte sie an, während er weiter an dem Ding herumzerrte. Line rutschte auf dem Eis aus und prallte hart auf. Ein Stechen fuhr in ihren Rücken und sie überdehnte ihr Handgelenk.

»Aua!« Wütend rappelte sie sich auf. »Schluss jetzt, Basse. Du kommst mit!« Erneut wollte sie nach dem Halsband greifen, aber Basse wich ihr aus und riss noch einmal an dem Sack. Ein Fellknäuel fiel heraus und rollte direkt vor Lines Füße. Erschrocken machte sie einen Schritt nach hinten.

Es war ein verfilzter Tierkopf.

Rötliches Fell, leblose Augen und spitze Zähne, die in der Starre des Todes gebleckt waren. Und Basse nagte begierig an dem Kopf. Knochen knackten, seine Kiefer mahlten.

Ekelhaft!

Lines Vater hatte erzählt, dass es auf der Insel viele Jäger gab, die ihre Abfälle einfach wegwarfen, auch ins Meer. Aber so etwas hatte sie noch nicht erlebt. Ein ganzer Sack voller Fuchsköpfe! Und Basse schlug sich den Bauch damit voll. Er knackte die Schädel auf und schlang das Hirn hinunter. Dabei grunzte er gefräßig.

Angewidert schnellte Line herum und schlitterte durch das Schilf zurück zum Ufer. Hinter sich spürte sie die erdrückende Präsenz des steingrauen Meeres und die des Hundes, der ihr plötzlich fremd geworden war.

2. Kapitel

Heute – Kopenhagen, Dänemark

Vizekriminalkommissar Jesper Jørn Bæk griff zum Messer. Er setzte die Klinge an und zerteilte das rötliche Fleisch mit einer flüssigen Bewegung. Danach rieb er die Stücke mit grobem Meersalz und Pfeffer ein und ließ sie in die Pfanne gleiten. Augenblicklich breitete sich das Aroma von gebratenem Lachs in der Küche aus. Jespers Magen knurrte. Heute war wieder viel los gewesen im Kopenhagener Morddezernat. Im Moment versuchten sie, den Tod eines jungen Mannes aufzuklären, der vor zwei Wochen mit Stichwunden im Fælledpark gefunden worden war. Alles deutete auf einen Streit im Freundeskreis hin. Die Vernehmungen liefen, ebenso die Überprüfung der Alibis, doch bisher fehlten ihnen die entscheidenden Beweise, um einen konkreten Verdächtigen auszumachen.

Jesper wendete den Fisch, das Fett brutzelte. Auf den Nachbarplatten des Herds warteten Kartoffeln und eine Weißweinsoße. Der Salat war bereits fertig und stand in einer Schale auf dem Tisch. Jesper kochte gerne. Das hatte er immer schon getan, und er hatte sich bemüht, so oft wie möglich Zeit dafür zu finden – damals, als er noch ein heiles Familienleben in Ringkøbing gehabt hatte. Etwas, das als Polizeibeamter der Mordkommission Esbjerg mit der ständigen Pendelei zugegebenermaßen nicht leicht gewesen war. Er hatte sein Bestes gegeben, aber am Ende hatte es nicht ausgereicht, um die Familie zusammenzuhalten. Seine Frau hatte sich einen anderen gesucht – einen, der mehr Zeit für sie hatte. Sie hatte die Scheidung eingereicht und Jesper aus ihrem gemeinsamen Haus und Leben geworfen. Nach einem unrühmlichen Aufeinandertreffen mit dem neuen Lover hatte Jesper sich von Westjütland nach Kopenhagen versetzen lassen. Sein Start in der Hauptstadt war mehr als holprig gewesen, doch langsam lief alles in geregelten Bahnen.

Mit dem Pfannenwender verteilte er die Lachsfilets auf zwei Teller, gab ein paar Kartoffeln dazu und viel Soße. Seine Tochter Josefine liebte Soße, sie konnte nicht genug davon bekommen.

»Essen ist fertig!«, rief er und erntete ein bestätigendes »Bin gleich da!«

Josie trat mit nassen Haaren aus dem Bad. Sie hatte einen ähnlich anstrengenden Tag hinter sich wie ihr Vater und nach dem Heimkommen schnell geduscht. Seit drei Monaten besuchte sie die Polizeischule, wo sie die Kadettenausbildung für unter 21-Jährige absolvierte. Jesper war froh, dass er seine ältere Tochter bei sich in Kopenhagen hatte, während die jüngere bei ihrer Mutter und deren neuem Lebensgefährten in Ringkøbing wohnte. Das Zusammenleben mit Josie gab ihm ein wenig von dem alten Familiengefühl zurück, das er so schmerzlich vermisste. Seit Jesper eine größere Wohnung auf der Insel Amager gemietet hatte, besaß nun jeder von ihnen ein eigenes Zimmer. Das war vorher in dem engen Souterrain-Apartment in der Innenstadt nicht der Fall gewesen. Josie würde so lange bei ihm wohnen, bis sie ihr eigenes Geld verdiente.

Er stellte die gut gefüllten Teller auf den Tisch, der sich gegenüber dem offenen Küchenbereich befand, und griff nach Messer und Gabel. »Guten Appetit, Schatz.«

»Dir auch, und danke fürs Kochen, Papa. Das riecht köstlich.« Hungrig begann Josie, zu essen. Normalerweise erzählte sie viel von ihren Erlebnissen auf der Akademie, nicht so heute. Sie wirkte ungewohnt nachdenklich und in sich gekehrt.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte er sich zwischen zwei Bissen.

Josie nickte und aß stumm weiter.

»Wirklich?«

Wieder ein Nicken, diesmal mit mehr Nachdruck. Jesper traute dem Braten nicht, er wollte Josie allerdings auch nicht bedrängen. Sie war erwachsen und konnte selbst entscheiden, was sie ihm erzählte und was nicht.

»Hast du am Wochenende schon eine Verabredung, oder möchtest du vielleicht mit deinem alten Vater etwas unternehmen?« Jesper hatte bislang nicht viele Kontakte in Kopenhagen geknüpft. Mit Mitte 40 fiel ihm das deutlich schwerer als noch vor zehn Jahren. Außer Kollegen und Kolleginnen kannte er kaum jemanden. Ähnlich verhielt es sich bei Josie. Abgesehen von Mitschülern an der Akademie hatte sie bisher keine Freunde gefunden … und auch keinen Freund. Nicht, dass Jesper sich groß darum Gedanken machte, trotzdem war er neugierig, ob sich bei ihr eine Liebe anbahnte.

»Ich habe am Wochenende nichts vor«, erklärte Josie. »Vielleicht ein bisschen lernen. Willst du nicht lieber etwas anderes unternehmen, als mit deiner Tochter abzuhängen? Zum Beispiel ausgehen und Frauen treffen?« Sie zwinkerte ihm zu.

Jesper verzog das Gesicht. Josie piesackte ihn seit Monaten damit, dass er zu feige war, eine bestimmte Dame nach einem Date zu fragen.

»Du bist jämmerlich«, sagte sie nonchalant.

»Ich weiß.« Jesper schaufelte sich schnell eine Portion Lachs in den Mund, um nichts dazu sagen zu müssen.

»Du bist total scharf auf sie. Das sieht ein Blinder mit seinen Hühneraugen!«

Er kaute und schluckte. »Nun, ich bin ganz froh, dass ich Beruf und Privates trennen kann. Das ist …« Ein Klingeln unterbrach ihn. Zum Glück! Leider war es das Diensttelefon. Widerwillig erhob er sich und angelte das Handy vom Sideboard. Auf dem Display leuchtete der Name seiner direkten Vorgesetzten auf: Kriminalkommissarin Kirsten Vinther.

Auch das noch! Jesper rollte mit den Augen. Er musste drangehen, sonst durfte er sich morgen wieder was anhören. Er drückte auf das Symbol mit dem grünen Hörer. »Ja?«

»Wow, warst du auf dem Pott, oder warum hat das so lange gedauert?«, fragte Kirsten charmant wie immer. Obwohl sie sich seit dem Grönland-Fall im Frühjahr redlich Mühe gab, netter zu ihm zu sein.

»Ich esse gerade mit meiner Tochter zu Abend, falls du es wissen willst.«

»Oh, tut mir leid, dass ich störe.« Sie machte eine kurze Pause, allerdings nicht, weil sie ihre Worte wirklich ernst meinte, so gut kannte Jesper sie inzwischen. Er ahnte, dass sie gleich eine Bombe platzen lassen würde, daher seufzte er innerlich und verabschiedete sich von seinem gemütlichen Feierabend auf der Couch. »Jesper, ich brauche dich hier. Es gab einen Mord! Eine ernste Sache. Die Therkildsen hat dem höchste Priorität eingeräumt und mich von den Ermittlungen des Fælledpark-Falls abgezogen. Ich soll eine Taskforce bilden und die Leute dafür zusammenstellen. Ebert und Camilla wissen schon Bescheid. Bist du dabei?«

Jesper fiel fast das Telefon aus der Hand. Dass Kirsten ihn für fähig hielt, Teil ihrer Sonderermittlungsgruppe zu sein, war ein Riesenkompliment.

»Worum geht es?«, fragte er möglichst unaufgeregt, um seine Überraschung zu verbergen.

»Es ist ein ziemliches Gemetzel«, sagte Kirsten. Jesper konnte ihre Anspannung durch das Telefon spüren. Obwohl er sich innerlich wappnete, übertrafen Kirstens Beschreibungen seine Vorstellungen, und mit jeder weiteren Information stellten sich die Härchen in seinem Nacken mehr auf.

»Das ist nicht gut«, sagte er schließlich. »Wo muss ich hinkommen?«

»Auf die Halbinsel Refshaleøen. Weißt du, wo die liegt?«

»Keine drei Kilometer Luftlinie von meiner Wohnung entfernt«, sagte Jesper, der sich in Kopenhagen inzwischen gut auskannte. »Wo auf Refshaleøen?«

»Auf der Brachfläche hinter der großen Werfthalle. Dort findet im Sommer immer das Copenhell-Festival statt.«

»Das kenne ich. Bin unterwegs.«

»Danke.« Kirsten legte auf.

Jesper ließ das Telefon sinken und seufzte.

»Ein Einsatz?« Josie sah ihn über ihren leer gegessenen Teller hinweg an.

»Hm, leider.«

»Schlimm?«

»Ziemlich.«

Sie griff nach seinem Teller. »Dann esse ich wohl besser deinen Fisch auf.«

3. Kapitel

Refshaleøen

Kirsten wandte sich ab und würgte den Speichel hinunter, der ihr vermehrt in den Mund schoss. Das war kein gutes Zeichen, denn es bedeutete, dass sie sich gleich übergeben musste.

Sie trat ein paar Schritte von der Leiche weg und wünschte sich, sie hätte eine Zigarette dabei. Damit könnte sie den Gestank nach Blut übertünchen, der in der feuchten Luft lag und ihr Übelkeit bereitete. Der Anblick der Leiche selbst war nicht das Problem, es waren die olfaktorischen Begebenheiten, mit denen sie es an Tatorten zu tun hatte, die ihr zu schaffen machten. Eine empfindliche Nase war für eine Kriminalkommissarin nicht sonderlich hilfreich.

Der Herbstwind fuhr ihr in die Haare und ließ sie vor Kälte zittern. Die feuchtkalte Luft, die vom Meer kam, verhieß Regen. Hoffentlich schafften sie es vorher noch, alle Spuren zu sichern. Kirsten strich sich die Locken hinter die Ohren und blickte hinauf zu der monströs anmutenden alten Werfthalle, die alle anderen Gebäude der Industriehalbinsel überragte und als ihr Wahrzeichen galt. Auf der dem Innenhafen zugewandten Seite von Refshaleøen befanden sich der beliebte Streetfood-Markt »Reffen«, einige Restaurants, Museen, Flohmärkte und kleinere Start-up-Unternehmen. Hier auf der Rückseite der Werfthalle lagen das größte Klärwerk Dänemarks, ein Jachthafen und diese Brachfläche, auf der alljährlich das Heavy-Metal-Festival Copenhell stattfand. Über ihr schwebte ein riesenhaftes Wolfsantlitz, ebenfalls ein Wahrzeichen, das die rückwärtige Wand der Halle zierte.

Mit dem Einsetzen der Dämmerung hatte die Kriminaltechnik neben Zelten auch mobile Flutlichter aufgestellt. Diese warfen nun ein Muster aus grellem Licht und scharfen Schatten auf den Schotterplatz. Der Chef der KTU Wang Ze untersuchte gerade den Fundort. Kirsten hatte ihn darum gebeten, persönlich zu kommen. Ebenso war der Leiter der Rechtsmedizin, Dr. Flemming Bostrup, dem dringenden Ruf gefolgt und tat bereits sein Werk an der Leiche.

Vorsichtig atmete Kirsten durch den Mund ein und prüfte, ob die Übelkeit ein wenig nachgelassen hatte. Der Speichelfluss hatte sich normalisiert, und das flaue Gefühl in ihrem Magen war nur noch ein leichtes Rumoren. Sie hob den Kopf und straffte die Schultern. Auf keinen Fall würde sie sich die Blöße geben und sich vor den Kollegen übergeben. No way!

Als sie sich umdrehte, nahm sie in der Ferne bei den Absperrbändern eine Bewegung wahr. Eine schlanke, breitschultrige Gestalt in schwarzer Jacke und Jeans wurde von einem uniformierten Kollegen durchgelassen und eilte mit großen Schritten auf sie zu. Es war Mr. Landei, Jesper Jørn Bæk. Als er bei ihr eintraf, lächelte er ihr verlegen zu und wich wie üblich einem Blickkontakt mit ihr aus. Mittlerweile wusste sie dieses für ihn typische Verhalten einzuordnen. Vor wenigen Monaten noch hatte sie sich dadurch extrem provoziert gefühlt. Sie hatte angenommen, dass Bæk ein grundlegendes Problem mit Frauen in Führungspositionen hätte. Doch inzwischen wusste sie, dass er einfach nur verklemmt war.

»Hej, Bæk. Alles klar?«, begrüßte sie ihn.

»Ja natürlich.« Nervös fuhr er sich durch seine kurzen dunklen Haare, die an den Schläfen grau wurden. Bæk war ein paar Jahre älter als sie.

»Flemme wartet schon darauf, uns seine ersten Erkenntnisse zu präsentieren. Ich hoffe, du hast einen stabilen Magen mitgebracht.«

Bæk brummte eine unverständliche Antwort. Als er das Wolfsantlitz auf der Werfthalle entdeckte, zuckte er kurz zusammen. »Wow!«

»Ziemlich einschüchternd, nicht wahr? Aus deiner Reaktion schließe ich, dass du zum ersten Mal auf diesem Platz bist?«

»Stimmt, ich war bisher nur vorne beim Streetfood-Markt. Ob die Leiche extra vor dem Wandbild abgelegt wurde, sozusagen als Botschaft an uns?« Er betrachtete den Wolf, dessen Augen kalt auf sie hinabstarrten.

Kirsten hob die Schultern. »Wir werden es herausfinden.«

»Wer hat die Leiche gemeldet?«

»Eine Mutter, die mit ihren Kindern in den Kletterpark wollte, der sich in der Halle befindet. Sie ist auf einen Möwenschwarm aufmerksam geworden, der sich auf der Brachfläche gesammelt hatte und an etwas pickte. Sie hat den Schock ihres Lebens bekommen, als sie aus dem Auto gestiegen ist und nachgesehen hat. Zum Glück ist sie so geistesgegenwärtig gewesen und hat den Wagen mit den Kindern schnell weggefahren, bevor diese etwas bemerkt haben. Vor dem Eingang zum Kletterpark dort drüben ist sie zusammengebrochen. Ein Mitarbeiter hat sie völlig aufgelöst aufgelesen und den Notruf verständigt. Das war um 17.45 Uhr. Die Frau ist ins Rigshospital gebracht worden und bisher nicht ansprechbar. Die Kinder sind beim Vater.«

»Okay.«

Kirsten räusperte sich. »Bist du bereit?« Sie stellte diese Frage eher sich selbst als Jesper. Sie hatte wenig Lust, den geschundenen Leichnam ein weiteres Mal in Augenschein zu nehmen, geschweige denn das Blut zu riechen. Aber es musste sein.

Sie holte tief Luft und trat gemeinsam mit Bæk zu Flemming Bostrup in den Zeltpavillon, wo zum Schutz etwaiger Spuren schmale Plankenwege ausgelegt worden waren. Auf dem Schotterplatz im Hintergrund schoss Wang Ze einige Fotos mit Blitzlicht. Die stroboskopartigen Lichtexplosionen erinnerten Kirsten an die Lichteffekte in einer Disco. Eine Lampe in dem Pavillon ließ das Blut rund um die Leiche grellrot glänzen. Ein grausamer Anblick.

Bæk blieb stehen und sah lange hin. »Heilige Scheiße!«, sagte er schließlich.

»Ich grüße dich ebenfalls herzlich, Jesper«, entgegnete der Rechtsmediziner salopp. Flemme Bostrup kniete in seinem hellblauen Schutzanzug auf dem Schotterboden und hielt ein elektronisches Thermometer in der Hand. Der Tote lag, wie er vorgefunden worden war, auf dem Rücken, die Arme zu beiden Seiten ausgebreitet wie ein Gekreuzigter. Sein T-Shirt war hochgerutscht und entblößte einen eingefallenen bleichen Bauch. Der kahl geschorene und deformierte Kopf des Mannes war zur Seite gekippt und voller Blut, der Boden um ihn herum war eine einzige große Lache. Der Körper des Toten schien unversehrt zu sein, nirgendwo trug er offenkundige Verletzungen. Zumindest keine, die vom Täter stammten. Dafür hatten die Möwen einen unappetitlichen Schaden angerichtet. Sie hatten dem Opfer die Augen ausgepickt und dabei jede Menge Spuren zerstört. Kirsten schielte hinüber zu Bæk, der keine Miene verzog.

Flemme Bostrup legte das Thermometer neben sich und zeigte mit dem Finger auf das gähnende Loch, das die Mundhöhle des Toten darstellte. »Die Kiefer des Mannes wurden auseinandergerissen, dabei wurde seine untere Gesichtshälfte deformiert. Bei dem Vorgang sind die Mundwinkel eingerissen und einige der Schneidezähne abgebrochen. Seht ihr die weißen Fragmente?« Er deutete auf helle Splitter im roten Zahnfleisch. »Ich weiß noch nicht, wie der Täter das vollbracht hat. Ob er bloß die Hände oder ein Werkzeug benutzt hat. Das wird die Untersuchung des Toten zeigen.«

»Ist die Verletzung die Todesursache? Oder der hohe Blutverlust?«, fragte Kirsten mit Blick auf die rote Lache rund um die Leiche.

»Ich denke, der Blutverlust und der Schock. Aber das ist eine vorläufige Annahme.«

»Todeszeitpunkt?«

»Auf jeden Fall vor mehr als 14 und weniger als 48 Stunden. Die Totenstarre ist komplett ausgeprägt. Die Totenflecken lassen sich allerdings noch wegdrücken. Aufgrund der niedrigen Körpertemperatur des Opfers vermute ich, dass die Tat letzte Nacht geschehen ist. Das werden wir natürlich genauer prüfen.«

»Hat sich das Opfer gewehrt?«

Flemme verneinte. »Auf den ersten Blick kann ich keine Abwehrspuren erkennen. Die Blutspritzer auf seinem T-Shirt und auf dem Schotter sind zwar eingetrocknet und durch Möwen und Ratten kontaminiert worden, sie deuten jedoch darauf hin, dass der Mann zumindest versucht hat, das Blut auszuspucken.«

»Dann fand das Ausrenken der Kiefer statt, als er noch lebte?«, fragte Kirsten entsetzt.

»Ja, das ist sicher«, bestätigte Bostrup.

Sie fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Was für ein grauenvoller Tod!

»Die Obduktion wird zeigen, welche der Verletzungen prä- und welche postmortal entstanden sind«, fügte Bostrup hinzu.

»Okay. Kann ich aufgrund der Blutspritzer davon ausgehen, dass wir hier am Tatort stehen?«

»Ich denke, das ist ziemlich sicher. Wang wird euch das zuverlässiger beantworten können.« Bostrup nickte in Richtung des fotografierenden KTU-Chefs.

Kirsten blickte durch die offene Pavillonwand zur Werfthalle und anschließend wieder auf den Toten. Wie er so dalag, den Kopf mit den leeren Augenhöhlen in Richtung des Wolfgesichtes auf der Hallenwand ausgerichtet und die Arme von sich gestreckt, schien es, als würde er den Tod willkommen heißen.

»Die Leiche wurde mit Absicht so arrangiert«, sprach Bæk ihre Gedanken aus.

»Du hast recht, dieser Ort wurde nicht zufällig ausgewählt. Es wirkt alles gewollt. Wir müssen herausfinden, ob das Opfer einen Bezug zu dem Platz hat. Vielleicht lässt sich daraus das Motiv ableiten.«

»Auf mich erweckt das den Anschein einer Hinrichtung.« Bæk sah sie direkt an.

Kirsten zögerte. Sie wollte nicht sofort zustimmen, weil es noch andere Möglichkeiten gab, doch insgeheim hatte sie etwas Ähnliches gedacht. Eine Hinrichtung an einem bewusst ausgesuchten Ort. Nur warum? Und durch wen und zu welchem Zweck?

»Kennen wir die Identität des Toten?«, fragte sie Bostrup.

»Na sicher.« Der Rechtsmediziner stemmte sich auf die Füße. »Wie die Göttin der Ermittler es verfügt hat, haben wir eine Brieftasche in der Hose des Mannes gefunden und sein Handy.«

Kirsten dankte dieser unbekannten Göttin und nahm beides entgegen. So blieb ihnen wenigstens die aufwendige Recherche zur Identität des Opfers erspart. Dass der Täter die Brieftasche nicht an sich genommen hatte, ließ einige Schlüsse zu. Zum einen könnte er es schlicht vergessen haben, was auf eine Tötung im Affekt hindeuten würde, eine hastig ausgeführte Tat – dem widersprachen allerdings der Ort und das Arrangement. Oder der Mörder hatte gewollt, dass die Polizei die Identität herausfand. Also eine weitere bewusste Handlung …

Kirsten lief es kalt den Rücken hinunter. Dieser Fall entwickelte sich jetzt schon in eine äußerst unschöne Richtung …

»Geld und Karten sind in der Brieftasche«, erklärte Bostrup.

Kirsten klappte sie auf und holte eine gelbe Krankenversicherungskarte mit Namen und Personennummer heraus. »Asger Dahl, wohnhaft im Mjølnerpark, Nørrebro, 63 Jahre alt. Und hier ist ein Ausweis über seine Frühverrentung.«

»Ich kann mir vorstellen, warum er früher in Rente gegangen ist. Doch bevor wir darüber sprechen, möchte ich euch erst noch etwas zeigen.« Bostrup hob vorsichtig den Unterarm des Toten an. Eine Tätowierung wurde auf der Außenseite sichtbar. Drei Dreiecke, die ineinanderliefen und von einem Oval aus Runen eingerahmt wurden. »Das ist ein Valknut oder auch Wotansknoten. Nicht besonders kunstvoll, aber es könnte eine Bedeutung haben oder in einem Zusammenhang mit diesem Ort stehen.« Er ruckte sein Kinn in Richtung des Wolfsgesichtes. »Copenhell – laufen da nicht immer viele Tätowierte aus der Metal-Szene herum?«

»Ja, mit Sicherheit. Haben wir schon ein Foto von dem Tattoo?«, erkundigte sich Kirsten.

»Yes, das haben wir!«, kam es von Wang Ze mit seiner tiefen Bassstimme, als er mit seiner großen Kamera um den Hals in den Pavillon trat. »Ich habe alles genauestens dokumentiert. Schicke euch die Aufnahmen rüber, sobald ich sie in die Datenbank eingespeist habe.«

»Bestens.« Kirsten wandte sich an den kleinen, stämmigen Kriminaltechniker. »Wie verhält es sich mit der Spurenlage?«

»Leider ziemlich mau. Es ist schwer, auf dem Schotter und den Zementwegen konkrete Spuren zu finden. Hinten bei der Auffahrt ist eine Pfütze mit etwas Schlamm, da gibt es einen Reifenabdruck. Relativ frisch … Ich schätze mal, dass der Täter das Opfer mit einem Fahrzeug entweder hergebracht oder es hergelockt hat. Zu Fuß kommt man nicht so leicht auf die Halbinsel. Ich meine, es geht, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass der Täter erst den Bus oder den Wasserbus genommen und dann einen kleinen Spaziergang bis zu der Werfthalle gemacht hat, um den Typen zu killen und danach auf demselben Weg wieder zu verduften. Sicher geben die Handydaten des Toten Hinweise darauf, wie er hergekommen ist.«

»Wir checken das«, sagte Kirsten und registrierte, wie erste feine Regentropfen auf das Zeltdach fielen.

Flemme Bostrup räusperte sich, um ihre Aufmerksamkeit zurückzuerlangen. »Kommen wir nun zu dem Grund, weswegen der Ermordete früher in den Ruhestand gegangen sein könnte.« Sachte schob der Rechtsmediziner das T-Shirt des Toten weiter hoch und legte einen eingefallenen Brustkorb frei, an dem man jede einzelne Rippe zählen konnte. Eine auffällige Beule prangte unter der Haut kurz unterhalb des Schlüsselbeins.

»Was ist das?«

Bostrup legte behutsam einen behandschuhten Finger darauf. »Das ist ein Portkatheter für eine Chemotherapie. Diese Beule ist die Portkammer, durch die von außen mit einer Nadel die Infusion gelegt wird. Von der Kammer aus führt unter der Haut ein dünner Schlauch in die Vena cephalica und von dort weiter zum Herzen. Wenn ich den Mann öffne, werde ich wissen, was für eine Art Krebs er hatte. Seine Krankenakte sehe ich mir auch an.«

»Er war also schwer krank?«

»Bei seinem körperlichen Zustand würde ich sagen todkrank«, erwiderte Bostrup und musste die Stimme dabei heben, weil der Regen zunahm.

Kirstens Brust zog sich vor Mitleid zusammen. Jetzt, da sie von der Krebserkrankung wusste, bemerkte sie, dass die Augenbrauen im entstellten Gesicht des Toten fehlten und sein kahler Schädel nicht durch eine Rasur entstanden war.

»Zum Teufel!«, hörte sie Jesper durch das Prasseln auf das Zeltdach sagen und wieder sprach er ihre Gedanken aus. »Wer bringt denn einen Sterbenskranken um?«

4. Kapitel

Kopenhagen, Polizeipräsidium

Im Besprechungsraum war es warm, Jesper fröstelte trotzdem. Das Massaker an der Leiche und der beklemmende Tatort mit dem riesenhaften Wolfsgesicht ließen ihn nicht los. Selbst die Anwesenheit seiner Teamkollegen von der eilig gegründeten Sonderermittlungsgruppe namens »ulv« – »Wolf« – konnte ihm nicht das beruhigende Gefühl von Sicherheit vermitteln, nach dem sich seine überstrapazierten Nerven sehnten. Seit er in der Großstadt lebte und arbeitete, jagte ein abartiger Mord den nächsten, und er fragte sich erneut, was ihn geritten hatte, sich ausgerechnet nach Kopenhagen versetzen zu lassen. Er hatte sich in eine der hinteren Reihen der Kollegen zurückgezogen und wartete darauf, dass Ann Katrine Therkildsen, die Chefin des Morddezernats, eintraf, damit Kirsten mit ihrem Lagebericht beginnen konnte.

Es war inzwischen kurz vor 22 Uhr, und Jesper spürte den langen Tag in seinen Gliedern. Er wollte nach Hause ins Bett, ahnte jedoch, dass dies in der gerade begonnenen Nacht nur ein frommer Wunsch bleiben würde. Die Spuren in ihrem Mordfall waren noch frisch – diesen Umstand mussten sie nutzen.

Er lenkte seine Aufmerksamkeit auf Kirsten. Kinnlange schwarze Locken umrahmten ihr Gesicht, das heute blasser als sonst wirkte. Sie hatte die Lippen zu einem schmalen Strich zusammengepresst, und in ihren dunklen Augen lag dieses irre Flackern, das verriet, wie sehr sie unter Strom stand. Zwar hatte Jesper mit Kirsten persönlich seinen Frieden geschlossen, aber sie war immer noch eine anstrengende Person. Er war gespannt, in welche Ermittlungsgruppe er eingeteilt werden wurde, und seufzte verhalten. Wenn er wählen dürfte, würde er sich Camilla Fries als Partnerin aussuchen – eine warmherzige, empathische Person und Kirstens linke Hand. Was man von Kirstens rechter Hand, dem stiernackigen Ebert Clausen, nicht behaupten konnte. Er war ein typischer Vertreter der Gattung »harter Bulle von der Straße« und ließ Jesper stets spüren, dass er mehr Großstadterfahrung hatte.

Die Tür öffnete sich, und Ann Katrine Therkildsen trat ein. Mit energischen Schritten und wehendem blondem Pferdeschwanz durchmaß die Chefin der Mordkommission den Raum und stellte sich neben Kirsten. Die Therkildsen war einen halben Kopf kleiner als ihre Untergebene, strahlte aber nicht weniger Entschlossenheit aus. Die goldenen Knöpfe an ihrer Uniform blinkten im Licht der Leuchtstoffröhren auf. Wie immer machte alles an ihr einen tadellosen Eindruck, sogar ihr maßvoller Gesichtsausdruck und die sorgfältig einstudierten Gesten saßen perfekt. Als wäre sie zu jeder Zeit auf die nächste Pressekonferenz vorbereitet.

»Hallo und danke, dass ihr da seid«, begann sie. »Ich weiß, einige von euch haben längst Feierabend, deshalb gilt euch mein besonderer Dank. Der Polizeidirektor hat mir zu verstehen gegeben, dass dieser Fall höchste Priorität genießt. Die Brutalität des Mordes ruft bei uns einige unschöne Erinnerungen wach. Leider hatten wir in den letzten Monaten viel zu viele grausame Tötungsdelikte. Man könnte meinen, die Verrohung der Menschen nimmt zu.«

Ein zustimmendes Raunen durchlief die Reihen.

»Um der Angelegenheit Herr zu werden, wurden mir mehr Leute und ein größeres Budget genehmigt. Dass dies so schnell vonstattenging, ist ein Segen.« Die Therkildsen hob beide Hände. »Noch weiß die Presse nicht Bescheid. Wir haben lediglich die Meldung lanciert, dass ein Mord auf Refshaleøen stattgefunden hat, und ich will, dass das vorerst so bleibt. Details werden wir später in einer Pressekonferenz bekannt geben, sobald wir mehr wissen. Und jetzt bitte ich um ein erstes Briefing. Was habt ihr für mich?« Sie drehte sich zu Kirsten, die sich von dem Tisch abstieß, an dem sie gelehnt hatte, und an eine Pinnwand auf Rollen trat.

»Na!«, begann sie laut und zeigte auf ein Foto des blutüberströmten Toten mit den leeren Augenhöhlen. »Das Mordopfer ist Asger Dahl, 63 Jahre alt, dänischer Staatsbürger, wohnhaft im Mjølnerpark in Nørrebro. Er war schwer an Krebs erkrankt. Näheres dazu wird uns Dr. Bostrup noch mitteilen. Die Leiche wurde bereits in die Rechtsmedizin gebracht. Asger Dahl starb durch massive Gewalteinwirkung. Der Täter hat ihm bei lebendigem Leib die Kiefer auseinandergebrochen, wobei schwere Verletzungen im Gesichtsbereich entstanden sind. Laut Dr. Bostrup sind der hohe Blutverlust und ein möglicher Schock die vorläufigen Todesursachen.«

Einige der Kollegen sahen entsetzt drein, während Therkildsens Miene undurchdringlich blieb.

»Einiges lässt auf eine Art Hinrichtung schließen wie zum Beispiel die Wahl des Tatortes, die Position der Leiche und das gesamte Arrangement.« Kirsten zeigte auf weitere Bilder. Von einem stierte ihnen das grimmige Wolfsgesicht auf der Werfthalle entgegen. »Ob der Tote einem bestimmten Milieu zuzuordnen ist und der Mord damit im Zusammenhang steht, müssen wir noch feststellen. Er hat eine Tätowierung auf dem Unterarm, die eine entsprechende Bedeutung haben könnte. Einen Valknut, umringt von Runen. Kann einer von euch das zuordnen? Vielleicht ist es das Symbol einer rechtsgerichteten Gruppierung oder Rockerbande aus dem nordischen Raum.«

Einer der Kollegen trat vor und studierte das Tattoo auf dem Foto. Er schüttelte den Kopf. »Der Wotansknoten wird als Symbol zwar oft benutzt, aber er gehört zu keinem mir bekannten Rockerklub. Die rechte Szene wäre möglich. Das sollten wir von unseren Experten prüfen lassen. Die können auch die Runen übersetzen. Vielleicht verbirgt sich dahinter der Name einer Vereinigung oder Bruderschaft.«

Kirsten nickte und übergab dem Kollegen die Aufgabe, sich darum zu kümmern. Danach fuhr sie mit ihrem Vortrag fort. »Nun, weder die Rocker noch die Rechten sind, wie wir wissen, besonders zimperlich. Die Brutalität und Kaltblütigkeit des Mordes würde zu beiden Gruppierungen passen. Zusätzlich sollten wir herausfinden, ob es in der Vergangenheit ähnliche Taten gegeben hat beziehungsweise ob eine bestimmte Gruppe ihre Opfer auf diese Weise hingerichtet hat. Vielleicht ergibt sich dadurch eine Spur. Und sucht weltweit, der Mord könnte Teil von etwas Größerem sein. Gibt es eigentlich Überwachungskameras auf der Halbinsel?« Sie wandte sich an Sanne Hougård, der wie so oft die Koordination der Sonderermittlung übertragen worden war.

»Wir sind dabei, das zu prüfen. Wo wir ziemlich sicher auf Überwachungsmaterial stoßen werden, ist der Mjølnerpark, der Wohnort von Asger Dahl.«

Die Kollegin neben Jesper schnalzte laut mit der Zunge. Er wusste, warum. Jeder kannte den Mjølnerpark – selbst er, der nicht aus Kopenhagen stammte. Es war ein landesweit berüchtigtes »Ghetto«, in dem eine sogenannte »Parallelgesellschaft« lebte, wie solche Konstellationen in Problemvierteln von Teilen der Regierung beschönigt genannt wurden. Der Mjølnerpark befand sich dauerhaft im Fokus der Polizei, weil es oft Streit unter den Menschen gab, die dort lebten. Auch der Attentäter des Terroranschlags von 2015 auf das Kulturzentrum Krudttønden und die Synagoge hatte dort gewohnt. Der soziale Wohnungsbau lag mitten in der Stadt und wurde rund um die Uhr von Kameras überwacht. Das neue dänische »Ghettogesetz« sah vor, dass nicht mehr als 30 Prozent der Bewohner eines als Ghetto eingestuften Viertels nichtwestlicher Herkunft sein durften. Um die aktuellen Mieter aus ihren Verträgen zu zwingen, rissen die Verantwortlichen die Wohngebäude einfach ab oder verkauften die Sozialwohnungen an private Investoren. Das war Zwangsumsiedlung erster Güte und Diskriminierung per Herkunft, fand Jesper. Aber darum scherte sich der dänische Staat wenig. Hauptsache, die Politiker konnten wieder ruhig schlafen. Leider befürworteten viele seiner Polizeikollegen und ein gewisser Prozentsatz der dänischen Bevölkerung dieses strikte Vorgehen. Für ihn war es schlichtweg falsch.

»Die Aufnahmen vom Mjølnerpark werden wir besorgen«, sagte Kirsten. »Wir müssen eh Dahls Wohnung durchsuchen.«

»Als Ghettobewohner hatte Asger Dahl doch bestimmt eine Polizeiakte, oder?«, fragte Ebert mit einem verächtlichen Unterton.

Jesper schnaubte stumm. Nur weil das Opfer dort gelebt hatte, muss es nicht gleich kriminell gewesen sein. Er hatte Eberts Vorurteile satt, wagte es aber nicht, dagegenzuhalten. Ihm war klar, dass er ihn eh nicht von seiner Meinung abbringen konnte.

»Asger Dahl hat tatsächlich eine Akte!«, bestätigte Sanne Hougård mit einem Nicken in Richtung ihres Computers. »Er war sogar im Gefängnis.«

Auf Eberts Gesicht erschien ein triumphierendes Lächeln, und Jesper ärgerte sich, dass der Kollege recht hatte.

»2010 wurde Asger Dahl zu einer Geldstrafe verurteilt«, las Sanne aus dem Strafregister vor. »Er hatte eine Reihe von Strafzetteln für falsches Parken nicht bezahlt. Da wohnte er noch in der Kommune Tårnby und besaß ein Auto. Ein ähnliches Urteil fiel 2016 aufgrund von wiederholtem Schwarzfahren im Bus. Beide Strafen hat er abgesessen, weil er kein Geld aufbringen konnte. Sonst hat er nichts auf dem Kerbholz.«

»Wow, ein wahrer Schwerverbrecher!«, gab Jesper spöttisch von sich.

Ebert starrte ihn an.

Jesper ignorierte ihn. Er bemerkte, wie Sanne ihm heimlich zuzwinkerte. Sie hatte gewusst, dass sie Ebert mit ihrer Bemerkung aufs Glatteis führen würde, und Jesper grinste zurück. Er mochte ihre Art. Schon seit Monaten versuchte Sanne ihn zu einem zweiten Date zu überreden. Beim ersten hatten sie zusammen ein Feierabendbier getrunken und waren sich etwas näher gekommen. Doch Jesper hatte schnell festgestellt, dass sein Herz nicht offen war für Sanne. Dort herrschte zum einen immer noch die Verwüstung, die seine Ex-Frau hinterlassen hatte, und zum anderen wohnte in dem kleinen Teil, den er sich zurückerobert hatte, bereits eine andere Person.

»Gibt es noch mehr Informationen über das Opfer?«, hörte er die Therkildsen fragen.

»Im Moment wäre das alles«, erklärte Kirsten. »Ich habe bereits eine Anfrage an die Steuerbehörde gestellt, die wird Dahls Daten bald herausgeben. Morgen wissen wir hoffentlich mehr.«

»In Ordnung«, sagte die Therkildsen. »Haltet mich auf dem Laufenden.« Sie verabschiedete sich und verließ den Raum. Danach fuhr Kirsten fort und verteilte die Aufgaben an die Kollegen. Zu Jespers Enttäuschung bekam Camilla Ebert als Partner. Die beiden sollten sich über etwaige Überwachungskameras und mögliche Zeugen auf Refshaleøen schlaumachen. Zwei weitere Kollegen würden ihre Kontakte in die Milieus aktivieren und herausfinden, ob irgendwo über eine Hinrichtung geredet wurde. Und der Rest hatte den Auftrag, sich um die Ausrüstung der Sonderkommission und die Aufbereitung der bisher gesammelten Materialien zu kümmern.

Als Kirsten fertig war und alle anderen Kollegen den Raum verlassen hatten, stand Jesper noch immer ohne Aufgabe da. Enttäuschung machte sich in ihm breit. Warum hatte sie ihn dazugeholt, wenn sie keine Verwendung für ihn hatte? Mit mahlenden Kiefern starrte er Kirsten an. Ihre Gesichtszüge waren so undurchdringlich wie Bornholmer Granit.

»Was ist?«, fragte sie.

Jesper senkte den Blick.

»Kommst du?« Sie hob einen Daumen und deutete über ihre Schulter auf die Tür.

Irritiert blinzelte Jesper. »Wohin?«

»Na, wir fahren zum Mjølnerpark und sehen uns Asger Dahls Wohnung an. Ich habe Wang Ze Bescheid gesagt. Er wartet dort auf uns.«

Jesper traute seinen Ohren nicht. Er sollte sie in die Wohnung des Opfers begleiten? Er? Und nicht Ebert oder Camilla? Wirklich er?

Kirsten runzelte die Stirn. Sie schien seine Skepsis zu spüren, sprach ihn jedoch nicht darauf an. Stattdessen steckte sie die Hände in die Taschen ihrer schwarzen Lederjacke und verließ schwungvoll den Raum. »Der Letzte macht das Licht aus!«

5. Kapitel

Östlich saß die Alte im Eisengebüsch.

Und fütterte dort Fenrirs Geschlecht.

Von ihnen allen wird eins das schlimmste:

Des Mondes Mörder übermenschlicher Gestalt.

(Ältere Edda, 1. Völuspá, Der Seherin Weissagung, Vers 32)

*

Kopenhagen, Mjølnerpark

Es war dunkel in dem kleinen Zweizimmerapartment im Mjølnerpark. Nur eine einzige Lampe brannte über dem Küchentisch und hielt mit ihrem gelblichen Licht die vorrückende Nacht vor dem Fenster. Sie sollte nicht reinkommen, die Nacht. Noch nicht. Noch war er nicht bereit, den Mond zu sehen.

Häftling Nummer 25 starrte auf das Spiegelbild, das ihn von der Fensterscheibe her anblickte. Er traute diesem Gesicht nicht, denn unter dessen Oberfläche verbarg sich etwas. Ein Wesen, das die Nacht liebte. Die dunklen Städte und Dörfer, die Häuser mit den Menschen darin und deren hell erleuchtete Fenster, durch die man das Leben im Innern beobachten konnte.

Häftling Nummer 25 war klar: Wenn er das Licht ausschaltete, käme der Wolf. Und dann ginge er hinaus in die Nacht, auf die Jagd nach den Leben der anderen. Er wusste nicht immer, was er tat, wenn der Wolf ihn leitete. Im Gefängnis war dessen Stimme ruhiger gewesen, fast schläfrig. Aber jetzt drängte das Raubtier wieder nach außen, das spürte er. Und zu einem gewissen Teil hatte er ihn auch schon in die Welt da draußen entlassen, während er hier drinnen hockte und Angst hatte. Der Wolf war stärker als er. Er fürchtete nichts und niemanden.

Häftling Nummer 25 hingegen saß in Gedanken noch immer in der Zelle, die 31 Jahre lang sein Zuhause gewesen war. Zwölf Quadratmeter mit Bett, Schrank, Tisch, Stuhl und Toilette. Einen Fernseher wie viele andere Mithäftlinge hatte er nicht gehabt, er hatte nie gerne ferngesehen. Er reiste lieber in Gedanken. In die Welt von Snorri.

Im Gegensatz zum Wolf hatte er es bislang nicht geschafft, über die Mauern hinwegzudenken, die ihn umgaben. Geschweige denn zu begreifen, dass er nun ein Fenster besaß – und eine Tür! Durch die er einfach hindurchgehen konnte, wann er wollte. Doch er wollte gar nicht.

Der Wolf wollte schon. Er hatte gleich kapiert, dass er frei war. Er war sofort nach draußen gegangen, in die große Stadt, die Häftling Nummer 25 vollkommen fremd war. Alles war so riesig, so laut und so voll. Mit Menschen, Autos, Lärm!

Bei der Erinnerung an die riesige Stadt presste er sich die Hände auf die Ohren und begann ein Lied zu summen. Um die Lampe schwirrten zwei Fliegen. Die Tischplatte war fleckig, und in der Spüle dahinter stapelte sich das schmutzige Geschirr. Niemand würde kommen und für ihn sauber machen, das ahnte er. Die kleine Wohnung war nicht das Gefängnis, wo sich gut um ihn gekümmert worden war. Jetzt war er auf sich allein gestellt. Er summte lauter – die Melodie, die seine Mutter früher für ihn gesungen hatte. Ein dänisches Schlaflied.

»Jeg engård mig bygge vil,der skal være have til …« – »Einen Hof werde ich mir bauen, und in einen Garten will ich schauen …«

Nummer 25 hatte viel Besuch gehabt in der letzten Zeit. Seine Sozialhelferin war bei ihm gewesen, Leute von verschiedenen Ämtern, von der Wohnungsverwaltung, der Hausmeister, Journalisten und eine Menge anderer Menschen, von denen er gar nicht richtig wusste, was sie von ihm gewollt hatten.

»… store marker, grønne enge, og med lam et lille vænge …« – »… große Felder, grüne Wiesen und mit kleinen Lämmern eine Weide …«

Lauter Frauen und Männer, die ihm Fragen gestellt hatten. Wie er sich zurechtfand. Ob es ihm gut ging. Ob er Kontakt zu Freunden von damals hatte. Wie seine Kindheit gewesen war.

Nummer 25 hatte so viel reden müssen, das war anstrengend gewesen. Und sie hatten ihn immer wieder mit einem fremden Namen angesprochen. Dabei hieß er doch ganz anders. Er war Nummer 25 … und manchmal der Wolf. Der kam nachts. Nebelgrau mit gelben Augen und mächtigen Pfoten, auf denen er auf ihn zulief, um ihn anzuspringen. Nummer 25 spürte die Krallen des Raubtiers durch den Stoff seines Hemdes auf der Haut. Sie drangen in ihn ein. Der ganze Wolf drang in ihn ein …

Nummer 25 hatte viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was das bedeutete. Vermutlich war es, wie alle sagten. Sogar der Arzt, mit dem er im Gefängnis gesprochen hatte, war dieser Meinung gewesen: Der Wolf steckte in ihm drin. Und seine raue Stimme befahl ihm ständig, Dinge zu tun, die er niemals tun würde. Niemals.

Er blickte auf seine stark behaarten Hände. Gestern waren sie voller Blut gewesen, und er hatte nicht gewusst, warum. Er hatte sie schnell gewaschen und versucht, sich zu erinnern. Aber vergebens. Der Wolf tat, was er wollte.

Nummer 25 streckte den Arm in Richtung Wand aus und schaltete das Licht aus, erlaubte es der Nacht, zu ihm hereinzukommen. Eine Weile saß er da, die großen Hände auf der dunklen Tischplatte ruhend.

Schließlich konnte er ihn spüren. Seine Energie. Sie drang durch das Glas des Fensters.

Er näherte sich.

Der Wolf.

Groß und furchtlos.

Abrupt stand Nummer 25 auf, griff nach seiner Jacke und öffnete die Wohnungstür. Ohne zu zögern, verließ er das kleine Apartment.

»… heste, grise, køer og får, hører til min bondegård. Hvortil ulven kommer og spiser dem rå.« – »… Pferde, Schweine, Kühe und Schafe gehören zu meinem Bauernhof. Wo der Wolf wird fressen sie roh.«

6. Kapitel

Der Mjølnerpark. Sozialer Wohnungsbau, Albtraum der Politiker. Schmelztiegel, Brennpunkt, Heimat des Unbekannten, angebliche Brutstätte des Terrorismus, Ort der Furcht. Absurdistan.

Jesper blickte durch das Autofenster auf die in der Dunkelheit liegenden Wohnblöcke der berüchtigten Siedlung, die beinahe jeden Tag für Schlagzeilen sorgte. Kirsten stellte den zivilen Dienstwagen in der Nähe eines der Kameramasten ab, von denen aus unzählige elektronische Augen das Areal überwachten. Sie stiegen aus. Die viergeschossigen Backsteingebäude mit den weißen Balkonen ragten abweisend vor ihnen auf, als würden sie sagen: »Was wollt ihr hier? Lasst uns in Ruhe!«

Kirsten zeigte auf die Kameras. »Deren Aufnahmen wären schon mal gut!«

Jesper nickte und fragte sich, wie er es finden würde, wenn sein Wohnkomplex auf Amager rund um die Uhr überwacht werden würde. Sie gingen auf den Eingang des Blocks zu, in dem Asger Dahl gewohnt hatte.

Auf der Straße und den Wegen zwischen den Häusern herrschte Stille, niemand war zu sehen. In den Fenstern brannten nur vereinzelt Lichter. Es war kurz vor 23 Uhr, mitten unter der Woche. An einigen Balkonen hingen Protest-Transparente gegen die Anwendung des Ghettogesetzes, das einen Teil der ausländischen Mieter aus den Wohnungen vertreiben sollte, um diese Dänen zur Verfügung zu stellen. »Vores hjem, vores ret« – »Unser Heim, unser Recht« – und »Vores hjem er ikke til salg« – »Unser Heim ist nicht zu verkaufen«.

Betroffen ließ Jesper die Schultern hängen. Das war nicht das Dänemark, das er sich wünschte.

Sie steuerten auf den gläsernen Eingang zu. Überall hingen Kameras, sogar im Treppenhaus. Er las die Namen an den Briefkästen und entdeckte den von Asger Dahl. Plötzlich öffnete sich die Tür und ein Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze trat hindurch. Er schenkte ihnen keine Beachtung und verschwand wortlos in der Nacht. Kirsten zog eine Braue hoch.

Jesper zuckte als Antwort mit den Schultern und stieg voran die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo sie vor Asger Dahls Wohnung haltmachten.

»Nanu, ist Wang noch nicht da? Der wollte doch direkt herkommen.« Kirsten holte ihr Telefon heraus und rief den Chef der Kriminaltechnik an. Sie sagte ein paarmal »ja« und »okay«, ohne dass Jesper verstehen konnte, was Wang am anderen Ende von sich gab. Als Kirsten auflegte, verzog sie den Mund. »Er steht im Stau in Vanløse. Wir sollen schon mal ohne ihn loslegen. Aber mit Bedacht!« Sie streifte sich Handschuhe über und Jesper folgte ihrem Beispiel. Dann holte sie Asger Dahls Schlüsselbund aus einem Beweismittelbeutel der KTU. Gegenüber ging die Wohnungstür auf und ein junger, dunkelhaariger Mann spähte durch den Spalt.

»Was machen Sie hier?«, fragte er.

Jesper präsentierte dem Mann seinen Ausweis. »Polizei Kopenhagen. Ihr Nachbar Asger Dahl ist Opfer eines Verbrechens geworden. Haben Sie in den letzten Tagen etwas Auffälliges beobachtet? Heute, gestern? Vor seiner Wohnung oder draußen?«

Der Mann zog die dunklen Brauen zusammen und fixierte Jesper. »Nein!«

»Irgendwelche Personen, die bei ihm wa…?«

»Ich sagte Nein! In diesem Haus spionieren wir uns nicht hinterher!«

»Aber es …«

Der Mann knallte die Tür zu und Jesper guckte verdutzt drein. Als er sich zu Kirsten umdrehte, war diese verschwunden. Verflixt! Sie hatte ihn einfach stehen lassen.

Missmutig betrat er den winzigen Flur in Asger Dahls Wohnung, hielt jedoch im nächsten Augenblick abrupt inne. Der Gestank, der ihm entgegenschlug, war überwältigend. »Mein Gott! Was ist denn das?« Er hob eine Hand vor die Nase und sah sich nach Kirsten um.

»Ich bin hier!«, kam es dumpf aus einem Raum am Ende des Flurs. Es war die Küche, an die sich direkt das Wohnzimmer anschloss.

»Teufel!«, stöhnte Jesper. »Was stinkt hier so?«

Kirsten, die sich ebenfalls die Nase zuhielt, zeigte auf einen Mülleimer, der mit merkwürdigen weißen Klumpen gefüllt war. »Windeln!«

»Windeln?«

»Für Erwachsene. Offensichtlich ging’s Dahl ziemlich schlecht wegen seiner Krankheit.« Sie deutete in Richtung eines Küchenregals, das über und über mit Medikamenten, hochkalorischer Nahrungsergänzung und Windelpackungen vollgepackt war.

In Jesper zog sich alles zusammen. Den Kerl hatte es wirklich schlimm erwischt, und dann hatte er auch noch auf eine solch grausame Weise sterben müssen.

Jesper war Kirsten dankbar, als sie das Küchenfenster öffnete und frische Luft hereinließ. Er nahm die Hand von der Nase, da fiel ihm eine Reihe von Konservendosen hinter der Küchentür in Auge.

»Katzenfutter«, las er auf dem Etikett. »Hast du eine Katze gesehen?«

»Nein.«

Rasch liefen sie durch die beklemmend enge Wohnung, doch nirgendwo war ein Haustier zu entdecken.

»Vielleicht hat er sie weggegeben, weil er zu krank war, um sich um sie zu kümmern«, sagte Kirsten.

»Ich hoffe es«, entgegnete Jesper. »Willst du hier weitermachen und ich nehme das Bad unter die Lupe?« Er wusste, dass Kirsten strenge Gerüche noch viel mehr zu schaffen machten als ihm, auch wenn sie es zu verbergen versuchte.

Sie nickte ihm dankbar zu und begab sich auf knisternden Schuhüberziehern in das Schlafzimmer. Er hörte Kirsten aufseufzen, bevor er sich selbst in das winzige, fensterlose Bad quetschte. Der Geruch dort war abartig. Neben einem vollen Katzenklo unter dem Waschbecken quoll der Mülleimer ebenfalls von Windeln über. Der Gestank nach Fäkalien und Krankheit, zusätzlich unterlegt von einer süßlichen Note, war kaum auszuhalten. Jesper würgte seinen Ekel hinunter und durchsuchte den Spiegelschrank sowie den Wäschekorb. Nichts bis auf weitere Medikamente und verunreinigte Unterwäsche. Das Katzenklo stieß er mit der Fußspitze an, es war seit Ewigkeiten nicht gesäubert worden.

Nachdenklich betrat er das Wohnzimmer und kniete sich vor das Sofa. Doch auch unter dem Möbelstück versteckte sich keine Katze. Er erhob sich, wobei seine Gelenke knackten. Verdammt, er war wirklich nicht mehr der Jüngste. Als Nächstes wandte er sich den Zeitschriften auf dem Couchtisch zu und blätterte sie durch. In den unteren Lagen stieß er auf etwas Interessantes. Ein Magazin, das sich mit dem Zweiten Weltkrieg und der Hitlerzeit beschäftigte. Die Artikel waren ein wenig reißerisch geschrieben, aber nicht unbedingt verherrlichend. Er fand noch ein paar weitere dieser Hefte und nahm sie mit zu Kirsten. Im Schlafzimmer der Wohnung herrschte ein Durcheinander aus schmutziger Bettwäsche, Kartons und Kleidungsstücken.

»Asger Dahl hat den Haushalt nicht mehr so gut hinbekommen«, konstatierte Kirsten mit einer fleckigen Jeans in der Hand.

»Hatte er in seinem Zustand keine ambulante Pflegekraft?«

»Schätze nicht. Hast du was gefunden?«

»Das da.« Jesper hob die Hefte hoch. »Und du?«

»Leider nichts.« Kirsten seufzte. »Keine T-Shirts oder Kutten mit eindeutigen Motiven, die auf eine etwaige Gesinnung Dahls oder ein Milieu hindeuten. Und auch sonst nichts in der Richtung. Also keine Bilder, Plakate oder Flaggen. Viel Dekoration hatte er sowieso nicht. Wirkt irgendwie traurig, seine Wohnung.«

»Dann sind diese Magazine das einzig Außergewöhnliche. Aber zusammen mit dem Runentattoo machen sie noch keinen Neonazi aus ihm.«

»Gewiss nicht.«

»Gib es einen Computer?« Jesper drehte sich um die eigene Achse.

»Ich glaube, er hatte keinen. Bestimmt hat er mit seinem Handy im Internet gesurft. Bin auf den Suchverlauf gespannt.«

»Waffen?«

»Nicht mal ein Taschenmesser.«

Jesper stemmte enttäuscht die Hände in die Hüften. »Also einfach nur ein älterer, sehr kranker Mann mit geschichtlichem Interesse am Zweiten Weltkrieg?«

»Und einer Katze, die wir nicht finden.«

Jesper wollte etwas erwidern, da klopfte es an der Wohnungstür. Kurz darauf hörten sie ein entsetztes Aufkeuchen. Wang Ze war eingetroffen.

»Wir sind hier hinten im Schlafzimmer!«, rief Kirsten.

»Du liebe Güte!« Der stämmige Kriminaltechniker erschien in seinem hellblauen Overall im Türrahmen. »Das ist ja …«

»… nicht gerade Rosenduft«, entgegnete Kirsten und gab Wang eine Zusammenfassung ihrer ersten Durchsuchung.

Der KTU-Chef nickte nachdenklich. »Aber irgendjemandem muss Asger Dahl auf die Füße getreten sein, schließlich hat der Täter einen Grund dafür gesehen, ihn auf so grausame Weise hinzurichten.«

»Jeps!« Kirsten ließ den Blick durch das chaotische Zimmer gleiten. »Dann müssen wir also tiefer graben.«

Jesper verzog das Gesicht. Noch tiefer als in schmutziger Unterwäsche?

Eine Stunde später waren sie nicht wesentlich schlauer. Dafür hatten sie den Eindruck, dass ihre Geruchszellen abgestorben waren. Auch Wang war erfolglos durch die Wohnung gekrochen und hatte an den neuralgischen Stellen gepinselt und getupft. Zwar hatte er zahlreiche Fingerabdrücke und DNA-Proben gesichert, aber das war Standard und noch lange keine Garantie für Erfolg. Die Auswertung der Spurenlage würde einige Zeit dauern.

Das Einzige, was in dieser Wohnung noch als außergewöhnlich hervorstach, war eine Reihe versteinerter Seeigel auf einer Fensterbank im Wohnzimmer. Jesper legte ein besonders schönes Exemplar, das er in der Hand gehalten hatte, zurück zu den anderen. Solche Fossilien fand man meist an Dänemarks Küsten oder in Kiesgruben. Asger Dahl schien wenigstens dieses Hobby gehabt zu haben. Versteinerungen. Und Kartenspiele, denn sie hatten zwei abgegriffene Decks in einer Schublade in der Küche entdeckt.

Jesper öffnete die Balkontür und blickte nach draußen auf zwei weiße Monobloc-Stühle und einen vollen Aschenbecher. Unter einem der Stühle lag ein merkwürdig geformter Gegenstand. Jesper kniff die Augen zusammen, aber es war zu dunkel, um ihn zu identifizieren. Mit dem Handy als Taschenlampe näherte er sich. Es war eine mit Panzerband zugeklebte Tüte. Stirnrunzelnd drückte er mit dem Finger dagegen. Der Inhalt gab nach und ein Schwall üblen Gestanks quoll ihm entgegen.

»Boah, ihhh!« Er richtete sich auf rief nach Kirsten und Wang.

Kurz darauf standen beide hinter ihm.

»Was ist denn?«, fragte Kirsten.

»Hier ist eine Tüte mit …«

Plötzlich schrillte unten auf dem Parkplatz eine Autoalarmanlage los. Alle drei zucken zusammen. Das orangefarbene Blinken der Warnleuchten wurde von den Hauswänden zurückgeworfen, aber sie konnten von ihrer Position aus nicht erkennen, von welchem Wagen es ausging. Einige Minuten später war es wieder ruhig, und das Blinken hatte aufgehört.

»Wohl falscher Alarm«, sagte Kirsten und sie lenkten ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Tüte.

Jesper machte Platz für Wang. Der KTU-Chef betastete den Inhalt und fotografierte alles aus mehreren Blickwinkeln. Dann machte er sich daran, die Plastikfolie mit einem Skalpell aufzuschneiden. Der Gestank explodierte und Kirsten richtete sich ruckartig auf. Auch Jesper übermannte die Übelkeit.

»Ist das etwa die …?«

»Katze!«, bestätigte Wang und befreite das rot getigerte Tier vom Plastik. Es hatte ein verklebtes Fell und eingetrocknete Augen. Die Katze musste schon länger tot sein.

»Oh Mann!«, stieß Kirsten traurig aus. »Warum tut man so etwas?«

»Vielleicht ist sie gestorben und er wusste nicht, wohin damit«, antwortete Wang.

»Oder jemand hat nachgeholfen.« Jesper hob die Brauen.

»Das kann ich überprüfen lassen, sollte euch diese Information wichtig sein.« Wang sah zu ihnen auf.

Kirsten zögerte. Sie schien abzuwägen, ob der Tod der Katze mit dem Mord an Asger Dahl zu tun haben könnte. Dann nickte sie. »Bitte finde es heraus, Wang.«

»Geht klar.« Der KTU-Chef machte noch ein paar Fotos. Im grellen Blitzlicht wirkte der Kadaver jämmerlich und verloren.

»Warum hat Dahl die Katze nicht entsorgt?«, fragte Jesper.

»Vielleicht ist er nicht mehr dazu gekommen.« Kirsten wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Das würde bedeuten, dass er länger nicht in seiner Wohnung war. Kann sein, dass der Täter ihn entführt und bis zum Tag des Mordes woanders festgehalten hat.«

Jesper schüttelte fassungslos den Kopf. Vor seinem geistigen Auge tauchten Bilder der Leiche auf, von der toten Katze und der verdreckten Unterwäsche im Bad. »Ich muss hier raus!«

»Warte!« Kirsten folgte ihm bis in den Hausflur, wo beide durchatmeten.

»Der Gestank ist unerträglich!«, keuchte Jesper.

Kirsten reichte ihm die Autoschlüssel. »Du kannst Feierabend machen. Wang und ich schaffen das schon.«

»Nein«, entgegnete er empört. »Was denkst du? Natürlich helfe ich euch.«

Er holte tief Luft und begleitete Kirsten zurück in die Wohnung.

Später in der Nacht, etwa gegen halb drei, verabschiedeten Jesper und Kirsten sich von Wang Ze und verließen das Apartment. Müde und nervlich aufgerieben von dem Gestank und den deprimierenden Einblicken in das Leben eines schwer kranken Mannes vom Rande der Gesellschaft gingen sie zum Parkplatz. Kirsten drückte auf den Knopf am Schlüssel und zog am Türgriff, da fiel Jesper etwas an dem Wagen auf. Er stand schief. Verwundert beugte er sich zum Vorderreifen hinab und erkannte, was los war. »So ein Dreck!«

»Was hast du?«, wollte Kirsten wissen.

»Jemand hat uns den Vorderreifen zerstochen!« Wütend richtete Jesper sich auf und spähte in die Dunkelheit, doch niemand war zu entdecken. Nur die kalten Kameraaugen starrten vom Mast zu ihnen herab.

7. Kapitel

Mit einem mulmigen Pulsieren im Magen streckte Marit die Hand in Richtung der Klingel aus. Sie war von ihrem Trip nach Flensburg zurück und wartete nun nervös vor dem Haus eines Ehepaars in einem der noblen Vororte im Norden von Kopenhagen. Herr und Frau Bjerrum hatten ihr den Auftrag gegeben, in der deutschen Fördestadt nach ihrer vermissten Tochter Nanna zu forschen. Sie war vor elf Jahren bei einem Familienurlaub auf Falster spurlos aus dem Ferienhaus verschwunden. Seitdem waren die Eltern auf der Suche nach ihr. Sie hatten sogar eine eigene Webseite eingerichtet, wo Leute Hinweise hinterlassen konnten, wenn diese glaubten, Nanna gesehen zu haben. Marit hatte den Auftrag erhalten, weil sie eine international anerkannte Super-Recognizerin war. Das bedeutete, dass sie die Fähigkeit hatte, sich Gesichter zu merken und jederzeit wiederzuerkennen – selbst Jahrzehnte später. Das war eine besondere Begabung, die nur ein Prozent der Weltbevölkerung besaß. Rund um den Globus forschten Wissenschaftler zu diesen speziellen Eigenschaften, und Marit galt als außergewöhnlich gut darin. Bei der Identifizierung von Personen war sie schneller und effizienter als jede KI mit Gesichtserkennungssoftware. Ihre Trefferquote lag bei 98 Prozent. Ein so gutes Ergebnis erzielte keine Maschine.

Sie hatte das Mädchen in Flensburg tatsächlich gefunden …

Die Tür, an der sie zuvor geklingelt hatte, öffnete sich und eine strahlende Frau erschien. Marit hatte ihren Besuch angekündigt.

»Wie schön, Sie zu sehen, Frau Rauch Iversen!«, rief Frau Bjerrum. »Kommen Sie herein. Mein Mann wartet im Wohnzimmer.«

Marit trat in den Flur und ließ sich durch das weitläufige und schick eingerichtete Haus leiten. Im Wohnzimmer erhob Nannas Vater sich aus einem Sessel und reichte ihr die Hand. Seine Miene wirkte sehr angespannt, und er brachte nur wenige Worte zur Begrüßung hervor. Dafür redete Frau Bjerrum umso mehr. Aufgeregt bedeutete sie Marit, sich auf das Sofa zu setzen, und schenkte ihr ein Glas Wasser ein.

»Und, was ist es, das Sie uns am Telefon nicht mitteilen wollten?«, fragte Frau Bjerrum. »Haben Sie das Mädchen gefunden?«

Marit sah ihr die vibrierende Erwartungshaltung an, Frau Bjerrum konnte kaum ruhig auf ihrem Sofa sitzen. Ein schweres Gewicht legte sich in Marits Magen. Normalerweise war sie bei ihren Fällen nicht emotional involviert, sondern bewahrte eine professionelle Distanz, aber wenn es um Kinder ging, versagten ihre Nerven. Daher wollte sie es kurz und schmerzlos halten. »Ich habe das Mädchen ausfindig gemacht und identifiziert.« Marit räusperte sich. »Es ist nicht Nanna.«

»Wie bitte?« Frau Bjerrum blinzelte überrascht, während sich die Miene ihres Mannes verhärtete.

»Ich wünschte, ich könnte Ihnen eine bessere Nachricht überbringen, leider ist das Ergebnis eindeutig. Das Mädchen in Flensburg hat eine große Ähnlichkeit mit Ihrer Tochter, doch leider stimmen nicht alle Gesichtsparameter überein. Es gibt kein Match.«

»Ich … Das kann nicht sein!« Frau Bjerrums Stimme brach, und Marit fühlte, wie ihr die ungebremste Kraft der Enttäuschung entgegenschlug. Das war der Moment, vor dem sie sich gefürchtet hatte. In einem Fall wie diesem waren so viele Emotionen im Spiel: Der eisern aufrechterhaltene Glaube, dass die Tochter noch lebte, der nun schlagartig in sich zusammengefallen war; das Widerstreben, sich mit der Endgültigkeit des Todes auseinanderzusetzen; und die Angst davor, in jenes erdrückend schwarze Loch der Hoffnungslosigkeit zu stürzen, in das die Betroffenen auf keinen Fall zurückwollten. Das war oft das Schlimmste. Viele brachen endgültig zusammen, hatten keine Kraft mehr, weiterzumachen. Einige wurden sogar aggressiv gegen sich oder andere.

Marit hörte, wie Nannas Mutter hektisch zu atmen begann. Sie lenkte ihren Blick auf deren Mann, der stocksteif dasaß.

Nimm sie in den Arm, sagte Marit in Gedanken zu ihm, sie braucht dich! Doch Herr Bjerrum blieb unbeweglich sitzen wie ein Brocken Packeis.

»Aber … aber …«, stammelte die Frau. »Haben Sie denn alles genau geprüft?«

Marit nickte. »Das habe ich. Es ist zu 98 Prozent sicher: Das Mädchen ist nicht Nanna.«

»Was ist mit den restlichen zwei Prozent?«

Diese Frage bekam Marit häufig bei Vermisstenfällen gestellt. Die Leute klammerten sich aus Verzweiflung an den winzigsten Faktoren fest, was absolut verständlich war. Denn nichts war schlimmer, als sich der Tatsache zu stellen, seine geliebte Tochter oder einen anderen Angehörigen niemals lebend wiederzusehen.

»Frau Bjerrum, ich weiß, dass es schwer zu ertragen ist, aber …«

»Nein! Nein! Seien Sie still! Ich will das nicht hören.« Nannas Mutter presste beide Hände auf die Ohren. Anstatt dass ihr Mann sie endlich beruhigte, wandte dieser mechanisch den Kopf und starrte Marit an. Neben ihm begann seine Frau bitterlich zu schluchzen.

»Haben Sie ein Foto von dem Mädchen aus Flensburg?«, fragte er. »Ich möchte mich gerne selbst davon überzeugen.«

»Es gibt kein Bild«, antwortete Marit. »Ich habe das Mädchen gesehen und bin mir sicher.«

Die Kiefermuskeln des Mannes spannten sich an. Offensichtlich glaubte er ihr nicht.

»Sie lügen!«, schrie Nannas Mutter, sprang vom Sofa auf und trat drohend einen Schritt auf Marit zu. »Sie machen mit der Familie gemeinsame Sache! Die haben uns Nanna gestohlen! Wie viel haben diese Unmenschen Ihnen bezahlt?«

Marit blieb der Mund offen stehen. Eine solche Anschuldigung hatte sie nie zuvor zu hören bekommen.

»Sie sind gar keine Recognizerin«, fuhr die Mutter aufgebracht fort. »Sie sind eine Betrügerin! Nehmen unser Geld und nutzen unsere Hoffnung aus, um sich zu bereichern.«

Marit hatte genug und erhob sich. »Es tut mir leid, dass ich nicht das gewünschte Ergebnis liefern konnte. Ich hätte Ihre Tochter erkannt, wenn sie es gewesen wäre, das garantiere ich. Mir wäre nichts lieber gewesen, als die Verbrecher zu überführen, die Ihrer Familie dieses furchtbare Leid zugefügt haben.«

Frau Bjerrum hörte für einen Moment auf zu schreien. Sie stand Marit gegenüber, ein bedauernswertes Häufchen Elend.

»Ich will einen Beweis!«, sagte Nannas Vater. »Ein Foto! Warum haben Sie keins gemacht?«

»Das war nicht Teil des Auftrags. Ich sollte das Mädchen finden und identifizieren. Das habe ich getan. Dazu brauche ich keine Fotos, ich muss die Menschen nur sehen.«

»Wo wohnt das Mädchen?« Er baute sich vor Marit auf.

»Das weiß ich nicht, ich habe es vor der Schule abgefangen.«

»Und ob Sie das wissen! Sie wollen es uns nur nicht verraten.« Er streckte den Arm aus. »Irgendeine Familie lebt dort mit unserem Kind!«

»Das Mädchen ist nicht Nanna!«, wiederholte Marit bemüht ruhig.

»Und wenn doch? Ich glaube, meine Frau hat recht: Sie sind eine Hochstaplerin. Sie lügen, um Leute wie uns zu betrügen. Aber da sind Sie an die Falschen geraten. Ich werde den zweiten Teil des Honorars einbehalten!«

Marit war fassungslos. Noch nie hatte ihr jemand Betrug vorgeworfen, noch nie ihr Urteil angezweifelt. Sie besaß einen ausgezeichneten Ruf, und ihre Expertise im Recognizing war weltweit anerkannt und von diversen Forschungseinrichtungen bestätigt worden. Sie arbeitete sogar als Beraterin für die Polizei. Dass jemand seinen Teil des Vertrags nicht einhielt, würde sie nicht akzeptieren. Sie hatte gute Arbeit geleistet.

Marit streckte den Rücken durch und war damit fast größer als Herr Bjerrum. Sie blickte ihn durchdringend an. »Wir haben einen Vertrag! Und meinen Teil davon habe ich erfüllt!«