Kalter Strand - Anne Nordby - E-Book

Kalter Strand E-Book

Anne Nordby

4,3

  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

»Und jetzt zu deiner neuen Aufgabe: Kaufe vier Benzinkanister, gehe zu einem Haus in deiner Nachbarschaft - aber eines, in dem auch Menschen sind! - und schütte das Benzin dort aus. Mit der Fackel zündest du das Haus an! Widersetzt du dich meinem Befehl, bekommst du Stefanies Kopf mit der Post zugeschickt. Du hast nur heute Nacht Zeit! Und vergiss nicht: Ich sehe alles. DAS AUGE.«

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Seitenzahl: 609

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Anne Nørdby

Kalter Strand

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Katja Ernst

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © ChristArt / fotolia.com;

© andrej pol / fotolia.com; © NadineRödder / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-6008-1

Widmung

Für Erdmute

1

Freitag, 21. Oktober

Markus sieht auf die Uhr. Zum wievielten Mal, weiß er nicht. Und eigentlich ist es auch egal, wie spät es ist. Jetzt zählt nur das Eine.

Er blickt zum dunklen Fenster des Ferienhauses hinüber, das aussieht, als würde es vom herabhängenden Reetdach verschluckt werden. Die Lichter dahinter sind vor gut einer Stunde erloschen, die Familie ist längst zu Bett gegangen. Vater, Mutter und drei Kinder. Das Auto, ein schwarzer VW-Bus, steht vor dem Haus. Deutsches Kennzeichen, Aufkleber mit den Namen der Kinder auf dem Heck. Hannes, Maja und Celine.

Markus fröstelt. Aber nicht nur wegen des Windes, der erneut auffrischt. Der dünne Danebrog am Fahnenmast neben dem Haus beginnt im Dunkeln zu flattern. Ablandiger Wind, denkt Markus abwesend. Sein Griff verkrampft sich um die Signalfackel in seiner Hand. Der Geruch von Benzin vermischt sich mit dem des Strandgrases und des Salzwassers vom Ringkøbing Fjord.

Wieder ein Blick auf die Uhr. Wieder ist es egal, was sie anzeigt. Der Zeitpunkt für das, was er tun muss, steht nicht auf dem Ziffernblatt. Den hat ein anderer bestimmt.

Markus betrachtet das Ferienhaus genauer. Ein weißes langgestrecktes Gebäude mit wuchtigem Reetdach. In regelmäßigen Abständen streift der Lichtkegel des Leuchtturms das Haus, in der Ferne hört Markus ein Auto über den Holmsland Klitvej fahren. Das Rauschen nimmt zu und wieder ab und verstummt schließlich. Eine vage Erinnerung an eine Welt, die Markus längst verlassen hat. Eine Welt aus Straßen und Lichtern. Aus Städten und Häusern, in denen Menschen behaglich auf Sofas sitzen, in Räumen erfüllt vom bläulichen Leuchten der Fernsehgeräte, dem Duft des Abendessens und dem Knacken des Holzes im Kamin. Warmes Urvertrauen. Wie sehr er sich nach diesen unscheinbaren Alltäglichkeiten sehnt. Aber er steht draußen und sie sind da drinnen. Er harrt in der Kälte aus und sie schlafen in der Geborgenheit. Er wird sich nie mehr geborgen fühlen. Egal, wie dieser Tag ausgehen wird.

Markus hebt die Hand mit der Signalfackel. Bengalisches Feuer. Rot.

Er denkt an Fußballstadien, an Raketen zu Silvester. Kinderlachen.

Doch das hier ist anders. Das ist der Tod.

Er schraubt die Schutzkappe vom Anzündkopf der Fackel ab. Sein Herz schlägt kalt. Seine Finger zittern. Die Kappe fällt auf den Boden in die Lache aus Benzin. Vier Kanister hat er rund um das Haus und darüber ausgeschüttet. Es tröpfelt leise vom Dach, rinnt die Mauern hinab und sickert ins welke Gras.

Alles ist leicht und gleichzeitig so schwer.

Er muss nur die Fackel anzünden und fallen lassen. Nichts weiter. Das Benzin würde sein Übriges tun. Rasend schnell würde alles brennen. Das Reetdach. Das Haus. Die Familie darin.

So soll es sein.

Tod für Leben.

Keine Fragen nach dem Warum. Die sind ihm längst ausgegangen. Es gibt nur noch das Hier und das Jetzt. Das Drinnen und Draußen. Kalt und warm. Feuer und Freiheit.

Markus zittert jetzt am ganzen Körper. Seine Kiefermuskeln verkrampfen sich, die Zähne knirschen. Der Benzindunst brennt in seinen Augen. Er widersteht dem Drang, erneut auf die Uhr zu sehen. Stattdessen blickt er sich ein letztes Mal um. Dunkle Ferienhäuser mit schlafenden Menschen darin, dahinter das ruhende Meer aus Dünen. Über ihm spannt sich der Sternenhimmel, von dem unzählige kleine, mitleidslose Augen auf ihn herabsehen. Immer wieder wird die Nacht vom kreisenden Takt des Leuchtfeuers durchschnitten. Ein unermüdlicher Wegweiser für Seefahrer. Eine Warnung. Markus möchte loslaufen, selbst der Gefahr entkommen. Aber er weiß, dass es nichts nutzen würde. Es gibt kein Entkommen. Nicht für ihn.

Der Geschmack von Benzin legt sich auf seine Zunge. Er schluckt ihn herunter. Seine Kehle ist trocken, seine Muskeln in Armen und Beinen zucken unkontrolliert. Es wird schlimmer. Er muss es tun. Jetzt.

Rasch reißt er die Fackel an. Grell leuchtet sie auf. Qualm bildet sich und hüllt Markus in einen dichten Schleier, verdeckt für einen Moment die Sicht auf die Welt. Dann ist sie wieder da. Die Welt. Aber auch die Verzweiflung und der unbändige Wunsch nach Leben.

Der Wind treibt den Qualm in die Nacht hinaus. Markus beobachtet, wie er sich mit der Dunkelheit vereint.

Der Geschmack in seinem Mund ist jetzt ein anderer.

Es ist Angst.

Er muss es tun.

Bevor die Angst ihn wieder im Griff hat.

Er gibt seinen Fingern den Befehl, die glühende Fackel fallen zu lassen.

2

Eine Woche vorher – Samstag, 15. Oktober

Tom Skagen sieht belustigt auf die Torte, die auf seinem Büroschreibtisch steht. Eine Pistole, gefüllt mit Buttercreme und Kirschen, überzogen mit skandinavischer Lakritzkuvertüre. 38 Kerzen brennen darauf. Skagen bläst sie aus.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!«, rufen seine Kollegen von Skanpol und schieben ein großes, in buntes Papier eingewickeltes Paket in sein Blickfeld. Eine rosa Schleife prangt obenauf. Rosa!

Alle beginnen im Rhythmus zu klatschen. »Auspacken. Auspacken. Auspacken.«

Skagen umfasst feierlich die Schleife. Hoffentlich ist da nicht so ein Blödsinn drin wie letztes Jahr. Eine kleine Spielzeugdrohne, mit der man sein Handy fliegen lassen und Luftaufnahmen machen kann. Der letzte Schrei. Skagen schickt damit manchmal Post-its durch das Büro. Statt E-Mails. Ansonsten ist das Teil zu nichts zu gebrauchen.

»Nun mach schon, Tom!« Jens Fram, sein norwegischer Kollege, klopft ihm aufmunternd auf die Schulter. Skagen arbeitet erst seit knapp zwei Jahren bei Skanpol, einer in Hamburg ansässigen Unterabteilung von Europol, und wird deshalb noch oft »der Neue« oder »der Lütte« genannt. Er mag seine Kollegen, ein kleines, verlässliches Team, das in ganz Skandinavien unterwegs ist. Eine Top-Mannschaft auf Deck. So hätte er es in seinem vorherigen Leben genannt. Doch das ist vorbei.

»Das ist aber kein Saufgutschein für die Reeperbahn oder ein Datingportal-Abo, oder?«, fragt Skagen. Auf solch einen Scheiß hat er keinen Bock. Er genießt sein ruhiges Singledasein, und das soll auch so bleiben.

»Wir verraten nichts.« Jette Vestergaard, Skagens Chefin und Leiterin der Abteilung Skanpol, zwinkert ihm zu.

Mutig zieht Skagen an der Schleife und schält das Paket aus dem Papier. Eine braune Pappschachtel kommt zum Vorschein. Zu klein für eine Gummipuppe, zu groß für ein Konzertticket. Wer hat das Geschenk wohl besorgt? Jens oder Jette? Oder war es Kaisa mit ihrem finnischen Humor?

Mit geschürzten Lippen pult Skagen das Klebeband ab, klappt die Papplaschen auf und guckt in das Paket. Kleine Styroporbälle als Füllung. Skagen wühlt darin herum. Nichts. Die Schachtel ist leer. »Sehr witzig, Leute.«

»Es liegt ganz unten, unter der Füllung.« Fram grinst. Sein breites Gesicht ist rot vor Freude. Womit sich die Frage, wer das Geschenk gekauft hat, erübrigt.

Skagen steckt erneut seinen Arm in das Paket und fischt auf dem Grund. Schließlich zieht er einen flachen Gegenstand heraus. Eine LP. Vorn auf dem Cover ist ein ziemlich blauäugiger älterer Herr mit Kapitänsmütze abgebildet.

»›La Paloma‹ von Hans Albers. Na, jetzt ist meine Plattensammlung endlich komplett.« Zynisch hebt Skagen eine Braue. Klar, er ist immerzu auf der Suche nach alten und auch neuen Schallplatten, aber Hans Albers …? Nee.

»Freust du dich nicht?«, fragt Jens.

»Also wisst ihr … Das ist nett, nur …«

»Magst du als alter Seebär etwa keine Seemannslieder?« Kaisa macht ein enttäuschtes Gesicht.

»Doch, ich meine, nein … Ich …«

»Guck doch mal rein«, fordert Jens ihn auf. Seine blauen Augen leuchten mit denen vom alten Hansi um die Wette.

Skagen zieht die Platte aus dem Cover und lässt sie aus der Schutzhülle in seine Hand gleiten. Er liest den Titel. Liest ihn noch mal, und um seinen Mund zuckt ein stilles, dankbares Lächeln. Obwohl seine Kollegen ihn erst seit zwei Jahren kennen, ist es die Platte, nach der er seit Ewigkeiten sucht. Die Originalpressung von »Who can you trust?«, dem ersten Album von Morcheeba, seiner Lieblingsband. Skagen kippt die LP an und lässt Licht auf ihre gerillte Oberfläche fallen. Keine Kratzer. Sie ist makellos.

»Seht ihn euch an, unseren schweigsamen Schweden«, sagt Jette und lacht trocken.

»Gerührt isser.« Kaisa streicht Skagen über den Rücken. »Alles Gute, Lillebror.«

»Leider haben wir keinen Plattenspieler hier im Präsidium, um sie uns anzuhören«, sagt Jens. »Da musst du uns die Scheibe wohl heute Abend auf deiner Geburtstagsparty vorspielen.«

Skagen hatte gar nicht vor, eine Party zu veranstalten, aber wenn man ihn so nett darum bittet. Verlegen streicht er sich über den Bart. »Mann, echt. Leute. Das ist cool. Vielen Dank!«

»Wusste ich es doch, dass wir unserem Lütten damit eine Freude machen. Und jetzt hab ich Hunger.« Jens Fram nimmt ein Messer und nähert sich der Torte, schneidet den Lauf der Pistole in mundgerechte Happen. Buttercreme quillt hervor.

Auf einem Schreibtisch klingelt das Telefon, Jette geht dran. »Vestergaard, Skanpol Hamburg.« Ihre Stimme geht im einsetzenden Gemurmel der Kollegen unter, die bereits mit der Planung der Party beschäftigt sind.

»Ich bringe einen Kasten Astra mit«, bietet Jens an, doch Kaisa winkt ab.

»Bäh, das Zeug ist ungenießbar. Ich bin mehr für Beck’s.«

»Verräterin!«

»Ach was.« Kaisa knufft Jens in den Oberarm.

»Wie wär’s mit Staropramen«, schlägt Skagen vor, um die Wogen zu glätten. »Davon hab ich noch was da.«

Kaisa und Jens sehen ihn an. Dann nicken sie.

»Okay«, sagt Kaisa. »Und was essen wir? Pizza oder Köttbullar?«

»Ich würde sagen, gar nichts.« Jette gesellt sich zu ihnen. »Die Party fällt leider aus.« Auf ihrem Gesicht liegt starrer Ernst und sie hat diesen Überstundenblick aufgesetzt, den alle fürchten. Wen trifft’s wohl diesmal?

»Och nö.« Kaisa wirft die Hände hoch und seufzt. »Heute ist doch Samstag. Ich hab eigentlich gar keinen Dienst. Ich bin nur wegen Toms Geburtstag gekommen.«

»Wir haben ein Tötungsdelikt an einer unbekannten Deutschen in Dänemark in Verbindung mit Drogen. Zwei von uns müssen da hin.« Jette sieht jeden in der Runde direkt an, landet bei Skagen. »Tom. Das ist eine Sache für dich und mich. Tut mir leid um deinen Geburtstag.«

Skagen zuckt mit den Schultern. Er hat es bereits geahnt. Jette ist Dänin, und er, Skagen, spricht neben Schwedisch sehr gut Dänisch. »Schon gut. Wann geht’s los?«

»Heute noch. Fahr nach Hause und pack ein paar Sachen zusammen. Wir werden mit Sicherheit einige Tage vor Ort sein.«

Skagen betrachtet mit wehmütiger Miene die Schallplatte. Schließlich schiebt er sie zurück in die Schutzhülle und legt sie so behutsam auf den Schreibtisch, als wäre sie aus Glas. »Wohin geht’s?«

»Nach Ringkøbing.«

»Details?«

»Später.« Jette nimmt ihre Umhängetasche vom Stuhl. »Ich hole dich bei dir ab. Sagen wir, in einer Stunde?«

Skagen nickt.

Jette verabschiedet sich, und als sich die Bürotür hinter ihr schließt, seufzt Kaisa auf. »Mann, das ist ja blöd. Ausgerechnet an deinem Geburtstag. Sorry, Tom.«

»Schon okay.«

»Ach, der ist doch froh, dass er um die Party rumkommt.« Jens’ Hand kracht so unvermittelt auf Skagens Rücken, dass er husten muss. »Na, dann viel Spaß mit der Chefin!« Er wirft Skagen einen mehrdeutigen Blick zu, bevor er sich ein Stück Torte in den Mund stopft.

Eine Stunde später hält Jettes schwarzer Audi vor dem Haus, in dem Skagen wohnt. Er wirft seine Reisetasche in den Kofferraum und setzt sich auf den Beifahrersitz. Schweigend fahren sie Richtung Stellingen zur A7. Es ist 11:15 Uhr und ein leichter Wind treibt kleine weiße Wolken über Hamburg. Licht und Schatten wechseln einander ab. Laub fegt über die Straße. Es wird Herbst, denkt Skagen schwermütig.

Als sie auf die Autobahn auffahren, wird ihr Vorankommen jäh gestoppt.

»So ein Mist. Stau«, seufzt Jette.

»Beginn der Herbstferien in Hamburg, Brandenburg und Hessen«, entgegnet Skagen trocken.

»Und alle wollen nach Norden. Daran habe ich gar nicht gedacht. Na, das kann ja heiter werden.«

»So haben wir wenigstens genug Zeit, um über den Fall zu reden.«

»Okay, zumindest über das, was ich bis jetzt weiß.« Jette setzt den Blinker und wechselt die Spur. Sie wirkt gereizt, ihre Bewegungen fahrig. Sie wedelt mit einer Hand in der Luft. »Also, bei den Kollegen in Ringkøbing wurde heute Morgen um acht ein Leichenfund gemeldet. Am Strand in der Nähe von Hvide Sande wurde eine tote Frau gefunden. Das liegt rund 25 Kilometer südlich von Ringkøbing entfernt und ist ein beliebter Urlaubsort. Besonders bei den Deutschen. Dort gibt es mehr Ferienhäuser als Einwohner. Holmsland Klit nennt sich die Landzunge, sie trennt den Ringkøbing Fjord von der Nordsee. Der Fjord ist eher ein großer See, so wie … Aber was erzähle ich dir? Du bist Seemann, du kennst die Nordsee bestimmt wie deine Westentasche.«

»War.«

»Was?«

»Ich war Seemann.«

»Okay, okay, du warst.«

Skagen sieht, wie Jette ungeduldig mit den Augen rollt, und er ergänzt: »Ich war hauptsächlich auf dem Mittelmeer, dem Roten Meer und im Indischen Ozean unterwegs. Reederei Merkur. Containerschiffe. Die richtig großen Pötte.«

»Ja, weiß ich ja«, zischt sie.

Skagen mustert seine Chefin von der Seite. Was hat sie auf einmal? Vorhin im Büro war sie noch so entspannt. Außerdem hat sie gerade erst mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter Urlaub gemacht. Zwei Wochen Kreta. Da kann man doch nicht jetzt schon so gestresst sein. Sie hätte ja an ihrer Stelle jemand anderen nach Dänemark schicken können, anstatt selbst zu fahren.

»Erzähl weiter«, fordert er Jette auf. »Wer ist das Opfer? Die Tote am Strand?«

»Eine junge Frau, um die 25. Sie wurde sehr wahrscheinlich vom Meer angespült. Sie hat keine Papiere bei sich, kein Handy.«

»Woher wissen die Kollegen dann, dass sie Deutsche ist?«

»In ihrer Jackentasche waren deutsche Euromünzen, die Jacke selbst ist von einer deutschen Modemarke. Die Schuhe auch.«

»Mehr nicht?«

»Doch. Da gab es noch so eine kleine Karte mit deutscher Aufschrift: ›Wollen Sie Ihr Auto verkaufen?‹ Du weißt schon, diese Dinger von schmierigen Gebrauchtwagenhändlern, die ständig hinterm Scheibenwischer klemmen.«

»Und was ist mit den Drogen?«

»Die Tote hatte mehrere Tütchen mit Heroin und Ecstasy bei sich.«

»Eigenbedarf oder eine Dealerin?«

»Keine Ahnung. Das wird sich noch herausstellen.«

»Und wer hat die Leiche gefunden?«, fragt Skagen weiter.

»Ein Jogger. Ebenfalls ein deutscher Urlauber.«

»Wie lange lag sie im Wasser?«

Vor ihnen bremst unvermittelt ein Auto, und Jette steigt auf die Bremse. Ihr dunkler Pferdeschwanz wippt vor und zurück. Wütend schlägt sie auf das Lenkrad. »Verflucht noch mal. Diese verdammten Ferienfahrer!« Sie stößt laut Luft aus und wirft Skagen einen entschuldigenden Blick zu. »Tut mir leid, wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, es gibt noch keine Erkenntnisse darüber, wie lange die Leiche im Wasser lag. Schätzungsweise ein paar Tage, mehr nicht. Der Körper ist wohl recht gut erhalten. Die Ergebnisse der Obduktion kommen erst noch.«

Skagen sieht auf die vor sich hin kriechende Blechschlange auf der Autobahn, von der sie nun ein Teil sind. Eine kleine, in der Herbstsonne blinkende Metallschuppe. »Und dass es sich dabei um Mord handelt, ist sicher?«

»Die Frau hat unverkennbar Würgemale am Hals. Wahrscheinlich von einem Lederhalsband.«

»Also Todesursache Erdrosseln?«

»Ist anzunehmen.«

Eine Tote aus dem Meer. Skagen wird mulmig zumute. In seinem Magen beginnt es zu vibrieren, sein ganzes Inneres zuckt wie unter leichten Stromstößen, und seine Handflächen werden feucht. Schnell legt er sie in den Schoß und dreht sich zum Seitenfenster. Sein kantiges Gesicht guckt zurück. Blonder Bart, graue Augen, wetterfester Teint. Ein Bilderbuch-Hanseat, so nennt ihn seine Schwester. Das Abziehbild eines jungdynamischen Enddreißigers. Ein Polizist mit Leib und Seele. Dabei grenzt es an ein Wunder, dass er den psychologischen Einstellungstest bei der Polizei überhaupt bestanden hat. Und jetzt ist er ausgerechnet zu einer toten Frau unterwegs, die das Meer angespült hat.

3

»Welches Haus ist es?« Stefanie Schneider lehnt sich auf dem Beifahrersitz vor und späht durch die Frontscheibe.

»Das da. Das mit dem Reetdach und den weißen Mauern. Nummer 59.« Erleichtert zeigt Markus auf das Ferienhaus, das zwischen Wildrosenbüschen und Dünenwällen in einer Reihe baugleicher Gebäude steht. Eine lang vergessene Erinnerung sprudelt an die Oberfläche. Sand zwischen den Zehen, der Geruch nach Seetang und Quallen und das Gefühl von glatten Kieselsteinen in der Hand.

»Super, Papa«, ruft Jonas vom Rücksitz. »Und eine Schaukel gibt es auch.«

Markus Schneider lenkt den Wagen auf den Parkplatz und stellt den Motor ab. »Wir sind daaaa.«

»Jaaaa!«, antworten alle im Chor. Die kleine Ina lacht vergnügt. Zum Glück hat sich ihre Laune wieder gebessert. Auf der Fahrt von Hamburg hierher ist sie ziemlich unleidlich gewesen. Und dann noch dieser blöde Stau …

Markus schickt ein müdes Lächeln zu seiner Frau hinüber und schnallt sich ab. »Wer hat Lust, unser Piratennest in Augenschein zu nehmen? Auf geht’s.«

Sie befreien Sohn und Tochter aus ihren Kindersitzen und gehen gemeinsam auf ihr Urlaubsdomizil zu. Die Ferienhaussiedlung liegt nicht weit entfernt von den großen Dünen, hinter denen sich der Strand und das Meer verbergen. Der Strandhafer raschelt und die Seeluft weht ihnen um die Nase, über ihren Köpfen kreisen Möwen. Immer wieder lächelt die Sonne zwischen den Wolken hervor. Für Mitte Oktober ist es erstaunlich mild.

»Guck mal, Papa. Ein Hund.« Jonas zeigt auf einen Golden Retriever, der vom Nachbargrundstück auf sie zugelaufen kommt. Er streckt ihm eine Hand entgegen.

»Geh nicht zu nah ran«, mahnt Markus. »Fremde Hunde streichelt man nicht einfach so.«

Ein schriller Pfiff erklingt und ein: »Bosco, hierher!«

Markus hebt den Kopf. Ein Mann mit grauem Vollbart und Daunenweste steht vor dem Nachbarhaus. Er hält eine Leine in der Hand. »Bosco. Na los, komm her.«

Der Hund dreht ab und rennt schwanzwedelnd zu seinem Herrchen zurück. Der Mann leint den Retriever an und hebt anschließend grüßend einen Arm. »Keine Angst, Bosco ist total kinderlieb. Aber neugierig wie ein Waschbär. Entschuldigung.«

»Kein Problem«, ruft Markus zurück und beobachtet, wie der Mann den Hund in sein Ferienhaus bringt.

»Schatz, mir wird kalt. Schließt du bitte die Tür auf?« Stefanie schlingt beide Arme um ihren Oberkörper und kneift ein Auge zu. Ihr blondes Haar weht im Wind. Ina imitiert ihre Geste.

Mit einem Lächeln öffnet Markus die Tür zu ihrer Hütte und betritt als Erster einen langen Flur, von dem aus ein geräumiges Bad mit Sauna und mehrere Schlafzimmer abgehen. Der Flur mündet in ein Wohnzimmer mit einem gemütlichen Sofa, Fernseher, Kamin und breiter Fensterfront zur Terrasse. An das Wohnzimmer schließen sich die offene Küche und das Esszimmer an. Eine Holzstiege führt hinauf in einen »Hems«, einen Schlafboden unter dem Dach, wo vier Matratzen liegen. Für die Kinder leider ungeeignet, denkt Markus, da die Stiege viel zu steil ist, zumindest für Ina. Der Rest der Hütte bietet ausreichend Platz und Behaglichkeit für die nächsten zwei Wochen.

»Wo schlafen wir denn?« Jonas rennt aufgeregt um Markus herum. Sein brauner Lockenkopf ist von der Fahrt ganz verwuschelt.

»Wollen wir nicht erst mal auspacken?«, schlägt Stefanie vor. Ina klammert sich an ihre Beine, als flöße ihr die fremde Umgebung Furcht ein. Markus streichelt im Vorbeigehen über ihren Kopf.

»Zuerst die Betten. Wenn wir wissen, wer wo schläft, können wir das Gepäck leichter verteilen. Kommst du mit, Ina? Wir gucken uns alles an.« Markus hält seiner Tochter eine Hand hin und sie lässt sich von ihm in den ersten Raum führen.

»Hmm, das hier hat ein Doppelbett. Ich glaube, das nehmen Mama und Papa, oder?«

Ina schweigt. Im nächsten Zimmer steht ein Hochbett. Jonas turnt schon auf der oberen Matratze herum und testet deren Sprungeigenschaften.

»Na, das sind doch mal ordentliche Piratenkojen.« Markus gibt seinem Sohn mit einem Kopfschütteln zu verstehen, dass er das Herumhüpfen sein lassen soll, bevor er sich zu Ina hinabbeugt. »Ich würde sagen, Jonas schläft oben im Krähennest und du unten in der Kapitänskajüte. Alles klar?«

»Okaykay!«, ruft Jonas.

Ina hingegen kneift unschlüssig die Lippen zusammen. Sie streckt einen Arm aus. »Das Bild da ist gruselig.«

»Was? Das da?« Markus zeigt auf ein etwas überdimensioniertes Acrylgemälde an der gegenüberliegenden Wand. Darauf ist ein abstraktes Gesicht mit riesengroßen, starren Augen abgebildet.

»Ja, es beobachtet uns.«

Markus stößt einen erschöpften Seufzer aus. Die nicht enden wollenden Sonderwünsche seiner Tochter stellen seine Geduld mächtig auf die Probe. »Wir hängen es ab, solange wir hier sind, okay?« Er nimmt das Gemälde vom Nagel und stellt es verkehrt herum in die Nische zwischen dem Schrank und der Wand.

»Nein«, ruft Ina in ihrem besten Kommandoton. »Nicht dahin.«

Markus beißt sich beherrscht auf die Lippen. »Wo dann?«

»Draußen.«

»Du meinst, nicht im Zimmer?«

»Nein, ganz draußen. Draußen draußen.«

»Ina, das geht nicht. Das Bild gehört uns nicht. Es darf nicht kaputtgehen. Ich stelle es auf den Schlafboden unter dem Dach. Dort darfst du sowieso nicht hoch.« Markus trägt das Gemälde ins Wohnzimmer. Stefanie ist bereits dabei, das Gepäck aus dem Auto zu holen. Koffer, Taschen und Spielzeug stapeln sich im Wohnzimmer.

»Die Küche ist super eingerichtet«, ruft sie, während Markus das Bild auf dem Schlafboden verstaut. »Alles da, Geschirrspüler, Kaffeemaschine, Mikrowelle.« Als er die Stiege wieder hinabklettert, steht Stefanie vor ihm. »Was machst du da?«

»Ach, da war so ein Bild. Ina fürchtet sich davor. Ich hab es weggestellt. Es ist wirklich schaurig.« Er schüttelt sich.

»Also, das Haus ist jedenfalls klasse. Schön hell und modern eingerichtet. Das hast du super ausgesucht.« Stefanie drückt ihm einen Kuss auf die Wange. »Und ich freue mich auch schon auf die Sauna heute Abend, wenn die Kleinen im Bett sind. Das wird ein toller Urlaub.«

Markus lacht. Oh ja, die Sauna ist extragroß. Darauf hat er geachtet. Er gibt Stefanie einen Klaps auf den Po und raunt ihr ein paar Unanständigkeiten ins Ohr, die sie kichern lassen. Er weiß, worauf sie steht.

»Wohin mit deinem Angelzeug?«, fragt sie.

»Am besten nach draußen auf die Terrasse.«

»Okay.«

Markus blickt ihr kurz nach. Schließlich wendet er sich ab und geht ins Bad. Voll Vorfreude begutachtet er den hölzernen Innenraum der Sauna. Mehrere lange Bänke, die übereinander angebracht sind, in einer Ecke der elektrische Saunaofen mit Steinen. Gemütlich … und vor allem schalldicht.

Als er die Tür schließt, ertönt plötzlich ein Schrei. Markus läuft aus dem Bad und findet seine Frau bei Jonas und Ina im Kinderzimmer. Offenbar wollte sie gerade die Betten beziehen, denn die Laken liegen auf dem Boden und die Decke auf dem Bett ist zurückgeschlagen. Alle drei starren auf das, was darunter zum Vorschein gekommen ist.

»Ihhh. Was ist das?«, fragt Ina.

»Sieht aus wie eine … Maus.« Stefanie löst sich aus ihrer Starre und beugt sich über das kleine Fellknäuel auf der Ma­tratze.

»Ist sie tot?« Jonas guckt über das Geländer des Hochbettes. Seine Haare hängen wie gekräuseltes Seegras hinab.

»Keine Ahnung. Ich will sie nicht anfassen.«

Markus geht in die Hocke und inspiziert das Tier, stößt es mit dem Finger an. Es ist steif und das Fell verfilzt. »Jep. Die ist tot.«

»Arme Maus.« Ina umklammert wieder Stefanies Bein.

»Wie kommt sie denn dahin?«, fragt Jonas und streicht sich die Haare aus dem Gesicht.

»Keine Ahnung. Vielleicht ist sie ins Bett geklettert und nicht wieder runtergekommen. Ich bring sie raus.«

»Aber nach draußen draußen!«

»Ja, Ina.« Mit spitzen Fingern packt Markus die Maus am Schwanz und hebt sie hoch.

»Du musst sie begraben.«

»Auch das, Ina. Kein Problem.« Markus verlässt das Zimmer und öffnet die Haustür. Die frische Luft ist eine Wohltat. Es riecht nach Meer und Kiefernholz. Nach Urlaub. Markus stapft über das Heidekraut zum Rand des Grundstücks, vergewissert sich, dass ihn vom Haus aus niemand sehen kann, und schleudert die tote Maus in den Strandhafer. Beerdigung vollzogen. Er wischt sich die Finger an der Hose ab und geht zurück. Dabei sieht er, wie am anderen Nachbarhaus die neu eingetroffenen Feriengäste ihr Auto auspacken. Das Nummernschild verrät, dass sie ebenfalls aus Hamburg kommen. Die Familie hat zwei Kinder und einen braunen Terrier, der aufgeregt hin und her springt. Gar nicht schlecht, denkt Markus. Vielleicht können deren Kids ja mit unseren spielen. So wären sie erst mal beschäftigt, und Stefanie und er hätten Zeit für sich.

Vom Eingang aus ruft Markus einen Gruß zu den Nachbarn hinüber, die ihm freundlich zunicken. Dann schließt er die Tür und reibt sich zufrieden die Hände. Bild beseitigt. Maus beseitigt. Der Urlaub kann beginnen.

4

Als sie am Nachmittag endlich den Holmsland Klit erreichen und hinaus in die ausgedehnte Dünenlandschaft fahren, verstärkt sich der Druck in Skagens Brust. Die schmale Landzunge misst an ihrer breitesten Stelle kaum mehr als zwei Kilometer. Rechts der Fjord, der eher ein großes Binnenmeer ist, und links die Nordsee. Auf beiden Seiten Wasser.

Skagen schluckt, schmerzhaft pocht es in seinem Magen, weil er so verkrampft dasitzt. Unauffällig lockert er seine Muskeln und lehnt sich auf dem Beifahrersitz zurück. Warum ist er nur mitgekommen? Warum hat er nicht abgelehnt oder sich eine Ausrede einfallen lassen?

»Wie war eigentlich dein Urlaub auf Kreta?«, fragt er Jette, um sich auf andere Gedanken zu bringen.

»Frag nicht!«

»Ärger mit den Griechen?«

»Nein, mit Thies.«

Thies ist Jettes Mann. Skagen will lieber nichts darüber hören. Bei Eheproblemen ist er kein guter Ratgeber. Nicht, weil er diese Art von Beziehung generell ablehnt oder gar schlechte Erfahrungen damit gemacht hätte. Er mag es einfach lieber, unabhängig zu sein. Sich nicht auf die eine oder andere Partnerin festlegen zu müssen. Doch offenbar hat er bei Jette mit seiner harmlosen Frage einen Damm eingerissen. Sie brummt ungehalten und beginnt, das Drama von Kreta im Detail vor ihm auszubreiten. Dass Thies zwar ein guter Hausmann sei – Herr Vestergaard gehört zu den seltenen Exemplaren von Ehegatten, die zu Hause beim Kind bleiben, damit die Frau Karriere machen kann –, aber leider ein lausiger Erziehungsberechtigter. Zumindest aus ihrer Sicht. Skagen hat ebenso wenig Ahnung von Kindererziehung wie vom heiligen Stand der Ehe und lässt den Redeschwall schweigend über sich ergehen. Jette fuchtelt immer wilder mit einer Hand herum, die Skagen lieber am Lenkrad gesehen hätte. Thies macht dies, Thies macht das. Oder eben auch nicht. Er erlaubt der fünfjährigen Lisa viel zu viele Freiheiten. Schokolade nach dem Zähneputzen, zu spätes Ins-Bett-Gehen, böse Spiele auf dem Tablet-Computer. Skagen bekommt das Gefühl, als könne Thies es Jette niemals recht machen. Er tippt auf ein schlechtes Gewissen, das die gute Frau Vestergaard mit sich herumschleppt, weil sie arbeiten geht und ihr Mann sich um die Tochter kümmert. Aber das behält er schön für sich.

Wenig später fahren sie durch die Hafenstadt Hvide Sande. Ein idyllisches Örtchen mit Backsteinhäusern und kleinen Lädchen. Hier irgendwo am Strand wurde die Leiche gefunden. Jette lenkt den Wagen über eine große Schleuse, die den einzigen Durchlass vom Ringkøbing Fjord ins Meer markiert. Linkerhand liegen hellblaue Fischkutter neben einem historischen Dreimaster in einem Hafenbecken, dahinter erstreckt sich eine graue Wand aus Kühlhallen. Skagen spürt die Nähe des Wassers. Sein Herz macht einen Satz. Seine Füße zucken. Möglichst unauffällig klammert er sich am Sitz fest und starrt geradeaus.

»Was ist? Musst du pinkeln?«, fragt Jette nonchalant.

»Nee, kann nicht mehr sitzen.«

»Wir sind bald da. Noch ungefähr eine halbe Stunde.«

Sie verlassen den Ort und fahren weiter durch die Dünenlandschaft. Jettes unerwarteter Frust-Ausbruch mündet in einem See der Stille, dessen Oberfläche sich mit jedem Kilometer, den sie sich ihrem Ziel nähern, weiter beruhigt. Skagen ist das erste Mal allein mit seiner Chefin unterwegs. Bei den anderen Fällen war immer jemand von den Kollegen oder ein externer Ermittlungsbeamter mit dabei.

Ein Leuchtturm kommt in Sicht. Weiß und aufrecht sticht er in den Himmel. Daneben ducken sich unzählige Häuschen. Der gesamte Holmsland Klit ist ein einziges Feriengebiet. Jette hat nicht übertrieben.

Nach weiteren zehn Kilometern erreichen sie das nördliche Ende des Fjords und biegen in dem kleinen Ort Søndervig nach rechts ab. Endlich fahren sie weg vom Meer. Schon bald kommt Ringkøbing in Sicht, das zwar im Landesinnern, aber dennoch direkt am Fjord liegt. Wie Skagen während der Fahrt übers Internet in Erfahrung gebracht hat, ist die Stadt eine Kommune mit knapp 10.000 Seelen, jedoch ohne nennenswerte Industrie, außer vielleicht der Schweinezucht und Windfarmen.

Im Kongevejen halten sie vor einem roten Backsteingebäude mit einem Uhrenturm auf dem Dach, daneben steht ein hässlicher Mehrzweckbau, der wie drangeklatscht wirkt. Die örtliche Polizeiwache. Sie stellen das Auto auf dem Parkplatz davor ab und betreten das Gebäude. Am Empfangstresen stellt Jette sich und Skagen bei der jungen Polizeiassistentin vor, die ihre weißblonden Haare zu einem ungewöhnlich dicken Zopf geflochten hat. »Milla Jørgensen«, steht auf ihrem Namensschild.

»Goddag. Wir sind von Skanpol aus Hamburg. Kommissar Møller erwartet uns.«

»Ah ja. Bitte kommen Sie mit.« Die junge Polizistin führt sie durch einen Gang mit diversen Büros zu einer offenen Tür, aus der aufgebrachte Stimmen dringen. Sie gibt einem kräftig gebauten Mann mit Halbglatze, der hinter dem Schreibtisch sitzt, ein Zeichen, und das hitzige Gespräch verstummt. Die beiden anderen uniformierten Männer im Büro drehen ihre Köpfe und sehen die Neuankömmlinge an. Ein grauhaariger, hagerer Mann mit schiefer Nase und ein blonder Vorzeigedäne mit modischem Vollbart und Undercutschnitt. Skagen hat spontan das Gefühl, als blicke er in einen Spiegel.

»Na endlich. Die Kollegen von Skanpol.« Der Herr am Schreibtisch wedelt mit der Hand. »Bitte, kommen Sie doch rein.«

Jette und Skagen betreten den fensterlosen Raum, der schon für zwei Leute zu klein ist. Im Hintergrund verabschiedet sich die Polizeiassistentin und geht zurück auf ihren Posten. Zum Glück lässt sie die Tür offen.

»Goddag, mein Name ist Jette Vestergaard, das ist mein Kollege Tom Skagen.« Jette spricht Skagens Namen dänisch aus, sodass er wie »Skäjen« klingt.

Der Kommissar hinter dem Schreibtisch erhebt sich. Sein Grinsen lässt sein gerötetes Gesicht kugelrund und jungenhaft wirken. »Mein Name ist Aksel Møller. Ich leite die Ermittlung im Fall ›Strand‹. Zusammen mit Mads Espersen.« Der Modellwikinger antwortet mit einem freundlichen Augenzwinkern. »Und das ist unser Dienststellenleiter Henning Poulsen.« Der Grauhaarige nickt und schüttelt ihnen nacheinander die Hände.

»Ich hoffe, dass wir den Fall dank Ihrer Mitarbeit schnell aufklären können«, sagt Poulsen ernst. »Wir haben nicht viele Mordfälle hier. Der Bürgermeister will so wenig Aufsehen wie möglich. Die Herbstsaison hat begonnen. Und die Feriengäste sollen nicht auf die Idee kommen, ihren Urlaub zu stornieren. Unsere Region lebt vom Tourismus.«

»Wir hatten nicht vor, Aufsehen zu erregen. Generell hängen wir unsere Ermittlungen nicht an die große Glocke«, entgegnet Jette kühl. Skagen spürt, dass sie Poulsen vom ersten Augenblick an nicht leiden kann. Diesen Espersen dafür offensichtlich umso mehr, denn sie erwidert dessen zustimmendes Lächeln. Skagen hat noch keine Meinung zu diesen Männern. Dafür kennt er sie zu wenig.

»Gut«, sagt Poulsen knapp. »Ich lasse Sie jetzt mit den Kollegen Møller und Espersen allein. Von ihnen werden Sie alle nötigen Details zum Fall erfahren.« Mit steifen Schritten verlässt er das Büro und schließt die Tür. Die Aktenstapel auf den Regalen scheinen zu schwanken, und die fensterlosen Wände des kleinen Raums rücken schlagartig näher. Skagen wird heiß unter seiner Jacke. Er versucht, ruhig zu atmen, und hofft, dass sie für die Besprechung in einen größeren Konferenzraum wechseln. Da wird die Tür erneut geöffnet, und Polizeiassistentin Jørgensen bringt zwei weitere Stühle und eine Kanne Kaffee mit Tassen hinein. Skagen stößt leise Luft aus. Wohl doch kein Konferenzraum. Er zieht seine Jacke aus, hängt sie über einen Stuhl neben Jette und setzt sich, während Mads Espersen an die Wand gelehnt stehen bleibt. Um sich von den beengenden Verhältnissen abzulenken, gießt sich Skagen Kaffee ein. Schwarz, ohne alles. Nach zwei großen Schlucken geht es ihm besser. Gnädigerweise hat die Polizeiassistentin die Tür offen gelassen, und etwas frischer Sauerstoff strömt ins Büro.

»Okay.« Aksel Møller setzt sich auf seinen Schreibtischstuhl. »Dann wollen wir Sie mal briefen.« Er schlägt eine Akte auf, die vor ihm auf dem Tisch liegt, und Skagen kann eine Reihe von Fotos sehen, die die Tote zeigen. Eine junge Frau mit schmalem, fast schon verhärmtem Gesicht ohne große Verletzungen oder Tierfraß. Dunkle Haare, die zusammen mit Seetang und Sand an ihren Wangen kleben. Ihr Mund ist leicht geöffnet, als sei die Frau über ihren Zustand verwundert. Ihre milchigen Augen blicken den Fotografen direkt an und auch wieder nicht.

Skagen reißt sich von den Bildern los und wendet sich Møller zu, der bereits dabei ist, Jette und ihn mit den Fakten zu füttern. Den Teil des Auffindens der Leiche kennt er schon. Nicht aber die Beschreibung des Fundortes.

»Die Leiche lag am obersten Saum, den die Flut hinterlassen hat, circa zehn Meter vom Wasser entfernt. In der Nähe des Leuchtturms, an dem Sie vorbeigefahren sein müssten. Momentan haben wir ruhiges Wetter mit geringem Wellengang. Das heißt, dass das Wasser am Strand nicht sehr hoch steigt. Bei Sturm kann es schon mal bis an die Dünen reichen. Die Tote lag auf dem Bauch. Der Jogger hat sie umgedreht, um zu prüfen, ob sie noch lebt. Direkt danach hat er uns angerufen. Die Fotos zeigen also nicht die ursprüngliche Position des Körpers.« Møller legt ein paar der Aufnahmen auf dem Tisch aus, auf denen die Leiche aus mehreren Perspektiven zu sehen ist, mal mit den Dünen im Hintergrund, mal mit dem Meer. In Skagens Eingeweiden rumort es.

»Anhand der Kleidung, der deutschen Euromünzen in der Tasche und dieser Gebrauchtwagenhändlerkarte«, fährt Møller fort, »haben wir die Tote als Deutsche eingestuft. Ob der Rückschluss stimmt, muss natürlich noch verifiziert werden.«

Jette nickt. »Woher stammt die Karte?«

»Die Telefonnummer auf der Karte hat eine Flensburger Vorwahl.« Møller kramt sie aus der Akte und gibt sie Jette. Der Aufdruck ist vom Meerwasser verwaschen. »Wir haben bereits von den deutschen Kollegen vor Ort prüfen lassen, ob dort eine Frau vermisst wird, auf die die Beschreibung unserer Toten passt. Leider Fehlanzeige. Dafür haben mir die Kollegen empfohlen, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.« Der Kommissar grinst. Aus dem Augenwinkel sieht Skagen, wie Kollege Espersen mit einem leichten Lächeln auf seinem Smartphone herumtippt. Hoffentlich nicht Facebook.

Møller bemerkt Skagens irritiertes Stirnrunzeln, lässt es jedoch unkommentiert. »Die Leiche ist ins Rechtsmedizinische Institut nach Århus gebracht worden. Wir bekommen die Ergebnisse der Obduktion morgen, spätestens übermorgen. Bisher haben wir nur einen deutlichen Anhaltspunkt dafür, dass die Frau vor ihrem Tod misshandelt wurde: eine dunkle Drosselmarke am Hals. Ob Erwürgen tatsächlich die Todesursache ist, bleibt abzuwarten. Der Doc sagt, es gibt keine Stauungsblutung in den Augenlidern oder Anzeichen einer Zyanose, also der Blaufärbung von Körperteilen. Nur das Würgemal.« Møller schiebt eine Großaufnahme über den Tisch, darauf ist ein breiter blauschwarzer Streifen abgebildet, der sich einmal um den Hals der Toten zieht. Er ist circa zweieinhalb Zentimeter breit, an einer Stelle sind Abdrücke von einer Schnalle und kleinen Löchern zu erkennen.

»Sieht aus wie ein schmaler Gürtel«, sagt Jette.

»… oder ein Hundehalsband«, ergänzt Skagen.

»Sexueller Missbrauch?« Jette wirft Møller einen fragenden Blick zu.

»Bis auf die Drosselmarke gibt es keine weiteren äußeren Anzeichen auf Gewalteinwirkung. Eine Sexualstraftat ist jedoch nicht auszuschließen.«

»Was wissen wir über die Drogen, die bei der Leiche gefunden wurden? Heroin und Ecstasy?«

»Genau, es handelt sich um mehrere Tütchen mit je einem Gramm Heroin und mit Ecstasypillen. Insgesamt ein Dutzend. Zu viel für den Eigenbedarf, wenn Sie mich fragen.«

»Also könnte die Frau gedealt haben?«

»Möglich.«

»Dann sollten wir uns in der hiesigen Szene umhören«, schlägt Skagen vor. »Vielleicht weiß einer von den Konsumenten, wer die Frau ist.«

»Die Tote könnte auch eine Touristin sein, die die Drogen nur in kleinen Mengen über die Grenze schmuggelt«, gibt Jette zu bedenken. »Wird von den Urlaubsgästen hier in der Region jemand vermisst?«

»Nein. Wir haben keine derartige Meldung reinbekommen. Und eine Abfrage ihrer Fingerabdrücke hat für Dänemark nichts ergeben.«

»Wir lassen die Prints gleich mal durch das deutsche System laufen«, entgegnet Jette. »Vielleicht ist sie ja dort erfasst.«

Kollege Espersen blickt von seinem Handy auf. Ein schwer zu deutender Ausdruck huscht über sein Gesicht.

»Gab es in letzter Zeit andere Vorfälle in Ringkøbing und Umgebung?«, fragt Skagen. »Irgendetwas Ungewöhnliches?«

Møller schürzt die Lippen. »Vor einer Woche hatten wir einen Autounfall mit zwei deutschen Touristen, aus Bremen. Die sind mit ihrem Wagen in das Hafenbecken von Hvide Sande gestürzt. Beide sind ertrunken. Es waren schon ältere Herrschaften jenseits der 70. Vermutlich hat der Mann das Gaspedal mit der Bremse verwechselt. So was passiert immer mal wieder.«

»Ein tragischer Unfall«, ergänzt Espersen.

Skagen wendet den Kopf und mustert den dänischen Kollegen. Ist da ein leichter Anflug von Belustigung in seiner Stimme zu hören? Espersen guckt unschuldig zurück und zuckt mit den Schultern.

»Okay.« Skagen zieht einen Stift und einen Notizblock aus der Jackentasche und notiert sich die bisherigen Informationen. »Und die Tote hatte keine Geldbörse bei sich?«

»Nein.« Aksel Møller faltet seine Hände auf dem Schreibtisch. »Und auch kein Handy oder irgendwelche Schlüssel.«

»Das ist doch merkwürdig, oder?«, fragt Jette. »Wer verlässt schon sein Haus ohne Schlüssel oder Handy?«

»Vielleicht ein Raubmord«, wirft Espersen ein, ohne von seinem Smartphone aufzusehen. Diesmal klingt er ernst.

»Ohne den Stoff mitzunehmen?« Skagen verzieht skeptisch das Gesicht. »Ich glaube eher, der Mörder will nicht, dass das Opfer so schnell erkannt wird.« Im Raum ist es bullig warm. Skagen krempelt die Ärmel seines Sweatshirts hoch und kritzelt einige Sätze auf den Block. Dabei legt er den Kopf schief.

»Cooles Tattoo.«

Skagen hebt den Blick. Espersen grinst ihn an. »Echt, Mann. Oldschool ist ja wieder in.«

»Danke.« Skagen schiebt die Ärmel zurück nach unten und bedeckt die Tätowierung auf seinem Unterarm. Ein Ankerherz mit einer Banderole. Darauf stehen vier Namen: Alfred, Julia, Sam, Xaashi. »Neben der hiesigen Drogenszene sollten wir mit dem Foto der Toten in Hvide Sande, Ringkøbing und Søndervig herumfragen. Vielleicht hat jemand die Frau gesehen oder kennt sie sogar. Außerdem sollten wir nach einem Auto Ausschau halten, das schon länger nicht mehr bewegt wurde. Die Karte von dem Gebrauchtwagenhändler könnte darauf hinweisen, dass die Tote im Besitz eines älteren Fahrzeugs ist.«

Jette nickt. »Und ich möchte den Finder der Leiche noch einmal befragen. Außerdem wollen wir uns vor Ort ein Bild von der Fundstelle am Strand machen.«

Wir? Skagen erstarrt innerlich. Nein, er will sich ganz bestimmt kein Bild vor Ort am Strand machen. Aber das kann er Jette nicht sagen.

»Darum kümmern wir uns morgen.« Aksel Møller schiebt die Fotos zurück in die Akte. »Heute ist es zu spät dafür. Draußen dürfte es schon dunkel sein. Mads wird Sie zum Hotel begleiten. Ruhen Sie sich aus. Wir treffen uns morgen früh um acht wieder hier. Ich habe veranlasst, dass Ihnen ein Arbeitsplatz mit Zugang zum internen Polizeiserver zur Verfügung gestellt wird. Eine Kopie der Fallakte gebe ich Ihnen schon mal mit.«

Jette nimmt die Akte von Møller entgegen und steckt sie in ihre Umhängetasche. Sie stehen auf.

Mads Espersen streckt Jette eine Hand entgegen. »Sieht schwer aus. Darf ich?«

Jette guckt verdutzt, dann lächelt sie und gibt dem Dänen ihre Tasche. Sie gehen auf den Parkplatz hinaus. Draußen hat die Dämmerung eingesetzt. Die Wolken sind dichter geworden und schieben sich träge über die Dächer der Stadt hinweg. Ein Rest rötlichen Sonnenlichts kitzelt ihre watteartigen Bäuche.

»Es ist nicht weit bis zum Hotel. Sie können Ihr Auto hier stehen lassen«, sagt Espersen, und nachdem Jette und Skagen ihre Taschen aus dem Kofferraum geholt haben, folgen sie ihm durch eine Art Fußgängerzone mit kleinen, sehr touristischen Läden bis zum Hotel Ringkøbing, das direkt am Marktplatz neben dem alten Rathaus liegt. Zwei Zimmer sind dort für sie reserviert. Nachdem Jette und Skagen eingecheckt haben, verabschiedet sich Espersen von ihnen.

»Ach ja. Sie können im Hotel zu Abend essen oder gegenüber im Restaurant Bøffen. Da gibt’s gutes Essen und ein reelles Stück Fleisch, falls Sie keine Vegetarierin sind.« Er zwinkert Jette zu.

Sie lacht. »Nein, das sind wir nicht. Oder, Tom?«

Skagen schüttelt den Kopf. »Fleisch ist okay.«

Jette bedankt sich für den Tipp und sieht dem dänischen Polizisten nach, wie er mit raumgreifenden Schritten davongeht. Das Klingeln ihres Handys reißt sie aus ihrer Betrachtung, und hastig angelt sie das Gerät aus der Tasche. »Thies, was gibt’s? Nein, du weißt doch, dass ich ein paar Tage in Dänemark bin. Natürlich hab ich dir das gesagt, ich … Ach, hör endlich auf. Du kannst Lisa nicht ständig … Was? Ich bin eine Rabenmutter? Das glaub ich jetzt nicht. Wer schafft denn die Kohle ran? Du …«

Skagen hat keine Lust, sich den Ehekrach weiter mit anzuhören, und verdrückt sich leise auf sein Zimmer.

Stunden später liegt er in seinem Bett im Hotel und starrt auf die dunkle Wand, an der ein Bild von einem Fischkutter hängt. Nach dem Abendessen im Bøffen haben Jette und er sich noch einmal zusammengesetzt und sind die Akte des Falls »Strand« durchgegangen. Leider hat sich aus den bisher gesammelten Informationen nichts Neues ergeben. Es ist vorerst bei einem möglicherweise mit Drogen zusammenhängenden Tötungsdelikt an einer unbekannten Frau geblieben. Vielleicht ist sie in das Revier eines lokalen Dealerrings eingedrungen … ob nun beabsichtigt oder unbeabsichtigt. Gut möglich ist aber auch, dass es sich um eine Beziehungstat handelt. Bei 50 Prozent aller Morde an Frauen ist ein Mann aus dem näheren Umfeld der Täter. Freund, Ex-Freund, Ehemann, Bruder, Vater, Onkel … Sobald sie wussten, wer das Opfer ist, wären sie ein großes Stück weiter. Leider hat auch der Abgleich der Fingerabdrücke im deutschen Register nichts ergeben. Die Frau aus dem Meer bleibt weiterhin namenlos.

Skagen schließt die Lider. Das Kopfkissen schmiegt sich weich an seine Wange. Vor seinem inneren Auge erscheint das Bild der Toten. Ihre nasse Kleidung, die verklebten Haare, der Sand an ihrer Wange. Skagen spürt, wie die Angst leise in seine Glieder kriecht. Sie kribbelt durch seine Fußsohlen bis hinauf in seine Beine und ergießt sich heiß in seinen Unterleib. Dazu kommt das Gefühl der Hilflosigkeit, die sich wie Hunderte kleiner Haken in seine Haut bohrt und von allen Seiten zu ziehen beginnt. Er öffnet die Augen und starrt wieder an die Wand. Das Bild von dem Fischkutter ist noch da. Das der toten Frau auch.

Skagen reibt sich die Augen. Solche Nächte hat er oft. Sie sind schlimm. Wenn die Erinnerungen aus den Tiefen aufsteigen wie versunkene Geisterschiffe.

Sein Blick wandert zum Nachttisch. »1:15 Uhr«, zeigt der Wecker in roten Leuchtziffern. Noch mögliche fünfeinhalb Stunden Schlaf. Er sollte sie nutzen, morgen würde es ein anstrengender Tag werden. Aber jedes Mal, wenn Skagen die Augen schließt, taucht das Meer vor ihm auf. Obwohl er seit zehn Jahren nicht mehr zur See fährt, schwankt der Boden unter seinem Bett. Er streckt eine Hand zum Handy auf dem Nachttisch aus. Schwebend verharrt sie über dem Gerät. Er möchte Evelyn anrufen. Sie kann ihm helfen. Evelyn ist eine gute Fee. Sein You-never-walk-alone-Kumpel. Eine ähnlich verwundete Seele.

Doch nach einer Weile lässt er die Hand sinken. Er weiß, dass er sich da alleine durchkämpfen muss. Evelyn kann sich lediglich seine Nöte anhören oder seine Hand halten, wenn ihn die Vergangenheit wieder einmal überrollt, aber die Haken in seiner Haut kann er nur alleine herausziehen. Er. Ganz. Allein.

5

Der Drucker schnurrt und wirft den letzten Bogen Papier aus. Es ist Standard-Kopierpapier, das man in jedem Laden kaufen kann. Dieses stammt aus Esbjerg. Niemand würde es zurückverfolgen können. Auch den Drucker hat er extra für diese Sache angeschafft. Ein Epson-Multifunktionsdrucker, ein Allerweltsgerät.

Der Mann wendet sich mit seinem Drehstuhl um und nimmt drei Briefe aus dem Drucker. Sorgfältig faltet er sie zusammen, Ecke auf Ecke, und streicht die Falze mit seinen Händen glatt, die in weißen Handschuhen stecken. Danach tütet er die Briefe in drei braune Umschläge ein und legt sie säuberlich nebeneinander auf den Schreibtisch. Eins, zwei und drei. Auf jedem Umschlag klebt ein Etikett mit aufgedrucktem Namen und Adresse.

Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Erwartungsvoll pocht es in seiner Brust. Er darf jetzt keinen Fehler machen. Ab jetzt läuft die Uhr. Er greift nach seinem Fotoapparat und stemmt sich aus dem Stuhl. Im hinteren Teil des Büros ist ein Hund angeleint. Er winselt, als der Mann sich ihm nähert. Beruhigend tätschelt er ihm den Kopf. Das Vieh öffnet sein Maul und sabbert auf seinen Handschuh. Angewidert wischt er den Speichel ab und macht ein paar Bilder von dem Hund. Zurück am Schreibtisch steckt er die SD-Karte in den Reader und lädt die JPG-Dateien auf seinen Rechner. Kurz darauf schnurrt erneut der Drucker. Heraus kommen zwei Fotos, einmal der Hund im Ganzen und einmal eine Großaufnahme von seinem Kopf. Die Namensplakette am Halsband ist gut zu erkennen. Wieder lächelt der Mann. Hinter ihm gibt der Hund einen japsenden Laut von sich. Vielleicht hat er Durst. Der Mann nimmt die Fotos, steckt sie in den ersten Umschlag und klebt ihn zu. Vorsichtig, als sei er etwas sehr Wertvolles, legt er den Brief zur Seite. Noch heute Nacht würde er ihn beim Empfänger einwerfen.

Erneut jault der Hund, und als er sich zu ihm umdreht, guckt der Golden Retriever ihn treudoof an, wedelt ein-, zweimal mit dem Schwanz. Na gut. Der Mann steht auf, stellt ihm eine Schüssel mit Wasser hin und gibt ihm den Rest seines Sandwiches zu fressen. Dann schlüpft er in eine gelbe Jacke, setzt sich eine Schirmmütze mit einem Logo auf, nimmt den ersten Brief und geht zur Tür.

»Gute Nacht, Bosco«, sagt er und löscht das Licht.

6

Sonntag, 16. Oktober

»Godmorgen«, begrüßt Aksel Møller sie am nächsten Morgen auf der Polizeiwache mit einem jugendlichen Grinsen. Seine Wangen glänzen rot, als habe er mehrere Aquavit im Kaffee gehabt. »Wir haben für die SOKO – so nennen Sie das doch in Deutschland, nicht wahr, Jette? –, also wir haben für die SOKO ›Strand‹ einen eigenen Raum eingerichtet. Im ersten Stock. Dort haben Sie auch Ihren Computerzugang.«

»Wunderbar.« Jette lächelt zurück. Sie hat gute Laune, denn Thies hat heute noch nicht angerufen, um sich mit ihr zu streiten. Seit dem Kreta-Urlaub liegt er ihr damit in den Ohren, dass er wieder arbeiten möchte, und im Prinzip hat Jette nichts dagegen, aber dann müssten sie eine Betreuung für Lisa finden. Zumindest am Nachmittag. Und das geht nicht von heute auf morgen. Thies muss sich eben darum kümmern. Sie hat keine Zeit und will in ihrem Job auf keinen Fall kürzertreten. Dafür liebt sie ihn viel zu sehr. Skanpol ist genau das, wofür sie Polizistin geworden ist.

Sie wirft einen kurzen Blick auf ihren Kollegen Tom, der heute irgendwie blass aussieht. Hoffentlich wird er nicht krank. Sie hat wenig Lust, das hier allein durchzuziehen. Außerdem ist sie gerne mit ihm unterwegs. Er ist so angenehm still.

Sie folgen Møller hinauf in ihr vorübergehendes Büro. An der Tür hängt ein DIN-A4-Zettel mit dem aufgedruckten Wort »Strand« darauf. Dahinter liegt ein umfunktionierter Besprechungsraum, spärlich möbliert, aber von ausreichender Größe.

»Kaffee und Tee gibt’s in der Nische auf dem Flur. Kekse auch.«

»Danke, Aksel.« Jette nickt dem Kommissar freundlich zu. »Was macht die Obduktion der Leiche?«

»Noch keine Nachricht.«

»Schade.« Jette wendet sich an Espersen, der in der Tür lehnt und gerade etwas auf seinem Handy tippt. »Hej, Mads, fahren wir raus zu dem Mann, der die Tote gefunden hat?«

»Mein Wagen steht vor der Tür.« Espersen neigt sein Haupt, als sei sie Königin Margrethe von Dänemark, und schenkt ihr ein warmes Lächeln. Jette fühlt sich geschmeichelt. Der dänische Kollege sieht wirklich gut aus. In Gedanken schlägt sie sich auf die Finger. Mads ist zehn Jahre jünger als sie – mindestens. Es wäre ein Wunder, wenn er sich ernsthaft für sie interessieren würde.

Sie erwidert sein Lächeln, und wenig später sitzen sie zusammen mit Tom im Streifenwagen. Sie fahren in die Ferienhaussiedlung von Klegod, die ein paar Kilometer südlich von Søndervig liegt. Das Wetter hat sich seit gestern verschlechtert, Wind rüttelt am Wagen und ein steter Nieselregen besprüht die Windschutzscheibe. Die Fahrt dauert 20 Minuten. Hinter dem Schild Opstrupsvej lenkt Espersen den Streifenwagen von der Hauptstraße auf einen Schotterweg, der sich kurz darauf in unzählige weitere Wege verästelt. Sie biegen erneut ab und tauchen in ein Labyrinth aus Ferienhäusern ein. Nach wenigen Metern flucht Espersen plötzlich, setzt den Wagen zurück und nimmt eine andere Abzweigung.

»Ich wohne hier seit meiner Kindheit und trotzdem verfranse ich mich regelmäßig. Als ob die Straßen über Nacht neu verlegt werden.«

Jette gibt einen amüsierten Laut von sich. »Das sieht aber auch alles gleich aus. Haus an Haus. Ich weiß schon gar nicht mehr, wo es zur Hauptstraße geht. Immerhin gibt es Straßennamen.«

»Kræ Degns Vej Nummer 36. Da drüben ist es.« Espersen fährt auf die sandige Einfahrt und parkt neben einem dunklen Geländewagen aus Celle. Sie steigen aus und klopfen an die Tür des modernen, pechschwarz gestrichenen Blockhauses. Ein schlanker Mann um die 40 mit kahlrasiertem Schädel und in eng anliegender Laufhose öffnet ihnen. Er scheint Espersen zu erkennen, denn er sagt auf Englisch: »Sie schon wieder. Geht es um die Leiche? Ich wollte gerade laufen gehen.«

Espersen nickt. »Wäre schön, wenn Sie das um ein paar Minuten verschieben könnten, Herr Saalfeldt«, sagt er ebenfalls auf Englisch. »Das hier sind Frau Vestergaard und Herr Skagen von der Polizei aus Deutschland …«

»Von Skanpol in Hamburg«, verbessert Jette.

»Verzeihung, von Skanpol«, fährt Espersen fort. »Die beiden haben ein paar Fragen an Sie.«

Saalfeldt zögert. Schließlich öffnet er die Tür ganz. »Na gut. Kommen Sie rein.«

Sie gehen mit Herrn Saalfeldt in die Küche, wo dessen Frau gerade dabei ist, Frühstück für die zwei kleinen Kinder zu machen. »Die Polizei. Sie wollen noch mal über die … Sache von gestern reden«, sagt Saalfeldt etwas kryptisch. »Wir gehen ins Wohnzimmer.«

Seine Frau nickt, während die Kinder am Esstisch neugierig ihre Hälse recken. Im Wohnzimmer setzen sie sich auf ein ausgreifendes IKEA-Sofa. Jette erklärt noch einmal, wer sie sind, und beginnt mit den Fragen. Diesmal auf Deutsch.

»Ähm, können wir weiter auf Englisch reden? Die Kinder sollen davon nichts mitbekommen.« Herr Saalfeldt wirft einen Blick über die Schulter zur Küche.

»Selbstverständlich, wenn Ihnen das lieber ist.«

»Gut. Und um gleich Ihre erste Frage zu beantworten: Nein, ich kenne die Tote nicht. Hab sie nie zuvor gesehen.«

Jette bemerkt, dass Saalfeldts Englisch ausgezeichnet ist. Er scheint sich in der Sprache wohlzufühlen.

»Um wie viel Uhr haben Sie sie gefunden?«, fragt Tom daraufhin.

»Das muss ziemlich genau zehn vor acht gewesen sein. Gestern Morgen bin ich früh aufgestanden und um halb acht los, noch vor dem Frühstück. Bis zum Leuchtturm brauche ich am Strand entlang 20 Minuten, mit Rückenwind. Zurück laufe ich hinter den Dünen auf dem Radweg. Das geht meist schneller. Ich messe immer meine Zeit.« Saalfeldt hebt seinen Arm, an dem eine Laufuhr hängt.

»Okay.« Jette rückt auf dem weichen Sofa in eine bequemere Position. »Haben Sie außer der Leiche noch etwas am Strand bemerkt? Spuren im Sand vielleicht?«

»Spuren? Nein, darauf habe ich nicht geachtet. Ich dachte, die Frau sei ohnmächtig, ich wollte schnell helfen.«

Jette bemerkt im Augenwinkel, dass Tom den Kopf wendet und sich in dem Wohnzimmer umsieht. Espersen steht im Hintergrund und guckt auf sein Handy. »Waren da noch andere Sachen?«, fragt sie weiter. »Treibgut oder irgendwelche Gegenstände, die die Tote verloren haben könnte?«

»Nein, nur Seetang und Steine.« Saalfeldt scheint etwas einzufallen, denn seine Brauen rutschen nach oben. »Oder doch. Da lag ein Netz in der Nähe.«

Jette sieht Espersen an, der von seinem Smartphone aufblickt und nickt. »Das Teil befindet sich in der Asservatenkammer.«

Im Geiste geht Jette die Liste mit den Fundstücken durch, die im Umkreis von 500 Metern um die Leiche sichergestellt worden sind: Treibholz, Seetang, Teerklumpen, ein alter Arbeitshandschuh, haufenweise Plastikmüll, darunter ein leeres Pillenblister und ein alter Schnuller, ein Benzinkanister und das Fischernetz. Nichts Ungewöhnliches. Solche Dinge werden beinahe stündlich vom Meer angespült.

»Gut. Wir werden uns die Fundstücke später vornehmen.« Jette wendet sich an Saalfeldt. »Sie haben die Frau umgedreht, um zu erkennen, ob sie noch lebt? Sonst haben Sie nichts mit ihr gemacht?«

»Nein.« Saalfeldt wischt sich über den Mund. Er wirkt sichtlich angeschlagen. »Na ja, ich habe nach ihrem Puls gefühlt. Sie war ganz kalt. Und da waren diese schrecklichen Male am Hals. Danach hab ich sofort die Polizei gerufen und nichts mehr angefasst. Aber das habe ich alles schon Ihrem Kollegen da erzählt.« Er zeigt auf Espersen.

»War sonst noch jemand mit Ihnen am Strand, als Sie die Leiche gefunden haben?«

»Nein, es war noch zu früh für Spaziergänger. Um diese Zeit ist der Strand meistens leer.«

»War ein Boot auf dem Wasser?«, wirft Tom ein. Guter Gedanke.

Saalfeldt fährt sich mit einer Hand über den rasierten Schädel. »Puh! Keine Ahnung. Kann mich nicht erinnern.«

»Okay, vielen Dank für Ihre Auskunft.« Jette und Skagen erheben sich und Espersen steckt sein Handy weg. »Damit sind wir fertig.«

»Wollen Sie wegen der Sache frühzeitig abreisen?«, erkundigt sich Tom noch bei dem Deutschen. Er zeigt auf zwei Koffer, die im Flur stehen.

»Ach, die Koffer. Damit haben die Kinder Pferdereiten gespielt. Nein, wir bleiben hier, wir sind ja erst seit einer Woche da. Und die Kinder wissen nichts davon. Ich habe ihnen erzählt, dass ich ein gestrandetes Schiff gefunden habe, und dass die Polizei deswegen zu uns kommt.«

Tom verzieht lächelnd den Mund. »Ich hoffe, Sie können Ihren Urlaub trotz allem noch genießen.«

»Ja, danke. Wissen Sie denn schon, wer die Tote ist?«

»Leider nicht.«

Saalfeldt nickt und führt Jette und die anderen beiden zur Tür. Sie verabschieden sich von dem Deutschen und gehen zum Streifenwagen. Espersen öffnet die Fahrertür und hält sein Handy hoch. »Aksel Møller hat gerade eben geschrieben, dass die kaputten Drogenheinis, die sie bislang befragt haben, die Tote nicht kennen.« Damit schiebt er sich hinters Lenkrad.

»Okay. Schade.« Jette ist enttäuscht. Sie hat gehofft, eine erste Spur aus der Drogenszene zu erhalten. Auch Tom wirkt unzufrieden.

»Was jetzt?«, fragt er.

»Wir fahren zum Fundort am Strand«, antwortet Jette.

Espersen nickt, doch Tom verzieht das Gesicht und wirft einen besorgten Blick auf die Dünen. Er sieht immer noch nicht gut aus.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt sie ihn.

»Klar«, entgegnet Tom und setzt sich mit grimmiger Miene auf den Rücksitz des Streifenwagens.

7

»Jonas, lauf nicht so weit vor. Da kommt ein Auto«, ruft Stefanie, woraufhin Jonas mitten im Lauf anhält und sich umdreht.

»Das ist ein dänisches Polizeiauto!« Vor Begeisterung strahlend zeigt er auf den weiß-blauen Wagen, der langsam auf dem Schotterweg an ihnen vorbeifährt. Markus sieht drei Leute darin sitzen. Der Fahrer hebt grüßend eine Hand. Markus grüßt zurück.

»Ist was passiert?«, fragt Stefanie, als sie zu ihm aufschließt.

»Die machen bestimmt nur eine Kontrollfahrt«, beruhigt Markus sie.

»Hier im Ferienhausgebiet?«

»Warum nicht?«

»Papa, dürfen wir in den Dünen spielen?« Jonas lacht ihn an, seine Kapuze wird zum wiederholten Mal von seinem Kopf geweht, und die braunen Locken fliegen im Wind. Zum Glück hat der Nieselregen aufgehört.

Markus betrachtet gedankenverloren die hohen, von Strandhafer bewachsenen Sandberge. Als Kind ist er mit seinen Eltern oft nach Dänemark gefahren, und das Herumtoben in den Dünen ist ihm dabei als der größte Spaß im Gedächtnis geblieben. Warum hat er nur so lange gewartet, mit seinen Kindern auch endlich hierherzufahren? Das hätte er längst tun sollen. Vergiss Mallorca. Dänemark ist der optimale Ort für einen Familienurlaub. Kein Sonnenstich, kein Massenandrang am Pool, keine überfüllten Hotels mit bescheuerten Animationen. Ein Grinsen spannt seine Wangen. Hier gibt es nur den ewig langen Strand, wenig Menschen und viel Ruhe.

Markus dreht sich zu seinen Kindern um. »Na gut. Wer mich fängt, bekommt nachher ein Softeis!« Er läuft los, und Jonas und Ina rennen vor Freude kreischend hinter ihm her.

Der Sand ist locker, das Laufen ein Kraftakt, trotzdem fühlt Markus sich pudelwohl und joggt ohne anzuhalten weiter. Oben auf dem Dünenkamm empfangen ihn eine steife Windbö und die tolle Aussicht auf das graue aufgewühlte Meer. Die Wellen rollen schäumend an den Strand. In der Ferne kämpft sich ein Fischkutter durch die See. Atemlos lässt Markus sich mit dem Rücken in den Sand fallen. Jonas und Ina holen ihn ein und werfen sich auf ihn.

»Hab dich, Papa«, ruft Ina.

»Ich auch.« Jonas trommelt mit beiden Händen auf Markus’ Brust. »Kriegen wir jetzt ein Eis?«

»Ich hab gesagt nachher, wenn wir in Søndervig beim Einkaufen sind. Erst gehen wir spazieren.«

»Spazierengehen ist langweilig«, nörgelt Jonas.

»Nicht am Strand. Da gibt’s so viel Spannendes zu entdecken.« Markus steht auf und klopft sich den Sand von der Kleidung. Er fängt Stefanies tadelnden Blick auf, der sagt: »Du saugst später die Kinder ab.« Für Markus ist das okay. Er liebt die Dünen. Als sie jauchzend das Gefälle zum Strand hinunterrennen und dabei Sand in die Schuhe bekommen, ist das Kindheitsgefühl in Markus vollkommen. Tief saugt er die salzige Luft ein und hält sein Gesicht in den Wind. Herrlich!

Jonas und Ina laufen zum Wasser, magisch angezogen von den Schaumbergen, die die Wellen dort auftürmen. Markus hat irgendwann mal was darüber gelesen: Das ist das Eiweiß von den in der Brandung zerschlagenen Algen. Begeistert beginnen Jonas, Ina und Stefanie darauf herumzuhüpfen. Zerstampfen einen Schaumberg nach dem anderen, lösen ihn in Luft auf. Markus wendet sich um und blickt zurück auf die wuchtige Linie aus Sanddünen, die den Holmsland Klit vor dem Meer schützt. Ein fragiles Ökosystem in dieser rauen Umgebung. Auf einer der Dünen steht eine Gestalt, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, die Hände in den Jackentaschen vergraben. Die Reglosigkeit, mit der sie zu ihnen herunterstarrt, lässt Markus die Stirn runzeln. Doch der Mann oder die Frau ist zu weit entfernt, um mehr erkennen zu können.

Aufgeregtes Hundegebell reißt Markus aus seinen Gedanken. Als er sich umdreht, sieht er, dass sich die Familie aus dem Nachbarhaus zu ihnen gesellt hat und die Kinder nun gemeinsam die Schaumberge dezimieren. Der braune Terrier springt bellend den davonwehenden Schaumflocken hinterher und versucht vergeblich, sich eine von ihnen zu schnappen. Markus geht zu Stefanie, die bereits im Gespräch mit den beiden Nachbarn ist.

»Das ist mein Mann Markus«, stellt sie ihn vor und hakt sich bei ihm ein.

»Vera und Piet Hoffmann.« Der Mann streckt Markus die Hand hin.

»Nett, Sie kennenzulernen«, entgegnet Markus. »Die Kinder scheinen sich ja prächtig zu verstehen.«

»Ja. Total super, nicht wahr? Ich find’s gut, dass Emma und Nils hier gleich Spielkameraden gefunden haben. Und das nur ein Haus weiter. Perfekt.«

Das denkt sich Markus ebenfalls. »Sie kommen aus Hamburg?«

»Jau. Aus Eidelstedt. Und Sie?«

»Wir wohnen in Altona, in der Nähe vom Volksparkstadion.«

»Oh, das ist ja gar nicht so weit weg von uns. Sind Sie auch HSV-Fan?«

»St. Pauli.«

»Puh.« Piet Hoffmann bläst die Backen auf. »Das muss für Sie eine Qual sein, neben dem HSV-Stadion zu wohnen.«

»Nur bei Siegen, und die sind ja momentan nicht so häufig«, feixt er zurück.

Hoffmann grinst. Trotz der Feindschaft ihrer Vereine verstehen sie sich. »Wollen wir zusammen am Strand weitergehen? Dann können die Kinder noch ein wenig miteinander toben.«

»Super Idee«, wirft Stefanie ein. »Stell dir vor, Markus, Vera arbeitet in dem Café, in dem ich öfter meine Mittagspause verbringe. Ist doch ein Ding, dass wir uns dort noch nie begegnet sind, oder?«

Die Kinder im Schlepptau setzen sie sich in Bewegung und gehen nach Norden in Richtung Søndervig. Markus sammelt Feuersteine mit Loch vom Strand auf und steckt sie in eine Tüte in seiner Jackentasche. Daraus würden sie später mit den Kindern Steinketten basteln. Der Terrier der Hoffmanns jagt immer noch wie ein Verrückter den Schaumkaninchen hinterher. Eines hat es bis zu den Dünen geschafft und fliegt geradewegs den Sandberg hinauf. Der Terrier flitzt ihm nach.

»Toby! Jetzt ist es gut. Komm her!«

Der Hund hört nicht. Verschwindet im Strandhafer.

»Toby! Pfui!« Hoffmann schimpft und pfeift, aber der Hund kommt nicht.

»Was hat er denn jetzt schon wieder?«, brummelt Hoffmann. Seine Frau guckt besorgt zu der Düne hinauf, hinter der der Terrier abgetaucht ist. Es ist dieselbe, auf der Markus vorhin die Gestalt entdeckt hat. Doch die ist ebenso verschwunden wie der Hund.

»Büxt der Hund öfter aus?«, fragt er.

»Manchmal. Wenn Toby was Interessantes gefunden hat, hört er nicht für fünf Pfennig.« Hoffmann ruft und pfeift erneut. »Verdammt, ich geh den Strolch holen.«

»Wir kommen mit. Zusammen kriegen wir ihn schneller«, schlägt Stefanie vor. Hoffmann nickt und stapft voran, immer wieder nach dem Hund rufend. Markus, Vera und die Kinder folgen ihm.

Auf einer höheren Dünenkrone bleiben sie stehen. Auf der einen Seite befindet sich der Strand, auf der anderen die Dünen mit dem dahinterliegenden Ferienhausgebiet. Aber kein Hund weit und breit. Und auch sonst niemand, den man hätte fragen können.

Nach Spuren Ausschau haltend wandern sie weiter durch den Sand. Hoffmanns Laune ist deutlich getrübt. Markus schmunzelt. Vielleicht sollte der Nachbar mal mit Toby zur Hundeschule gehen. Könnte helfen.

In einer Sandkuhle entdecken sie Pfotenabdrücke und folgen ihnen. Dabei stoßen sie auf einen großen dunkelgrauen Betonwürfel, der halb von einer Düne verschluckt wird. Oder ausgespuckt, je nachdem, wie man es sehen will.