Rückblick aus dem Jahre 2000 - Edward Bellamy - E-Book

Rückblick aus dem Jahre 2000 E-Book

Bellamy Edward

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Beschreibung

Herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Both Julian West schläft im Boston des Jahres 1887 ein − und wacht im Boston des Jahres 2000 auf! Die Welt hat sich grundlegend verändert. Sein Gastgeber, der Arzt Dr. Leete, führt ihn durch eine Stadt, die er zu kennen glaubte, und er erlebt eine Überraschung nach der anderen. Denn die Menschheit hat endlich den Schritt hin zum idealen Gemeinwesen getan ... oder? Looking Backward: 2000-1887, im Original erstmals im Jahr 1887 erschienen, ist die erfolgreichste Utopie des 19. Jahrhunderts und die vielleicht meistgelesene Utopie überhaupt. Dem Buch wurde die Ehre zuteil, von zahllosen Anhängern und Kritikern nachgeahmt zu werden, und es liefert bis heute Zündstoff für Diskussionen darüber, wie eine gerechte Gesellschaft einzurichten sei. Die vorliegende Neuausgabe verbindet die wirkungsmächtige Übersetzung von Clara Zetkin mit einer neuen Einleitung, die − erstmals in deutscher Sprache − umfassend auf das Leben Bellamys eingeht und einen Schwerpunkt auf die Rezeption im deutschsprachigen Raum legt. Im Anhang werden ein aussagekräftiger Ausschnitt aus Bellamys eigener Fortsetzung Equality sowie die Rezension des Buches von William Morris publiziert. Durchgesehene Neuausgabe

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Seitenzahl: 492

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Titel der Originalausgabe:

Looking Backward: 2000–1887 (1887)

Bitte beachten Sie die Quellenangaben auf Seite 341

© der Einführung 2013 by Wolfgang Both

© dieser Ausgabe 2013 byGolkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektorat: Anne-Minou Fengler

Titelgestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36 | 12683 Berlin

[email protected] | www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-944720-10-4 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-944720-11-1 (E-Book)

Inhalt

Titel

Impressum

Der Rückblick aus dem Jahr 2000 – eine Einführung

Einleitung von Clara Zetkin

Vorwort des Autors

Edward Bellamy: Rückblick aus dem Jahre 2000

1. Kapitel – Der Kapitalismus der Vergangenheit

2. Kapitel – Julian West schläft ein

3. Kapitel – Julian Wests Erwachen

4. Kapitel – Die Familie Dr. Leetes

5. Kapitel – Vom Monopolkapitalismus zum Staatssozialismus

6. Kapitel – Die allgemeine sozialistische Arbeitsdienstpflicht

7. Kapitel – Berufsausbildung und Berufswahl

8. Kapitel – Dem Wahnsinn nahe

9. Kapitel – Gleicher Lohn

10. Kapitel – Besuch im Warenhaus

11. Kapitel – Im Musikzimmer

12. Kapitel – Ansporn zur Arbeit und Behandlung der Arbeitsunfähigen

13. Kapitel – Weltstaatenbund und Güteraustausch

14. Kapitel – Im Speisehaus

15. Kapitel – Bücher und Presse

16. Kapitel – Julian West wird Geschichtsprofessor

17. Kapitel – Staatsverfassung und Wirtschaftsordnung

18. Kapitel – Muße und Sport

19. Kapitel – Justiz und Verwaltung

20. Kapitel – Erinnerung an die Vergangenheit

21. Kapitel – Schule und Erziehung

22. Kapitel – Die Überlegenheit der sozialistischen Produktivität

23. Kapitel – Ein Geheimnis

24. Kapitel – Die Nationalistenpartei

25. Kapitel – Frau und Kind im Sozialismus

26. Kapitel – Die Predigt eines sozialistischen Geistlichen

27. Kapitel – Eine Liebeserklärung

28. Kapitel – Ein schlimmer Traum

ANHANG

Anmerkungen von Julian West

»Die Parabel vom Wasserbecken«

William Morris über Edward Bellamy

Die Schnelligkeit des Weltfortschritts

Quellenangaben

Weitere Bücher bei Golkonda

Phantastik im Golkonda Verlag

Der Rückblick aus dem Jahr 2000 – eine Einführung

Als dieses Buch vor inzwischen 125 Jahren erschien, löste es weltweite Reaktionen aus, in Zeitungsredaktionen wie in Parteizentralen, in Debattierklubs wie in Arbeiterzirkeln. Zahllose Nachahmer und Trittbrettfahrer nahmen sich des Stoffs an, es brachte wütende Gegenreaktionen hervor. Innerhalb von zwei, drei Jahren erschien es in mehr als fünfzehn Sprachen, es war eines der meistverkauften Bücher seiner Zeit. Und es brachte dem Verfasser einen dauerhaften Platz in der Geschichte der utopischen Literatur. Auch heute hat es nichts von seinem Reiz verloren, uns aus einer besseren Zukunft zu berichten.

Bellamys Roman wird hier in der deutschen Übersetzung von Clara Zetkin (1857–1933) vorgelegt. Die Einleitung widmet sich zunächst der Biographie des Autors, um dann kurz die Rezeption des Buches in Deutschland zu beleuchten. Ihr dritter Teil geht der Frage nach, warum Utopien und speziell Bellamys Buch von den Sozialisten so vehement abgelehnt wurden.

Edward Bellamy und sein amerikanisches Umfeld

Edward Bellamy war der Sohn eines US-amerikanischen Baptistenpfarrers. Er wurde am 26. März 1850 in Chicopee Falls (Massachusetts), einer kleineren Industriestadt in der Nähe von Springfield geboren. Die Vorfahren der Bellamys waren nach 1630 aus England eingewandert. Edwards Vater und Großvater waren angesehene Mitglieder der Baptistengemeinde. Sein Vater lebte nicht nur von den Spenden der Gemeindemitglieder, er besaß auch mehrere Immobilien in Chicopee Falls.

Die Lage an den Flüssen Chicopee und Connecticut begründete bereits nach 1810 die industrielle Entwicklung des Ortes, ein Sägewerk und eine Textilfabrik waren die ersten Ansiedlungen am Fluss. Die Umgebung war stark landwirtschaftlich geprägt. Um 1850 lebten in Chicopee etwas über 8.000 Menschen. Während des Bürgerkrieges war Chicopee Falls eine der Waffenschmieden der Unionisten. Man nannte sie das »Arsenal Lincolns«. Zeitweise waren 3.000 Menschen in der Waffenproduktion beschäftigt.

Die Textilindustrie erlebte in dieser Zeit allerdings einen ersten Niedergang, die Zahl der Beschäftigten sank während des Bürgerkrieges auf nur ein Viertel der Vorkriegsstandes. Danach erholte sich Chicopee Falls langsam. Es gab einen starken Zuzug von Iren, dann Franzosen und Polen (von denen sich die protestantischen Yankees abgrenzten). Während die Nachkommen der frühen Einwanderer die Führungspositionen in den Fabriken besetzten, waren die neu Zugezogenen vorrangig gelernte und ungelernte Lohnarbeiter. Mitte der 1880er Jahre war Chicopee eines der Zentren der Baumwollindustrie sowie des Maschinenbaus. Die Stadt zählte inzwischen mehr als 11.000 Einwohner. Die städtische Infrastruktur wuchs nicht im gleichen Maße, sodass sich die hygienischen Verhältnisse deutlich verschlechterten. Die Gesundheitsbehörde sah sich gezwungen einzugreifen. All das waren Lebensverhältnisse, die der junge Edward auch kennenlernte.

Ihm und seinen Brüdern Packer (geboren 1843), Frederick (1847) und Charles (1852) sicherte der christlich-liberale Haushalt seiner Eltern jedoch eine relativ sorgenfreie Jugend und Schulausbildung in der kleinen Industriestadt. Sein Vater Reverend Rufus Bellamy (1816–1886) war Vorstand der Baptistengemeinde in Chicopee. Er heiratete Maria Putnam im Jahr 1839. Edwards Mutter Maria Putnam Bellamy (1816–1892) war eine gebildete Frau, die von ihrem Vater, ebenfalls ein Baptistenpfarrer, eine gediegene humanistische Ausbildung einschließlich Latein und Griechisch erhalten hatte. So zählte eine umfangreiche Bibliothek zum Hausstand der Bellamys. Neben der Glaubenslehre und Gebeten spielten Bildung und Erziehung eine bedeutende Rolle im Leben der Familie. Edwards Eltern waren in Wesen und Erscheinung recht unterschiedlich: Während Rufus Bellamy ein korpulenter, jovialer und liberaler Vorstand seiner Gemeinde war, wird seine Mutter als schlanke, ja zarte Erscheinung beschrieben, die in ihrer Art aber eher orthodox auftrat. Ihre Schwiegertochter beschrieb die Situation später einmal so: Rufus wurde von der Gemeinde verehrt, Maria wurde respektiert.

Edward war ein ernsthafter Junge. Bereits mit zwölf Jahren verfasste er ein eigenes Regelwerk mit 13 Grundsätzen (die sich nicht an den Zehn Geboten orientierten). Er vertiefte sich früh in die Werke der Weltliteratur. Diese intellektuelle Bildung zeigte Wirkung, denn Edward wurde einer der Sprecher im Debattierklub seines Lyzeums. Mit 14 Jahren erhielt er die Erwachsenentaufe der Baptisten und wurde so Mitglied in der Gemeinde seines Vaters.

Obwohl er den Bürgerkrieg nicht direkt vor der Haustür erlebte, beeindruckten ihn doch die Biografien von Napoleon oder Admiral Nelson. Einer seiner Vorfahren, Samuel Bellamy, war Seemann und Pirat gewesen. So überlegte er, eine militärische Laufbahn einzuschlagen. Allerdings scheiterte er auf Grund seiner körperlichen Konstitution bereits in der Aufnahmeprüfung an der West Point Academy. Daher begann er 1867 ein Studium am Union College von Schenectady, New York. Während dieser Zeit war er Mitglied in der Alpha Kappa Epsilon Bruderschaft.

Offenbar fesselten ihn die Lehrinhalte nicht sonderlich, denn auf Drängen seiner Eltern nutzte er das Angebot einer Tante und ging 1868 mit seinem Vetter Francis auf eine Europareise. Neben Frankreich und Österreich hielten sich beide auch länger in Dresden auf. Als er später einmal gefragt wurde, ob er dort auch sozialistisches Gedankengut für sein Buch aufgenommen hätte, antwortete er mit einem Augenzwinkern, dass er in Deutschland nur Bier konsumiert habe. Aber bei der Reise durch Europa fiel ihm die offensichtliche Armut und Verelendung der Bevölkerung auf. Dies war ein erster Einblick in soziale Probleme seiner Zeit. Er lernte etwas Deutsch, und die Vettern besuchten verschiedene Lehrveranstaltungen.

Wieder zurück in Amerika studierte Bellamy in Springfield Jura und arbeitete dort in der Anwaltskanzlei Leonard & Wells. Das Studium schloss er 1871 mit großem Erfolg ab. Sein Examen war so gut, das er umgehend ein Angebot der bekannten Kanzlei von M. B. Whitney als Partner erhielt. Er schlug es jedoch aus und ließ sich selbst als Rechtsanwalt in Chicopee nieder. Sein erster Fall war gleich die Exmittierung einer Witwe, die die Miete nicht mehr zahlen konnte. Umgehend gab er seine Profession wieder auf, um nicht als öffentlicher Bluthund bekannt zu werden. Sein gespanntes Verhältnis zu diesem Berufsstand findet sich später in vielen Beiträgen wieder.

Zu dieser Zeit war es auch, dass sein fester Glaube ins Wanken geriet. Zum einen quälten ihn Zweifel am calvinistischen Dogma, dass die Mehrheit der menschlichen Seelen zur Hölle verdammt seien. Dies widersprach zutiefst seinem Empfinden, denn er war überzeugt, dass es nicht Gottes Wille sein konnte, dieses Elend und diese Armut auf der Welt zuzulassen.

Zum anderen beeindruckten ihn die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse seiner Epoche, allen voran die Darwinsche Evolutionstheorie (1859). Auch dies entsprach nicht den kirchlichen Dogmen von der Schöpfungsgeschichte und dem Wirken einer übergeordneten und gestaltenden Macht. Neueste technische Entwicklungen nach der Eisenbahn, die Telegrafie (Morse, 1837), das Telefon (Bell, 1876), die Elektrotechnik (Westinghouse, 1886) verstärkten seinen Eindruck, dass nichts mehr als Axiom angesehen werden könne. Es gab offenbar keine endgültigen Wahrheiten mehr. Seine Gedanken dazu fasste er 1873 in dem Essay über eine »Religion der Solidarität« zusammen (postum publiziert).

Nach dem kurzen Zwischenspiel als Anwalt wandte er sich 1871 dem Journalismus zu. Für einige Monate arbeitete er freischaffend in New York für die New York Post. Hier entstand auch sein erster gedruckter Artikel »Woman Suffrage«, der in Golden Age erschien. Bellamy kehrte im Sommer 1872 jedoch nach Chicopee zurück und nahm eine feste Stelle bei der Springfield Union an. Mehr als fünf Jahre schrieb er nun Leitartikel, Rezensionen, Essays und begann 1873 erste eigene literarische Versuche. Bei einer Wanderung in den Bergen zog er sich 1874 eine schwere Lungenentzündung zu, die seinen Gesundheitszustand nachhaltig schädigte. Seine erste Kurzgeschichte »The Cold Snap« erschien 1875, viele weitere folgten in den nächsten Jahren. Sein schlechter Gesundheitszustand – inzwischen war Tuberkulose diagnostiziert worden – zwang ihn 1877, die Arbeit zu unterbrechen. Offenbar hatte ihn auch die Arbeit in der Redaktion erschöpft. So suchte er zusammen mit seinem Bruder Frederick für einige Zeit Erholung auf den Sandwich-Inseln. Zurückgekehrt versuchte er sich als freischaffender Schriftsteller und veröffentlichte mehrere (heute vergessene) Erzählungen, die auch als Fortsetzungsromane erschienen. Sein erstes Buch Six to One wurde 1878 veröffentlicht.

Mit seinem Bruder Charles gründete er 1880 die Springfield Penny News, die sich bald als Tageszeitung (1881) etablierte. Im Jahre 1882 heiratete er Emma Sanderson (1861–1956), die bereits seit 1874 als Mündel bei seinen Eltern lebte. Unmittelbar nach der Hochzeit erklärte er seinen Austritt aus der Kirchengemeinde – ein konsequenter Schritt und Ausdruck seiner wachsenden Entfremdung vom Glauben seiner Eltern. Zur Abkehr kam wohl der spirituelle Druck vonseiten der Mutter hinzu. Die Ehe von Edward und Emma Bellamy war eine glückliche Verbindung. Ihre Kinder Paul und Marion kamen 1884 und 1886 auf die Welt.

Zu jener Zeit war er bereits ein angesehener Autor, sodass der Schwiegersohn von Nathaniel Hawthorne ihn verschiedenen Herausgebern empfahl.

Die Wirtschaftskrise jener Jahre, der zunehmende Arbeitskampf, die wachsende Not und zuletzt wohl die Ereignisse auf dem Haymarket in Chicago veranlassten ihn ab 1886, sich noch konkreter mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. Die sozialen Gegensätze verschärften sich, Einwanderungswellen brachten billige Arbeitskräfte, Streiks erschütterten die noch junge Wirtschaft. Gleichzeitig entwickelte sich ein ungezügelter Kapitalismus, für den Rockefeller oder Morgan heute noch Synonyme sind. Bellamy suchte nach einer Lebensform, die seine christliche Grundüberzeugung in einer zeitgemäßen Form mit der Möglichkeit einer politischen und ökonomischen Gleichberechtigung aller Bürger in Übereinstimmung bringen konnte. Es sollte ganz im Sinne der ersten Einwanderer eine amerikanisch-patriotische Idee für den gesellschaftlichen Wandel sein. Dies wollte er in Form eines Romans an die Öffentlichkeit bringen.

In seinen ersten Entwürfen war das Jahr 3000 der Fixpunkt. Diese Zeit lag seines Erachtens genügend weit in der Zukunft, um Konflikte mit den harten Fakten des Hier und Jetzt zu vermeiden, wie er in seinem Artikel »How I came to Write Looking Backward«[1] (1889) darstellte. So sollte der Gesellschaftsentwurf auch gleich die ganze Welt umfassen. Die USA wären lediglich eine Provinz in der großen Weltnation mit Bern als Welthauptstadt. Dort sollte die erste Szene mit der Parade zum Musterungstag spielen. Als Handlungsort in Nordamerika war übrigens Asheville, North Carolina, ausgewählt, und noch nicht Boston wie in der endgültigen Fassung.

Während die Einführungsszene leider der Umgestaltung des Romans zum Opfer fiel, spielt der Dienst an der Gemeinschaft analog zum Wehrdienst eine wachsende Rolle. Eine moderne industrielle Armee mit Arbeitspflicht für alle Mitglieder der Gesellschaft je nach Leistungsvermögen war seine Vision. Im Hintergrund eine Planwirtschaft, die die Produktion dem Verbrauch anpasst, ohne individuelle Wünsche zu unterdrücken. Der Weg dorthin sollte über eine Nationalisierung (Verstaatlichung) aller Produktionsmittel, des Finanzwesens und der Infrastrukturen laufen. Keine Revolution erschüttert Amerika, sondern die Nation wandelt sich in einem nationalen und patriotischen Akt (siehe Seite 249: Erst als diese Erkenntnis immer größere Kreise der ganzen Nation ergriff, eröffnete sich der Ausblick auf die Verwirklichung der sozialen Umgestaltung. Damals bildete sich die Nationalistenpartei, die die Neuordnung der Dinge auf politischem Wege durchführte.).

Nach einigen Entwürfen floss ihm die Geschichte scheinbar mühelos aus der Feder, er schrieb zeitweise Tag und Nacht an dem Buch. Die Handlung reduzierte er auf Nordamerika, genau genommen auf die Wohnung der Familie Leete in Boston. Um die Geschichte doch nicht zu weit in die Zukunft zu verlegen, wurde nun das Jahr 2000 der Fixpunkt.

Dieser Perspektivenwechsel hatte weitreichende Folgen für die Rezeption des Romans: War die Öffentlichkeit eigentlich auf den Jahrhundertwechsel fixiert, so bot das Millennium nun eine neue, spannende Zielmarke. Zahlreiche Autoren sprangen in den Folgejahren auf diese Anregung auf. So nannte Upton Sinclair seine Utopie The Millennium – A Comedy of the Year 2000 (1907/24). Bei Jack London klingt die Zukunft nur in den Fußnoten des Berichts über die Eiserne Ferse (1907) an. Im Roman Die lebende Mumie (1929) von Max Winter schläft der Protagonist wie bei Bellamy bis ins 21. Jahrhundert, um in einer kommunistischen Welt wieder aufzuwachen. Peter Norelli nennt seine Utopie Utop 2000 (1936). Mack Reynolds lässt den Rückblick sowie Gleichheit in Neufassungen (1973 bzw. 1977) wieder aufleben, wobei dem Protagonisten nur noch 30 Jahre bis zum Neubeginn bleiben. In weiteren Romanen nimmt er den Jahrtausendwechsel zum Fixpunkt alternativer Gesellschaftsentwürfe. Zahlreiche Utopien folgten also dem Muster Bellamys.[2] Im Feuilleton wie in der Werbung (z. B. in Zigaretten- und Schokoladen-Werbebildserien) spielte das Jahr 2000 eine prägende Rolle. Herbert George Wells erfand 1895 dazu noch die Zeitmaschine, mit der man sich ungehindert zwischen den Jahrhunderten bewegen konnte. Diese Zeitmaschine nutzte Franz Oppenheimer in seinem Roman Sprung über ein Jahrhundert (1934), um im Jahr 2032 zu landen.

Mitte 1887 konnte Bellamy das Buch fertigstellen, und Looking Backward erschien im Januar 1888. Zuerst war ihm kein Erfolg beschieden, die Aufmachung des Verlegers Benjamin Ticknor soll miserabel gewesen sein. Erst eine Neuauflage in anderer Gestaltung und die Aufmerksamkeit im Feuilleton waren die Basis für einen überwältigenden und anhaltenden Erfolg. Ständig mussten Nachauflagen gedruckt werden. Offenbar hatte Bellamy mit seinem Bild von der Zukunft den Nerv der Zeit getroffen. In zwei Jahren wurden mehr als 400.000 Exemplare verkauft, und in kurzer Zeit erschienen in zahlreichen Ländern Übersetzungen seines Romans. Allein in Deutschland kursierten 1889/90 sechs verschiedene Fassungen des Rückblick.

Stärkster Gegenspieler wurde der englische Sozialist William Morris. In seiner Rezension Anfang 1889 (siehe Anhang S. 327) geißelte er den Staatssozialismus und die Maschinenwelt in Bellamys Gesellschaftsentwurf. 1890 stellte er ihm seine News from Nowhere entgegen. Statt urbaner, maschinengesteuerter Lebenswelt mit Arbeitspflicht entwarf er das Bild einer ländlichen Idylle, in der sich jeder nach seinen Interessen entfalten konnte.

Bei Bellamy ist die Traumsequenz am Ende seines Romans der albtraumhafte Rückblick in eine schreckliche Vergangenheit, um die gewonnene Überzeugung seines Protagonisten glaubhaft werden zu lassen. Voller Grausen flieht Julian West diese Zeit und wacht schweißgebadet im Jahr 2000 auf. Von Dankbarkeit erfüllt findet er sich im perfekten Zukunftsstaat wieder. Er ist in der neuen Zeit angekommen und möchte nicht mehr zurück. Dramatischer kann ein Rückblick nicht sein.

Anders geht William Morris mit dem Ausflug in die Zukunft um – er lässt das Ganze am Ende als Traum platzen. Nicht nur, dass William Guest der neuen Welt/Zeit nicht würdig ist – die Zukunft muss erst noch erkämpft werden. Sein Protagonist trägt nicht umsonst den abgewandelten Namen von Bellamys Hauptfigur: Er war nur zu Gast in der Zukunft.

Während Bellamy in der industriellen Entwicklung seiner Zeit den Fortschritt erkennt, der bei gleicher Verteilung des Reichtums den Bedarf einer wachsenden (Stadt-)Bevölkerung decken kann, lehnt Morris diese Aussicht ab, ist aber wohl kaum in der Lage, mittels Manufakturwesen die Versorgung zu sichern.

Der Sozialist Morris sah in der unkritischen Rezeption von Bellamys Rückblick zwei Gefahren: Für die einen mag das Buch einen befriedigenden Blick in die Zukunft bieten, wenn man ihm mit all seinen Fehlern und Trugschlüssen bedingungslos folgt. Für junge Sozialisten aber ist das Buch eher Irritation: Wenn das Sozialismus ist, dann wollen wir seinen Durchbruch nicht unterstützen, da er keine Hoffnung für uns bereithält.

Entgegen seinem Naturell musste Bellamy nun in die Öffentlichkeit, wurde zu Vorträgen und Publikationen eingeladen und hatte auf die Vorhaltungen seiner Kritiker und Gegner zu reagieren. Spontan bildeten sich im ganzen Land »Bellamy-Clubs«, die seine Ideen nicht nur diskutieren, sondern auch umsetzen wollten. Den ersten gründete sein Vetter Francis 1888 in Boston. Auf seine Bitte hin wurden Sie dann in »Nationalist Clubs« umbenannt. Man etablierte 1888 mit The Nationalist Monthly ein eigenes Organ zur Diskussion, benannt nach Bellamys Idee der Nationalisierung von Großunternehmen.

Bellamy vermied bewusst den Begriff »Sozialisierung«. Bei ihm hieß es Nationalisierung, Verstaatlichung. Bereits 1874 hatte er in einer Rezension seine Sicht auf die Begriffe und Inhalte von Sozialismus und Kommunismus dargelegt: Die Worte »Sozialist« und »Kommunist« klingen in amerikanischen Ohren unangenehm, sie werden allgemein mit atheistischem oder Aberglauben in Verbindung gebracht sowie mit abnormalen sexuellen Beziehungen. Dieses Vorurteil ist weitgehend falsch, hat aber so etwas wie ein allgemeines Verständnis über das Wesen und die Ergebnisse der kommunistischen Experimente im Land verhindert. Diese Gesellschaften haben nicht mehr als zweiundsiebzig Gemeinden.[3]

In einem Brief an seinen Freund und Unterstützer William D. Howells vom 17. Juni 1888 wiederholte er, dass man mit dem Begriff »Sozialismus« in Amerika vorsichtig umgehen müsse, zu viele Assoziationen seien mit ihm verbunden. Zwar mag der Eindruck entstanden sein, dass er die Sozialisten ausgrenzen wolle. Aber er habe »Sozialismus« ohnehin nie gut vertragen. Zuerst einmal sei es in Amerika ein Fremdwort, von außen hereingetragen mit all seinen Inhalten. Für den durchschnittlichen Amerikaner riecht das nach Petroleum, es schwenkt die rote Fahne und wird mit neuen sexuellen Verhaltensweisen in Verbindung gebracht. In einem beleidigenden Ton werden Religion und Gott behandelt, die zumindest in unseren Kreisen Respekt verdienen. ... Wie auch immer deutsche oder französische Reformer sich bezeichnen mögen, in Amerika wird keine Partei erfolgreich sein, die die Bezeichnung »sozialistisch« im Namen führt. Um hier erfolgreich zu sein, muss man zutiefst amerikanisch und patriotisch in Geist und Programm sein.[4]

Während Parteiprogramme nach vorn schauen, hatte Bellamy dank seines literarischen Kniffs das Privileg zurückzuschauen, auf Vergangenes, Untergegangenes. Nur sein Protagonist Julian West erinnert sich genau, wie es vor über 100 Jahren war. Und er ist die Person, die das Erreichte an seiner Erinnerung messen kann. Das war nicht die Hoffnung auf ein Paradies, das war der Bericht aus dem Paradies.

Dies macht einen weiteren Kniff Bellamys deutlich: Indem er mit Julian West den Prototypen eines reichen, verwöhnten, gelangweilten jungen Mannes der Oberschicht in die Zukunft schickte, konfrontierte er ihn mit dem Schicksal seiner eigenen Klasse. Sie erfährt die größten Veränderungen in dieser sozialen Umwälzung, verliert ihre Positionen und die soziale Stellung, ihre materiellen Werte und Heiligtümer, ihr Selbstwertgefühl und ihr soziales Bezugssystem. Wenn es gelingt, diese Person von dem neuen System zu überzeugen, wenn Julian West in der neuen Zeit nicht nur aufgenommen wird, sondern selbst ankommt, dann ist der Damm gebrochen, dann hat die Idee auch den Letzten erfasst. Mit der Albtraumsequenz am Schluss des Buches scheint dies belegt.

Das war durchaus ein Prüfstein in der gesamten literarischen Arbeit Bellamys: Gelang es ihm, eine Idee, ein Thema in eine überzeugende literarische Fassung zu bringen, sei es eine Kolumne, eine Kurzgeschichte oder ein Roman? Wird die Logik der Geschichte kritisch betrachtet, nicht aber die philosophische Idee dahinter, so lässt sich auch eine abwegige Idee in eine Geschichte fassen.

Nun war es nicht so, dass er die Kraft des Proletariats nicht erkannte, die Arbeiterklasse war einfach nicht seine Zielgruppe. Sie musste er nicht erst von ihrer Lage und geschichtlichen Rolle überzeugen. Auch wenn er in seinem Roman den Arbeiterparteien und Gewerkschaften die Kraft zur gesellschaftlichen Umgestaltung absprach (Seite 249: die Arbeiterparteien als solche hätten nie etwas Großes und Dauerndes schaffen können. Als bloße Klassenparteien fußten sie auf zu schmaler Basis, als dass ihre Ziele allgemeine nationale Bedeutung erlangt hätten.). In seinem Brief an den Boston Transcript über die »Geschwindigkeit des Weltfortschritts« (siehe Seite 335) sagte er eindeutig, dass die Arbeiter der ganzen Welt in einer Art weltumspannender Erhebung begriffen sind. Bellamy erkannte die Kraft der proletarischen Bewegung, auch wenn sie in Amerika noch nicht so ausgeprägt war wie in Europa. Der Sozialist und Schneidergeselle Wilhelm Weitling kam 1847 in die USA. Durch ihn und andere Emigranten wurde sozialistisches Gedankengut auch persönlich nach Nordamerika exportiert. Kommunistische Musterkolonien von Carbet und Owen stellen einen anderen Zweig äußerer Einflüsse dar. Der Bürgerkrieg (1861–1866) unterbrach die wirtschaftliche Entwicklung und die weitere Eroberung des Landes bis zur Westküste. Nach dem Sieg der Nordallianz fasste der Aufschwung wieder Tritt. Mit den »Rittern der Arbeit« (Knights of Labor) entstand 1869 folgerichtig eine erste Arbeiterassoziation. Mehr als zehn Jahre wirkte sie als Geheimbund. Gegründet von Schneidern, öffnete sie sich 1881 für alle Lohnarbeiter und nahm nach 1883 auch Farbige in ihre Reihen auf. Sie organisierte erfolgreiche Streiks, wie die großen Eisenbahnerstreiks von 1884 und 1885. Auch am Generalstreik von 1886 in Chicago waren die »Ritter der Arbeit« beteiligt. Im Verlauf einer Massendemonstration kam es dort auf dem Haymarket Square zu einer (bis heute ungeklärten) Bombenexplosion. Kommunisten, Anarchisten und Gewerkschaftler wurden der Urheberschaft beschuldigt. Es folgte eine Verhaftungswelle, zahlreiche Emigranten waren unter den Gefangenen. Im nächsten Jahr wurden sieben angebliche Anführer hingerichtet, und die anhaltenden staatlichen Repressionen drängten die Arbeiterbewegung zurück.[5] Anarchistische Tendenzen gewannen die Oberhand, Gewerkschaften wandelten sich in typische Berufsverbände. Bereits 1886 hatte sich eine politische Bewegung formiert, aus der die Socialist Labor Party entstehen sollte. Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Kampf der amerikanischen Arbeiter um den 8-Stunden-Tag. Eine Gewerkschaft hatte 1888 den 1. Mai in Erinnerung an den Haymarket-Vorfall zum Kampftag für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ausgerufen.

Bellamy reagierte 1891 auf die sich formierende politische Bewegung mit der Gründung einer eigenen Zeitung, The New Nation, in der er seine Thesen für einen nationalisierten Besitz erläuterte und weiterentwickelte. Er stellte seine schriftstellerische Tätigkeit ein und widmete sich ganz der Bewegung. Hier kam er auch mit Charlotte Perkins Gilman in Kontakt, einer Frauenrechtlerin und Soziologin, die Beiträge, insbesondere Gedichte, für die Zeitung lieferte und für die Nationalist Party tätig war. Sie ist heute durch ihre feministische Utopie Herland (1915) bekannt.

Zu dieser Zeit gab es bereits mehr als 160 »Nationalist Clubs« in den USA. Bellamy suchte als Agitator und Kommunikator die Verbindung zu anderen Reformern, zu Gewerkschaften und Parteien. Seine Nationalist Party ging mit der Populist Party zusammen, in der Ignatius Donnelly (Cäsars Säule, 1890)[6] seit 1891 eine führende Rolle innehatte. Sie war aus der Farmers’ Alliance, einer Bewegung der ausgebeuteten Bauern und Landarbeiter, hervorgegangen. Bei den Wahlen von 1892 hatte das Bündnis mit etwas mehr als 8 % der Stimmen seinen größten Erfolg. Aber bereits 1894 verebbte die Bewegung, die »Nationalist Clubs« lösten sich teilweise wieder auf, und Bellamy stellte seine Zeitung ein. Aus den Debattierklubs formierte sich keine nachhaltige politische Bewegung. Ähnlich den Musterkolonien blieben sie landesweit verstreute Inseln.

Auch aufgrund seines Gesundheitszustandes zog Bellamy sich aus der Politik zurück und versuchte, seine gewonnenen Überzeugungen in einem weiteren Buch niederzulegen. Gleichzeitig war es eine Antwort auf seine Kritiker von Henry George bis William Morris. Entgegen ärztlichem Rat arbeitete er ab 1893 zäh an der Fortsetzung des Rückblick. Equality, dessen Titel programmatisch sein immer noch stark christlich und nicht marxistisch geprägtes Ziel ausdrückte, erschien 1897. Entgegen seiner Erwartung wurde es aber nicht positiv aufgenommen. Der Zenit war einfach überschritten, die nachgeschobenen Erläuterungen wollte niemand mehr lesen. Beispielhaft ist aus dem Fortsetzungsroman die Parabel vom Wasserbecken in diese Ausgabe aufgenommen worden (siehe S. 317). Sie soll von seinen Erlebnissen beim Bau der Wasserversorgung in Chicopee geprägt sein. Neben der »Parabel von der Kutsche« (siehe S. 49) sind beide ein bildstarker Ausdruck seiner Kapitalismuskritik. Gleichzeitig zeigen sie seine aus christlicher Argumentation heraus geprägte Erzählweise.

Aus Gesundheitsgründen zog Bellamy mit seiner Familie kurzzeitig nach Denver, kehrte aber Anfang 1898 nach Chicopee zurück. Hier starb er am 22. Mai im Alter von nur 48 Jahren an Lungentuberkulose.

Die Rezeption des Rückblick in Deutschland

In Deutschland traf Bellamys Buch auf eine ganz andere Situation als in den USA. Das Land hatte sich seit dem gewonnenen Krieg gegen Frankreich und der Reichseinigung 1871 von einem zersplitterten Agrarstaat zu einer Wirtschaftsmacht mit imperialen Ansprüchen entwickelt. Die Verschiebung der ökonomischen Kräfte vom ersten in den zweiten Sektor ließ ein gewaltiges Proletariat in den Städten wachsen. Und es organisierte sich in kraftvollen Strukturen. Mit der industriellen Revolution waren aus den Zünften und Gesellenvereinen Gewerkschaften und andere berufsständische Vereinigungen entstanden. Erste Streiks um bessere Arbeitsbedingungen und angemessene Entlohnung erschütterten die Wirtschaft.

Bereits 1848 war das Manifest der Kommunistischen Partei erschienen. Kaum war das Manifest veröffentlicht, brach in Frankreich, in Deutschland, in Österreich und in Italien die Revolution aus. Zusätzlichen Schwung erhielt die Arbeiterbewegung Anfang der sechziger Jahre durch das Entstehen von Arbeiterbildungsvereinen. Der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (1863 von Ferdinand Lassalle gegründet) und die Sozialistische Arbeiterpartei (gegründet 1869 von August Bebel und Wilhelm Liebknecht) vereinigten sich 1875 in Gotha zur Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Die Bewegung der deutschen Sozialdemokratie wurde so mächtig, dass sich das Kaiserreich 1878 nur mit einem Verbot durch das sogenannte »Sozialistengesetz« zu wehren wusste. Als Begründung für das »Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« mussten Attentate von Anarchisten herhalten. Bismarck griff in seiner Begründung vor dem Reichstag (17.09.1878) aber auch die Diskussion um den Zukunftsstaat auf. Diese Diskussion beschäftigte die Sozialisten und Kommunisten, sowohl in den eigenen Reihen als auch in der Propaganda nach außen.

Wenn dieser Mann [Lassalle] durch seinen Geist und seine Bedeutung mich anzog, so ist es ja doch meine Pflicht als Minister, mich über die Elemente, mit denen ich es zu thun habe, zu informiren, und ich würde in Folge dessen auch, wenn der Abg. Bebel den Wunsch hätte, sich Abends mit mir zu unterhalten, ihm nicht ausweichen; ich würde daran vielleicht die Hoffnung knüpfen, dass ich endlich auch erführe, wie der Abg. Bebel und seine Genossen sich den Zukunftsstaat, auf den sie uns durch Niederreißen alles dessen, was besteht, was uns theuer ist und schützt, vorbereiten wollen, eigentlich denken. Es ist das außerordentlich schwierig, so lange wir darüber fast in demselben Dunkel tappen, wie die gewöhnlichen Zuhörer bei den Reden in sozialdemokratischen Versammlungen; sie wissen auch nichts, es wird ihnen versprochen, es werde besser werden bei wenig Arbeit und viel Geld – woher das kommt, sagt kein Mensch, namentlich woher es auf die Dauer kommt, wenn die Theilung, die Beraubung der Besitzenden geschieht, denn dann wird der Arbeitsame und Sparende wieder reich werden und der Faule und Ungeschickte wieder arm, und wenn das nicht ist, wenn Jedem das Seinige zugewiesen werden soll, strebt man eine zuchthausmäßige Existenz an, wo keiner seinen Beruf und seine Lebensweise hat, sondern wo ein Jeder unter dem Zwang der Aufseher steht.[7]

Dieser Redeauszug macht deutlich, dass das Thema »Zukunftsstaat« schon damals offensiv diskutiert wurde, dass man Antworten von den Sozialisten erwartete. Gleichzeitig startete Bismarck eine Sozialgesetzgebung, um die Massen ruhigzustellen. Das bis heute geltende Kranken- und Altersversicherungsprinzip wurde von ihm eingeführt. Zugleich fanden umfangreiche Verstaatlichungen des Eisenbahn- und Fernmeldewesens statt, die zusammengenommen den Eindruck erweckten, als sei das Kaisertum reformfähig und auf dem Weg zur Sozialisierung des Reiches.

Als die ersten Übersetzungen des Rückblick 1889/90 auf dem deutschen Markt erschienen, war das Sozialistengesetz gerade aufgehoben worden. Die Sozialdemokraten gingen gestärkt aus der Verbotsphase hervor und feierten bei der nächsten Wahl eine glorreiche Rückkehr ins Parlament.

Gleichzeitig flammte aber die Diskussion um den Zukunftsstaat wieder auf. Hatte man sich diesen Forderungen bei der Vermittlung des wissenschaftlichen Kommunismus auf der Basis des Manifests und des Gothaer Programms entzogen, so sahen sich die Sozialdemokraten nun einem zunehmenden Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Das Marxsche Bilderverbot wurde auch von den eigenen Mitgliedern hinterfragt; es wird im dritten Teil dieser Einleitung näher betrachtet.

Gleich nach dem ersten Erscheinen des Rückblick in Deutschland legte Karl Kautsky 1889 in der Neuen Zeit eine Rezension vor:

[...]Dies ist der Roman. Ein Kunstwerk ist er nicht. Es fehlt dem Verfasser jegliches Gestaltungsvermögen. Statt die neue Gesellschaft, in die Julian West versetzt wird, in ihrem Leben und ihrem Treiben uns vor Augen zu führen, bannt uns der Dichter fast ständig in dem Haus des Dr. Leete fest, wo dieser oder seine Tochter erzählen, wie es in dem neuen Boston aussieht. Von dem psychologischen Scharfblick, der die großen Utopisten auszeichnete, findet sich bei Bellamy keine Spur. Die Liebesgeschichte, die zu geben er sich bemüßigt fühlt, ist einfach albern. [...] Den Mangel an Phantasie hätte unser Jules Verne des Sozialismus einigermaßen ersetzen können durch ein eingehendes Studium der sozialistischen Literatur, der sozialistischen Theorien. Das hat er jedoch sehr ungenügend gethan. Das Marx’sche Kapital ist dem Interpreten des Sozialismus absolut unbekannt geblieben, somit auch die zahlreichen Ausblicke in die Zukunft, die dieses Werk enthält, in denen die Konsequenzen angedeutet werden, welche die Nationalisierung der Produktionsmittel durch das Proletariat nach sich ziehen muss.

In dieser wie in mancher anderen Beziehung steht die Utopie des Herrn Bellamy weit zurück selbst hinter dem ältesten der Staatsromane der neueren Zeit, der Utopie des Thomas Moore. Sie hat nichts von der Großartigkeit und Überschwenglichkeit, der Kühnheit und dem phantastischen Schwung der sozialistischen Zukunftspoesie des Proletariats, durch die dasselbe sich begeistert und über die Beschränktheit und das Elend seines jetzigen Daseins erhebt. Sie trägt voll und ganz die Charakterzüge der auf die Propaganda im Philistertum berechneten Zukunftsmalerei.

[…]

Herr Bellamy nimmt also eine Mittelstellung zwischen den alten Utopisten und dem modernen wissenschaftlichen Sozialismus ein. Er nimmt nicht an, dass das Prinzip des Sozialismus eine »ewige Wahrheit« sei, die jederzeit hätte entdeckt werden können und die, einmal entdeckt, auch ohne weiteres durchführbar ist, und die, einmal durchgeführt, für immerdar gilt; der Sozialismus ist ihm das Ergebnis der Tendenzen einer bestimmten ökonomischen Entwicklung, das man erkennen, aber nicht willkürlich setzen kann.

[...]

Der Sozialismus gilt bisher in Amerika als ein exotisches Gewächs, als ein deutsches Produkt. Und in der Tat ist die sozialistische Bewegung in Amerika bisher, wenn auch nicht von Deutschen allein gemacht worden, so doch in den Bahnen des deutschen Sozialismus geblieben. Die Aufgabe, auf der Grundlage des internationalen wissenschaftlichen Sozialismus eine echt amerikanische sozialistische Arbeiterpartei zu schaffen mit einer eigenen Literatur, einem eigenen Programm, einer eigenen Taktik, ist erst in den Anfängen ihrer Lösung.[8]

Mit diesem Absatz bestärkte Kautsky sogar die Vorbehalte Bellamys gegen den Sozialismus-Export nach Amerika.

Bei so einem Stand der Diskussion über die Rolle des Sozialismus sah sich der SPD-Vorsitzende August Bebel gezwungen, zu Bellamys Buch und seiner Wirkung Stellung zu nehmen. Er wehrte sich zunächst gegen einen Vergleich mit seinen Schriften, speziell mit Die Frau im Sozialismus, und meinte dann:

[...] In mir befreundeten Kreisen ist die Frage aufgetaucht, in wieweit Edward Bellamy’s Looking Backward, das bekanntlich unter dem Titel Ein Rückblick in deutscher Übersetzung im Reclam’schen Verlag und auch sonst erschienen ist, von meiner Schrift beeinflusst worden sei. Bellamy’s Buch erschien zuerst 1887, also zwei Jahre nach der englischen Übersetzung meiner Schrift. Eine Mrs. John B. Shipley hat unter dem Titel The true Author of Looking Backward bei John B. Alden in New-York, Chicago und Atlanta eine Broschüre erscheinen lassen, in welcher sie unter Gegenüberstellung von Auszügen aus beiden Büchern den Nachweis zu führen sucht, dass Herr Bellamy sich wesentlich im Gedankengang »der Frau« bewege und unzweifelhaft von dieser im hohen Grad bei der Abfassung seines Buches beeinflusst worden sei. Herr Bellamy erklärte, meine Schrift nicht gelesen zu haben, da er kein Deutsch verstehe. Das letztere war allerdings nicht nothwendig, da, wie hervorgehoben, bereits 1885, also zwei Jahre vor dem Erscheinen des Bellamy’schen Buchs, die englische Übersetzung meiner Schrift in London und New-York erschienen war.

Indess lege ich der ganzen Frage, wie ich das auch der Verfasserin von The true Author of Looking Backward Mrs. John B. Shipley schrieb, keine Bedeutung bei. Ob Herr Bellamy meine Schrift las oder nicht, und von ihr beeindruckt wurde oder nicht, ist mir gleichgiltig. Ich habe die Ansicht, dass die Übel der bürgerlichen Gesellschaft für jeden Denkenden so handgreiflich sind und andererseits die sozialistischen Ideen in Folge dieses Zustandes der bürgerlichen Gesellschaft so in der Luft liegen, dass ähnliche Gedanken gleichzeitig in verschiedenen Köpfen entstehen können und thatsächlich entstehen. Die Gedanken entstehen eben nicht von selbst, sie werden durch die äußeren Erscheinungen hervorgerufen, von außen in den Köpfen angeregt, wie sehr unsere Ideologen das Gegentheil behaupten. Dass aber Herr Bellamy die sozialistische Literatur gar nicht gekannt haben soll, ist nicht anzunehmen, wird von ihm auch nicht behauptet. Die Vereinigten Staaten haben im Verlaufe dieses Jahrhunderts eine ziemliche Anzahl kommunistischer und sozialistischer Gemeinwesen entstehen und zum großen Teil auch wieder vergehen sehen, deren Einrichtungen und Entwicklung Herrn Bellamy nicht unbekannt geblieben sein dürften.

Nun ist aber mehr als eine sehr oberflächliche Übereinstimmung in den Auffassungen mancher Dinge und gewisser kritischer Ausführungen zwischen Herrn Bellamy und mir nicht zu finden. Wer unsere beiden Schriften liest oder gelesen hat und ein wenig kritisch urtheilen kann, wird finden, dass Herr Bellamy ein wohlwollend denkender Bürger ist, der ohne Ahnung der Bewegungsgesetze, welche die Gesellschaft beherrschen, rein vom Humanismusstandpunkte aus, indem er als guter Beobachter der bürgerlichen Welt ihre Ungeheuerlichkeiten und Widersprüche erkannte, sich eine künftige gesellschaftliche Ordnung zurechtlegte, in der aber überall die bürgerlichen Gedanken und die bürgerlichen Auffassungen der Dinge durchbrechen. Herr Bellamy unterscheidet sich in nichts von den früheren Utopisten als dadurch, dass seine Schilderungen das Gewand einer modernen Zeit tragen und dass die scharfe Kritik, durch welche die Utopisten sich auszeichneten, fehlt. Das Gewand des Romans, in das er seine Schilderung kleidet, ist dabei ganz geeignet, auf Leute, die leidlich wohlwollend sind, aber gerne sich über die bestehenden Gegensätze und die daraus hervorgehenden Klassenkämpfe hinwegtäuschen wollen, und wünschen, dass Alles sich gemüthlich, ohne Aufregung und ohne sichtbare Nachtheile für ihre engere bevorrechtete gesellschaftliche Stellung vollziehe, Eindruck zu machen. Daher die großartige Verbreitung, die Bellamy’s Schrift gerade in den bürgerlichen Kreisen der Vereinigten Staaten fand und nunmehr auch in Deutschland findet. Einen tieferen Einfluss übt seine Schrift nicht, weil sie weder die nothwendige Kritik der bürgerlichen Gesellschaft enthält, noch die Entwicklung zeigt, die die Gesellschaft durchmachen muss, noch sich über die Mittel ausspricht, die sie zu ihrer Umgestaltung zu ergreifen hat. Herr Bellamy ist ein Utopist und kein Sozialist und daher wird die Partei, die er auf Grund seiner nebelhaften Schilderungen und Vorstellungen in den Vereinigten Staaten gründete, die Partei der »Nationalisten«, eben so wenig Bedeutung erlangen, wie die vor wenigen Jahren gegründete Partei der Bodenreformer durch Henry George. Auch Henry George’s Buch Fortschritt und Armuth macht in den Vereinigten Staaten und in England großes Aufsehen, es wurde in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet, es bildete sich eine eigene Partei für die Verwirklichung der vorgeschlagenen Reformen, Henry George selbst kandidirte für das Vereinigte-Staaten-Repräsentantenhaus und heute ist Alles stille über den Wassern.

Wie George so ergeht es Bellamy. Auch seine Partei wird trotz der Hunderttausende, die ihr anhängen sollen, nichts leisten und schließlich in die Brüche gehen. Das ist die Folge aller Halbheit. Eine gesellschaftliche Umwälzung wird nicht von wohlwollenden Bourgeois gemacht, mag ihre Zahl noch so groß und ihr Eifer noch so ehrlich sein. Dies in Bezug auf das Bellamy’sche Buch, über das ich kein Wort verlor, hätte man nicht auch in Deutschland dasselbe mit dem meinen in Beziehungen gebracht und gegen die Sozialdemokratie ausgeschlachtet. So Herr Eugen Richter in seinen »Irrlehren«.[9]

Mit seiner Prognose über die Nachhaltigkeit der Nationalistenbewegung hatte Bebel durchaus Recht.

Die erste Übersetzung von Max Schippel erschien im Deutschen Reich 1889 als stark gekürzte Fassung in der Reihe Berliner Arbeiterbibliothek – Ein sozialistischer Roman, Heft 1. Neben weiteren Übersetzern – insgesamt gab es sechs zeitgenössische Übersetzungen des Romans – nahm sich Clara Zetkin, eine bekannte Sozialistin und Frauenrechtlerin, der Übertragung des Werkes ins Deutsche an und legte der Arbeiterschaft im Programm des Dietz Verlages eine vollständige Übersetzung vor.

Wie eine vergleichende Betrachtung[10] zeigt, weisen die Übersetzungen dieser Zeit feine Unterschiede je nach sozialer Sicht des Übersetzers auf. Bellamy verwendete durchaus Klassenkampfbegriffe, auch wenn er das Wort »Sozialismus« vermied. Gleich zu Beginn spricht er von »Kapital« und »Arbeit« und ihrem Verhältnis, von der »Konzentration des Kapitals«, Begriffe, die sich schon in der Marxschen Analyse finden. Auch »Arbeiterklasse« und »Kapitalist« werden verwendet. Diese Termini werden von den Übersetzern unterschiedlos übertragen. Einmal kommentiert Zetkin eine Textstelle als Irrtum und erklärt, dass Bellamy kein wissenschaftlich durchgebildeter Sozialist sein.

Ebenso verfährt sie bei der Einschätzung der Rolle des Proletariats. Bellamy bezichtigte die Anarchisten, bezahlte Handlager der Monopole zu sein. Und die Arbeiterparteien als solche hätten nie etwas Großes und Dauerhaftes schaffen können. Während die »bürgerlichen« Übersetzer sich wortgetreu an das Original halten, kann Clara Zetkin dies so nicht stehen lassen und ergänzt in einer Fußnote erneut, dass Bellamy ja kein wissenschaftlich durchgebildeter Sozialist sei. Dies wäre gar nicht nötig, denn Bellamy selbst schrieb in einer Fußnote, dass auch Julian West an dieser Theorie Zweifel hegte.

Als es um den Repressionsapparat des Systems geht, verfälscht sie den Text sogar. Wenn Leete erklärt, dass hartnäckige Arbeitsverweigerung zu Isolationshaft bei Wasser und Brot (S. 144) führt, schiebt Zetkin dies in eine Fußnote mit der Bemerkung: In einer der verschiedenen Ausgaben von Bellamys Rückblick heißt es: Wer seiner Dienstpflicht genügen kann, sich aber hartnäckig weigert, sie zu er füllen, wird zu Einzelhaft bei Wasser und Brot verurteilt.

Letztlich fanden die vielen Übersetzungen ein breites Publikum, auch in der Arbeiterschaft. Aber anders als in den USA gründeten sich hier keine Bellamy-Klubs. Vielmehr bot ein anderes Buch die Möglichkeit unmittelbarer Aktivitäten. Ebenfalls im Jahr 1890 erschien Freiland von Theodor Hertzka auf dem Buchmarkt. Der österreichisch-ungarische Nationalökonom legte den Vorschlag auf den Tisch, in Afrika eine freie Kommune zu gründen. Detailliert beschrieb er Ausrüstung, Expedition und Lebensweise in »Edental«. Das Potenzial, diese Utopie hier und heute realisieren zu können, mobilisierte Tausende junger Menschen in Europa. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung konnte Hertzka feststellen, dass sich in 28 Städten Freiland-Vereine gebildet hatten, bereits 10.000 Gulden seien gesammelt worden. Angeblich wurden bereits erste Stützpunkte an der ostafrikanischen Küste eingerichtet. Aber auch diese Utopie scheiterte nach kurzer Zeit an der Realität.

Zur Rezeptionsgeschichte des Rückblick gehören auch die vielen Nachahmer und Gegner. Nicht nur die Reflexion im Feuilleton, sondern auch die Verstärkung durch einen Dominoeffekt ist Ausdruck für den nachhaltigen Effekt dieses Werkes. Nicht nur in den USA, auch in Deutschland reagierten zahlreiche Autoren auf diesen Roman. Entweder waren es wütende Gegner, die in Anti-Bellamy-Schriften die Gottlosigkeit, das ökonomische Modell oder die Gleichberechtigung der Frau verteufelten. Oder es waren Trittbrettfahrer, die die Anregungen Bellamys aufgriffen und in ihre sozialen Vorstellungen integrierten. Zu letzteren zählt der Österreicher Joseph von Neupauer, der Julian West bei seiner Europareise ein reformiertes Kaisertum präsentiert.[11] Ernst Müller geht noch ein paar Jahrzehnte weiter und lässt Julian West aus dem Jahr 2037 erneut zurückblicken.[12] Schon der Titel von Heinrich Fränkels Schrift »Gegen Bellamy!« lässt keinen Zweifel an seiner Stoßrichtung.[13] Erdmannsdörffer bezeichnet das Ganze als »Phantasiestaat«.[14] Und Conrad Wilbrandt versucht in den »Mitttheilungen Des Herrn Friedrich Ost Erlebnisse in der Welt Bellamys« diese parodistisch zu widerlegen.[15] Einige dieser Schriften erschienen auch auf Englisch, wie Ernst Müller, My Afterdream (1900) oder Richard Michaelis, Looking further Forward (1890).

Die Haltung der Sozialisten zur Utopie und zum Rückblick

Die Sozialisten mochten Bellamys Buch nicht. Diese Haltung zieht sich durch die folgenden einhundert Jahre.

Wie mit einem simplen Taschenspielertrick nahm Bellamy ihnen den verklärten Blick in eine imaginäre sozialistische Zukunft, indem er einfach aus einer paradiesischen Zukunft in die dreckige und elende Gegenwart schaute.

Das Buch drängte ihnen eine Diskussion auf, die sie eigentlich nach der Wiederzulassung der Sozialdemokratischen Partei in Deutschland nicht führen wollten: die um den »Zukunftsstaat«. Wie sollte die zukünftige Gesellschaft unter sozialistischem Vorzeichen denn konkret aussehen?, lautete die Frage.

Letztlich kapitulierten die Sozialisten vor der Bildmächtigkeit des Werkes. Kein Parteiprogramm, kein Manifest, keine nationalökonomische Abhandlung vermochte die Imagination einer Welt in einhundert Jahren so zu vollbringen wie der Rückblick. Der Rückblick war die erste sozialistische Utopie des Industriezeitalters. Aber Bellamy reflektierte nicht die »historische Mission des Proletariats«.

Wie das Vorwort von Clara Zetkin (siehe S. 41) belegt, tat sie sich schwer, die von ihr getragene Edition zu erklären. Das geht auf die Auseinandersetzung der verschieden Strömungen im Frühstadium des Sozialismus zurück. Marx und Engels beharrten auf einer wissenschaftlichen Ableitung ihrer Thesen von der sozio-ökonomischen Entwicklung in Abgrenzung zu den Meinungen der frühen Sozialisten, die sie im Manifest als Utopisten geißelten. Aus ihrer Sicht steht die Bedeutung des kritisch-utopischen Sozialismus und Kommunismus im umgekehrten Verhältnis zur geschichtlichen Entwicklung. In demselben Maße, worin der Klassenkampf sich entwickelt und gestaltet, verliert diese phantastische Erhebung über denselben, diese phantastische Bekämpfung desselben allen praktischen Wert, alle theoretische Berechtigung. Waren daher die Urheber dieser Systeme auch in vielen Bereichen revolutionär, so bildeten ihre Schüler jedesmal reaktionäre Sekten. [...] Sie träumen noch immer die versuchsweise Verwirklichung ihrer gesellschaftlichen Utopien, Stiftung einzelner Phalansteren, Gründung von Home-Kolonien, Errichtung eines kleinen Ikariens – Duodezausgabe des neuen Jerusalem –, und zum Aufbau aller dieser spanischen Schlösser müssen sie an die Philanthropie der bürgerlichen Herzen und Geldsäcke appellieren. [...] Sie appellieren daher fortwährend an die ganze Gesellschaft ohne Unterschied, ja vorzugsweise an die herrschende Klasse. Man braucht ihr System ja nur zu verstehen, um es als den bestmöglichen Plan der bestmöglichen Gesellschaft anzuerkennen.[16]

Im Unterschied zu den literarischen Gesellschaftsentwürfen blieben die Vorstellungen der marxistischen Theoretiker von einer sozialistischen Gesellschaft selbst blass, dagegen wurde ihre Kritik massiver. So lehnte Marx es 1873 (im Nachwort zur russischen Ausgabe des Kapital) ab, einer Forderung der Pariser Zeitung Revue Positiviste zu folgen und »Rezepte (comtistische?[17]) für die Garküche der Zukunft« zu schreiben. Fünf Jahre später bemerkte er in einem Brief an den deutsch-amerikanischen Kommunisten Friedrich Sorge zum gleichen Thema:

In Deutschland macht sich in unsrer Partei, nicht so sehr in der Masse, als unter den Führern (höherklassigen und »Arbeitern«) ein fauler Geist geltend.

[…]

Namentlich, was wir seit Jahrzehnten mit so viel Arbeit und Mühe aus den Köpfen der deutschen Arbeiter gefegt und was selben auch das theoretische Übergewicht (daher auch das praktische) über Franzosen und Engländer gab – der utopische Sozialismus, das Phantasiegespiel über den künftigen Gesellschaftsbau – grassiert wieder und in einer viel nichtigeren Form, nicht nur verglichen mit den großen französischen und englischen Utopisten, sondern mit – Weitling. Es ist natürlich, dass der Utopismus, der vor der Zeit des materialistisch-kritischen Sozialismus letzteren in nuce in sich barg, jetzt wo er post festum kommt, nur noch albern sein kann, albern, fad und von Grund auf reaktionär.[18]

War der kritisch-utopische Sozialismus noch eine Spielart, mit der sich Marx und Engels im Manifest auseinandersetzten, so polarisierte Engels 1880 mit seiner berühmten Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« den wissenschaftlichen und den utopischen Sozialismus[19] endgültig als unvereinbare Gegensätze:

Dem unreifen Stand der kapitalistischen Produktion, der unreifen Klassenlage, entsprachen unreife Theorien. Die Lösung der gesellschaftlichen Aufgaben, die in den unterentwickelten ökonomischen Verhältnissen noch verborgen lag, sollte aus dem Kopfe erzeugt werden. Die Gesellschaft bot nur Missstände; diese zu beseitigen war Aufgabe der denkenden Vernunft. Es handelte sich darum, ein neues, vollkommeneres System der gesellschaftlichen Ordnung zu erfinden und dies der Gesellschaft von außen her, durch Propaganda, womöglich durch das Beispiel von Musterexperimenten aufzuoktroyieren. Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mussten sie in reine Phantasterei verlaufen. [...] Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, musste er erst auf einen realen Boden gestellt werden.

Damit war die Diskussion um den Zukunftsstaat aber nicht beendet. Auf dem SPD-Parteitag 1890 musste Wilhelm Liebknecht eingreifen:

Man hat mir von gegnerischer Seite den Vorwurf gemacht, dass ich in meinen gestrigen Ausführungen das berühmte Thema des Zukunftsstaates nicht behandelt habe. Als der Sozialismus noch sehr jung war, noch nicht auf der wissenschaftlichen Basis stand, und sich zum modernen Sozialismus verhielt, wie die mittelalterliche Alchymie zur modernen Chemie, da beschäftigten sich die Arbeiter, welche in der sozialistisch-kommunistischen Bewegung standen, auf das Eingehendste mit der Frage, wie der Zukunftsstaat aussehen und wie es im Zukunftsstaat zugehen werde.

[…]

Ich erinnere mich, dass damals die Frage ganz besonders große Schwierigkeiten verursachte: wer wird in diesem kommunistischen Staate die Stiefel putzen, die Kleider und Kloaken reinigen und die Straßen fegen? Heute lächelt Jeder über diese Versuche, sich den Zukunftsstaat auszumalen. Die Schwierigkeiten von damals sind zum Teil durch Fortschritte der Technik, der Wissenschaft schon im Gegenwartsstaat beseitigt worden. Die Kloakenreinigung z. B. wird durch’s Wasser weit besser besorgt als jemals durch Menschen. Die Eisenbahnen, die Elektrizität, die Elektrotechnik sind gekommen. Die Wirklichkeit ist der kühnsten Phantasie vorausgeeilt. …

Diejenigen Herren, die Auskunft über den Zukunftsstaat von uns wollen, mögen bedenken, dass uns jede Voraussetzung fehlt, auf welche hin vorausgesagt werden könnte, wie ein Staat, oder eine Gesellschaftsordnung, ich will sagen in zehn Jahren – nein, in einem Jahr – beschaffen sein wird. Was heute als Wahrheit gilt, ist morgen als Unsinn erkannt. Was heute Ideal, ist morgen Wirklichkeit, übermorgen Reaktion. Und da will man sagen, wie künftig sich der Staat gestalten soll! Nur ein Narr kann das fragen.[20]

In seiner Betrachtung des neuen Erfurter Programms griff Karl Kautsky 1892 erneut die Forderung der Gegner nach einem klareren Zukunftsbild auf:

Aber die Aufstellung eines Planes, wie der »Zukunftsstaat« eingerichtet werden solle, ist heute nicht nur zwecklos geworden, sie ist auch mit dem jetzigen Standpunkte der Wissenschaft gar nicht mehr vereinbar. Im Laufe dieses Jahrhunderts ist nicht bloß eine große ökonomische Umwälzung vor sich gegangen, sondern auch eine große Umwälzung in den Köpfen. Die Einsicht in die Ursachen des gesellschaftlichen Fortschritts ist ungemein gewachsen. Schon in den vierziger Jahren dieses Jahrhunderts haben Marx und Engels uns gezeigt, und von da an hat jeder weitere Fortschritt in der Gesellschaftswissenschaft es bestätigt, dass in letzter Linie die Geschichte der Menschheit nicht durch die Ideen der Menschen, sondern durch die ökonomische Entwicklung bestimmt wird, welche unwiderstehlich fortschreitet, nach bestimmten Gesetzen, nicht nach den Wünschen und Launen der Menschen.

[…]

Eine neue Gesellschaftsform kommt nicht in der Weise zustande, dass einzelne besonders schlaue Köpfe einen Plan entwerfen, wie sie am besten einzurichten wäre, dass sie dann nach und nach die andern von der Nützlichkeit dieses Planes überzeugen und, wenn sie die nötigen Machtmittel gewonnen haben, nun daran gehen, schön gemächlich das soziale Gebäude nach diesem Plan aufzubauen und einzurichten.

Eine neue Gesellschaftsform ist bisher stets das Ergebnis langer, wechselvoller Kämpfe gewesen. Es kämpften die ausgebeuteten Klassen gegen die ausbeutenden; es kämpften die untergehenden, reaktionären gegen die aufstrebenden, revolutionären Klassen. In diesen Kämpfen verbinden sich die verschiedenen Klassen in der verschiedensten Weise miteinander, um andere, ihnen entgegenstehende Klassen zu bekämpfen: Das Lager der Ausgebeuteten vereinte mitunter Revolutionäre und Reaktionäre; das Lager der Revolutionäre mitunter Ausbeuter und Ausgebeutete.

[...]

Man sieht, Gesellschaftsformen kommen in anderer Weise zustande als Gebäude. Vorher angefertigte Pläne gelangen bei dem Aufbau der ersteren nicht zur Geltung. Heute, angesichts dieser Erkenntnis, noch »positive Vorschläge« zum Aufbau des Zukunftsstaates zu entwerfen ist ungefähr ebenso nützlich und tiefsinnig, als etwa im vorhinein eine Geschichte des nächsten Krieges zu schreiben.

[...]

Es ist demnach nichts lächerlicher, als von uns zu verlangen, wir sollten ein Bild des »Zukunftsstaates« geben, den wir anstreben. So lächerlich ist diese Forderung, die noch an keine andere Partei je gestellt worden, dass es unnütz wäre, so viele Worte darüber zu verlieren, wenn nicht diese lächerliche Forderung den ernsthaftesten Einwand bildete, den unsere Gegner heute gegen uns erheben. Die anderen Einwände sind noch um ein gut Teil lächerlicher.

Es ist noch nie in der Weltgeschichte dagewesen, dass eine revolutionäre Partei auch nur voraussehen, geschweige willkürlich bestimmen konnte, welche Formen die neue, von ihr angestrebte Gesellschaft annehmen werde. Für die Sache des Fortschritts war schon viel gewonnen, wenn es ihr gelang, die Tendenzen zu erkennen, welche zu dieser Gesellschaft hinführten, so dass ihre politische Tätigkeit eine bewusste, keine bloß instinktivewar. Mehr kann man auch von der Sozialdemokratie nicht verlangen.[21]

Ernst Bloch spottete 1946 über Bellamy:

Er halluziniert, Marx höchstens vom Hörensagen kennend, eine gleichheitliche Organisation des Wirtschaftslebens, ohne Slums, Banken, Börsen, Gerichte.

[...]

Und wie üblich wird überhaupt nicht klar, durch welche Mittel sich das eben zu schönerem umwälzt. Am sympathischsten erscheint hier noch der Amerikaner Bellamy mit seinem berühmt gewesenen Buch »Looking Backward«, 1888, deutsch bei Dietz erschienen als »Ein Rückblick aus dem Jahr 2000«. Die Einkleidung ist bewährte Kolportage: Ein reicher Bostoner, Mr. Julius West, wird kurz vor seiner Hochzeit verschüttet, nachdem er in magnetischen Schlaf gesunken war, wird im Jahr 2000 wieder ausgegraben, der magnetische Schlaf hat seinen Körper konserviert, Mr. West wird Citizen des unterdes entstandenen amerikanischen Idealstaats. Der Leser kann nur dies Zukunftsgebilde wie durch ein Opernglas betrachten; mehr als in irgendeiner Utopie bisher erscheint das Geträumte als fabulöse Gegenwart. So befriedigt Bellamy die von Marxisten abgelehnte Forderung, eine Malerei der Zukunftsgesellschaft zu geben; sein Sensationsroman ist, bei aller Seichtheit und zivilisatorischen Äußerlichkeit, nicht ohne bewegliche sozialistische Phantasie.

[...]

Entstanden ist seitdem ein Staatssozialismus, das heißt, der Staat hat sich zu einem großen Geschäftsverband verwandelt, dessen Gewinn und Ersparnis allen Bürgern gleichmäßig zukommt. So propagiert Bellamy eine Art zentralistischen Sozialismus, wenn auch ziemlich im Rahmen der Babbit-Wünsche. Bellamys Utopie liegt sprunglos in der Verlängerungslinie der heutigen Welt, sie ist au fond mit dem Habitus der kapitalistischen Zivilisation zufrieden. Die Vergesellschaftung des Privateigentums nimmt aus dem jetzigen Zustand nur die sozialen Schäden und Hemmungen heraus, aber sie verändert nicht den allgemeinen Zuschnitt. Die Erde wird ein gigantisches Boston oder noch eher Chicago mit etwas Landwirtschaft dazwischen; das Gebiet nannte man früher Natur. So technisiert, doch im üblen Sinn, sahen übrigens viele »gute Europäer« Amerika ohnehin, und zwar bereits das vorhandene; so dass Bellamys Utopie eine Flut anderer, entgegengesetzter hervorrief und gegen den Gesellschaftsverbandssozialismus des Amerikaners sozusagen das alte Europa aufstand, mit romantischen Gegenzug.[22]

Für Bloch leiden die Gesellschaftsentwürfe an vormarxistischem Utopisieren, als ob wissenschaftlicher Sozialismus gar nicht vorhanden wäre. Das sind die Folgen, wenn Sozialutopie hinter Marx zurückbleibt, sie bleibt sogar noch hinter Owen zurück, ja hinter Thomas Morus, sie fällt völlig außerhalb der angestammten sozialistischen Reihe.

Utopien nach Marx waren für ihn nur noch prophezeiende Unterhaltungsromane und Guckkastenbilder in eine bessere Zukunft.

Wie gesagt, die Sozialisten mochten dieses Buch nicht.

Aber lassen Sie sich von ein paar Nörglern, denen zwischenzeitlich ein ganzes Weltsystem abhandengekommen ist, nicht die Leselust vermiesen. Dies ist ein bleibendes Stück Literatur. In diesem Sinne sollten Sie es genießen.

Wolfgang Both

Berlin, im August 2013

[1] Edward Bellamy in The Nationalist, Mai 1889.

[2] Vgl. Wolfgang Both, Rote Blaupausen – eine kurze Geschichte der sozialistischen Utopien (Berlin: Shayol, 2008).

[3]Edward Bellamy in einer Besprechung von: Charles Nordhoff,The Communist Societies in the United States(1874) in derSpringfield Unionvom 31.Dezember 1874 [A. d. Ü.]

[4] Zitiert nach Arthur Eustace Morgan, Edward Bellamy (Columbia University Press: New York, 1944) [A. d. Ü.].

[5] Jack London setzte dem in der Eisernen Ferse ein literarisches Denkmal.

[6] Im Unterschied zum Rückblick ist Cäsars Säule eine blutige Revolutionsutopie.

[7] Nr. 38. Provinzial Correspondenz, 16. Jg., 18. September 1878 (Berlin: Ober-Hofbuchdruckerei).

[8]Karl Kautsky, Der jüngste Zukunftsroman, Neue Zeit, VII/1889, S. 268-276.

[9]August Bebel,Die Frau im Sozialismus (Stuttgart: Dietz, 1890 [9. Auflage]).

[10] Frank Stern, Sozialismus in Amerika? Ein thematischer und sprachlicher Vergleich von Edward Bellamys »Looking Backward. 2000 – 1887« in seiner deutschen Rezeption (Wetzlar: Phantastische Bibliothek, 2004).

[11] Joseph von Neupauer, Österreich im Jahre 2020. Socialpolitischer Roman (Dresden: E. Pierson’s Verlag, 1893)

[12] Ernst Müller, Ein Rückblick aus dem Jahre 2037 auf das Jahr 2000. Aus den Erinnerungen des Herrn Julian West (Berlin: C. Ulrich, 1891)

[13] Heinrich Fränkel, Gegen Bellamy! Eine Widerlegung des sozialistischen Romans »Ein Rückblick aus dem Jahre 2000« und des sozialisitschen Zukunftsstaates überhaupt (Würzburg: A. Stuber, 1891)

[14] H. G. Erdmannsdörffer, Ein Phantasiestaat. Darstellung und Kritik von Bellamy’s »Im Jahre 2000« (Leipzig: R. Werther, 1891)

[15] Conrad Wilbrandt, Des Herrn Friedrich Ost Erlebnisser in der Welt Bellamys. Mittheilungen aus den Jahren 2001 und 2002 (Wismar: Hinstorff’sche Hofbuchhandlung, 1891)

[16]Manifest der Kommunistischen Partei (MEW Band 4, Berlin: Dietz Verlag, 1974).

[17]Auguste Comte (1818 – 1857), franz. Philosoph, Begründer des Positivismus, Schüler von Saint-Simon, Ideengeber für Edward Bellamy.

[18] Karl Marx, Brief an Sorge (MEW Band 34, Berlin: Dietz Verlag, 1983).

[19] Der Titel des französischen Originals lautet übrigens »Socialisme utopique et socialisme scientifique« (1880). Hier wird also der Gegensatz von Utopie und Wissenschaftlichkeit festgehalten. Der deutsche Titel »Die Entwicklung .....« intendiert dagegen den Fortschritt gegenüber der Utopie.

[20] Protokoll über die Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Halle/S., 12. - 16. Oktober 1890 (Berlin: Verlag des Berliner Volksblatt, 1890).

[21] Karl Kautsky, Das Erfurter Programm in seinem grundsätzlichen Teil (Stuttgart: Dietz Verlag, 1892).

[22] Ernst Bloch, Freiheit und Ordnung, Abriß der Sozialutopien (Leipzig: Reclam, 1987).

Einleitung von Clara Zetkin

Bellamys »Rückblick« hat seine kurze Spanne großer Popularität gehabt und dem Namen des bis dahin ziemlich unbekannten Verfassers rasch Weltruf verliehen. Der Roman ist im Jahre 1887 in den Vereinigten Staaten erschienen und in den nächstfolgenden Jahren in sehr viele Sprachen übertragen worden. Die Antwort nach dem Warum würde man vergeblich in der künstlerischen Bedeutung des Buches suchen. Sie wird durch die Zeitumstände und Zeitstimmungen gegeben, denen der soziale Gedankengehalt des »Rückblick« sympathisch sein musste. Krisen- und Pleiteepidemien, Jahre voller Streiks, Arbeitslosendemonstrationen und blutiger Zusammenstöße zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten hatten in den Vereinigten Staaten weiteren Kreisen zum Bewusstsein gebracht, dass an der gesellschaftlichen Organisation, dass in der Organisation der Arbeit »etwas« zu bessern sein müsse. Dieses Bewusstsein fand seinen Niederschlag in Bellamys Roman.

Wie manche behaupten, von Anfang an unbeabsichtigt, geradezu instinktiv, da der Verfasser angeblich nichts anderes geplant hatte als eine unterhaltsame Mär von allgemeiner Glückseligkeit und Harmonie. Allein je weiter die Arbeit voranschritt, um so mehr wurde der Schriftsteller von seinem Gegenstand ergriffen. Der heitere Schilderer paradiesischer Zustände musste den scharfäugigen, rücksichtslosen Gesellschaftskritiker an seine Seite treten lassen und den begeisterten Propheten einer neuen sozialen Organisation und Moral der Vernunft und Zweckmäßigkeit. So entstand ein Werk, von dem der Verfasser später selbst sagte: »Der Rückblick hat zwar die Form eines phantastischen Romans, ist aber allen Ernstes als Vorbild gemeint für die kommende Stufe der industriellen und sozialen Entwicklung des Menschengeschlechts, wenigstens in Amerika.«

Bellamys Roman ist getragen von der Auffassung, dass die Gesellschaft an ihrer wirtschaftlichen Grundlage reformiert werden müsse durch die Organisation jeder Art Arbeit in einem Heere aller wirtschaftlich dienstpflichtigen Bürger. Dieser sorgfältig gegliederten Armee ist die Aufgabe anvertraut, die Nation zu erhalten, genau so wie heute die militärische Organisation den Staat nach außen hin schützen soll. Bellamy entwickelt das System, nach dem das Arbeitsheer aufgebaut werden und funktionieren soll. Er erweist sich damit als Utopist, als sozialer Erfinder und Entdecker, der die soziale Neuordnung in seinem Kopfe vorausschaffen will. Er ist also kein wissenschaftlicher Sozialist, der »mittels seines Kopfes« in der Gesellschaft selbst die Kräfte und Gesetze bloßzulegen und zu verstehen strebt, die unabwendbar zu höheren Formen der Gesellschaft führen. Wohl sieht er die Tendenzen am Werk, die in der kapitalistischen Wirtschaft selbst die Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Sozialisierung der Gütererzeugung und Güterverteilung vorbereiten. Allein er ahnt nicht die menschliche Macht, die erkennend und wollend diese Tendenzen zum Siege tragen muss. Die Umwandlung der Gesellschaft ist nach ihm das Werk einer »Nationalistenpartei«, zusammengesetzt aus den Denkenden und Wohlmeinenden aller sozialen Schichten, sie ist nicht die Schöpfung des revolutionären Proletariats. Nicht nur die mangelnde geschichtliche Schulung Bellamys ist es, die sich in dieser Meinung spiegelt, auch die Zersplitterung und Schwäche, die politische Rückständigkeit des amerikanischen Proletariats jener Zeit wie der Ansätze zu seiner sozialistischen Erweckung und Sammlung. Wenngleich dem »Rückblick« die Tiefe und Schärfe des wissenschaftlichen Sozialismus fehlt, so ist das Buch doch reich an Anregungen, kritischen und fruchtbaren Gedanken über das Heute und Morgen der Gesellschaft. Der Wahrheitsmut, mit dem sich Bellamy über die Schäden der gegenwärtigen Ordnung der Dinge und namentlich ihre moralischen Folgen äußert, gewinnt ebenso wie der große sittliche, etwas nüchterne Ernst, mit dem er die überlegene Neuordnung der Gesellschaft schildert. Der Roman beantwortet treffend manche Frage über den »sozialistischen Zukunftsstaat«, die zumal der flachgeistige Fortschrittsphilister so gern zu stellen pflegt.

Als Bellamys »Rückblick« in Deutschland bekannt wurde, lastete der letzte Druck des Sozialistengesetzes auf dem geistigen und politischen Leben der Arbeiterklasse. Mit Begeisterung und ohne allzu strenge künstlerische Kritik nahm man damals jede Veröffentlichung auf, in der etwas vom Geiste des Sozialismus lebte und atmete. Unter dem Eindruck dieser Stimmung wurde Bellamys Utopie lediglich nach ihrem Gedankengehalt hin gewertet, und ich übernahm eine erste Übersetzung des Romans, die 1890 im Verlag von J. H. W. Dietz in Stuttgart erschien. Wenn ich mich jetzt dazu entschließe, nach so langer Zeit diese Übersetzung in neuer Auflage erscheinen zu lassen, so ist es die Überzeugung, dass der »Rückblick« auch heute noch den arbeitenden Massen sehr viel zu sagen hat, ja vielleicht heute mehr als je, wo der Weltkrieg auch die letzten Schleier der Erkenntnis darüber zerrissen hat, dass die Aufrichtung der sozialistischen Gesellschaft das Werk des kämpfenden Proletariats sein muss.

Vorwort des Autors

Historische Sektion der Shawmut-Universität zu Boston am 28. Dezember 2000

Uns, die wir im letzten Jahre des 20. Jahrhunderts leben, fällt ohne Zweifel die Vorstellung schwer, dass die gegenwärtige, so vollkommene Gesellschaftsordnung weniger als hundert Jahre alt ist. Es sei denn, wir hätten tiefgründige geschichtliche Studien getrieben. Wir erfreuen uns nämlich der Segnungen einer sozialen Ordnung, die ebenso einfach wie logisch ist, sodass sie als Triumph des gesunden Menschenverstandes nur selbstverständlich erscheint. Keine historische Tatsache steht jedoch unumstößlicher fest als diese: Fast bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde allgemein geglaubt, die alte wirtschaftliche Ordnung mit all ihren schrecklichen sozialen Folgen müsse bis ans Ende der Tage bestehen. Höchstens könne sie durch ein bisschen Stück- und Flickwerk verbessert werden. Wie seltsam und beinahe unglaublich scheint es, dass sich in einem so kurzen Zeitraum solch wunderbare materielle und moralische Umgestaltung hat vollziehen können wie jene, die seitdem stattgefunden hat. Es könnte nicht treffender illustriert werden, wie leicht sich die Menschen an Verbesserungen ihrer Lage als an etwas ganz Selbstverständliches gewöhnen, obendrein an Verbesserungen, die schon nichts mehr zu wünschen übrig zu lassen schienen, als sie zum ersten Mal ausgedacht und formuliert wurden. Diese Betrachtung ist wie keine andere geeignet, die Begeisterung von Weltverbesserern zu mäßigen, die auf die lebhafte Dankbarkeit künftiger Geschlechter zählen!

Das vorliegende Buch ist für Leser bestimmt, die wohl eine klare Vorstellung von den sozialen Unterschieden zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert erlangen möchten, aber vor der trockenen Darstellung der Geschichtsbücher darüber zurückschrecken. Der Verfasser ist durch seine Erfahrungen als Lehrer gewitzigt worden. Sie haben ihm gezeigt, dass das Studieren leicht für ermüdend gilt. Er hat sich daher bemüht, den belehrenden Charakter seines Buches dadurch anziehender zu gestalten, dass er dieses in die Form eines Romans gebracht hat. Ein solcher, so hofft er, wird schon an sich nicht jeden Interesses ermangeln.