Rückkehr nach Fisherman’s Cove - Constanze Wilken - E-Book

Rückkehr nach Fisherman’s Cove E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Als sie vom plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters erfährt, ist Arline zutiefst erschüttert. Die junge Frau, die in einem Pub in Glasgow arbeitet und in einer Folkband singt, macht sich sofort auf den Weg zu ihrer Heimatinsel Orkney. Im malerischen Fisherman’s Cove angekommen, wird sie von Erinnerungen überwältigt. Ihr Vater hat ihr nicht nur das alte Cottage, sondern auch das Tagebuch ihrer früh verstorbenen Mutter Colina vermacht, von der sie das Gesangstalent geerbt hat. Arline beschließt, erst einmal in Fisherman’s Cove zu bleiben, um endlich mehr über das geheimnisvolle Schicksal ihrer Mutter zu erfahren. Endgültig durcheinandergewirbelt werden Arlines Gefühle, als sie im örtlichen Pub den Barkeeper Quinn kennenlernt. Denn als Arline mit ihrer zum Folkfestival angereisten Band im Pub singt, funkt es gewaltig zwischen ihr und Quinn.

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Als sie vom plötzlichen Tod ihres geliebten Vaters erfährt, ist Arline zutiefst erschüttert. Die junge Frau, die in einem Pub in Glasgow arbeitet und in einer Folkband singt, macht sich sofort auf den Weg zur Orkney-Insel Mainland, ihrer alten Heimat. Im malerischen Fisherman’s Cove angekommen, wird sie von Erinnerungen überwältigt. Ihr Vater hat ihr nicht nur das alte Cottage, sondern auch das Tagebuch ihrer früh verstorbenen Mutter Colina vermacht, von der sie das Gesangstalent geerbt hat. Arline beschließt, erst einmal in Fisherman’s Cove zu bleiben, um endlich mehr über das geheimnisvolle Schicksal ihrer Mutter zu erfahren. Endgültig durcheinandergewirbelt werden Arlines Gefühle, als sie im örtlichen Pub den Barkeeper Quinn kennenlernt. Denn als Arline mit ihrer zum Folkfestival angereisten Band im Pub singt, funkt es gewaltig zwischen ihr und Quinn.

Informationen zu Constanze Wilken

sowie zu weiteren lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Constanze Wilken

Rückkehr nach Fisherman’s Cove

Roman

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe August 2025

Copyright © 2025 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: FinePic®, München Werbeagentur GmbH

Redaktion: Regine Weisbrod

BH · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-32117-8V001

www.goldmann-verlag.de

For The Islands I SingAnd For A Few Friends

George Mackay Brown

1

Stromness, Saltwater Sands Cottage, 1986

Die Wellen hatten eine eigene Melodie. Oft stand Colina an den Klippen und sang mit ihnen. Dann fühlte sie sich lebendig, erfüllt, ganz. Ihre Familie verstand das nicht. Das Meer war Ernährer und Feind zugleich. Vor Generationen waren die Männer mit den Walfängern hinausgefahren, und niemand wusste, wer zurückkehren würde. Danach waren sie den Heringsschwärmen hinterhergejagt, und heute fingen sie Krebse.

Colina stieg von ihrem Fahrrad. Der Weg war steil, und der Wind hatte zugenommen. Das letzte Stück musste sie schieben. Unterhalb der Klippen rauschte die See, und in ihr tobten die widersprüchlichsten Gefühle. Sie war auf dem Weg, etwas Verbotenes zu tun. Ihr Herz jubelte, ihr Verstand riet ihr umzukehren, und ihr Bauch verkrampfte sich ängstlich. Tief einatmend, schob sie ihr Rad weiter.

Das Leben auf den Inseln war hart. Sie war nie gut in der Schule gewesen und war schon früh gerne mit ihrem Vater auf dem Boot hinausgefahren. Was sie antrieb, war die Musik. Ihre Stimme war ein Geschenk. Sie hatte bereits als Kind im Kirchenchor mitgesungen, und im Beachcomber, einem Pub, sang sie mit Thomas, Sam und Ty die alten Lieder.

Die schmale Straße machte eine scharfe Biegung, und von nun ab ging es bergab. Das Cottage lag inmitten eines großen Gartens, der sich zum Meer öffnete. Zwei Granitkugeln auf gemauerten Pfeilern hielten ein schmiedeeisernes Tor. »Saltwater Sands« stand in geschwungenen Buchstaben auf einem Schild. Colina dachte an das alte dunkle Haus aus grauen Steinen, das unten am Pier stand. Was für ein Kontrast zu den Häusern der Fischer. Schiefe Wände, winzige Fenster und der Geruch von Torf, Seetang und Fisch in jedem Raum. In einem solchen Haus war sie aufgewachsen. Von der Haustür waren es nur wenige Schritte zum Pier mit den Fischerbooten und den Hummerkörben.

Ehrfürchtig schob sie ihr Rad durch das Tor. Der helle Kies knirschte unter ihren Schuhen, und sie betrachtete gebannt das weiß getünchte Cottage mit dem Reetdach. »Sein Refugium« hatte er es genannt. Hierhin zog er sich zurück, um zu üben und Kraft zu tanken. Der weltberühmte Pianist Jasper Carlsen hatte sie eingeladen!

Sie zögerte. Vielleicht sollte sie doch lieber umkehren. Ihr überschwänglicher Mut wich der Angst, zu versagen. Er hatte sie im Pub singen gehört und sie zu einer Probe eingeladen. Zu einer Probe, sie, die Pubsängerin. Das unbekannte Fischermädchen. Was erwartete sie? Sie war jung, aber weder naiv noch weltfremd. Letztlich hatte sie nichts außer ihrem Stolz zu verlieren. Oder doch?

Die Tür des Hauses schwang auf, und ein großer dunkelblonder Mann trat heraus. Er trug eine hellgrüne Hose und ein weißes Hemd. Und er war barfuß. Jasper Carlsen war berühmt, exzentrisch und unkonventionell.

»Ich befürchtete schon, Sie würden nicht kommen.« Er machte eine einladende Bewegung. »Stellen Sie Ihr Rad dort an die Garage oder wo Sie mögen. Nur gegen die Buchshecke sollten Sie es nicht lehnen. Mein Gärtner wird sonst furchtbar ungehalten, und ich hatte große Schwierigkeiten, überhaupt einen zu finden.«

Jasper Carlsen lächelte, und seine blauen Augen sahen sie neugierig und herausfordernd an. Er mochte Mitte dreißig sein, dachte Colina.

Eine Windböe wirbelte Colinas lange dunkelbraune Haare durcheinander. Der Juli war einer der schönsten Monate auf Mainland, und die Sonne entfaltete ihre Kraft. Was nicht bedeutete, dass man keine Windjacke benötigte. Colina lehnte ihr Rad an die Garage, die ebenfalls mit Reet gedeckt war, und ging auf Carlsen zu. Weder ihre Eltern noch ihre Freundin wussten, dass sie heute hier war. Das hier war ihre Entscheidung und ihr Geheimnis.

Als sie vor ihm stand und seinen Blick auf sich spürte, machte sich ein warmes Kribbeln in ihrem Bauch breit. Genauso fühlte sie sich, bevor sie zu singen begann.

»Bitte, kommen Sie herein, Colina. Darf ich Ihnen etwas anbieten?« Carlsen geleitete sie in sein Haus, das hell und geräumig war.

Er führte sie in einen großen Raum, in dem ein Flügel vor der geöffneten Terrassentür stand. Sie hörte den Wind, das Meer und die Seevögel.

»Ist das schön!«, flüsterte Colina und strich über das kostbare Instrument.

Der Pianist stellte sich neben sie. »Es hat mich einige Überredungskunst gekostet, dieses Cottage zu erwerben. Natürlich hat mich der alte Swanney über den Tisch gezogen, aber ich habe es nicht bereut.«

Colina grinste. »Ach, Duncan Swanney. Deshalb hat er sich ein neues Boot kaufen können.«

Jasper zuckte mit den Schultern und ging zu einem Tisch, auf dem Flaschen und Gläser standen.

»Nur Wasser für mich, danke.«

»Natürlich. Sänger müssen ihre Stimme pflegen.« Er goss ihr ein Glas Wasser ein und reichte es ihr.

»Ich bin keine Sängerin. Keine richtige, meine ich«, wehrte Colina ab, nippte an ihrem Glas und zupfte an den Lederfransen ihrer Tasche.

»Wollen Sie ablegen?« Jasper Carlsen deutete auf einen Stuhl.

Colina stellte ihr Glas auf einen Tisch und legte ihre Tasche und die Windjacke auf einen Stuhl. Zur Jeans trug sie ein buntes T-Shirt und eine Muschel an einem Lederband um den Hals. Von der Arbeit auf dem Schiff war ihre Haut gebräunt und die Arme muskulös.

»Ich werde Ihnen beweisen, dass Sie eine Sängerin sind. Ihre Stimme ist außergewöhnlich. Und das wissen Sie doch auch.« Er ging zu seinem Flügel und setzte sich auf die Bank. Seine Hände waren feingliedrig und die Fingerspitzen leicht nach oben gewölbt. Wie oft waren sie wohl über die schwarzen und weißen Tasten geglitten?

Gebannt beobachtete Colina, wie er zu spielen begann. Jede seiner Bewegungen war leicht und elegant und dabei so natürlich, als wäre sie ein Teil von ihm. Die Töne perlten durch den Raum, flogen nach draußen und verwoben sich mit dem Gesang des Meeres. Verträumt lauschte sie und erkannte bald die Melodie, die er spielte. Es war einer der Folksongs, den sie im Pub gesungen hatte.

»In Noroway there lived a maid«, begann Colina zu singen. Ein Lied über eine Selkie-Frau, deren Herz durch eine falsche Liebe gebrochen wurde.

Die Musik trug sie, wie sie es immer tat. Doch diesmal sang sie nicht in einem Pub, sondern allein, und nur das Klavier begleitete sie. Unsicher knetete sie die Hände und sah ihn fragend an, nachdem die letzte Zeile verklungen war.

»Ich habe es gewusst.« Zufrieden legte er die Hände auf seine Oberschenkel.

»Dass ich ›The Great Selkie of Sule Skerry‹ singen kann?«, meinte Colina skeptisch.

»Das auch.« Er erhob sich, kam zu ihr und ergriff ihre Hände. »Ich glaube, dass Sie alles singen können. Mit etwas Übung und dem richtigen Lehrer würden Sie auf den Bühnen dieser Welt stehen.«

Die Wärme seiner Hände durchfloss sie wie ein elektrisierender Strom. Nervös entzog sie sich ihm.

»Sie meinen, mit einer Band?«

»Mit einer Band oder einem Orchester. Sie haben eine klare, kraftvolle Sopranstimme, Colina. Mögen Sie die italienische Oper?« Lässig lehnte er sich an den Flügel.

Das war seine Welt, nicht ihre. Sie schüttelte den Kopf. Ihre Knie fühlten sich weich an.

»Nein? Das glaube ich Ihnen nicht.«

»Doch, ich mag die Oper, aber ich könnte niemals so singen.« Sie hatte sich wieder gefasst.

»Und doch sind Sie gekommen. Sie wollen singen. Es ist in Ihnen. Niemand, der die Musik liebt, wahrhaftig liebt, kann sich ihr verweigern.« Jasper Carlsen berührte die Muschel an ihrem Hals. »Vertrauen Sie mir?«

Colina schluckte. »Nein«, flüsterte sie.

Er lächelte. »Doch. Weil es nicht anders möglich ist.«

2

Stromness, Gegenwart

Die schmalen grauen Häuser drängten sich aneinander. Kleine Fenster sahen auf die Bucht. Wie viele Frauen hatten dort vergeblich auf die Rückkehr ihrer Männer gewartet? Wie jeder Insulaner kannte Arline die alten Geschichten der Walfänger. In einem der kleinen Häuser war sie aufgewachsen, und eins der bunten Schiffe war die Colina. Sie stieß sich von der Reling ab, schulterte ihren Rucksack und spürte das Stampfen des Schiffsmotors. Nachdem das Anlegemanöver beendet war, verließ sie das Fährschiff mit den übrigen Passagieren.

Zu Weihnachten war sie zum letzten Mal hier gewesen. Schnee hatte auf den Dächern gelegen. Und ihr Vater hatte in seinem alten dunkelblauen Wollmantel an der Mauer gelehnt und auf sie gewartet. Den Kragen aufgeschlagen, die Mütze tief über die Ohren gezogen, war er auf sie zugestapft und hatte sie an sich gedrückt. »Gut, dass du da bist«, hatte er gesagt. Er war nie ein Mann vieler Worte gewesen.

Arline schluckte und spürte, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Der Wind fegte in die Bucht und jagte ihr einen Schauer über die Haut. Sie nahm den Rucksack von den Schultern und hockte sich auf einen Poller. Es roch nach Diesel, Seetang und Fisch. Die Menschen gingen an ihr vorbei, die Urlauber lachten, unterhielten sich, andere wollten einfach nur nach Hause. Wie sie selbst. Sie war hier aufgewachsen. Jedes Haus, die engen Gassen, die Pubs und Cafés, die Wanderwege, die Fischerboote, alles war ihr vertraut. Sie hielt nach dem Boot ihres Vaters Ausschau.

Die Colina war rot und blau gestrichen und lag an einer der Anlegestellen vor Anker. Inmitten der bunten Boote der Creel-Fischer, wie die Krebsfischer auch genannt wurden, schaukelte die Colina auf dem kabbeligen Wasser. Alles schien wie immer. Und doch war alles anders. Ihr Vater war tot. Plötzlicher Herztod, ein Unfall. Sie konnte es immer noch nicht glauben. Mit einundsechzig war man heute nicht alt, und ihr Vater hatte nie über irgendwelche Beschwerden geklagt.

Jeden Tag war er mit seinem Schiff ausgelaufen, um die Fangkörbe zu kontrollieren, die er an den Tagen zuvor ausgelegt hatte. Die roten Bojen wippten auf dem Meer und markierten das Ende einer Korbreihe, die tief auf dem Grund lag. Arline war oft genug mitgefahren, um zu wissen, wie man Hummer und Taschenkrebse fing. Sie wischte sich über die Augen und holte ein Taschentuch hervor.

»Arli!«

Die Stimme ihrer Tante Imogen riss sie aus ihren Gedanken.

»Tante Mogs!« Arline stand auf und umarmte die um einen Kopf kleinere Tante.

Für einen Maitag war es nicht kalt, doch an den Wind musste man sich gewöhnen. Imogen trug eine Strickjacke über ihrem dunklen Kleid. Sie roch nach Lavendelseife und Kuchen.

Arline weinte, und Imogen strich ihr tröstend über den Rücken. »Meine arme Kleine. Es kam so überraschend. Keiner konnte sich vorstellen, dass dein Vater … Ach, so ein Unglück.«

»Wo ist er, Mogs? Ich will ihn sehen«, schniefte Arline und schnäuzte sich die Nase. Wenigstens das. Ihre Tante hatte sie sofort benachrichtigt, und Arline war am Tag darauf losgefahren.

Ihre Tante strich ihr liebevoll die langen dunkelbraunen Haare aus der Stirn. »Beim Bestatter. Du bist das Ebenbild deiner Mutter, Arli. Komm, ich habe dir unser Gästezimmer hergerichtet.«

Arline schüttelte den Kopf. »Nein. Ich möchte meinen Vater sehen.«

Seufzend erwiderte Imogen: »Na gut. Scollie & Sons liegt auf dem Weg zu uns.«

»Danke, aber ich werde nicht bei dir bleiben.« Arline packte ihren Rucksack. »Ich werde in meinem Elternhaus wohnen.«

»Arline, nein, das ist nicht gut. Du kannst doch nicht ganz allein in dem alten Haus sein. Es ist kalt, und alles ist so, wie Thomas es verlassen hat, bevor er am Hafen …« Imogen rang die Hände. »Mach es dir nicht unnötig schwer. Ich habe gekocht und gebacken, alle freuen sich, dich zu sehen.«

Genau das wollte Arline nicht, Gesellschaft. »Wann ist die Beerdigung?«

»Morgen früh. Am Nachmittag hast du einen Termin beim Notar. Ich begleite dich, wenn du das möchtest.« Imogen MacConnachie kümmerte sich gern um ihre Mitmenschen. Sie kümmerte sich, auch wenn man es nicht wollte.

Früher hatte sich Arline oft von der Fürsorglichkeit ihrer Tante erdrückt gefühlt, auch wenn sie nachvollziehen konnte, dass Imogen in ihr auch die verstorbene Schwester sah. Ihre Mutter war gestorben, als Arline fünf Jahre alt gewesen war, und sie erinnerte sich kaum an sie.

Sie gingen den leicht ansteigenden Pier hinauf zur Victoria Street. Die Lebensader von Stromness zog sich am Meer entlang, ging im Norden in die John Street über und im Süden in die Dundas Street. Dort lag ihr Elternhaus. Arline hob den Blick zu dem grauen Hügel, der über der Stadt thronte. Brinkie’s Brae war als Aussichtspunkt bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebt. Als Jugendliche hatten sie sich abends dort oben getroffen, Bier getrunken und wilde Pläne für die Zukunft geschmiedet. Die meisten ihrer Schulfreunde allerdings waren nicht von den Inseln weggekommen.

Arline betrachtete das modern anmutende Pier Arts Centre und die wie an einer Schnur aufgezogenen Häuser der Victoria Street. Viele Fassaden waren neu gestrichen, Reklameschilder wiesen auf Shops und Restaurants hin. Der Tourismus spülte Geld auf die Inseln.

»Da vorn ist es«, sagte Imogen. Ihre Tante humpelte ein wenig, dachte Arline. Wie alt war sie? Über sechzig? Sie war älter als ihre Mutter gewesen. Das graue Haar trug sie kurz geschnitten, und sie verzichtete auf Make-up.

Vor einem grauen Steinhaus blieben sie stehen. Nur ein grünes Schild mit goldener Schrift verriet, dass man sich hier mit den Toten befasste. Arline berührte den Arm der Tante.

»Lass mich allein hineingehen.« Bittend sah sie die Ältere an.

Imogen zögerte, trat dann jedoch zurück. »Geh nur. Du weißt ja, wo du uns findest. Und komm heute Abend zu uns zum Essen. Versprich es mir, ja?«

»Vielleicht. Ich kann dir nichts versprechen, Mogs.« Arline gab ihrer Tante einen Kuss auf die Wange und stieß entschlossen die Tür des Bestattungsinstitutes auf.

Ein Mann in dunklem Anzug, mit Glatze und einer von professionellem Mitgefühl triefenden Miene begrüßte sie und stellte sich als Martin Scollie vor. Als er ihren Namen hörte, geleitete er sie in einen winzigen Raum, der gerade Platz für einen Sarg hatte. Der unangenehme Geruch von Duftkerzen schnürte ihr die Kehle zu.

»Soll ich Musik anmachen? Für manche Hinterbliebene ist es tröstlich, wenn …«

»Nein.« Mit weichen Knien näherte sich Arline dem Sarg, dessen oberes Drittel nun von Mr Scollie aufgeklappt wurde.

Arline presste sich die Hand vor den Mund, als sie ihren Vater – oder vielmehr seinen Körper – sah. Was da vor ihr lag, waren Haut und Knochen, aber nicht mehr ihr Vater. Der Tod war nicht friedlich, wie immer behauptet wurde. Der Tod war endlich, bitter, traurig und erschreckend.

»Wir haben uns große Mühe gegeben, ihn für Sie herzurichten, Ms Nicolson. Damit er dem Bild entspricht, das Sie von ihm haben. Am Abend vor seinem Tod ist er noch im Pub aufgetreten.« Der Bestatter stand in der Tür und plauderte, als wäre das hier normal. Nun, für ihn war es das wohl.

»Was ist das hier? Eine Verletzung? Mein Vater hatte keine Narben am Kopf.« Arline wischte sich die Augen und schluckte mehrfach. An der Schläfe ihres Vaters bemerkte sie eine kleine Erhebung.

Scollie kam zu ihr und beugte sich über den Toten. »Äh, ach so, ja. Ihr Vater ist gestürzt. Nach dem Infarkt. Dabei muss er sich den Kopf aufgeschlagen haben.«

»Wo ist er gestürzt?«, fragte sie, berührte mit den Fingerspitzen die Stirn des Toten und zuckte zurück. »Kalt …«, flüsterte sie rau.

»Am Hafen. Er hat mit seiner Band im Pub des Stromness Hotels gespielt. Irgendwann im Laufe der Nacht ist er dann wohl nach draußen gegangen, und da ist es passiert. Tragisch, wirklich tragisch.« Scollie seufzte hörbar. »So etwas kann jedem passieren. Vielleicht ist es nicht einmal der schlechteste Abgang. Verzeihung.«

Arline warf dem Bestatter einen vorwurfsvollen Blick zu. »Lassen Sie mich allein, bitte.«

»Natürlich.« Scollie verschwand.

»Du hättest doch etwas merken müssen, Dad«, flüsterte Arline. »Warum bist du nicht zum Arzt gegangen? Ich hatte mich so darauf gefreut, mit euch auf dem Festival zu singen. Und was ist mit den Geschichten über Mum, die du mir noch erzählen wolltest?« Arline schluchzte. »Ich liebe dich, Dad. Verdammt, das ist nicht fair.«

Ihr wurde übel und schwindelig, und sie wollte nur noch weg von hier. Arline wandte sich ab und verließ die engen, stickigen Räume. Auf der Straße holte sie tief Luft, vergewisserte sich, dass sie den Haustürschlüssel bei sich hatte, und schlug den Weg zur Dundas Street ein. Als sie vor ihrem Elternhaus stand, ging sie zuerst hinunter zum Wasser. Die alten Fischerhäuser hatten fast alle einen eigenen Anleger.

Die Colina schaukelte gemächlich auf dem Wasser. Arline stellte den Rucksack an die kleine Mauer, die die winzige Terrasse vom Anleger abgrenzte, und ging zum Schiff. Auf dem Anleger waren die Hummerkörbe sorgsam gestapelt. Der Schuppen mit den Gerätschaften ihres Vaters hatte einen neuen Anstrich erhalten. Der Plastikstuhl, auf dem er immer gesessen hatte, stand davor. Die Signalbojen waren in mehreren Kisten nach Farben sortiert. Rote und gelbe.

»Was mache ich nur mit dir?«, murmelte Arline und fuhr über das Tau, mit dem das Boot am Poller befestigt war.

Ein blau-weißes Boot tuckerte näher. Der Bootsführer stellte den Motor aus, und sie erkannte Tyler McLiver, einen engen Freund ihres Vaters.

»Hey, Arli! Es tut mir so leid! Mein herzliches Beileid!«, rief der Mann zu ihr herüber. »Wenn du willst, hole ich die Reusen deines Vaters für dich ein.«

»Ja, bitte mach das, Ty, danke!«, rief Arline zurück.

»Heute Abend im Beachcomber? Wir spielen und trinken auf Thomas!«, rief Ty.

Arline nickte und winkte. Das zumindest hätte ihrem Vater gefallen, und auch sie selbst konnte einen Drink unter Freunden vertragen.

3

Das Licht veränderte sich. Bis die goldene Stunde einsetzte, in der das Licht magisch war, würde es noch ein wenig dauern. Zu lange. Arline fröstelte und stand auf. Sie musste zwei Stunden oder länger vor dem Haus auf dem Anleger gesessen haben. Das hatte sie schon als Kind gern getan. Einfach nur aufs Wasser sehen. Wenn man die Wellen beobachtete, begannen die Gedanken zu fliegen, suchten sich neue Horizonte.

Sie streckte die ausgekühlten Glieder und zog den Haustürschlüssel aus ihrer Hosentasche. Die rote Farbe blätterte stellenweise ab. Es war Jahre her, dass sie die Tür gemeinsam mit ihrem Vater gestrichen hatte. Er hatte immer gesagt, dass ihr das Haus irgendwann gehören würde. Und sie könne dann damit tun, was sie wolle. Und doch hatte die unausgesprochene Hoffnung in seinen Worten mitgeschwungen, dass sie das Haus behielt, dass sie wieder auf die Orkneys kam.

Sie musste sich gegen die Tür stemmen. Das Holz verzog sich gern. Quietschend schwang die Tür nach innen auf. Der abgestandene Geruch verschlug ihr den Atem, und Arline lief durch den Flur direkt ins Wohnzimmer und riss die Fenster auf. Als ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnt hatten, sah sie die Unordnung. Ihr Vater war kein Pedant gewesen, aber die Dinge hatten ihren Platz gehabt. Das hier sah nicht nach Thomas Nicolson aus.

Aufgezogene Schubladen, herausgerissene Papiere und Bücher, die verstreut auf dem Boden lagen. Was zum Teufel war hier geschehen? Davon hatte ihre Tante nichts gesagt. Arline eilte in die Küche, wo ein Topf mit Kartoffeln und eine Pfanne mit Rührei auf dem Herd standen. Eine geöffnete Dose Bohnen stand daneben.

»Oh, Dad«, murmelte Arline und ging weiter, denn hier schien alles normal. Auch im Schlafzimmer und in ihrem Zimmer herrschte Ordnung. Hatte ihr Vater etwas gesucht und das Haus überstürzt verlassen? Nachdenklich ging sie zurück ins Erdgeschoss und räumte die Schubladen wieder ein. Unter den Papieren waren Rechnungen, der abgelaufene Ausweis ihres Vaters, Steuerbescheide und Fotografien. Sie nahm das große Foto mit auf das Sofa. Auf dem einzigen Sessel lag eine Wolldecke und auf der Lehne seine Lesebrille.

Das Foto musste vierzig Jahre oder älter sein. Es zeigte ihre Mutter mit einer Gruppe von Leuten vor dem Pier Arts Centre. Sie trug ein buntes Sommerkleid und lächelte einen gut aussehenden blonden Mann an, der ein Heft in den Händen hielt. Jasper Carlsen, ein Pianist. Arline sah sich die Menschen auf dem Foto genauer an. Sie erkannte die ältere Dame, Margaret Gardiner. Die prominente Frau war die Kunstmäzenin gewesen, welche das Pier Arts Centre gegründet hatte. Der zweite Mann war ein berühmter Dirigent. Wie hieß er noch gleich? Struff? Wie auch immer, dachte Arline. Zusammen mit George Mackay Brown hatten sie das St. Magnus Festival ins Leben gerufen.

Arline wendete das Foto. Ihr Vater musste es kürzlich als großen Abzug bestellt haben. Das Datum war keine drei Wochen alt. Warum ausgerechnet dieses Bild? Warum rieb er Salz in alte Wunden? Er hatte ihr erzählt, dass ihre Mutter vor ihrer Ehe in einen anderen verliebt gewesen war. Und dieser andere war niemand Geringeres als Jasper Carlsen gewesen.

Sie legte das Bild auf den Couchtisch. In der Ecke stand das Akkordeon ihres Vaters unter gerahmten Fotos aus den gemeinsamen Jahren ihrer Eltern. Das Hochzeitsbild. Und ein Foto von Arline als Baby auf dem Arm ihrer Mutter. Ein Bild mochte sie besonders gern. Ihre Mutter hielt sie an der Hand und zeigte zur Kamera. Ihr Vater musste es gerade noch zurückgeschafft haben, bevor der Selbstauslöser klickte. Eine kleine Familie am Strand von Rackwick auf der Nachbarinsel Hoy.

Weißer Sand, die aufgewühlte See, im Hintergrund die Klippen und satte grüne Wiesen. Arline erinnerte sich an diesen Tag. Einer der seltenen Tage, an denen ihr Vater nicht mit dem Boot draußen war und ihre Mutter glücklich aussah. Mit den Fingerspitzen berührte Arline das Glas des Bilderrahmens. Kalt.

Ihr Telefon klingelte.

»Arli, geht es dir gut? Wo bist du?«, wollte ihre Tante wissen.

»Ich bin im Haus.« Arline sah auf die Wanduhr. Es ging auf neun Uhr zu.

»Du hast nichts gegessen, oder? Soll ich dir etwas vorbeibringen? Es ist genug da«, bot Imogen an. »Wir haben dich vermisst.«

»Tut mir leid. Nein, bitte, ich habe keinen Hunger. Ich gehe gleich in den Pub. Ty und ein paar Leute sind wohl dort.«

»Ah. Ja, gut. Dann sehen wir uns morgen.« Das Gespräch brach ab.

Ihre Tante war verstimmt. Aber Arline war nicht nach Familienessen und mitleidigen Blicken.

Sie griff nach ihrer Jacke, steckte etwas Geld ein und verließ das Haus.

Der Beachcomber lag hinter dem Fährterminal am Hafen. Das graue Steingebäude war durch einen Anbau aus Holz erweitert worden, den man blau gestrichen hatte. Gäste standen vor der offenen Tür mit ihren Gläsern an der Kaimauer, rauchten und unterhielten sich. Aus dem Inneren tönte Musik. Folkmusik. Ty spielte Gitarre, und Sam sang. Arlines Herz schlug schneller. Kein Akkordeon. Sie wappnete sich vor den Beileidsbekundungen und betrat den Pub.

Menschen drängten sich zwischen dem lang gestreckten Tresen und dem Gestühl. Es roch nach Fish and Chips und Bier. Am hinteren Ende standen Ty und Sam auf einem niedrigen Podest und spielten einen Song aus dem Repertoire der Herrings. Ohne das Akkordeon ihres Vaters fehlte etwas. Er fehlte.

»Hey, Arli? Bist du das? Oh Mann, es tut mir so leid!« Ein junger Mann nahm sie in die Arme und drückte sie fester als notwendig. Sie spürte ein Bierglas in ihrem Rücken.

»Neil, danke.« Neil war mit ihr zur Schule gegangen. Er war Tauchlehrer und arbeitete in der Tauchschule von Stromness. Die langen dunkelblonden Haare hatte er im Nacken zusammengebunden. »Eh, das ist doch schlimm, ganz schlimm. Thomas war viel zu jung. Niemand, der so jung ist, sollte gehen müssen. Verdammt!« Seine Zunge war schwer, und er sah sie mit leicht glasigen Augen an.

»Hm.« Arline entdeckte weitere bekannte Gesichter.

Vorher brauchte sie einen Drink und drängte sich etwas unsanft zum Tresen durch. Duff Moodie hatte gemeinsam mit seiner Frau Skye vor einigen Jahren das lange leer stehende Gebäude gekauft und renoviert. Ihr Konzept war aufgegangen. Gutes, preiswertes Essen, Craftbiere und wechselnde Bands kamen bei den Gästen an.

Duff, ein Hüne mit breiten Schultern, erkannte sie und nickte ihr zu. Er war gerade mit einer Bestellung beschäftigt und sagte etwas zu einem seiner Barkeeper. Der war ähnlich groß und muskulös wie Duff und kam zu ihr.

»Hi, ich bin Quinn. Duff sagt, dass du heute unser Gast bist. Worin möchtest du deinen Schmerz ertränken?« Er hatte so leise gesprochen, dass nur sie ihn hatte hören können.

»Whisky, bitte. Einen torfigen.«

»Okay.« Quinn drehte sich um, nahm eine Flasche aus dem Regal und schenkte ihr einen großen und sich selbst einen kleinen Schluck ein. »Möge Thomas seine letzte Reise mit vollen Segeln antreten. Slàinte Mhath!«

Arline hob ihr Glas, fühlte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und nahm einen Schluck. »Slàinte! Du hast ihn gekannt?«

Quinn warf einen Blick zur Band. »Sie haben einmal im Monat hier gespielt. Auf dem Akkordeon machte ihm keiner was vor.«

Ein schmales Lächeln huschte über Arlines Gesicht. »Es steht noch da, sein Akkordeon. Was mache ich nur mit …« Sie brach ab und trank ihren Whisky.

»Das braucht Zeit.« Quinn wandte sich einer Gruppe zu, die an die Bar getreten war.

Inzwischen hatte Duff seine Gäste zufriedengestellt und kam hinter dem Tresen hervor, um sie in die Arme zu nehmen.

»Hey, er fehlt uns allen. Wenn du reden willst, kannst immer vorbeikommen.«

»Danke. Das ist schön zu wissen.« Sie spürte die kräftige Hand auf ihrer Schulter.

»Quinn hast du ja kennengelernt. Er ist seit ein paar Monaten bei uns. Wir haben zusammen gedient. Die Inselluft tut ihm gut.« Duff ließ sie los und ging hinter die Bar.

Arline wusste von Skye, dass Duff bei der Royal Airforce an Kampfeinsätzen in Afghanistan und im Irak beteiligt gewesen war. Er sprach nicht über diese Zeit, die Narben auf seiner Seele hinterlassen hatte.

Die Musik verstummte, und Arline ging auf die Freunde ihres Vaters zu. In ihrer Nähe schien sein Verlust nicht so endgültig.

4

»Wann hast du meinen Vater das letzte Mal gesehen, Ty?«, fragte Arline den alten Freund.

Sie waren nach draußen gegangen, denn im Pub drängten sich mittlerweile die Besucher dicht an dicht. Tyler McLiver blies den Zigarettenrauch in die kühle Abendluft. Seine Hände waren groß und voller Schwielen und sein Gesicht eine Landkarte, gezeichnet von Sonne, Wind und Salzwasser. Sie kannte ihn und Sam ihr ganzes Leben. Ty und Sam waren nicht nur Freunde, sie waren Familie.

Der Fischer blinzelte und überlegte. »Am Morgen vor seinem Tod. Sam war abends im Pub. Ich bin hoch nach Dounby, hatte mittags einen Termin bei Dr. Brimsby.« Er klopfte sich auf den Magen. »Sodbrennen. Und später war ich mit Monica verabredet.«

Ty zog an seiner Zigarette. »Eigentlich bin ich nur ihretwegen zu Brimsby. Meinem Magen geht es eigentlich ganz gut.« Er grinste. »Monica ist seine Sprechstundenhilfe.«

»Oh, verstehe.« Ty war nie verheiratet gewesen. Eine langjährige Partnerschaft war gescheitert, als seine Freundin aufs Festland gezogen war. Arline erinnerte sich an eine lebenslustige Frau, die sich auf der Insel eingeengt gefühlt hatte. Das Inselleben war nicht für jedermann. Das Stadtleben allerdings auch nicht.

Arline lebte in Glasgow, arbeitete als Kellnerin in einem Pub und sang in einer Band. Die Saltyfish waren gut, und irgendwann würden sie den Durchbruch schaffen, davon waren sie alle überzeugt. In diesem Jahr spielten sie hier auf dem Folkfestival. Man hatte sie eingeladen, und darauf waren sie stolz.

»Tja, na ja, ich werde nicht jünger. Sie ist nett, und wir haben Spaß. Außerdem kocht sie verdammt gut.« Ty schnippte den Zigarettenstummel zu Boden und trat ihn aus. »Deinem Vater hätte eine Frau auch gutgetan. Ich fand immer, dass es nicht gesund ist, so lange zu trauern. Hey, versteh mich nicht falsch. Deine Mum war was ganz Besonderes, aber wir alle leben nur einmal, oder nicht?«

»Du musst dich nicht entschuldigen, Ty. Ich hätte mich für Dad gefreut, wenn er wieder jemanden in sein Leben gelassen hätte. Er war oft so traurig. Ich hätte nicht fortgehen sollen.«

Ty legte ihr eine Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. »Sag das nicht, Arli. Jeder muss sein eigenes Leben leben. Es war gut, dass du hier weg bist. Es hätte dich nur runtergezogen.«

Im Hafen blinkten Positionslichter, und ein Boot lief noch ein. Es war eine ruhige Nacht, der Wasserspiegel kräuselte sich nur leicht, und die Geräusche der wenigen Autos, die Musik und das Lachen mischten sich mit dem leisen Meeresrauschen. Das Wasser plätscherte gegen die Kaimauer, schmatzte und gurgelte.

»Jetzt bin ich hier«, murmelte sie.

»Und wer weiß, vielleicht bleibst du«, meinte Ty und sah mit ihr auf die Bucht.

Bei guter Sicht konnte man die kleine Insel Graemsay und die Spitze von Hoy sehen. Auf der anderen Seite der Bucht erhob sich dunkel die Landmasse von Mainland, das von Fjorden durchzogen wurde. Ein Leuchtturm blinkte in regelmäßigen Intervallen.

»Hast du schon entschieden, was du mit dem Haus und dem Boot machst?«, fragte Ty.

»Willst du das Boot haben?«

Ty schüttelte den Kopf. Er hatte sein dichtes weißes Haar am Hinterkopf zusammengebunden und trug einen Schnurrbart und einen kleinen Bart am Kinn. »Ich habe ein Boot. Das reicht mir. Wenn du willst, höre ich mich um.«

»Gern.«

»Der letzte Fang deines Vaters. Ich verkaufe die Krebse und die Hummer und gebe dir das Geld, in Ordnung?« Er zündete sich eine weitere Zigarette an.

»Klar, danke.« Die Kehle wurde ihr eng, und sie schluckte, um nicht wieder zu weinen. Die Reusen hatten einige Tage länger als normalerweise im Wasser gelegen. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, dass man die Tiere in ihren Unterwasserfallen nicht länger als notwendig beließ.

»Du könntest das natürlich auch übernehmen«, schlug Ty vor.

»Auf gar keinen Fall. Nein, das ist nicht mein Ding.« Als Kind war sie mit ihrem Vater hinausgefahren, hatte die Reusen eingeholt und sich über große Hummer und fette Taschenkrebse gefreut. Heute sah sie das anders. Die Welt veränderte sich, sie hatte sich verändert.

»Hier steckst du!«, rief vorwurfsvoll eine Frau und stellte sich neben sie.

Ty nickte Arline zu und ging davon.

»Janet, hallo«, sagte Arline und ließ sich von ihrer Cousine umarmen und mit Beileidsbekundungen überhäufen.

»Du hättest ruhig zum Essen kommen können. Mum hatte extra Hummer gemacht und gebacken.« Wieder ein Vorwurf in Janets Stimme. Sie war ihrer Mutter sehr ähnlich, fand Arline.

»Mit euch allen, die Familie, ich konnte das heute nicht.« Arline zog ihre Fleecejacke enger um sich. Ihre langen dunklen Haare hingen ihr glatt auf den Rücken.

Janet hatte ein rundes Gesicht mit leicht nach oben geneigter Stupsnase. Ihr halblanges dunkelblondes Haar wurde am Oberkopf von einer Spange gehalten. Sie drehte ihren Ehering.

»Familie war dir nie wichtig. Sonst wärst du nicht gleich nach der Schule abgehauen.«

Arline runzelte die Stirn. »Was soll das, Janet? Mein Vater ist gestorben. Ich habe keine Familie mehr.«

»Du hast uns!« Janet sah sie mit tränennassen Augen an. »Du hast doch uns, Arli! Wir lieben dich!«

»Ich weiß. Das bedeutet mir viel, Janet, ehrlich, aber ich brauche Zeit für mich. Ich muss das alles erst einmal verdauen.«

»Ja, natürlich. Entschuldige. Ich bin in letzter Zeit immer so schnell aus der Fassung.« Janet schniefte und griff nach Arlines Hand. »Ich hatte wieder eine Fehlgeburt, weißt du. Und jetzt ist es wohl endgültig, dass wir keine Kinder mehr bekommen können.«

Kommentarlos nahm Arline ihre Cousine in die Arme und hielt sie an sich gedrückt. Janet war mit Hamish, einem Banker, verheiratet, doch ihr unerfüllter Kinderwunsch belastete sie schon lange. Als Grundschullehrerin arbeitete sie täglich mit Kindern zusammen. Vielleicht war das gut, vielleicht rieb es auch Salz in die Wunde.

»Geht schon wieder. Tut mir leid. Es kam einfach so aus mir heraus. Ich werde jetzt nach Hause gehen. Willst du wirklich nicht bei uns schlafen? In eurem Haus muss es doch furchtbar klamm und … na ja, seltsam sein.«

»Sag mal, war deine Mutter nach dem Tod meines Vaters im Haus? Im Wohnzimmer waren Schubladen herausgerissen. Sah so aus, als hätte jemand was gesucht und das Haus fluchtartig verlassen.« Arline sah ihre Cousine aufmerksam an.

»Du meinst ja wohl nicht, dass meine Mutter das gewesen ist?«, entrüstete sich Janet.

»Nein, nein, ich frage mich nur, warum es dort so ausgesehen hat. Mein Vater war zwar kein Pedant, aber das wäre nicht seine Art gewesen«, sagte Arline nachdenklich.

»Ach so, ja, merkwürdig. Aber Mum hätte alles aufgeräumt und sauber gemacht. Du kennst sie doch. Ich glaube, sie hat nur kurz nachgesehen, ob der Herd aus war und kein Wasserhahn lief. Sauber zu machen hat sie noch nicht geschafft. Wärest du zum Essen gekommen, hättest du sie selbst fragen können.«

Arline ignorierte die letzte Bemerkung. »Wir sehen uns morgen in St. Mary’s.«

»Peter will auch kommen. Er wird den ersten Flug morgen nehmen«, sagte Janet schon fast im Gehen.

Peter war Janets Bruder, ein Computerfreak, der schon als Kind stundenlang vor dem Bildschirm gesessen hatte und nun als ITler in Edinburgh gutes Geld verdiente.

»Ich habe ihn lange nicht gesehen.«

»Wir auch nicht«, meinte Janet trocken. »Dann bis morgen.«

Familie, dachte Arline, war nie einfach. Aus dem Pub strömten nun mehr und mehr Menschen. Es ging auf Mitternacht zu, und Duff läutete zur letzten Runde. Arline konnte sich noch nicht zum Gehen entschließen. Vielleicht hätte sie doch bei ihrer Tante wohnen sollen. Seufzend ging sie wieder hinein und wurde beinahe von Sam umgerannt, der Unverständliches stammelte und sich an ihr festhielt.

»Arli, Arli«, schluchzte Sam, und Tränen liefen ihm über die zerfurchten Wangen. Er sah übernächtigt aus, war unrasiert, sein Pullover war voller Flecken und roch nach Schmieröl.

»Ist ja gut, Sam. Er fehlt mir auch. Geh heim und schlaf dich aus. Ihr sollt morgen in der Kirche für Dad spielen, okay? Das hätte ihn gefreut und mich auch.« Sie hielt seinen Arm, damit er nicht nach vorn kippte.

Quinn, der gerade ein Tablett mit leeren Gläsern vorbeibalancierte, hielt an. »Brauchst du Hilfe?«

»Nein, geht schon«, antwortete Arline und klopfte Sam auf die Schulter.

Sam richtete sich ein wenig auf, zog eine zerknautschte Mütze aus seiner Hosentasche und setzte sie auf. »Geht. Genauso geht das. Meine Flöte, wo habe ich meine Flöte …«

Quinn stellte das Tablett ab. »Warte, ich hol sie dir.« Der hilfsbereite Barkeeper ging zum Podium der Musiker und legte die Tin Whistle, die Sam gern spielte, in einen schmalen Kasten, den er Sam in die Hand drückte.

»Hier, mein Freund. Schaffst du es allein nach Haus?«

Wieder brach Sam in Tränen aus, wedelte mit dem Kasten durch die Luft und jammerte: »Mein bester Freund ist tot. Er ist einfach umgefallen und nicht mehr aufgestanden. Einfach so.«

Sam machte einen Schritt nach vorn und wäre gestürzt, hätte Quinn ihn nicht aufgefangen.

»Duff, ich muss mal eben Sam nach Hause bringen. Bin gleich zurück!«, rief Quinn zur Bar.

Duff trocknete Gläser ab und nickte. »Alles klar. Hey, Sam, reiß dich mal am Riemen, Arli ist schließlich da.«

Sam stolperte hin und her und stammelte vor sich hin.

»Danke, Quinn. Allein könnte ich ihn wohl nicht nach Hause bringen. Na komm, Sam.« Sie hakte den Betrunkenen unter.

Quinn band seine Schürze ab und packte Sam um die Hüfte, sodass dieser keine Möglichkeit hatte, zu stürzen.

Als sie gemeinsam durch den Pub nach draußen gingen, meinte Arline: »Das machst du nicht zum ersten Mal, oder?«

Quinn warf ihr ein schiefes Lächeln zu. »Bleibt in meinem Job nicht aus. Ist mir aber lieber, als Verwundete durch den Sand zu schleifen.«

Interessiert sah sie ihn an, fragte aber nicht nach. Von Duff wusste sie, wie belastend die Erlebnisse im Kampfeinsatz sein konnten.

»Tommy, mein Freund, verdammt noch mal, das war nicht richtig, nicht du …«, lallte Sam.

»Zum Glück ist Stromness nicht groß, und verlaufen kann man sich auch nicht«, meinte Arline, als sie in die Victoria Street bogen. »Er wohnt gleich da vorn.«

»Muss ihn ziemlich mitgenommen haben. Er hat deinen Vater gefunden.«

»Tatsächlich?« Überrascht sah Arline den betrunkenen Mann an ihrer Seite an. Heute war nichts mehr aus ihm herauszubringen, aber morgen würde er ihr einige Fragen beantworten müssen.

5

Colina

Stromness, 1986

Ihr Vater saß vor dem Haus auf seiner Bank und paffte an einer Pfeife. Er hatte die Gummistiefel ausgezogen und die nackten Füße auf einen Schemel gelegt. Seine nassen Socken lagen daneben. Die Gischt spritzte aus dem Hafenbecken herauf und benetzte die Hummerkörbe, die noch voller Algen waren. Sie mussten gesäubert und mit neuen Ködern versehen werden, bevor sie wieder zum Einsatz kommen konnten. Als Fraser Finlayson seine jüngste Tochter mit dem Rad von der Straße herunterkommen sah, brummte er: »Wo warst du so lange? Die Reusen müssen sauber gemacht werden.«

Colina stellte ihr Fahrrad an die Hauswand, wo alte Bretter, Blech, eine Harke und ein zerfetzter Sonnenschirm darauf warteten, entsorgt zu werden. Sie strich ihre Haare glatt und schob die Umhängetasche nach vorn.

»Ich habe gesungen, Dad. Richtig gesungen, weißt du, so wie Margaret Marshall!«, sprudelte es aus Colina heraus. Sie presste die Hand auf ihre Tasche. Darin befanden sich die Notenblätter, die er ihr geschenkt hatte.

Fraser nahm die Pfeife aus dem Mund und spuckte aus. »Wer ist diese Marshall?«

»Na, die berühmte Opernsängerin. Sie ist Schottin, und sie hat es geschafft. Sie singt auf der ganzen Welt, mit großen Dirigenten und …«

»Was redest du da? Warum sollte mich das interessieren? Wir sind hier auf den Orkneys. Vergiss das nicht. Du bist die Tochter eines Fischers. Und die Reusen da müssen gesäubert werden. Sonst kommt morgen nämlich kein Essen auf den Tisch.«

»Bitte, Dad, hör mir doch zu, nur dieses eine Mal. Der Pianist, Jasper Carlsen, hat gesagt, dass …«

Weiter kam sie nicht, denn ihr Vater beugte sich vor und knurrte: »Du warst bei dem Kerl?«

Colinas Wangen röteten sich. »Er ist kein Kerl, sondern ein berühmter Pianist, und er hat meine Stimme gelobt!«

Fraser schnaufte abfällig. »Erzähl mir doch nichts! Glaubst du im Ernst, dass so einer an deiner Stimme interessiert ist? Was der will, kann ich dir genau sagen. Ich verbiete dir, diesen Klimperfritzen noch einmal zu sehen!«

Hinter ihnen wurde die Küchentür aufgestoßen, und Mairead trug einen Eimer mit Schalenabfällen heraus. Ihre Mutter hatte ein ovales Gesicht und dunkle Augen. Die kastanienbraunen Haare waren frühzeitig ergraut, und Linien hatten sich tief um Nase und Mund eingegraben. Doch wenn sie lächelte, erstrahlte Maireads Gesicht. Colina liebte ihre Mutter, eine schweigsame Frau, die sich in ihr Leben ergeben hatte. Wie ihre Tochter hatte auch Mairead einmal Träume gehabt, doch dann war sie mit Imogen schwanger geworden.

»Das kannst du mir nicht verbieten! Ich habe nichts Unrechtes getan.« Colina umklammerte die Tasche noch fester. »Mum, er kann mir nicht verbieten zu singen!«

Mairead seufzte und kippte die Hummer- und Krebsschalen in eine Tonne. »Natürlich nicht. Das würde dein Vater auch niemals tun, nicht wahr, Fraser?«

Ihr Vater war aufgestanden, klopfte die Pfeife aus und steckte sie in seine Hosentasche. »Darum geht es nicht. Sie hat sich mit diesen reichen Snobs rumgetrieben. Du weißt doch, wie so was endet.«

»Ich war bei Jasper Carlsen.« Colina holte die Notenblätter heraus. »Hier, seht doch. Das ist eine Arie, und ich habe sie gesungen.«

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Meine Hände sind schmutzig. All diese Noten kannst du lesen? Wer hat dir das beigebracht?«

»Niemand. Er hat mir die Melodie vorgespielt, und ich habe sie nachgesungen.« Colina war stolz auf sich. Sie hatte Verdis »Sempre libera, für immer frei« gesungen.

Ihr Vater sah sie durchdringend an. »Zeig her!«

Sie reichte ihm die Notenblätter, die er nahm und zerriss. Während er die Blätter auf den Boden fallen ließ, wo sie zwischen Schmutz und Fischabfällen liegen blieben, sah er seine Tochter an. »Nein.«

Er ging an ihr vorbei ins Haus.

Colina bückte sich weinend nach den Papierfetzen, sammelte sie auf und stopfte sie in ihre Tasche. »Warum lässt du das zu? Hilf mir doch, Mum. Wenigstens dieses eine Mal!«

»Sei nicht ungerecht, Colina. Du träumst von einer Welt, in die du nicht gehörst.« Mairead strich ihrer Tochter über die Haare. »Mein schönes Mädchen. Warum kannst du nicht ein wenig mehr wie Imogen sein?«

Colina wischte sich die Augen. In ihr tobten Wut, Verzweiflung und Hoffnung. Er hatte den Keim gesät, ihr eine Welt ausgemalt, in der sie auf Bühnen stehen und mit Orchestern singen würde. Im Radio hatte sie klassische Musik gehört und sich von den Klängen berauschen lassen. Nur verstanden hatte sie die komplexen Klanggebilde nie. Bis heute, bis er ihr Augen und Ohren geöffnet hatte.

»Wer sagt denn, wohin ein Mensch gehört? Können wir das nicht selbst entscheiden? Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter!« Colina fröstelte, als der Wind vom Wasser heraufwehte und an den Reusen rüttelte. Diese leidigen Reusen. Dabei fuhr sie sogar gern mit ihrem Vater in die Bucht und manchmal bis weit auf den Atlantik hinaus. Das Meer war wild und ungebändigt, genau wie ihre Seele, dachte sie. Sie verstanden einander.

»Es gibt Regeln, ungeschriebene Gesetze. Wenn du ehrlich zu dir wärst, würdest du es einsehen, Colina. Lass uns hineingehen. Das Essen ist fertig.«

»Ich komme gleich.« Sie ging die kleine Steinmauer entlang, sprang auf den schräg nach unten verlaufenden Anleger und schlang die Arme um ihren Körper.

Was redete ihre Mutter da? Die Zeiten, in denen Frauen heiraten mussten oder nicht arbeiten durften, waren vorbei. Heute ehelichten Prinzen Bürgerliche und Millionäre Stubenmädchen. Warum sollte die Tochter eines Fischers nicht Opernsängerin werden?

Die Abendsonne tauchte die Bucht in ein Feuerwerk aus Orangetönen. Die Hügel auf der anderen Seite schimmerten rotgolden, und die Häuser um den Fähranleger leuchteten grauviolett und orange. Das vertraute Tuckern von Dieselmotoren kündete heimkehrende Kutter an. Sie beobachtete die bunten Boote ihrer Freunde und Bekannten. Auf dem weiß-blauen Kutter stand Sam vorn am Bug und hielt die Taue zum Festmachen in den Händen. Tyler folgte im Boot seines Vaters. Die Edda war durch ihre rot-weißen Streifen gut von der ihr folgenden Bonnie zu unterscheiden, auf der Nicolson und seine Söhne fuhren. Als die Bonnie, die gerade einen neuen grün-weißen Anstrich erhalten hatte, auf ihrer Höhe fuhr, sprang Thomas, der älteste Sohn von Bram Nicolson, auf die Reling.

»Hey, Colina!«, rief er und winkte. »Dienstagabend im Stromness Hotel? Ich habe ein neues Akkordeon!«

Thomas war ein gut aussehender Bursche und ein begabter Akkordeonspieler. Zusammen mit Ty und Sam traten sie in den Pubs der Insel auf.

»Ja! Bis dann!«, rief sie zurück. Der Pianist hatte ihr ein Fenster aufgestoßen, aber die Liebe zur Folkmusik war tief in ihr verwurzelt. Daran würde sich nie etwas ändern.

6

Der Mond schien durch das Dachfenster auf Colinas Bett. Solange Imogen in Stromness zur Schule gegangen war, hatten sie das Zimmer geteilt. Mogs, wie Colina ihre ältere Schwester nannte, hatte ihr Geschichten erzählt und ihr das Lesen beigebracht. Das Bett stand unter der Dachschräge. In der Ecke auf dem Regal lagen ein paar Bücher, auch die Kinderbücher, die Mogs ihr vorgelesen hatte: Pooh der Bär, Der Hobbit, Der geheime Garten und Der Wind in den Weiden.

Colina hatte den schüchternen kleinen Maulwurf geliebt, über dessen Abenteuer Kenneth Grahame geschrieben hatte. Der Maulwurf und seine Freunde, die Wasserratte, der Dachs und der selbstverliebte Kröterich, dachte Colina und sah zu, wie sich eine Wolke vor den vollen silbernen Mond schob. In diesem Sommer war sie achtzehn geworden, hatte den Schulabschluss gerade so geschafft und half ihrem Vater auf dem Boot. Sie war nie so lernbegierig wie ihre Schwester gewesen.

Nachdem Imogen Klassenbeste geworden war, hatten die Eltern ihr erlaubt, die Universität in Aberdeen zu besuchen. Jetzt lebte Mogs in Kirkwall und unterrichtete an der dortigen Grundschule. Und sie war hier und machte sich die Hände an den rauen Reusen und Tauen kaputt. Sie griff nach einem Cremetiegel auf dem Nachtschrank und rieb sich die Hände ein. Es war doch nicht nötig gewesen, die Noten zu zerreißen. Manchmal hasste sie ihren Vater für seine Unnachgiebigkeit. Es gab nur seine Meinung, seine Sicht der Dinge.

Die Wolke zog weiter, und das silberne Mondlicht fiel auf ihre Bettdecke. Seufzend drehte Colina sich auf die Seite. Morgen früh um fünf Uhr klingelte der Wecker.

Auf dem Boot sprachen sie kaum miteinander. Was getan werden musste, bedurfte keiner Erklärungen. Der Wind hatte zugenommen, und die See war kabbelig, die Wellen hatten weiße Schaumkronen. Colina war seefest, und in ihrem dicken Pullover, Öljacke und Ölhose konnten ihr Wasser und Kälte wenig anhaben. Sie griff nach der ersten Positionsboje und warf sie ins Wasser. Sie waren durch den Hoy Sound und an Kirk Rocks vorbeigefahren. Hier gab es zerklüftete Felsen im Meer und den sandigen Boden, den die Krebse bevorzugten. Taschenkrebse waren neben den Hummern zum größten Verkaufsschlager der Inseln geworden. Die OFS, die Orkney Fishermen’s Society, hatte viel für die Creel-Fischerei auf den Inseln getan. Das Fangen von Krebsen und Hummern mit Reusen, den Creels, war nachhaltig. Im Gegensatz zu den Schleppnetzen der Trawler.

»Träumst du? Wo bleiben die Reusen!«, rief ihr Vater aus dem Ruderhaus.

Colina ließ das Tau, an dem vier Reusen befestigt waren, ins Wasser. In jedem Korb hatte sie ein Stück Hering oder Makrele befestigt. Diese Köder lockten Krebse und Hummer aus ihren Verstecken. Das Boot schaukelte, und Colina hielt sich an der Reling fest. Ob Jasper Carlsen jemals auf einem Kutter mitgefahren war? Wohl kaum, dachte sie und griff nach der nächsten Boje. Höchstens auf einer eleganten Segeljacht. Davon lag hin und wieder eine in Stromness. Im Sommer, wenn die wohlhabenden Touristen und die Ferienhausbesitzer kamen, sah man des Öfteren schnittige Jachten durch die Buchten fahren.

Als sie die Reusen versenkt hatten, drehten sie bei und fuhren dorthin, wo sie vor zwei Tagen die Creels ausgelegt hatten. Das Boot schob seinen Bug unerschrocken durch die Wellen, der Motor stampfte unten im Maschinenraum, und Fraser stand mit undurchdringlicher Miene im Ruderhaus. Mit einer Hand hielt er das Steuerrad, mit der anderen fuhr er auf einer Seekarte entlang, die auf der schmalen Holzablage vor ihm befestigt war.

Colina kam mit zwei Teebechern aus der Kajüte und reichte ihrem Vater einen. »Werden wir die Reusen bei dem Wetter überhaupt einholen können? Sieh mal!«

Vor ihnen zogen dunkle Wolken auf. Eine schwarze Wolke ballte sich bedrohlich über dem offenen Meer zusammen.

»Hm«, brummte Fraser und trank einen ersten Schluck.

Er mochte den Tee mit viel Milch und Zucker. Colina lief die Treppen hinunter und kam mit einer Schüssel zurück, in der sie Scheiben von gebuttertem Teekuchen gestapelt hatte. Ihre Mutter buk den mit Rosinen gespickten Kuchen regelmäßig. Er war nahrhaft, süß und haltbar. Fraser griff nach einem Stück und schob es sich in den Mund. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete er den Horizont.

Das Boot ächzte unter der Wucht der Wellen, deren Gischt hoch über den Bug schlug. Was sie hier erlebten, war ein Sturm, der sich zusammenbraute. Ein wenig besorgt stellte sich Colina neben den Vater und aß ebenfalls ein Stück Kuchen.

»Du liebst das Meer, Colina«, sagte ihr Vater plötzlich, stellte den Becher ab und hielt das Steuer, denn das Boot hob sich, um gleich darauf in ein Wellental zu rauschen.

Colina stemmte sich gegen die Wellen und stützte sich mit den Händen ab. »Und das Singen. Ich kann beides lieben.«

Fraser knurrte »Festhalten!« und steuerte das Boot durch eine große Welle.

»Nein. Man hat nur eine große Liebe im Leben«, entgegnete er mit rauer Stimme, als sie wieder in ruhigerem Wasser fuhren. Er hatte das Boot in eine der Buchten gesteuert.

Langsam begriff Colina, dass ihr Vater Angst hatte, sie zu verlieren. Sie berührte seinen Arm. »Ich würde dich nie im Stich lassen, Dad.«

Er wandte den Kopf und sah sie aus seinen blassgrauen Augen traurig an. »Ich weiß, dass du es nicht willst, aber irgendwann wirst du es tun.«

Sie wollte es abstreiten, doch stattdessen biss sie sich auf die Lippe und zeigte nach vorn. »Da ist eine von unseren Bojen!«

Die Worte ihres Vaters klangen in ihr nach, als sie am späten Nachmittag durch die Stadt spazierte. Sie hatte geholfen, die Krebse zu sortieren, den Hummern die Scheren zusammengebunden und die Kisten für den Verkauf bestückt. Den Hauptanteil brachten sie zur Fabrik der OFS. Die Fabrik der Fischerei-Gesellschaft war ein wichtiger Arbeitgeber auf der Insel. Vor allem die Krebse waren auf dem Festland beliebt und wurden bis nach London transportiert.

Colina schnupperte an ihren Händen. Wie lange auch immer sie duschte, nie wurde sie das Gefühl los, dass der Fischgeruch noch an ihr haftete.

Die Buchhandlung lag am Graham Place. »J. L. Broom – Bookseller« stand auf einem handgemalten Schild über der roten Tür. Die blauen Fensterrahmen waren so unverkennbar wie der Laden selbst.

Die Türglocke ertönte, als Colina den kleinen Laden betrat. 1970 von Charles senior in einer ehemaligen Bäckerei eröffnet, hatte sich die Buchhandlung rasch etabliert. Colina mochte die ungezwungene Atmosphäre in dem Laden, in dem man neben den vielen Büchern die unterschiedlichsten Menschen traf.

»Hi, Colina!«, begrüßte Tam sie. Der Kalifornier Tam MacPhail hatte das Geschäft vor zehn Jahren zusammen mit seiner Frau, Gunnie Moberg, einer Fotografin, übernommen.

»Hallo, Tam«, sagte Colina und strich über die Buchrücken in einem Regal. Sie war zwar nicht so belesen wie ihre Schwester, aber sie mochte Romane. Am liebsten romantische Liebesgeschichten mit einem Happy End. Das Leben war kompliziert genug.

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte Tam, ein freundlicher Mann mit fein geschnittenen Zügen und einem offenen Lächeln.

Colina hatte die Fetzen der Noten notdürftig zusammengeklebt und zog sie aus ihrer Tasche. Ein wenig verlegen schob sie Tam die Zettel hin. »Habt ihr Noten? Die sind mir, also, mein Vater, oh …« Sie sah sich um, doch sie schienen allein zu sein in dem verwinkelten Laden.

Tam betrachtete die Blätter. »Das ist ein Auszug aus der Partitur von La Traviata. Für Klavier und Gesang.« Er sah sich die Blätter genauer an. »Sie gehören Jasper Carlsen?«

Colina errötete. Jaspers Name stand auf der Rückseite der Notenblätter. »Ich …, es ist mir so unangenehm. Er hat sie mir geliehen, und jetzt das!«

Es raschelte zwischen den Regalen, und Colina senkte die Stimme. »Bitte, Tam, habt ihr nicht vielleicht eine andere Partitur?«

Der Buchhändler schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, Noten führe ich nicht. Ich habe gehört, dass ihr heute Abend im Stromness Hotel auftretet. Da singst du aber keine Opern, oder?«

Sie nahm die Noten wieder an sich und stopfte sie in die Tasche. »Danke. Ich muss los.«

»Hey, das war doch nur ein Scherz, Colina! Ich mag die Oper!«, rief Tam hinter ihr her.

Sie hatte die Tür noch nicht erreicht, als ein gut gekleideter Mittvierziger mit einem Buch in der Hand hinter einem Regal hervortrat.

»Verzeihung, ich habe das Gespräch mit angehört. Ich kann Ihnen helfen, wenn Sie kurz warten.« Der Mann war Engländer, sprach mit dem typischen Akzent der Upper Class und hatte die Ausstrahlung von jemandem, der sich seiner Wirkung auf andere bewusst war.

Colina schrak zusammen. War das nicht …? Aber ja, niemand anderes als Timothy Struff, der Dirigent und Begründer des St. Magnus Festivals, hatte ihr seine Hilfe angeboten! Colina nickte stumm und blieb vor dem Ausgang stehen.

Der international bekannte Dirigent ging zur Kasse und zahlte. Tam gab ihm das Wechselgeld und sagte: »Gunnie kommt nachher ins Hotel. Sie macht Aufnahmen auf Hoy.«

»Keine Eile. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich die Ruhe hier genieße. Der Festivaltrubel beginnt früh genug. Oh, und sag Gunnie, sie soll einen Scheinwerfer mitbringen, der vom Hotel ist defekt.«

»Ist notiert.«

Vor der Tür erklangen Stimmen, und Colina trat zur Seite, um zwei junge Frauen eintreten zu lassen. Die eine, deren rote Lippen zu ihren lackierten Fingernägeln passten, entdeckte Colina und sagte: »Col, was machst du denn hier? Ich dachte, du putzt Krebse oder euer Boot? Wie hältst du den Gestank bloß aus?«

»Ich weiß nicht, dein Vater arbeitet doch in der Fischfabrik. Vielleicht haben sie für dich ja auch noch einen Job, Ruby«, gab Colina kühl zurück.

Ruby war einige Jahre mit ihr in eine Klasse gegangen. Ohne Abschluss war sie für einige Monate aufs Festland verschwunden und lebte jetzt bei ihrer Freundin, Phyllis Stevenson. Phyllis hatte ein Cottage und etwas Geld geerbt, malte und war mit den Künstlern und einigen Musikern aus dem Kreis um Struff bekannt. Die Einheimischen zerrissen sich gern die Mäuler über die Partys der Bohemiens, wie sie allgemein genannt wurden.

»Tim, wie geht es dir?«, flötete Phyllis, eine schlanke Blondine, und küsste den Dirigenten auf die Wange.

»Und dir, meine Liebe?«, antwortete Struff höflich. »Ich bin in Eile. So, wollen wir?«, wandte er sich an Colina und hielt ihr die Tür auf.

Die verblüfften Mienen der beiden Frauen waren unbezahlbar, fand Colina und folgte Struff nach draußen.

7

Das Stromness Hotel bestand seit 1901 und war das beste Haus am Platze. Erkerfenster, stufenförmige Giebel und die grauen Steine der Region verliehen dem dreistöckigen Gebäude eine bodenständige, trutzige Eleganz. Das Restaurant und der Pub waren bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt. Wer etwas auf sich hielt, feierte hier seinen Geburtstag oder ein Jubiläum.

»Bitte, nach Ihnen. Verraten Sie mir noch Ihren Namen?« Timothy Struff wartete, bis sie vor ihm durch die Tür getreten war.

»Colina Finlayson«, antwortete sie etwas befangen.

Der Dirigent hatte ein weltmännisches Auftreten, und seine Bewegungen waren fließend, als folgte er einer nur für ihn geschriebenen Choreografie.

Die Eingangshalle war ein Mix aus dunklem Holz, schweren Kronleuchtern und bunten Werken zeitgenössischer Künstler. Die Dame an der Rezeption hielt dem prominenten Gast den Schlüssel hin.

»Guten Abend, Sir. Darf ich Ihnen gleich Ihre Post mitgeben?« Die Hotelangestellte nahm einen Stapel Briefe aus einem der Fächer hinter der Rezeption.

»Gab es Anrufe?« Struff griff nach den Briefen und sah sie kurz durch.

»Drei Anrufe aus London, einer aus New York und zehn aus …« Sie holte einen Zettel zu Hilfe, doch Struff winkte ab.

»Lassen Sie nur. Miss Finlayson hier begleitet mich kurz.« Struff nahm die Zimmerschlüssel und wandte sich dem Treppenaufgang zu.

Colina zögerte, doch Struff wartete nicht, sondern machte sich eilig auf den Weg nach oben. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Sie konnte nur hoffen, dass niemand aus dem Ort sie hier sah. Ihr selbst war gleichgültig, was die Leute redeten, denn geredet wurde immer. Aber sie wusste, dass es ihren Eltern nicht gleichgültig war. Ihre Segelschuhe versanken im hochflorigen Teppich des Hotelflurs. Die Holzpaneele glänzten, auf einem Tisch stand ein Blumenbouquet, das sich beim Näherkommen als unecht entpuppte. Seidenblumen waren teuer, dachte Colina und drückte ihre Umhängetasche an sich.

»So, da wären wir. Treten Sie ein. Nicht so schüchtern. Ich beiße nicht.« Er sah sie mit einem vielsagenden Blick an. »Jedenfalls würde ich Sie nicht beißen.«

Die Röte schoss ihr in die Wangen. Sie benahm sich wie ein Backfisch und spürte, wie ihre Wangen zu glühen begannen.

»Darling, warum bist du noch hier?« Struff warf die Briefe achtlos auf einen runden Tisch und ging zu einem jungen Mann, der halb nackt auf dem Sofa lag und in einem Magazin blätterte.

»Du hast heißes Wasser und eine Badewanne«, grinste der junge Mann, erhob sich und gab Struff einen Kuss auf den Mund.

Der Dirigent legte seine Hand auf das Gesäß des jungen Mannes und gab ihm einen Klaps. »Ich lasse es dir durchgehen. Hast du dich um die Buchungen gekümmert? Das Quintett aus Brüssel muss einfach kommen, und ich möchte auch die Henderson dabeihaben. Sie hat Zeit, das hat sie mir versichert. Ruf sie noch einmal an, falls du das nicht schon getan hast, Danny Boy.«

Colina entspannte sich ein wenig. Vor sexuellen Übergriffen brauchte sie hier keine Furcht zu haben. Dabei berichteten die Klatschblätter auch über Affären des Dirigenten mit Models und Schauspielerinnen.