Der Duft der Wildrose - Constanze Wilken - E-Book

Der Duft der Wildrose E-Book

Constanze Wilken

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Beschreibung

Wenn nicht einmal die Liebe mehr stark genug ist … Als ihre Tante Birdie ins Krankenhaus muss, zögert Caitlin keine Sekunde und kehrt zurück in das kleine walisische Küstenstädtchen Portmeirion, um sich um deren Porzellanladen zu kümmern. Kurz vor ihrer OP eröffnet Birdie ihr, dass es in ihrer Familie ein großes Geheimnis gebe – doch mehr kann Cait ihr nicht entlocken. Von nun an versucht sie alles, um mehr zu erfahren, vor allem über ihre Eltern, die beide auf tragische Weise verstarben, als sie noch ein Kind war. Dabei bekommt sie unerwartet Hilfe von dem schweigsamen Ranger Jake, der jedoch selbst ein dunkles Geheimnis zu verbergen scheint. Nach und nach erfahren die beiden die Wahrheit, eine Geschichte von Liebe, Eifersucht und bitterem Verrat, die sie schließlich vor eine Entscheidung stellt: Kann Sie die Vergangenheit hinter sich lassen, um ihre Zukunft neu zu schreiben?  »So geht die perfekte Sommerlektüre.« Lübecker Nachrichten Ein berührender Familiengeheimnisroman vor der wunderschönen walisischen Kulisse – für alle Fans von Lucinda Riley.

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Seitenzahl: 541

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

 

Als ihre Tante Birdie ins Krankenhaus muss, zögert Caitlin keine Sekunde und kehrt zurück in das kleine walisische Küstenstädtchen Portmeirion, um sich um deren Porzellanladen zu kümmern. Kurz vor ihrer OP eröffnet Birdie ihr, dass es in ihrer Familie ein großes Geheimnis gebe – doch mehr kann Cait ihr nicht entlocken. Von nun an versucht sie alles, um mehr zu erfahren, vor allem über ihre Eltern, die beide auf tragische Weise verstarben, als sie noch ein Kind war. Dabei bekommt sie unerwartet Hilfe von dem schweigsamen Ranger Jake, der jedoch selbst ein dunkles Geheimnis zu verbergen scheint. Nach und nach erfahren die beiden die Wahrheit, eine Geschichte von Liebe, Eifersucht und bitterem Verrat, die sie schließlich vor eine Entscheidung stellt: Kann Sie die Vergangenheit hinter sich lassen, um ihre Zukunft neu zu schreiben?

eBook-Neuausgabe August 2025

Copyright © der Originalausgabe 2014 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Shutterstock/Valerie 2000 und AdobeStock/Aoun

eBook-Herstellung: dotbooks GmbH unter Verwendung von IGP (ah)

 

ISBN 978-3-98952-797-3

 

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Constanze Wilken

Der Duft der Wildrose

Roman

 

Widmung

 

Für Karin

 

These roses under my window (…)

there is no time to them

 

Ralph Waldo Emerson (1803-1882)

Kapitel 1

 

Portmeirion, Snowdonia, Wales, 1970

 

Die Musik drang zu ihnen herauf, mischte sich mit dem Flüstern des Windes in den Blättern und dem Rauschen des Meeres, das die Klippen von Portmeirion umspielte. Über den nächtlichen Himmel zogen regenschwere Wolken, doch noch störte kein Tropfen die Feiernden. Wenn der Mond durch die Wolken blitzte, tauchte er den Pfad, der sich den dicht bewachsenen Hügel emporwand, in silbriges Licht. Vier junge Leute schlenderten in ausgelassener Stimmung unter den herabhängenden Zweigen hindurch. Die jüngere der beiden Frauen warf die Arme in die Luft und rief: »Endlich frei! Keine Zwänge mehr! Nie wieder unnützes Zeug lernen!«

Dichte, kastanienbraune Haare wirbelten durch die Luft, als sie sich drehte und vor ihren Freunden tanzte. Ihr schlanker Körper bog sich wie eine Weidengerte und schien die Blicke ihrer männlichen Begleiter magisch anzuziehen.

»Und was willst du mit deiner Freiheit anfangen, Anne?« Die Frage klang eine Spur zynischer als beabsichtigt, und Charlotte Bennett, die von allen Birdie genannt wurde, biss sich auf die Lippe. Sie war zwei Jahre älter als ihre Schwester und sah die Welt mit dem nüchternen Realismus einer Frau, die auf Männer nicht wirkte wie das Licht auf die Motten. Ein Mauerblümchen war sie keineswegs, aber ihre Unverblümtheit war nicht jedermanns Sache.

»Keine Pläne machen zu müssen gehört zum Freiheitskonzept! Komm, Anne!« Ihr dunkelhaariger Begleiter ergriff Annes Hand und zog sie mit sich fort. Oliver Craddock war der Sohn reicher Landbesitzer. Er war nicht nur eine gute Partie, sondern sah noch dazu unverschämt gut aus.

Birdie seufzte und blies sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. Welches Mädchen würde sich nicht von der Aufmerksamkeit des charmanten Craddock geschmeichelt fühlen? Anne war beinahe erwachsen und wusste, was sie tat.

Eine sanfte Berührung an ihrer Schulter lenkte sie ab. Nathan Turner schob ihr Schultertuch höher. »Du klingst wie ihre Mutter, Birdie. Sie muss ihre eigenen Erfahrungen machen. Du kannst sie nicht ewig beschützen.«

»Ach, Nathan ...« Sie wollte nach seiner Hand greifen, doch als sie ihn ansah, war sein Blick in die Dunkelheit gerichtet, in der Anne und Oliver verschwunden waren.

Nathan war Tischler und arbeitete in der Sägemühle seines Vaters. Das Land der Turners grenzte an die Besitzungen der Craddocks, und sie kannten einander seit Kindertagen. Wo Oliver impulsiv und voller verrückter Einfälle war, gab der hochgewachsene Nathan sich bedächtig. Mit seinen schönen Händen und den halblangen, dunkelblonden Haaren hätte er auch ein Poet sein können. Birdie dachte oft, dass Nathan vielleicht lieber Literatur studiert hätte, wenn sein Vater ihn nicht schon mit vierzehn in die Werkstatt beordert hätte.

»Du verstehst das nicht. Anne ist so jung, sie tut einfach, wonach ihr ist. Bisher ist zwar immer alles gut gegangen, aber irgendwann ...«, sagte Birdie leise.

»Irgendwann muss sie ganz allein entscheiden. Das müssen wir alle. Und jetzt Schluss damit. Was willst du denn jetzt machen? Weiter am College bleiben?«

Energisch schüttelte Birdie den Kopf. Die kühle Nachtluft jagte ihr eine Gänsehaut über die nackten Beine unter dem hellblauen Minikleid. »Das ist nichts für mich. Ich will was Praktisches, vielleicht einen Laden und da meine Töpferwaren verkaufen.«

Nathan warf den Kopf nach hinten und lachte schallend. »Damit kann man doch kein Geld verdienen! Und dafür hast du zwei Jahre Kunst studiert?«

Er trug Jeans und ein enges weißes Oberhemd, unter dem sich seine Muskeln abzeichneten. Die Arbeit in einer Sägemühle verlangte harten körperlichen Einsatz, und das sah man ihm an. »Hätte ich die Möglichkeit gehabt, das kannst du mir glauben, ich hätte was daraus gemacht!«

»Und wenn ich mein eigenes Geschäft habe, ist das vielleicht nichts?«, erwiderte Birdie schnippisch. »Es geht ja wohl auch darum, was einen glücklich macht! Und diese Aktionskunst ist nicht mein Ding.«

»Hm. Wo sind sie denn nur?« Nathan hörte offenbar gar nicht mehr zu und beschleunigte seinen Schritt.

Portmeirion war ein höchst ungewöhnlicher Ort. Die winzige Traumstadt im toskanischen Stil war das »letzte Folly« eines Exzentrikers, phantastische Spielerei eines begabten Architekten. Sir Clough hatte sich Anfang des letzten Jahrhunderts eine italienische Oase auf einem idyllischen Landzipfel an der Mündung von Tremadog Bay geschaffen. Feierlichkeiten aller Art wurden seitdem im Hotel von Portmeirion vor zauberhafter Kulisse abgehalten. Eine ausgedehnte Parkanlage mit üppiger südländischer Vegetation lud zu Spaziergängen ein, bei denen die Gäste auf weitere Wunderlichkeiten stießen: kleine Tempel, Bänke unter Rosenranken, bizarre Brunnen, Skulpturen und sogar einen weiß-blauen Leuchtturm, von dem man die gesamte Bucht überblickte.

»Sie sind bestimmt zum Leuchtturm hoch«, sagte Birdie, der die Parkanlage von früheren Besuchen vertraut war. Vor ihnen gabelte sich der Pfad. Entlang der Mauer, die der Hotelanlage folgte, waren Windlichter aufgestellt, deren warmes, flackerndes Licht nur bis zu den ersten Bäumen heraufschien. Hier oben im dichten Mischwald waren sie auf das Mondlicht angewiesen. In der Nähe kicherte jemand. Sie waren nicht die Einzigen, die einen Mitternachtsspaziergang unternahmen.

»Anne! Oliver!«, rief Nathan ungeduldig.

»Wir müssen hier entlang.« Birdie legte die Hand auf Nathans Rücken und gab ihm einen leichten Schubs in die richtige Richtung. Sie widerstand der Versuchung, ihre Hand über seine festen Muskeln gleiten zu lassen. Wenn er nicht sehen konnte, was sie für ihn empfand, konnte sie nichts daran ändern. Mit der Nase auf ihre Gefühle stoßen würde sie ihn nicht.

Der Pfad führte einige Meter steil bergan. Ein Strauch mit zarten weißen Blüten verströmte den Duft von Orangen, an anderer Stelle wurden sie vom süßlichen Duft einer Wildrose eingehüllt. Leicht außer Atem blieb Birdie stehen und sog die intensiven Blumendüfte ein. Für einen Junitag war es außergewöhnlich warm, aber sie waren an wechselhaftes Wetter gewöhnt.

Nathan hielt nach zwei Schritten ebenfalls an und drehte sich zu ihr um. Als sähe er sie zum ersten Mal an diesem Abend richtig an, betrachtete er sie mit schief gelegtem Kopf. »Du siehst ganz anders aus, Birdie, richtig sexy. Du solltest öfter Kleider tragen.«

Überrascht zupfte Birdie an ihrem Schultertuch. »Danke. Solange ich dich kenne, und das ist fast mein ganzes Leben, ist dies das erste Kompliment, das du mir gemacht hast, Nathan Turner.«

Er grinste und strich sich eine helle Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du bist keins von diesen Girlies, denen man ständig schöntun muss. Für so was bist du zu intelligent, und außerdem ...«

Ein Geräusch oberhalb des Weges ließ Nathan innehalten. Doch es war nur ein Kauz, der flügelschlagend aus dem dichten Blattwerk hervorkam. Nathan streckte ihr die Hand entgegen. »Na, komm. Gleich haben wir es geschafft.«

Hinter der Biegung schimmerte der weiße Leuchtturm bereits durch die Bäume. »Du wolltest noch etwas sagen. Außerdem?«, hakte sie nach.

»Was? Ach, nichts.« Nathan zog sie mit Schwung die letzten Meter bis zum Aussichtspunkt hinauf. Nur ein Oleander versperrte noch den Blick auf den kleinen Leuchtturm, der über einige Stufen zu erreichen war.

Wie alle architektonischen Wundersamkeiten in Portmeirion diente auch der kleine weiß-blaue Leuchtturm einem ausschließlich dekorativen Zweck. Die Wolken schoben sich genau in dem Moment am Mond vorbei, als Birdie und Nathan um den Oleander herumtraten. Eine beinahe unwirklich romantische Szene bot sich ihnen und jagte Birdie einen Schauer über den Rücken. Der Seewind hatte Annes lange Locken erfasst und ließ sie wie einen Schleier um den schlanken Körper tanzen, der sich in Oliver Craddocks Arme schmiegte. Die beiden waren so in ihren Kuss versunken, dass sie alles um sich herum vergessen zu haben schienen. Birdie schluckte. Der Mann und die Frau dort oben schienen miteinander im Mondlicht zu verschmelzen. Vollkommene Schönheit, dachte Birdie und wusste doch, dass das Bild eine Illusion war. Oliver war nicht der Richtige für ihre Schwester. Er würde sie zerstören.

»Anne!«, rief Nathan ungerührt und wollte die Stufen hinaufsteigen.

Oliver hob den Kopf und warf ihm einen Blick zu, den Birdie niemals vergessen würde. Es war der Blick des Siegers, voller Triumph und Verachtung für den Verlierer. Kein Mitgefühl, keine Liebe, dachte Birdie und sah zu, wie das Paar hinter dem Leuchtturm verschwand.

»Komm, Nathan, lassen wir sie. Ich möchte zurück. Mir wird kalt«, sagte Birdie.

Mit gesenktem Kopf, die Hände in die Taschen versenkt, ging Nathan neben ihr her. Als Birdie das Schweigen nicht länger ertrug, sagte sie: »Was hast du erwartet? Es war nur ein Kuss ...«

Aber sie wussten beide, dass das eine Lüge war. Hatte Nathan sich tatsächlich Hoffnungen auf Anne gemacht? Er war doch viel älter. Zehn Jahre, dachte Birdie, aber nur acht Jahre älter als sie selbst. Hatte er nicht gerade erst gesagt, dass er sie hübsch fand?

»Nathan, ich ...«

Ein beschwipstes Pärchen stieß zu ihnen und hakte sie lachend unter. »Na, ihr zieht ja lange Gesichter! Kommt mit, da gibt’s sicher noch Whisky oder Bier, was, Nathan?«, sagte der junge Mann, ein Klassenkamerad von Anne.

»Wo du recht hast, hast du recht, Steve. Die Mädels können sich ja weiter mit dem süßen Zeug amüsieren.« Nathan schlug dem Schulabgänger auf die Schulter, und die düstere Angespanntheit schien vergessen.

Je näher sie dem mit Lichtern und Lampions geschmückten Hotel kamen, desto lauter wurde die Musik, und Birdie war erleichtert, als sie ihre und Nathans Eltern an einem Tisch auf der Terrasse entdeckte. Ihr Vater verstand sich gut mit Nathans Vater Samuel, von dem er Holz für seine Farm bezog, und auch ihre Tischlerwerkstatt schätzte er. Samuel Turner winkte sie zu sich.

»Da ist ja mein Sohn, der bald meine Nachfolge antreten wird. Ein gut eingeführtes Geschäft kannst du da übernehmen, Nathan. Da wäre mancher wild hinterher und würd sich nicht so zieren wie du ...«

Hannah Turner, eine mollige Brünette, tätschelte den Schenkel ihres Mannes. »Na na, Sam, wir wissen doch, dass Nathan ein guter Junge ist. Jeder braucht seine Zeit. Habt ihr Lucas gesehen?«

Nathans jüngerer Bruder Lucas hatte gemeinsam mit Anne die Schule beendet. Nathan hob die Schultern. »Keine Ahnung. Will noch jemand was zu trinken? Wir wollten uns gerade etwas holen.«

Die Bowle schien dem sonst eher wortkargen Samuel Turner die Zunge gelöst zu haben, denn er ließ sich von seiner Frau nicht zurückhalten. »Mein Junge, wir haben schon auf euch gewartet. Ich übergebe dir das Geschäft gleich morgen, wenn du willst. Gibt ja vielleicht einen guten Grund ...«

Samuel zwinkerte Nathan bedeutungsvoll zu. Birdie konnte von der Seite aus beobachten, wie Nathans Gesichtszüge versteinerten.

»Nimmst du ein Glas Bowle, Birdie? Ich hole mir jetzt ein Bier.«

Doch Samuel schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. »Du kannst nicht immer davonlaufen, Nathan. Wie lange willst du dieses nette Mädchen noch warten lassen? Bis sie dir ein anderer wegschnappt?«

Erschüttert ließ Birdie die Hände sinken, die sich plötzlich eiskalt anfühlten. Nein, so nicht! Was tat er denn da? Er machte alles kaputt!

Nathans Lippen waren weiß vor Wut, als er einen Schritt auf seinen Vater zumachte. »Ich habe ein Mal meine Träume aufgegeben und mich deinem Wunsch gefügt. Ich bin Tischler geworden und werde die Sägemühle übernehmen, aber die falsche Frau werde ich nicht dir zu Gefallen heiraten! Das nicht! Niemals! Kein Wort mehr darüber.« Er hatte seine Stimme nicht erhoben, sondern mit scharfer, unmissverständlicher Entschiedenheit gesprochen. Wie ein Messer zerschnitten seine Worte den Raum zwischen ihm und Samuel. »Haben wir uns verstanden?«

An den Nachbartischen waren die Gespräche verstummt. Alle starrten gebannt auf Vater und Sohn und schließlich auch auf Birdie, die sich an einen Ort auf der anderen Seite der Insel wünschte. Vor Scham und Enttäuschung wäre sie am liebsten im Boden versunken. Schluchzend drückte sie sich den Schal vors Gesicht und lief davon.

Kapitel 2

 

Minffordd, Snowdonia, Wales

 

Caitlin sah auf die Uhr. Sie hatte sich Zeit gelassen, zwischendurch Pause gemacht und war eine halbe Stunde um den See hinter Blaenau Ffestiniog gelaufen. Wie sehr sie die Berge vermisste, merkte sie immer erst dann, wenn sie hier war. Dabei war Chester nur knapp hundert Kilometer entfernt. Allerdings kam man auf den kurvenreichen, oftmals einspurigen Straßen nur langsam voran und benötigte bis Minffordd zwei Stunden. Caitlin Turner überholte einen Radfahrer und winkte einem Wanderer zu, der sich auf dem Grünstreifen zum nächsten Aufgang in die Berge vorkämpfte. Darauf freute sie sich schon: auf eine ausgedehnte Tour zum Moel Hebog, einem ihrer Lieblingsberge.

Auf einer alten Römerbrücke wurde die Straße einspurig. Sie folgte dem Hinweisschild nach Portmeirion und fand sich kurz darauf vor dem Haus ihrer Tante in einem ruhigen Wohngebiet ein. Es war über ein Jahr her, dass sie zuletzt hier gewesen war. Birdie hatte sie vor fünf Monaten in Chester besucht und einen gesunden Eindruck gemacht. Caitlin seufzte und nahm die Sonnenbrille ab. Zumindest war es warm und würde es wohl auch bleiben. Aber selbst im Hochsommer musste man auf Regentage gefasst sein, vor allem, wenn man in die Berge ging.

Mit dem kurzen dunklen Pferdeschwanz, Jeans und zerknitterter Leinenbluse entsprach Caitlin nicht dem typischen Bild einer Inneneinrichterin. Aber solange sie gute Arbeit leistete, störte es Amber Bell nicht, wie ihre wichtigste Mitarbeiterin herumlief. Weniger tolerant war Amber in Bezug auf ungeplante Urlaubstage, und Caitlin hoffte, dass es ihrer Tante bald besser gehen würde. Es gehörte nicht zu Birdies Wesen, sich übers Altwerden oder Krankheiten zu beklagen. Tat sie es dennoch, musste es dafür einen triftigen Grund geben. Und deswegen hatte sich Caitlin über Ambers Einwände, dass sie bei einem Großauftrag unentbehrlich sei und erst in zwei Wochen freinehmen könnte, hinweggesetzt. Zwar hatte sich Amber beleidigt gegeben, doch weil sie um Caitlins enge Beziehung zu ihrer Tante wusste, hatte sie letztlich eingelenkt.

Als Caitlin die Autotür zuwarf, hob sie automatisch den Blick zum ersten Stock des hellblauen Reihenhauses. Die Fenster waren verschlossen, und die Blumenkästen boten mit ihren verdorrten Pflanzen einen traurigen Anblick. In ihr stieg eine schmerzhafte Vorahnung auf. Auch die Kübel neben dem Eingang sahen bemitleidenswert aus. Ein leises Miauen ertönte, und eine graue Katze schmiegte sich um Caitlins Beine.

»Ja hallo, Penelope.« Caitlin strich der schnurrenden Katze über den Rücken. Penelope musste inzwischen über fünfzehn Jahre alt sein und schien sich bester Gesundheit zu erfreuen.

Die Haustür war nicht verschlossen, und Caitlin trat in den engen Flur, aus dem ihr der vertraute Geruch von Lavendel entgegenschlug. Birdie hängte überall getrocknete Lavendelsträuße auf. Während Caitlin in das stille Haus hineinhorchte, lief die Katze an ihr vorbei Richtung Küche. »Tante Charlotte! Ich bin es, Caitlin!«

Langsam ging sie weiter und warf einen Blick in die Küche, wo auf dem Herd ein Topf vor sich hinköchelte. Es roch nach Beeren. Die Holzdielen knarrten unter ihren Sandalen, als Caitlin ins Wohnzimmer trat. In den Sonnenstrahlen, die durch die Gardinen fielen, flirrten Staubpartikel, und eine Biene summte gemächlich durch die offene Terrassentür hinaus in den Garten. Endlich entdeckte sie ihre Tante schlafend in einem Sessel, die Beine auf einen Hocker gelegt, in den Händen ein Buch.

Caitlin erschrak, als sie sah, wie mager sie geworden war. Hatte sie auch bei ihrem letzten Besuch schon so dunkle Augenringe gehabt? Vorsichtig nahm Caitlin das Buch und legte es auf den Tisch. Dann streichelte sie ihrer Tante sanft über die Wange. Birdies Lider flackerten, und es dauerte einen Moment, bevor sie die Augen öffnete. Als kehrte sie von einer langen Reise zurück und müsste sich erst besinnen, dachte Caitlin.

Sie kannte ihre Tante als starke, patente Frau, die für jedes Problem eine Lösung fand und nie klein beigab. Und plötzlich wirkte sie beängstigend zart und zerbrechlich. Die Katze war unbemerkt ins Zimmer gelaufen, sprang auf Birdies Schoß und rollte sich dort schnurrend zusammen.

»Ach, Penelope ...«, murmelte die fast Sechzigjährige und vergrub die Hände im weichen Katzenfell. Schließlich öffnete Charlotte Bennett die Augen und maß ihre Nichte mit einem prüfenden, nicht im Geringsten überraschten Blick. »Cait, wie lange stehst du schon da herum und beobachtest mich? Ich mag es nicht, wenn man mich anstarrt. So weit ist es noch nicht. Du siehst müde aus. Du arbeitest zu viel. Setz dich! Hast du überhaupt gegessen?«

Caitlin lächelte, drückte ihrer Tante einen Kuss auf die Stirn und setzte sich in einen grasgrünen Sessel.

»Dein Anruf kam so überraschend! Was ist los?«

Ihre Tante räusperte sich und kniff sich ins rechte Ohrläppchen. Eine Angewohnheit, die anzeigte, dass ihr ein Thema missfiel. »Die Pumpe, Cait, die muss mal durchgespült werden. Du weißt ja, wie das mit mir und den Ärzten ist. Wir gehen einander aus dem Weg, und das ist gut so. Aber in diesem Fall habe ich keine Wahl ...«

»Dein Herz? Hast du dich denn nie durchchecken lassen?« Sie kannte die Antwort und schüttelte den Kopf. Ihre Tante verstand sich auf Kräuter und hatte sich stets selbst kuriert, aber sie war auch noch nie ernsthaft krank gewesen. Oder sie hatte alle Anzeichen einer Herzkrankheit ignoriert. Cait fuhr sich mit beiden Händen über die Haare, die sich aus dem Gummi zu lösen begannen. »Wann gehst du ins Krankenhaus?«

»Au!« Birdie schubste die Katze nach unten, die mit wedelndem Schwanz davonschritt. »Wenn sie Hunger hat, wird sie ungeduldig. Du kümmerst dich um sie? Es steht alles auf einem Zettel. Sie bekommt alle zwei Tage ein Pulver für ihren Magen.«

»Natürlich, aber ...« Besorgt beobachtete Caitlin, wie ihre Tante sich langsam aus dem Sessel erhob und nach Luft rang.

»Übermorgen, sie holen mich übermorgen ab.« Birdie suchte Halt an der Sessellehne und zupfte an ihrer knielangen Tunika. Der helle Leinenstoff war rings um die Knopfleiste mit blauen Stickereien verziert, die dünnen Beine steckten in einer abgewetzten Stoffhose, und die Füße schob sie in gelbe Plastiklatschen.

Cait wollte aufspringen und Birdie stützen, doch die winkte entschieden ab. »Lass mich, solange ich noch allein gehen kann, tue ich das.«

»Ich kann dich doch hinfahren. Nach Bangor?« Dort gab es das größte Krankenhaus des Bezirks.

Caitlin hatte an der Universität von Bangor studiert und zwei Jahre dort gelebt, bevor sie ihre Ausbildung bei Amber begonnen hatte. Trockene Theorie war nichts für Caitlin gewesen, und die Kenntnisse, die sie in der Tischlerei ihres Vaters gesammelt hatte, kamen ihr als Dekorateurin zugute. Amber Bell hatte sie unter ihre Fittiche genommen und sie alles vom Schneidern über das Kleben von Papierdekorationen bis hin zum Schleifen und Lackieren von Möbeln machen lassen. Nachdem Amber Caitlins kreatives Potenzial beim Entwickeln von Raumkonzepten entdeckt hatte, verbesserte sich Caits Stellung, und die Arbeit begann ihr Spaß zu machen. Daran hatte sich nichts geändert. Trotzdem war Cait nicht zufrieden, fühlte sich nicht wirklich heimisch in Chester. Aber das lag nicht an der malerischen viktorianischen Stadt, sondern an ihrer inneren Rastlosigkeit, auch wenn es um Beziehungen ging. In diesem Punkt unterschied sie sich grundlegend von ihrer jüngeren Schwester Jessica. Bei dem Gedanken an ihre Schwester wurden Caits Lippen schmal, und sie atmete hörbar ein.

»Bangor. Nein, warum sollst du extra fahren? Sie zahlen mir die Fahrt ins Krankenhaus, und das Taxi kommt schon um halb sechs in der Frühe. Wir haben noch einen Tag. Da kann ich dir alles zeigen. Meinen Laden. Ich kann es mir nicht leisten zu schließen. Und ich möchte ihn nicht verlieren. Du weißt, wie sie sind. Wenn man nicht pünktlich öffnet, ist man draußen.« Birdie sah ihre Nichte an. »Ich brauche die Arbeit. Nicht nur wegen des Geldes.«

»Das verstehe ich, und ich helfe dir gern, nur weiß ich nicht, wie lange ich bleiben kann.« Cait erhob sich ebenfalls. »Hast du mit Jessi gesprochen?«

Birdie schlurfte Richtung Küche. »Wozu? Sie hat zwei kleine Kinder.«

»So klein sind die auch nicht mehr. Wenn sie wollte, könnte sie sich schon mal freimachen ...« Aber Jessica hatte immer eine Ausrede, wenn es darum ging, nach Wales zu kommen.

Direkt nach ihrem Schulabschluss hatte Jessica die Koffer gepackt und war nach Oxford gefahren, wo sie eine Lehre in einer Anwaltskanzlei begonnen hatte. Kein Blick zurück, kein Bedauern, zwei Jahre war sie nicht ein Mal zu Besuch gekommen. Sie müsse sich über Dinge klar werden, ihr Leben ordnen, Abstand gewinnen. Caitlin fand das einfach nur herzlos und egoistisch, schließlich hatte Birdie ihnen ein Zuhause gegeben, als sie es gebraucht hatten. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatten sie erfahren, was es bedeutete, ein liebevolles, geordnetes Heim zu haben. Aber das hatte Jessica nie einsehen wollen. Was hätte aus zwei Mädchen werden sollen, deren Vater sich das Leben genommen hatte und deren Mutter ein Jahr später bei einem Autounfall gestorben war?

»Lass sie, Cait. Das ist ihr Leben«, sagte Birdie, ohne sich umzusehen.

»Aber ...«, protestierte Cait, wurde jedoch von ihrer Tante durch eine energische Handbewegung unterbrochen.

»Genug davon. Du bist hier.«

Cait kannte ihre Tante gut genug, um zu wissen, wann man nachzugeben hatte. Später würde sich ein besserer Moment finden, um das Thema erneut aufzugreifen. Oder auch nicht. Wenn es für Birdie nicht wichtig war, sollte sie sich auch damit abfinden können, dass ihre Schwester in Oxford ein neues Leben begonnen hatte, in dem für ihre Familie kein Platz mehr war.

»Worauf hast du Appetit? Ich könnte auch etwas holen!« Kochen gehörte nicht zu Caitlins herausragenden Talenten, und sie fand nicht, dass das ein Makel war. Es gab viele hervorragende Restaurants und Lieferservices, denen man nicht die Existenz erschweren musste, indem man sich ständig selbst am Herd herumquälte.

Sie war ihrer Tante in die Küche gefolgt und sah zu, wie Birdie eine Dose Katzenfutter unter Penelopes aufmerksamen Blicken aus dem Kühlschrank holte. »Sie darf es nie kalt fressen, dann spuckt sie alles wieder aus. Ich habe Nudeln da, etwas grünen Salat. Eine Flasche Wein steht irgendwo, aber ich darf nichts trinken. Das ist vielleicht ein Unfug! Phh!«, entrüstete sich Birdie. »Als ob ein Glas Rotwein jemals einem Menschen geschadet hätte. Das ist wie Medizin! Ich sage dir, wenn ich diese Operation erst hinter mir habe, können sich die Weißkittel ihre Tabellen und Diätpläne in den Allerwertesten stecken!«

»Diät? Du bist viel zu dünn, Birdie.« Caitlin öffnete nach und nach die Türen der Küchenschränke, fand nichts Brauchbares und holte das Telefonbuch aus dem Flur. »Gibt es Tonis Pizzeria noch?«

Birdie hantierte mit Schüsseln und einer Dose Katzenmedizin. »Ja ja. Sein Sohn macht das jetzt, aber es schmeckt genauso gut wie immer.«

»Großartig. Ich bestelle uns was. Dann kann nichts schiefgehen ...« Lächelnd griff sie zum Telefon.

Während sie auf die Lieferung warteten, holte Caitlin ihr Gepäck aus dem Wagen. Sie stand neben ihrem geöffneten Kofferraum, als ein weißer Geländewagen langsam an ihrer Einfahrt vorbeirollte. Der blaue Schriftzug des Snowdonia Nationalparks zeigte, dass es sich um einen Park Ranger handelte. Unwillkürlich dachte sie an Nantmor, die Wälder hinter der Sägemühle und die Berge, die man von ihrem Elternhaus aus gesehen hatte. Sie war fünfzehn gewesen, als der Freitod ihres Vaters alles verändert hatte. Zu ihrer Kindheit gehörten der Geruch von Sägemehl, frisch geschnittenem Holz und Wanderungen durch die Berge. Ihre Mutter Anne war mit ihnen oft auf den Moel Hebog gegangen, nicht den ganzen Weg bis hinauf zur Spitze, jedenfalls nicht, als sie klein waren. Anne hatte es geliebt, sich in der Natur zu bewegen. Das hatte Caitlin von ihrer Mutter geerbt.

Ihren Erinnerungen nachhängend hatte Caitlin nicht bemerkt, dass der Fahrer des Geländewagens sie ansah. Sie registrierte kurzes, dunkles Haar und sonnengebräunte Haut. Er lächelte nicht und wandte den Blick ab, als sie ihn bemerkte. Hellgraue Augen, dachte Cait, interessant. Mit ihrer Reisetasche ging sie zurück ins Haus.

»Ich habe dein altes Zimmer für dich hergerichtet, Cait.«

Birdie sah zu, wie die Katze kritisch den Futternapf beschnupperte. »Na los, altes Mädchen, das schmeckt schon.«

»Danke.« Bevor sie die schmale Treppe hinaufstieg, fügte sie hinzu: »Es ist schön, wieder hier zu sein.«

Ihre Tante schenkte ihr ein warmes Lächeln.

Caitlin brachte ihre Sachen hinauf in einen kleinen Raum, vor dessen Erkerfenster eine gemütliche Bank stand. Die Möbel waren aus solidem Holz und stammten noch aus der Tischlerei ihres Vaters. Lediglich die Vorhänge und den Teppich hatte Birdie nach ihrem Auszug erneuert. An einer Wand hing ein großes Schwarz-Weiß-Foto ihrer Eltern. Sie standen auf einer Bergkuppe. Dichte Wolkenberge verdeckten den Blick ins Tal. Die langen Locken ihrer Mutter wehten im Wind, während sie dem Fotografen ihr schönes Gesicht zuwandte. Ihr Vater lächelte verhalten und hielt die Hand seiner Frau fest.

Sie waren so jung und alles schien möglich, dachte Caitlin. Vorsichtig streckte sie die Finger nach dem Bilderrahmen aus und zuckte zurück, als sie das kalte Glas berührte. Warum hatte alles zerbrechen müssen? Ruckartig wandte sie sich ab und machte sich ans Auspacken. Es gab nie einen guten Grund. Dinge zerbrachen, Menschen gingen fort, und das Warum war letzten Endes gleichgültig.

Kapitel 3

 

Am nächsten Morgen war Caitlin überrascht und erleichtert, ihre Tante schon in der Küche zu finden. Ein Radiomoderator verkündete gerade das Wetter, und im Hintergrund sang Bruce Springsteen irgendetwas über den Geist von Tom Joad. Caitlin umarmte ihre Tante und küsste sie auf die Wange. »Guten Morgen. Ich dachte, du lässt es ruhiger angehen, schläfst dich aus ...«

Birdie hatte sich die struppigen Locken mit einer Spange am Hinterkopf festgesteckt und trug ein knöchellanges Sommerkleid. Das Hellblau ließ sie noch blasser wirken, und Cait fragte sich, wie schlimm es wirklich um sie stand. »Willst du dich nicht setzen? Ich mache gern Frühstück.«

»Das Wasser kocht gleich. Brot ist dort im Kasten, Butter und Marmelade stehen im Kühlschrank. Ja, vielleicht setze ich mich und nehme meine Pillen.« Birdie sank auf einen Küchenstuhl und griff nach einer der Tablettenschachteln, die auf dem Tisch lagen.

»Blau, gelb, grün ... verdammte Chemie!«, murrte sie, spülte aber eine Tablette mit einem Schluck Wasser hinunter.

»Manchmal ist sie hilfreich.« Cait deckte den Tisch und goss eine Kanne Tee auf.

»Hmm, Penelope ist gefüttert. Ich stelle ihr immer eine volle Schüssel hin, bevor ich weggehe. Wenn ich Waren mitnehmen muss, fahre ich natürlich. Der Parkausweis liegt im Auto. Heute brauchen wir ...«, erklärte Birdie, wurde jedoch von Caitlin unterbrochen.

»Wir sollen ja wohl heute nicht den Laden öffnen?« Caitlin ließ lautstark ihr Messer fallen.

»Nur für ein oder zwei Stunden. Ich muss dir zumindest zeigen, wie die Kasse funktioniert, oder nicht?«

Caitlin nahm das Brot aus dem Toaster und legte die ersten beiden Scheiben auf den Teller ihrer Tante. »Wir haben auch eine Kasse in unserem Geschäft. Ich möchte nur nicht, dass du dich zu sehr anstrengst. Hast du denn keine Aushilfe, die dir zumindest das Auspacken abnimmt?«

»Phoebe kommt an vier Nachmittagen in der Woche, aber ich schließe auf, das habe ich immer getan.« Energisch strich sich Birdie Butter auf ihren Toast.

»Töpferst du noch selbst?« Der Schuppen im Garten diente ihrer Tante seit jeher als Töpferwerkstatt.

»Selten. Phoebe kommt manchmal her und arbeitet eigene Entwürfe aus. Sie ist begabt, aber zu ungenau. Wenn die Mischung nicht stimmt, zerplatzen die Sachen beim Brennen, und das wird auf die Dauer teuer. Nein, ich verkaufe eigentlich nur noch das Porzellan von Portmeirion und den üblichen Souvenirkram eben.«

Birdie goss Milch in ihren Teebecher, der zu einer Serie gehörte, die sie vor Jahren gefertigt hatte.

»Ich mochte deine Stücke immer viel lieber als diesen Industriekram. Vielleicht hast du wieder Lust und Kraft, wenn du zurück bist. Jetzt musst du nur gesund werden, Birdie.« Sie versuchte, ihre Besorgnis zu verbergen, und schob die ungewohnte Nachdenklichkeit und Zerstreutheit ihrer Tante auf die bevorstehende Operation.

»Wenn ich wieder hier bin ...«, sagte Birdie leise, griff plötzlich nach Caitlins Hand und streichelte sie sanft. »Caitlin ...«

Alarmiert suchte Cait ihren Blick. Nur selten nannte ihre Tante sie bei ihrem vollen Namen, und dann ging es meist um etwas Ernstes.

»Ich habe keine Kinder, wie du weißt, und du und Jessica, ihr seid meine Familie, und ...«

»Bitte nicht, Birdie!« Caitlin stand auf und drückte ihre Tante fest an sich. »Du wirst wieder ganz gesund, und dann machst du eine erholsame Reise, oder ich besuche dich für ein paar Wochen und gehe dir auf die Nerven. Hörst du?«

Mit sanfter Entschlossenheit machte sich Birdie von ihr los. »Setz dich bitte, Cait, und hör mir zu. Ich will nicht über mein Testament reden. So ein Unfug!«

Mit einem tiefen Seufzer und einer unguten Vorahnung nahm Cait ihren Platz am Tisch wieder ein.

»Aber man kann nicht wissen, wie eine Operation verläuft. Es fällt mir auch nicht leicht, aber ich finde einfach, dass du die Wahrheit über deine Eltern erfahren musst.« Hier stockte Birdie und begann, mit der Tablettenschachtel zu hantieren.

Diese Eröffnung traf Caitlin wie ein Schlag vor den Kopf. Ihr Mund wurde trocken, und ihre Knie waren so weich, dass sie nicht hätte aufstehen können. »Was? Ich meine ... ich verstehe nicht!«

»Nein, wie solltest du auch. Deine Mutter war ein verschlossener Mensch. Sie ... Oh, das ist verteufelt viel schwieriger, als ich gedacht hatte.« Mit fahrigen Händen versuchte Birdie, eine Schachtel zu verschließen, und stieß mit dem Ellenbogen ihren Becher um. Der Tee ergoss sich über die Tischplatte und tropfte auf Birdies Kleid. »Nein, auch das noch!«

Caitlin sprang auf, griff sich ein Küchentuch und wischte die braune Flüssigkeit auf, die zum Glück nicht mehr heiß war. »Tu mir einen Gefallen, Birdie, ja? Zieh dich um und denk nicht mehr daran. Ich bin so lange ohne die Wahrheit über meine Eltern zurechtgekommen, es macht mir nichts. Du bist immer für uns da gewesen, du bist mir wichtig, Birdie. Also, lass die alten Geschichten. Soll ich dir beim Umkleiden helfen?«

Ihre Tante quittierte diese Frage mit einem unwilligen Stirnrunzeln. »Ich bin gleich wieder da. Dann fahren wir nach Portmeirion.«

 

An einem sonnigen Junimorgen wie diesem gehörte Portmeirion zu den Touristenmagneten der Region. Caitlin steuerte ihren Kleinwagen die einspurige Straße entlang, welche die einzige Zufahrt auf die Halbinsel darstellte. Vor ihr zwängte sich ein Reisebus in eine Ausbuchtung, um einen entgegenkommenden Lieferwagen vorbeizulassen. Birdies Haus befand sich nur wenige Minuten von der Kreuzung entfernt, an der ein großes, farbiges Schild den Durchgang zu Sir Cloughs Verrücktheit anzeigte. Ihre Tante hatte zu den Ersten gehört, die in einem der pittoresken Häuser einen Laden hatte mieten dürfen. Anfangs hatte man ihr die selbst gefertigten Töpferwaren aus den Händen gerissen, und Birdie war mit der Produktion kaum nachgekommen. Mit der Einführung des Porzellans von Portmeirion, das eigens für das Dorf hergestellt wurde, hatte sich die Nachfrage verringert. Doch Kunsthandwerk blickte in Wales auf eine lange Tradition zurück, vor allem von den Töpfern hatten sich viele einen internationalen Ruf erarbeitet.

Caitlin war immer stolz auf ihre eigenwillige Tante gewesen, die sich ihren Weg auf eigene Faust erkämpft hatte. Solange sie Birdie kannte, hatte sie nie einen Mann an ihrer Seite gesehen und wusste auch von keiner verflossenen Liebe. Wenn Caitlin sie früher danach gefragt hatte, war Birdie ihr immer geschickt ausgewichen, und irgendwann war das Thema einfach unwichtig geworden.

Dicht belaubte Eichen, Birken und Ulmen überschatteten die Straße, die auf der Küstenseite von einer niedrigen Steinmauer begrenzt wurde. Ab und zu erhaschte man einen Blick aufs Meer, dessen aquamarinfarbenes Wasser unterhalb der Klippen zwischen den Blättern glitzerte. In ihrem neuen, ockerfarbenen Kleid sah Birdie viel besser aus, fand Caitlin und beobachtete, wie ihre Tante zwei Gärtner grüßte. Das ideale Dörfchen, das wie in Italien um eine kleine Piazza angelegt war, umgab eine ausgedehnte Parkanlage. Oberhalb der gepflegten Wanderwege war der Wald dicht und ursprünglich, doch im Zentrum sorgten Heerscharen von Landschaftspflegern und Gärtnern für eine immerwährende Blumenpracht und perfekt gestutzte Bäume und Hecken.

»Ich fahre nun schon seit zwanzig Jahren diese Straße hinunter, aber an einem Tag wie heute verstehe ich, was den Zauber von Portmeirion ausmacht«, sagte Birdie.

Sie fuhren an dem bereits überfüllten Touristenparkplatz vorbei und auf ein rosafarbenes Tor mit Schranke zu, durch die sie ein älterer Herr im Anzug winkte. »Guten Morgen, Mrs Bennett.«

»Wie geht es Ihnen heute, Mr Jones?«

»Ganz hervorragend, wie könnte es anders sein, bei diesem Wetter.« Der weißhaarige Herr, den Caitlin von vielen Besuchen kannte, blinzelte ihr zu. »Das ist aber schön, dass Sie Ihre Tante besuchen, Mrs Turner. Kommen Sie nachher ins Café, Ellie hat ihren Lemoncake gebacken.«

»Danke, das klingt verlockend!« Vorsichtig lenkte Caitlin den Wagen an einer Familie mit kleinen Kindern vorbei, die über die Straße zur Piazza mit den Brunnen wollten.

»Wir parken da vorn. Siehst du die blaue Hortensie unter der Palme? Gleich dahinter rechts«, dirigierte Birdie ihre Nichte auf ihren Stellplatz.

Es entging Caitlin nicht, dass es Birdie anstrengte, aus dem Wagen zu steigen, und sie nahm sich vor, ihre Tante so schnell wie möglich wieder nach Hause zu bringen. Zu Birdies Laden gelangte man durch eine der Loggien, die sich rings um die Piazza aneinanderreihten. Bizarre Skulpturen, Rosenspaliere und exotische Pflanzen schmückten die Gartenanlage um die Piazza. An den Hängen hatte der Architekt seine Vorstellungen von toskanischen Landhäusern, einem Campanile, römischen Kolonnaden und sogar einem Kuppelgebäude nach Vorbild des Pantheon verwirklicht. Kein Wunder, dass die Touristen ohne Unterlass ihre Kameras zückten. »Die Instandhaltung von all dem hier verschlingt doch sicher Unsummen?«

Birdie nickte. »Das Hotel ist zwar gut ausgebucht, aber sie müssen eine Menge in Events und Werbung investieren, um klarzukommen. Demnächst soll hier sogar ein Rockkonzert stattfinden ...«

»Das klingt verzweifelt«, meinte Caitlin und trat mit ihrer Tante durch einen der vielen Rundbögen, hinter denen sich die Läden befanden.

»Arts & Crafts« stand auf dem Schild über der Tür. Der Laden nebenan hatte bereits geöffnet, und eine junge Frau schob gelangweilt Ständer mit Postkarten nach draußen. Sie brachte einen kaum hörbaren Gruß über die gepiercten Lippen und fluchte, als sie sich einen pinkfarbenen Fingernagel anstieß.

»Hallo, Lexi, das ist meine Nichte, Caitlin Turner. Sie wird mich für einige Tage vertreten«, erklärte Birdie freundlich. Sie schien sich nichts aus der übellaunigen Miene der Verkäuferin zu machen.

Lexi richtete ihre Aufmerksamkeit von ihrem Fingernagel auf Cait, taxierte sie kurz und sagte mit leichtem Lispeln: »Willst du für länger herkommen? Würde ich mir überlegen. Ist total langweilig hier, nur Touris, die Souvenirs wollen, und die Gören reißen alles aus den Regalen, und du kannst dauernd hinter ihnen herwischen.«

»Äh, nein, ich helfe nur aus. Ich lebe in Chester«, sagte Cait vorsichtig.

Die mit Kajal umrandeten Augen der Verkäuferin leuchteten auf. »Chester! Immerhin, besser als dieser öde Flecken hier. Aber ich hab’s vermasselt ... Zu früh schwanger, falscher Mann ...«

»Tja dann, wir sehen uns ja morgen. Birdie, du wolltest mir noch erklären ...?« Hilfesuchend schaute Cait ihre Tante an, die bereits den Schlüssel in das Türschloss gesteckt hatte.

Eine altmodische Türglocke erklang, als die Glastür aufschwang und Cait sich Regalen voll mit buntem Porzellangeschirr gegenübersah. Einiges war sehr hübsch, aber dem Vergleich mit Birdies handgefertigten Unikaten konnten die Serienprodukte nicht standhalten. Allerdings hatten Birdies handbemalte Schalen und Vasen auch ihren Preis. Cait entdeckte Stücke, die schon seit Jahren auf einen Käufer warteten, und begriff, wie schwierig es sein musste, ausschließlich vom Verkauf eigener Stücke zu leben. Letztlich ging es ums Überleben, und da musste auch ein Künstler Kompromisse machen.

»Nimm Lexi nicht so ernst. Sie ist ganz in Ordnung, aber sie hat viel Kummer mit ihrem Mann, einem Paketausfahrer, der seinen Lohn in den Pubs durchbringt.« Birdie schaltete die Beleuchtung ein und blieb vor einer gerahmten Fotografie stehen.

Die Panoramaaufnahme zeigte einen roten Milan, der majestätisch seine Kreise über einem Bergsee zog. Der Blickwinkel war spektakulär und musste den Fotografen viel Zeit und Geduld gekostet haben.

»Wunderschön!« Cait schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Wer hat das gemacht?«

»Jake Parry, ein Ranger aus dem Nationalpark. Er kümmert sich vor allem um die bedrohten Vogelarten. Ich habe ihn oben im Wald getroffen. Da sammelt er Eulengewölle. Wir sind ins Gespräch gekommen, und irgendwann hat er mir einige Fotografien zur Ansicht mitgebracht, weil er mein Urteil hören wollte. Er ist gut!« Birdie zeigte auf weitere Bilder, die in und zwischen den Regalen hingen und standen, und berührte mit einer Hand ihre Brust über dem Herzen.

»Birdie, setz dich, bitte«, bat Cait, doch ihre Tante atmete tief durch und fuhr fort. »Du notierst alles, was du verkaufst, in dem Buch neben der Kasse, und ab und zu kommt Jake vorbei. Dann gibst du ihm seinen Anteil. Er bekommt siebzig Prozent.«

»Das ist großzügig. Galeristen nehmen mindestens fünfzig Prozent.« So konnte ihre Tante keinen lohnenden Gewinn machen.

»Ich habe doch dadurch keine Extraarbeit. Nein, das ist schon in Ordnung.« Birdie nahm eine unregelmäßig geformte Schale in die Hand und strich liebevoll über die graublaue Glasur. »So eine ähnliche habe ich deinen Eltern zur Hochzeit geschenkt.« Leise fügte sie hinzu: »Es war nicht an mir, etwas zu sagen. Das musste sie selbst vor sich verantworten. Man sollte nicht mit einer Lüge in ...« Plötzlich ließ Birdie die Schale fallen und griff sich ans Herz. Die schwere Keramikschale zersprang lautstark auf dem gefliesten Boden und übertönte Birdies gepressten Schmerzensschrei.

»Birdie! Um Himmels willen ... Wen soll ich anrufen? Hast du Tabletten dabei?«, rief Caitlin aufgeregt und half ihrer Tante, sich auf einen Stuhl zu setzen.

Birdie stöhnte und atmete flach mit geschlossenen Augen, so als konzentriere sie sich. »Die blauen, in meiner ... ah ... Tasche.«

Ruhe bewahren, dachte Caitlin, suchte die Tabletten heraus und legte ihrer Tante eine in den Mund. Dann holte sie ein Glas Wasser, wartete, bis Birdie einen Schluck getrunken hatte, und rief den Notarzt an.

»Halte durch, Birdie, bitte, sei jetzt stark. Du schaffst das ...«, murmelte Cait und legte ihrer Tante einen feuchten Lappen auf die schweißnasse Stirn. Eine schreckliche Angst kroch in ihr hoch, sie fühlte sich so hilflos wie damals, als ihr Vater gestorben war. Nicht ihre Mutter, sondern Birdie hatte die Mädchen getröstet und sich in Erklärungen versucht. Nein, dachte Cait, nicht Birdie, nicht jetzt! Ihre Zeit ist noch nicht gekommen. Sie küsste ihre Tante auf die Wangen, nahm ihre Hände und drückte sie.

»Nicht ohnmächtig werden, Birdie, der Arzt wird gleich da sein.«

»Hmm, mir ist so schwindelig.«

Es gelang Caitlin, ihre Tante bis zur Ankunft des Notarztes bei Bewusstsein zu halten. Birdies Atmung wurde gleichmäßiger, und der Arzt versicherte Caitlin, dass sie alles richtig gemacht und ihre Tante Glück gehabt hatte.

»Sie hatte einen OP-Termin in Bangor«, informierte Caitlin den Arzt, der die Sanitäter zu größter Eile anhielt.

»Dorthin fahren wir jetzt. Rufen Sie heute Abend im Ysbyty Gwynedd an. Vorher wird man Ihnen nichts sagen können. Aber machen Sie sich keine Sorgen!« Mit diesen Worten sprang der Arzt in den Rettungswagen, der sofort mit Blaulicht davonraste.

Fassungslos und mit Tränen in den Augen stand Caitlin vor dem Laden. »Ach, Birdie«, schluchzte sie.

Kapitel 4

 

Penrhyndeudraeth, Verwaltung des Snowdonia Nationalparks, Wales

 

Das kannst du nicht machen, Leo! Wenn du das durchgehen lässt, werden noch mehr Tiere sterben!« Wutentbrannt schleuderte Jake eine Akte auf den Schreibtisch von Leo Boswick.

»Lass dir einen Termin geben, Jake.« Boswick war Mitglied des Parkkomitees und hatte eine gewichtige Stimme bei Entscheidungen, die den sensiblen Grenzbereich zwischen Farmern und Naturschützern betrafen.

»Was bist du, ein verdammter Bürokrat, dem die Tiere egal sind, wenn der Profit stimmt? Verflucht, Leo, du warst mal auf unserer Seite!«, rief Jake, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass man ihn im gesamten Flur der obersten Verwaltungsebene hören konnte. Sollten sie doch! Schließlich war er an der Front und musste täglich tote Vögel einsammeln und mit Landbesitzern diskutieren, die ihr Vieh weiden ließen, wo die Rekultivierung von Brachland vorgesehen war. Und das war nicht einmal das Ärgste.

»Das bin ich noch immer! Was glaubst du eigentlich, was ich hier tue? Ich kämpfe für jeden Zentimeter Boden, aber das geht eben nicht ohne Kompromisse. Sieh das endlich ein, Jake!« Der korpulente Mann, dessen mächtiger Brustkorb von seiner Zeit als Boxer herrührte, nahm die Akte und blätterte sie flüchtig durch. »Das ist alles richtig, und ich weiß von den Vorfällen, aber mir sind momentan die Hände gebunden. Wir haben Abmachungen mit den Farmern getroffen und können die nicht einfach umstoßen. Die Gegend um Nantmor ist vor Monaten zur Intensivbewirtschaftung freigegeben worden. Wenn wir die Erlaubnis jetzt zurücknehmen, verlieren die Farmer Tausende!«

Jake schnaufte abfällig. »Die Verlierer sind immer nur die Tiere, Leo. Du sprichst von Verhandlungen, und währenddessen läuft uns die Zeit davon. Zeit, in der Arten aussterben, die unwiederbringlich sind. Ihr wisst es und lasst es zu.«

»Jake, so hör doch! Ich werde noch einmal mit Craddock reden, aber du kennst den Mann. Er hat einen eisernen Willen, und er spendet jährlich eine Summe, auf die der Park nicht verzichten kann.« Boswick rieb sich den kahlen Schädel und sah Jake um Verständnis bittend an.

»Er schießt Kornweihen, Habichte und Bergdohlen ab!«, erwiderte Jake kühl.

»Das können wir nicht beweisen.«

»Ich könnte es, wenn ich die Erlaubnis bekäme, die Projektile mit seinen Waffen zu vergleichen.«

»Es geht hier nicht um Mord, sondern lediglich um ein paar tote Vögel, Jake. Mach aus einer Mücke keinen Elefanten.« Leo hatte ein fleischiges Gesicht mit dunklen Augen, die ständig zu blinzeln schienen, was auf durch das Boxen verletzte Nerven zurückzufuhren war.

»Für mich gibt es da keinen Unterschied, aber genau da liegt das Problem. Du hast die richtige Perspektive verloren, Leo. Ich schätze, das liegt an den Immobiliengeschäften mit Craddock. Das verträgt sich schlecht, ist es nicht so, Leo?«

Boswicks Geduld war erschöpft. Sein purpurroter Kopf schien kurz vor der Explosion zu stehen, als er aufstand und mit ausgestreckter Hand auf die offene Tür zeigte. »Raus! Sofort! Ich könnte dich wegen Verleumdung anzeigen, Jake. Treib es nicht zu weit!«

»Ich lass mich nicht einschüchtern. Diesmal kommt ihr nicht damit durch!« Jake richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er hielt Leos Blick stand und nahm die Türklinke in die Hand. Der Knall der zugeworfenen Bürotür hallte noch nach, als Jake das Treppenhaus erreicht hatte.

Eine gedämpfte Frauenstimme hielt ihn zurück. »Jake, warte!«

Er drehte sich um und entdeckte einen rötlich blonden Haarschopf, der vorsichtig aus einer der Bürotüren gesteckt wurde. Kayla Gillam arbeitete als Verwaltungsassistentin für den Park und war nicht nur hübsch und karriereorientiert, sondern setzte sich auch resolut für die Belange der Ranger ein, die allzu oft mit denen der Landbesitzer kollidierten. Außerdem flirtete sie gern mit ihm, was Jake nicht störte, aber sie war einfach nicht sein Typ. Automatisch wischte er über sein dunkles Poloshirt, das genauso schmutzig war wie seine Jeans und die Trekkingschuhe. Er war direkt aus dem Wald oberhalb von Craddocks Land zur Küste heruntergefahren.

»Kayla, der einzige Lichtblick an diesem Vormittag!«

Bei einer anderen Frau hätten eine grüne Bluse und die violette Hose schrill gewirkt, doch zu Kaylas rötlichen Haaren bildeten sie einen passenden Kontrast. Sie lächelte. »Dein Streit mit Leo war nicht zu überhören. Auch wenn du recht hast, Jake, erreichst du gar nichts, wenn du dich mit ihm anlegst. Das Komitee braucht Leute wie ihn und Sponsoren wie Craddock. Möchtest du einen Kaffee? Ich kann dir auch noch Shortbread anbieten.«

»Nein, danke. Craddock denkt, er kann sich alles erlauben. Aber ich werde ihm zeigen, dass nicht alle klein beigeben, wenn er sein Scheckheft zückt«, sagte Jake, und seine gesamte Haltung zeigte seine innere Anspannung.

Kayla legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Tu das nicht, Jake. Mach das nicht zu deinem persönlichen Kampf. Du weißt doch aus Erfahrung, wie so was ausgeht ...«

Er schüttelte ihre Berührung ab wie eine lästige Fliege. »Ach ja? Hast du in meinen Papieren geschnüffelt?«

»Das brauchte ich gar nicht. Als du dich beworben hast, haben wir Erkundigungen über dich angestellt, wie wir es bei allen tun, die sich für eine Stelle im Park bewerben. Es bedurfte keiner Anstrengungen herauszufinden, dass man dich in Ecuador in Pedro Moncayo lieber hat gehen lassen, als es sich deinetwegen weiter mit den Behörden zu verderben. Und wie war das im Waldgebiet bei Essex, wo du dich gegen die Entscheidungen der Büroleiterin des Parks gestellt hast?«

Jake lachte bitter. »Gegen die Korruption in Moncayo zu kämpfen, hat mich fertiggemacht, aber ich habe es zumindest versucht! Und Essex ... Meine Ideen hätten Verbesserungen für den Naturpark bedeutet. Den neuen Supermarkt hätte man auch zwei Kilometer weiter südlich bauen können. Man muss Prioritäten setzen!«

»Jeder aus seiner Perspektive, Jake.« Sie streckte die Hand erneut nach ihm aus, doch er wich zurück. »Ich würde dich gern zum Essen einladen und dir von einigen geplanten Neuanschaffungen erzählen. Das dürfte dich freuen.«

Doch Jake winkte ab. »Heute nicht. Ich muss los.«

Sie streckte sich, was ihre Brüste vorteilhaft zur Geltung brachte, und hob kokett die Schultern. »Ruf mich an, wenn du bessere Laune hast.«

Damit drehte sie sich um und schlenderte mit gekonntem Hüftschwung den Flur entlang.

»Ich lass mich doch nicht erpressen«, murmelte Jake verärgert und lief die Treppen hinunter.

Er wusste sehr wohl, dass seine undiplomatische Art viele vor den Kopf stieß, aber Abwarten und Herumtaktieren waren seine Sache nicht. Die letzten Treppenstufen nahm er mit einem Satz, winkte Molly an der Rezeption zu und war froh, als er allein im Wagen saß. Hätte er sich für diesen Berufsweg entschieden, wenn er geahnt hätte, wie schwer es werden würde? Jake setzte seine Sonnenbrille auf und fuhr langsam über den Parkplatz der Parkverwaltung. An der Ausfahrt kam ihm Rob, ein weiterer Ranger, entgegen, hielt an und rief durch das offene Fenster: »Hast du dir deine Papiere geholt? Ioan hat mir von der Kornweihe auf Craddocks Land erzählt. Und so, wie ich dich kenne, bist du ausgerastet und hast sie Boswick an den Schädel geworfen ...« Rob lachte, doch seine Augen schauten besorgt.

»Nein, ganz so schlimm war’s nicht, aber nahe dran. Irgendjemand muss Craddock die Stirn bieten!«, erwiderte Jake.

»Du bist noch nicht lange genug hier. Ich will dir deine Illusionen nicht nehmen, aber ganz Nantmor gehört den Craddocks, und das seit Generationen. Gegen die kommst du nicht an.« Rob war in Jakes Alter und stammte aus Llanberis. Er kannte die Berge und Wälder rund um den Snowdon wie kein Zweiter und war umgänglich und freundlich. Die Touristen buchten ihn gern als Führer für Wanderungen. Öffentlichkeitsarbeit war ein Teil des Rangerberufs, und es war wichtig, ein Bewusstsein für die Zerbrechlichkeit des Ökosystems bei den Besuchern zu wecken.

Jake war froh, wenn er keine Gruppen betreuen musste, da schlug er sich doch lieber mit aggressiven Grundbesitzern und Farmern herum. »Werden wir ja sehen.« Er klopfte auf die Tür und ließ den Wagen anrollen.

»Was willst du denn unternehmen?«, wollte Rob wissen. Er hatte halblange, braune Haare, und die Frauen mochten seine witzige Art. Seiner Freundin gefiel es weniger, dass er ständig mit den Touristinnen flirtete.

»Ich fahre zu Alun, zeige ihm den Vogel und hoffe, dass er mir helfen kann.« Alun Brace war Sergeant der Polizei in Towyn und zuständig für alle Wildlife- und Umweltbelange.

»Den Weg kannst du dir sparen, ich hab ihn vor einer Stunde in Beddgelert getroffen. Da war er auf dem Weg nach Caernarfon.« Robs Telefon klingelte. Der Ranger schaute aufs Display und verdrehte die Augen. »Aileen. Sie ist ziemlich kontrollsüchtig geworden. Wenn das so weitergeht, weiß ich auch nicht ...«

»Sie ist ein nettes Mädchen, Rob, sei nachsichtig. Sie hat ja auch allen Grund, sich Sorgen zu machen, oder nicht?«

»Unsinn! Ein Mann braucht ein gewisses Maß an Freiheit, das lasse ich mir nicht nehmen. Entweder sie kommt damit klar oder nicht. Sehen wir uns heute Abend im White Horse?«

»Ich kann’s nicht versprechen. Mach’s gut, Rob!«

Jake fuhr zu seiner Station, die sich auf dem Weg nach Beddgelert befand. Die Stationen der Ranger waren über den gesamten Nationalpark verteilt. Jakes bestand aus zwei Lagerhallen, in denen ein Büro und eine Werkstatt untergebracht waren. Auf dem Hof lagerte Holz und in den Hallen weiteres Material, das zum Bau von Nistkästen und Tierfallen benötigt wurde. Neben vielen anderen Dingen war Jake für die Kontrolle der Vogelbestände zuständig.

Er brachte die tote Kornweihe in den Kühlraum. Ein Jammer um das schöne Tier, dachte er, beschriftete die Aufbewahrungsbox mit Datum und genauem Fundort und ging in sein Büro. Vorher warf er einen Blick in die Werkstatt, doch Caleb war nicht dort. Caleb Ash gehörte zu einer Reihe von Aushilfen, die über handwerkliche Fähigkeiten verfügten, Zäune und Holzstege ausbesserten, beim Bau von Nistkästen und dem Aufstellen von Informationstafeln halfen. Jake mochte den derben Mann nicht sonderlich, den er mehr als ein Mal dabei erwischt hatte, wie er seine Unterlagen durchstöberte. Aber Caleb war ein Freund von Boswick und seit Jahren hier beschäftigt. Jake versuchte, das Beste aus ihrer Zusammenarbeit zu machen, und schloss die Unterlagen weg, die nicht für Calebs oder Boswicks Augen bestimmt waren. Denn Jake war sich ziemlich sicher, dass Caleb alles, was er hier hörte und sah, brühwarm seinem Vorgesetzten servierte.

Sein Magen knurrte, als er sich vor den Computer setzte und rasch die eingegangenen Mails überflog. Nichts, was nicht warten konnte, dachte er und griff zum Telefon, um Alun anzurufen.

»Hey, Jake, wen soll ich für dich verhaften?«, begrüßte ihn Alun Brace.

Die Männer hatten sich kurz nach Jakes Ankunft in Snowdonia vor sieben Monaten bei der Suche nach einem illegalen Vogeleierdieb kennen- und schätzen gelernt. Brace war ein walisischer Name und bedeutete fett, was auf niemanden weniger zutreffen mochte als auf Alun, einen eher kleinen, doch in diversen Kampfsportarten erfahrenen Polizisten.

Jake lachte. »Erschießen wäre noch besser!«

»Lass mich raten. Craddock hat wieder zugeschlagen?«

»Eine Kornweihe. Verdammt, die sind so selten geworden. Was geht nur in seinem Kopf vor?«

»Willst du das wirklich wissen?« Alun war schwer zu verstehen, da im Hintergrund Verkehrsgeräusche und eine Sirene lärmten.

»Ich brauche Beweise, einen Projektilvergleich. Dann ...«, versuchte es Jake.

»Vergiss es. Das haben wir doch schon durchgekaut. Du musst ihn auf frischer Tat ertappen. Leg dich auf die Lauer oder stell ihm eine Falle. Aber ich bin mir nicht mal sicher, dass er das tatsächlich selbst macht. Oliver Craddock ist ein widerlicher alter Sack, aber er hat eine künstliche Hüfte und ist mehr auf dem Golfplatz unterwegs. An deiner Stelle würde ich ein Auge auf seinen Sohn haben. Dem traue ich einiges zu. Dazu wollte ich dir sowieso noch etwas sagen ... Verflucht, jetzt fährt der Idiot doch tatsächlich wieder an. Ich melde mich später. Hier hat es einen Auffahrunfall gegeben.«

Das Gespräch war beendet, aber Jake war nicht unzufrieden. Alun hatte Neuigkeiten für ihn, was die Craddocks betraf, das war immerhin etwas. In den folgenden zwei Stunden erledigte Jake den auf seinem Schreibtisch liegen gebliebenen Papierkram, führte Telefonate mit einer Vertreterin des Wildlife Trust in Bangor und erreichte auch die für Schulveranstaltungen zuständige Dame des RSPB, der Royal Society for the Protection of Birds. In der letzten Ferienwoche würde sich Jake einen Nachmittag lang den Fragen interessierter Kinder stellen und ihnen erklären, was Eulen so besonders machte. Von allen Pflichtveranstaltungen waren ihm die mit den kleineren Kindern die liebsten, denn die begeisterten sich noch für die Analyse von Eulengewöllen.

Er schaltete den Computer aus und verpackte eine Tüte mit Eulengewöllen, um sie ans Labor in Bangor zu schicken. Es ging um eine neue Studie zum Beuteverhalten der Schleiereulen, die zu seinen persönlichen Lieblingstieren gehörten. Es lag am Ausdruck der weisen, dunklen Augen, die aus dem schneeweißen Federkleid, dass das Eulenköpfchen beinahe herzförmig einrahmte, auf einen herunterblicken konnten.

Nachdem Jake sein Paket auf der Poststation in Penrhyndeudraeth aufgegeben hatte, entschied er sich für einen Abstecher nach Portmeirion. Er mochte Birdie. Die Frau strahlte eine Wärme und Lebensfreude aus, wie er es selten bei einem Menschen gefunden hatte. Außerdem hatte sie seine Fotografien gelobt, und er gestand sich ein, dass ihm das geschmeichelt hatte. Auf seinen beruflichen Streifzügen durch die Natur machte er ständig Bilder, doch seitdem Birdie ihn auf die Qualität einiger seiner Aufnahmen hingewiesen hatte, achtete er vermehrt auf perfekte Bildausschnitte und Stimmungen. Darüber hinaus unterhielt er sich gern mit ihr. Sie war auf eine erfahrene Weise klug, ohne belehrend sein zu wollen. Auch das war eine Rarität, die er zu schätzen wusste.

Der Parkwächter am Schlagbaum von Portmeirion ließ ihn ohne Weiteres hindurch, und Jake brachte seinen Wagen hinter dem Restaurant zum Stehen. Als er die Wagentür zuwarf, nahm er den Duft von Pilzen und Langusten wahr. Das Restaurant war für seine raffinierten und stets frisch zubereiteten Gerichte bekannt. Leider überstiegen die Preise sein bescheidenes Budget, aber auch das Café bot anständiges Essen. Und das konnte er sich leisten.

Die Arbeit am Schreibtisch hatte ihm gutgetan, und seine Wut war verflogen, als er nun über die Piazza spazierte. Jake winkte einem älteren Herrn zu, der in seinem dunklen Anzug wie ein Relikt aus den zwanziger Jahren, aber seltsamerweise nicht fehl am Platz wirkte. Mit zwei Sätzen war er die Stufen zur umlaufenden Loggia emporgesprungen und verlangsamte seine Schritte. Etwas war anders als sonst. Die Tür von Birdies Geschäft war zwar offen, doch die Kartenständer und das Regal mit den Bechern standen nicht draußen. Nebenan schien alles wie immer. Er hörte die gelangweilte Stimme der Verkäuferin, deren Gesichtsausdruck sich veränderte, als sie ihn entdeckte.

Jake fuhr sich durch die kurzen, dunklen Haare und betrat den Laden. »Hallo!« Suchend sah er sich um.

Doch anstelle von Birdies Lockenschopf entdeckte er eine Fremde hinter dem Verkaufstresen. Nein, dachte er, wo hatte er diese ernsten, herausfordernden Augen schon gesehen? Die junge Frau war nicht auf den ersten Blick schön, aber sie hatte ein interessantes Gesicht und eine sportliche Figur. Hatte sie gestern in Birdies Einfahrt gestanden?

»Guten Tag«, sagte sie und schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein. Sie wirkte bedrückt, und ihre Augen sahen aus, als hätte sie geweint.

»Hallo. Eigentlich wollte ich zu ...« Er zögerte kurz, weil er Birdie nur unter ihrem Spitznamen ansprach. »Mrs Bennett. Ich möchte mit Mrs Bennett sprechen. Ist sie nicht hier?«

Die Lippen der jungen Frau zitterten, und sie wischte sich kurz über die Augen. »Nein«, sagte sie leise. »Sie wurde heute Morgen ins Krankenhaus gebracht. Kann ...« Sie räusperte sich. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Das tut mir sehr leid! Wie geht es ihr? Darf ich fragen, was ihr fehlt? Ich hatte nicht den Eindruck, dass Birdie krank ist.« Er lächelte zaghaft. »Vielleicht sollte ich mich vorstellen. Mein Name ist Jake Parry. Mrs Bennett ist so freundlich, einige Fotografien von mir in Kommission zu verkaufen.«

Die Anspannung wich aus dem Gesicht der jungen Frau, und sie streckte ihm die Hand entgegen. »Meine Tante hat mir von Ihnen erzählt. Sie hält viel von Ihren Bildern. Caitlin Turner.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie sanft. »Freut mich sehr, Caitlin. Ich mag Ihre Tante, sie ist ein besonderer Mensch. Was ist passiert?«

Seufzend fuhr sich Caitlin durch die Haare, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen. »Ihr Herz. Ich wusste nicht, wie krank sie ist. Sie hat mir nie etwas gesagt! Und ich mache mir Vorwürfe, dass ich nichts bemerkt habe! Ich hätte doch sehen müssen ...«

»Ihre Tante ist nicht der Typ, der sich eine Krankheit eingesteht. Jedenfalls schätze ich sie so ein. Ich meine, ich kenne sie nicht so lange wie Sie, aber sie wirkte immer sehr fit für ihr Alter, resolut und ... nun ja ... Sie werden es besser wissen.«

Caitlin schniefte und drückte sich ein zerknittertes Taschentuch gegen die Nase. »Sie ist nie ernsthaft krank gewesen. Ich kenne das nicht von ihr, und deshalb ist es wie ein Schock. Obwohl ich es mir hätte denken können, denn sie hat mich hergebeten, weil sie ins Krankenhaus musste. Aber sie hat nicht gesagt, warum, nur eine Routinesache. Ach!« Verärgert warf Caitlin das Tuch in den Papierkorb und sah zur Tür, durch die sich eine Familie mit drei kleinen Kindern drängte. Die Jungen rannten sofort zu einem Regal und zogen Keramikbecher mit Tiermotiven heraus.

»Guten Tag, geben Sie bitte acht mit den ...« Die Warnung kam zu spät, denn es klirrte und ein Junge weinte.

Die Mutter kümmerte sich nicht weiter um die Scherben, sondern nahm ihren Sohn an der Hand und sagte: »Gleich bekommst du ein Eis, mein Schatz.«

Caitlin kam hinter dem Tresen hervor, um sich den Schaden anzuschauen. »Alles in Ordnung? Hat sich niemand verletzt?«

Der Familienvater hob die Schultern. »Tut uns leid, aber es ist auch sehr eng hier drinnen. Dafür haben Sie ja eine Versicherung, nicht wahr? Schönen Tag noch.«

Und schon war die Familie verschwunden. Cait starrte fassungslos zur Tür. »Das gibt’s ja wohl nicht! Wie frech ist das denn?«

Jake kam grinsend mit einem Mülleimer zu ihr. »Kein Wunder, dass Ihre Tante Herzprobleme hat ... Ich würde ausrasten.«

In Caitlins Augen blitzte es humorvoll auf. »Verkauf ist nicht jedermanns Sache. Ich sollte eigentlich an absurde Auswüchse aller Art gewöhnt sein, trotzdem überraschen mich Menschen immer wieder aufs Neue.«

»Sind Sie Eventmanagerin oder so etwas in der Richtung?« Jake sammelte die Scherben in den Mülleimer.

»Eine Wohnung einzurichten ist irgendwie auch ein Ereignis, immer wieder, manchmal lieben die Kunden meine Ideen, manchmal nicht.« Caitlin holte einen Lappen und wischte die restlichen Splitter auf eine Zeitung. »Dann wird es schwierig, spannend oder einfach nur anstrengend.«

Jake rückte die Becher gerade und folgte Caitlin zum Verkaufstresen. »Aber Sie mögen, was Sie tun?« Diese sportliche, ungekünstelte Frau entsprach so gar nicht dem Bild von Vertretern ihres Berufsstands, denen er in London begegnet war.

»Sonst würde ich es nicht tun«, war die schlichte Antwort.

»Das ist eine bemerkenswerte Einstellung.«

»Hören Sie, Jake, ich schließe hier gleich ab, weil ich mich um tausend Dinge und vor allem um meine Tante kümmern muss. Falls Sie etwas wegen Ihrer Bilder wissen wollen, müssen wir das auf morgen verschieben.« Sie hängte sich ihre Tasche über die Schulter und klimperte mit einem Schlüsselbund.

»Das hat Zeit. Bitte grüßen Sie Birdie von mir. Ich wäre Ihnen verbunden, wenn ich Sie anrufen dürfte, um mich nach ihr zu erkundigen.« Er sah sie bittend an.

Caitlin überlegte kurz, seufzte und schrieb eine Mobilfunknummer auf einen Zettel. »Bitte.«

Während der gesamten Rückfahrt nach Beddgelert, wo er eine Wohnung gemietet hatte, dachte er an Birdie und ihre Nichte. Vielleicht ein wenig öfter an ihre Nichte, denn er fand sie nicht weniger bemerkenswert als ihre Tante, und Caitlin war in seinem Alter.

Kapitel 5

 

Von Portmeirion aus fuhr Caitlin direkt zum Haus ihrer Tante. Penelope wartete bereits vor der Tür.

»Hallo, Penny, auf dein Frauchen wirst du eine Weile verzichten müssen, fürchte ich ...« Caitlin beugte sich hinunter und streichelte die Katze, die schnurrend um ihre Beine strich.