Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Nach ihrem ersten Urlaub auf Wordwell Rose hat es die Meldwin-Schwestern Susan, Mary, Jess und Roseanne immer wieder zu dem Anwesen gezogen. Und zu seiner Hausherrin Miss Milton. Doch ausgerechnet als es in ihrem Leben eh schon turbulent zugeht, geschieht eine unglaubliche Tragödie.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 321
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für alle, die durchgehalten haben Und für die, die sich damit etwas schwer tun
Der Tag ist aus, und nun - wie himmlisch wohl wird's tun, Vergessend seine Müh'n in sanftem Schlaf zu ruhn.- Es war ein harter Tag. Vorüber und vorbei!
Marie von Ebner-Eschenbach
7. April
Prolog
TEIL 1 – AUF EIGENEN WEGEN
5. März
Kapitel 1 – Susan
15. März
Kapitel 2 – Mary
21. März
Kapitel 3 – Jess
Kapitel 4 - Roseanne
26. März
Kapitel 5 – Mary
28. März
Kapitel 6 - Jess und Roseanne
7. April
Kapitel 7 - Susan
TEIL 2 – WIEDER VEREINT
8. April
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
9. April
Kapitel 11
Kapitel 12
10. April
Kapitel 13
Kapitel 14
11. April
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
12 April
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Musik aus dem Buch
Das letzte Lied der Playlist war gerade verklungen und Betsy hatte noch keine neue ausgesucht, weshalb Susan ihr Telefon klingeln hörte. Sie sah auf das Display und entdeckte, dass Ben schon elf Mal versucht hatte, sie anzurufen. Schuldbewusst biss sie sich auf die Lippe und nahm ab.
»Ben, es tut mir so leid! Wir hatten die ganze Zeit die Musik laut«, überfiel sie ihn, noch ehe er irgendetwas sagen konnte.
Am anderen Ende der Leitung war es einen Moment still. Dann: »Du bist auf einer Party?«
»Nur eine spontane Karaokenacht. Was gibt's denn so Dringendes?«
Ben zögerte. »Ähm, vielleicht sollten wir lieber morgen darüber sprechen. Ich will dir nicht die Stimmung verderben.«
Das hätte er natürlich nicht sagen dürfen. Susan setzte sich aufrecht hin und bedeutete Betsy, den nächsten Song noch nicht abzuspielen. »Ben, was ist los?«, fragte sie in ihrer autoritären Stimme, mit der sie normalerweise nur ihre Schwestern zur Ordnung rief.
»Okay, du musst jetzt tief durchatmen. Halt dich am besten irgendwo fest.« Was er ihr als nächstes sagte, ließ ihr den Mund offen stehen. Dann begann sie, herzzerreißend zu schluchzen.
Susan kam eigentlich nie unpünktlich. Sie überprüfte jeden Abend ihren Wecker, am liebsten dreimal, nur um auf der sicheren Seite zu sein. Doch heute stimmte irgendetwas nicht.
Als sie die Augen aufschlug, schien allerdings alles wie immer. Draußen war es noch dunkel, nur die Straßenlampe schickte ihre dünnen Lichtfinger durch die Jalousie herein. Trotzdem hatte Susan ein ungutes Gefühl. Endlich wagte sie es, einen Blick auf den Wecker zu werfen. Ja, der zeigte kurz nach sieben. Sie hatte über eine Stunde verschlafen – und den Bus gerade verpasst. Verflixt, warum hatte der blöde Wecker auch nicht geklingelt? Sie untersuchte ihn, fand aber keinen Fehler. Hatte sie ihn gestern Abend aus Versehen ausgestellt?
Wie auch immer, das half ihr jetzt nicht mehr wei ter. Sie musste sich damit abfinden, dass sie heute zu spät kommen und sich einen Tadel vor ihrem gesamten Kurs von Professor Inglethorp einhandeln würde. Den nannten alle nur den Henker, weil in seinen Kursen regelmäßig die Hälfte durchfiel. Vielleicht würde er ja bei ihr etwas Nachsicht walten lassen, weil sie zu seinen besten Studierenden zählte. Vielleicht würde die Rüge aber auch umso heftiger ausfallen, schließlich hätte sie ihn ja so furchtbar enttäuscht. Dann musste sie sich eben mehr anstrengen, um nicht ebenfalls durchzufallen. Sie würde das schon schaffen.
Nach einer starken Tasse Instantkaffee – egal, wie spät es war, Kaffee musste sein – schloss sie die Wohnungstür hinter sich ab und schaute auf ihre Armbanduhr. Fertig in nur sieben Minuten! Ein neuer Rekord! Damit erwischte sie ihren Bus zwar auch nicht mehr, aber trotzdem fühlte sie sich besser.
Im Foyer des Wohnheims traf sie ihren Kommilitonen Aidan, der zwei Stockwerke unter ihr wohnte und der gerade sein Fahrrad aus dem Keller hievte.
»Nanu, Susy, was machst du denn noch hier?«, fragte er verblüfft. Normalerweise saß sie schon auf ihrem Platz, wenn er im Seminarraum ankam.
Sie seufzte. »Ich hab verschlafen. Du kannst ja dem Henker schon mal vorsichtig beibringen, dass ich heute später komme.«
»Also nein, Susy! Ausgerechnet du!«, zog er sie grinsend auf.
Sie zuckte defensiv mit den Schultern.
Plötzlich blitzte es in seinen braunen Augen schelmisch auf. »Vielleicht muss ich das dem Henker auch gar nicht sagen. Komm mit!« Er zog sie am Ärmel zur Tür hinaus. »Du musst dich nur gut festhalten«, sagte er und deutete auf seinen Gepäckträger.
»Du meinst?«, fragte sie ungläubig.
Er nickte. »Jap. Es könnte ein bisschen holprig werden, aber wenn ich mich beeile, schaffen wir es beide noch pünktlich zur Vorlesung.«
»Großartig, Aidan! Vielen, vielen Dank!«
Er schwang sich auf sein Fahrrad und hielt es im Gleichgewicht, während sie vorsichtig auf dem Gepäckträger Platz nahm. Dann packte sie seine Taille just in dem Moment, als er sich mit Schwung abstieß. Geschickt fädelte er sich in den dichten Verkehr auf den Straßen zwischen den rußgeschwärzten Sandsteinfassaden ein.
***
Aidan war noch ganz außer Puste, als er sich auf seinen Platz fallen ließ. Nicht nur hatte er seine persönliche Bestzeit unterboten, er hatte auch noch die Treppen zum dritten Stock des Sanderson Buildings erklimmen müssen.
Susan tätschelte ihm die Schulter. »Das war hervorragend, Aidan, nochmals vielen, vielen Dank! Dafür hast du was gut bei mir.«
Er schob sich eine verirrte Locke aus der Stirn, die sich aus seinem Haarknoten gelöst hatte, und schien plötzlich viel wacher als noch vor ein paar Sekunden.
»Kann ich dich darauf festnageln? Ich wüsste da nämlich schon was.«
»Und das wäre?“, fragte Susan, alarmiert von seiner plötzlich eingetretenen guten Laune. Sie bereute, dass sie ihr Schicksal so freimütig in seine Hände gelegt hatte. Aidan war zwar ein netter Kerl, aber ihm saß auch der Schalk im Nacken.
»Nichts, wovor du dich fürchten müsstest. Ich will nur, dass du dich beim nächsten Karaokeabend nicht schon wieder mit irgendeiner Ausrede vor deinem Auftritt drückst.« Er grinste breit.
Sie hatte es gewusst! Sie hätte ihm keine voreiligen Versprechungen machen dürfen. Verzweifelt sah sie ihn an. »Das sind keine Ausreden! Ich will euch einfach nur meinen Katzenjammer ersparen, schließlich will ich noch ein paar Jahre mit euch befreundet sein.«
»Das glaub ich dir nicht. Komm schon, nur ein Lied. Das können wir aushalten. Und wenn es wirklich so furchtbar ist, wie du behauptest, lassen wir dich danach auch für den Rest deines Lebens in Ruhe.«
Susan seufzte tief. »Na gut. Ein einziges Lied. Aber ich darf es mir aussuchen!« Sie piekte ihn mit dem Zeigefinger in seine bärtige Wange.
»Na klar!«, rief er lachend und rückte von ihr ab. Dann wurde sein Gesicht mit einem Schlag ernst, als vorne am Pult ihr Professor erschien.
Der legte seine Unterlagen ab und warf einen ab schätzigen Blick auf die Gebärdendolmetscherin, die am Tisch neben ihm saß, bevor er begann: »Guten Morgen, meine Herren - « er machte eine kurze Pause und schaute zu Susan und ihren zwei Kommilitoninnen. » - und meine Dämlichkeiten«, fügte er gedehnt hinzu, aber wenn er sich Lacher von den Studenten erhofft hatte, dann wurde er enttäuscht. Ihm schlugen nur eisiges Schweigen und unbeeindruckte Blicke entgegen.
Den meisten Jungs waren die drei Mädchen zu Beginn ihres Studiums ziemlich deplatziert vorgekommen. Aber inzwischen waren sie in ihrem dritten Studienjahr und die jungen Frauen zählten zu den besten im Jahrgang. Deswegen wunderten sich alle über die nach wie vor chauvinistische Haltung des Professors. Die einzige Hoffnung aller war, dass er so schnell wie möglich in Rente ging. Alt genug dafür schien er ja zu sein.
***
In der Mittagspause war Inglethorps Seminar mal wieder das am heißesten diskutierte Thema:
»Gott, kann den nicht einfach der Schlag treffen? Allein schon die Begrüßung war ja oberpeinlich, aber dass er dann auch noch Nimrat einfach ignoriert, weil sie gehörlos ist, ist doch nicht mehr normal.«
»Nichts ist bei dem Typen normal. Wir sollten ihn melden, er hat sich schließlich diskriminierend verhalten. Er kann eine Studentin nicht einfach wegen ihrer Behinderung nicht teilnehmen lassen.«
»Vor allem, wenn sie so brillant ist! Er kennt doch ihre Testergebnisse. Und ich wette mit euch, dass er eher auf sie reagieren würde, wenn sie weiß wäre.«
»Denkst du? Ich glaube, er findet generell jeden schlecht, der nicht männlich, gesund und Schotte ist.«
»Ein Grund mehr, ihn endlich loszuwerden. Ich red‘ mal mit dem StuKo, die müssten doch wissen, was man da beachten muss.«
»Gute Idee! Ich komm mit. Wollen wir das gleich heute machen? Die haben später noch Sitzung.«
»Na das passt doch perfekt. Dann fragen wir zwei einfach mal nach und sagen euch später, was draus geworden ist.«
»Vielleicht solltet ihr noch Nimrat fragen, was sie davon hält? Ich meine, es geht hier schließlich um sie und auch wenn das in unseren Augen das Richtige ist, sollten wir trotzdem auf ihre Meinung hören.« Susan musste an den Vorfall denken, bei dem sie dem Ex-Freund ihrer Schwester eine Liebelei angedichtet hatte, die es gar nicht gegeben hatte. Sie wollte kein zweites Mal den Fehler machen, hinter dem Rücken anderer für sie zu entscheiden.
»Ich glaube zwar, dass sie einverstanden sein wird, weil es sie enorm entlastet. Aber wenn es dich glücklicher macht, geh ich sie gleich mal suchen.«
»Danke. Du kannst ja zum Glück Gebärdensprache.« Damit standen Dev und Lee, die beiden Jungs, die mit der Studierendenvertretung reden wollten, von ihrem Tisch auf und verabschiedeten sich mit ihren Tabletts.
»Warum ist dir so wichtig, dass sie Nimrat vorher fragen?«, wollte Aidan wissen, während er Kartoffelmus in einer Geschwindigkeit in sich hineinschaufelte, als sei er auf der Flucht.
Susan sah ihn lange darüber staunend an, dann sagte sie: »Ich hab vor ein paar Jahren mal schlechte Erfahrungen damit gemacht, über den Kopf von jemandem hinweg zu entscheiden. Hat meine Schwester, zumindest teilweise, die Beziehung gekostet.«
»Hui, das ist natürlich der Super-GAU. Okay, da kann ich deine Bedenken total verstehen. Aber ich glaube schon, dass Nimrat sich freut, dass wir uns für sie einsetzen. Als muslimisches gehörloses Mädchen hast du normalerweise keine große Lobby.«
»Stimmt. Aber wir sollten trotzdem lieber auf Nummer sicher gehen. Und uns langsam beeilen«, sagte sie mit Blick auf ihre Armbanduhr, »ich will nicht schon wieder so haarscharf kommen wie heute früh.«
Aidan verschluckte sich fast, als er eilig den Rest seines Mittagessens vertilgte, und ihr dann hinterher hastete.
***
Später am Nachmittag saßen Susan und ihre Freunde vor der Uni und besprachen die Pläne für den Abend. Im Programmkino ein paar Straßen weiter gab es einen Film, den Studierende der Königin-Margaret-Uni produziert hatten und der sich ganz vielversprechend anhörte. Aber auch die Aussicht auf einen entspannten Abend in einer der vielen Kneipen, die rund um die Royal Mile versammelt waren, klang durchaus verlockend. Da kamen Dev und Lee um die Ecke, mit zufriedenen Gesichtern und in Begleitung von Nimrat.
»Tolle Neuigkeiten!«, verkündete Dev und Lee neben ihm übersetzte das Ganze für Nimrat in Gebärdensprache. »Der StuKo meint, dass wir für unseren Antrag gute Chancen haben. Der Henker muss sich mindestens auf eine persönliche Abmahnung vom Rektor gefasst machen. Aber da wir anscheinend nicht die einzigen sind, die sich beschweren wollen, könnte er sogar gefeuert werden.«
Die Gruppe jubelte, das erkannte auch Nimrat an den hochgerissenen Armen und den lachenden Gesichtern. Um zu zeigen, dass sie speziell mit Susan reden wollte, tippte sie sie an der Schulter an. Als sie Susans Aufmerksamkeit hatte, berührte sie Lee am Arm und bedeutete ihm, für sie zu übersetzen. Dann gebärdete sie: »Danke Susan, dass du den anderen gesagt hast, sie sollen mich fragen.«
Susan lächelte und zuckte die Schultern. »Das ist doch selbstverständlich« entgegnete sie, was Lee wieder in Handzeichen übersetzte.
Nimrat schüttelte den Kopf. Mit fliegenden Händen und ausdrucksstarker Mimik sagte sie: »Das machen die wenigsten. Viele nehmen mich wegen meiner Taubheit, und meines Kopftuchs, nicht immer für voll.«
»Das ist doch bescheuert!«, rief Susan. »Umso wichtiger, dass wir als deine Freunde dir helfen, wo du es nicht kannst.« Sie wartete, bis Nimrat verstanden hatte, dann fügte sie hinzu: »Komm doch heute Abend mit. Wir wollen gleich noch was trinken gehen, glaube ich.«
Nimrat lächelte und bedankte sich, schüttelte aber den Kopf. »Das ist lieb gemeint, aber so richtig gehöre ich ja doch nicht dazu.« Sie stutzte kurz und schob dann die Luft vor sich zur Seite, womit sie das eben Gesagte quasi strich. Sie begann von Neuem: »Ich meine, ihr hört, ich nicht. Der Unterschied wird immer da sein. Da könnt ihr aber nichts dafür. Außerdem kann ich nicht immer Lee strapazieren, für mich zu übersetzen. Ich geh lieber heim, da wohne ich in einer WG mit anderen Gehörlosen. Und außerdem darf ich keinen Alkohol trinken.«
»Stimmt! Entschuldige, das hatte ich ganz vergessen. Dann sehen wir uns morgen, ja?« Susan lächelte, wenn auch ein wenig geknickt. Sie hörte es nicht gern, wenn Leute sich ausgeschlossen fühlten, aber sie wusste im ersten Moment auch nicht, wie sie das hätte ändern können.
Nimrat winkte ihr und den anderen zu, dann ging sie zur nahegelegenen Bushaltestelle.
Susan wollte sich zurück zu den anderen drehen, als plötzlich ihr Telefon klingelte. Sie fing an zu strahlen, als sie den Anrufernamen las. »Hey Ben, das ist mal eine schöne Überraschung!«
Ihr Freund lachte am anderen Ende der Leitung.
»Ist es so überraschend, dass ich deine Stimme hören will?«
»Natürlich nicht, aber wir haben ja normalerweise andere Telefonzeiten.«
»Stimmt, aber ich muss dir etwas erzählen, das nicht bis morgen Abend warten kann.«
Susan war inzwischen aufgestanden und ein Stück gegangen, nicht ohne Aidan vorher zuzuflüstern, wen sie da an der Strippe hatte, damit die anderen nicht ohne sie aufbrachen. Aidan hatte Ben auch schon kennengelernt und sich auf Anhieb gut mit ihm verstanden. Danach hatte er seine heimliche Schwärmerei für Susan endgültig begraben.
»Also, schieß los! Was ist so spannend?«
Ben machte noch eine kurze dramatische Pause, dann verkündete er: »Anne ist schwanger! Ich werde Onkel und du wirst Tante!«
Susan war einen Moment zu verblüfft, um etwas zu sagen, dann lachte sie lauthals auf. »Du klingst so verstört. Fürchtest du dich etwa davor?«
»Ein bisschen schon«, gab er zu.
»Aber es ist doch nicht unser Kind.« Susan hatte früh für sich entschieden, dass sie zwar Mutter sein wollte, aber keine leibliche. Eine Schwangerschaft kam für sie nicht infrage. Doch selbst für eine Adoption hatte sie noch ein paar Jahre Zeit.
»Trotzdem ist die Vorstellung, dass es bald ein klei nes menschliches Wesen gibt, das auch auf mich angewiesen ist, schon Ehrfurcht einflößend.«
»Das mag sein, aber das ist kein Hexenwerk. Deine Schwester wird dir alles beibringen, was du als guter Onkel wissen musst. Und ich bin ja auch bei dir.« Susan sah das alles ziemlich entspannt, sie hatte sich schon lange um ihre drei Schwestern mit gekümmert.
»Außerdem haben wir als Onkel und Tante den leichtesten und lustigsten Teil. Wir können mit dem Kind Ausflüge machen und es nach Herzenslust verwöhnen. Davor brauchst du echt keine Angst zu haben«, beruhigte sie ihn.
Ben atmete langsam aus. Die Anspannung, die seine Schultern im Griff gehabt hatte, seitdem ihm seine Schwester Anne die frohe Botschaft überbracht hatte, fiel von ihm ab. »So wie du das erzählst, klingt das schon fast nach Spaß.«
»Das ist es auch! Ich werd Anne morgen anrufen, um ihr zu gratulieren. Heute Abend will ich noch mit Freunden ausgehen.«
»Gut, dann sag ich ihr Bescheid. Dir viel Spaß heute Abend. Trink nicht so viel«, zog er sie auf.
»Pff, du warst es doch, der mich geheilt hat. Ich habe manchmal noch heute den pelzigen Geschmack auf der Zunge, den mir dein billiger Wein damals beschert hat. Aber ja, Spaß werd ich haben. Gute Nacht mein Schatz.«
»Gute Nacht. Ich liebe dich«, sagte Ben leise lachend.
»Ich liebe dich auch« erwiderte Susan andächtig lächelnd. Dann legte sie auf und ging wieder zu ihren Freunden, die sich gerade im Aufbruch befanden.
»Na, was gab es denn so Wichtiges?«, fragte Aidan und bot ihr seinen Arm an, in den sie sich einhakte.
»Das erzähl ich dir gleich. Erst mal will ich wissen, auf welches Pub wir uns jetzt geeinigt haben!«
Hey, wie war dein Tag bisher? Lust auf ein Video-Date heute Abend? Ich hab Sehnsucht nach dir!
xoxo Jim
Hi! Der war ganz okay, ich hab ein Essay über die Uniformen der evolution 1916 schreiben müssen. Ah, tut mir leid, aber ich muss heute arbeiten. Ich sag dir Bescheid, wann es besser passt! Kuss, Mary
Mary kaute auf ihrer Lippe, als sie die Nachricht tippte. Das war so zwar nicht gelogen, sie musste heute wirklich noch arbeiten. Aber nur bis zehn, danach hätte sie noch ganz bequem mit Jim chatten können. Sie hatte aber vor, ihre Kollegen heute Abend zu fragen, ob sie mit ihr was trinken gehen wollten. So sehr sie Jim auch vermisste, ihr war im Moment lieber danach, mit echten Leuten auszugehen, als sich allein auf ihrem Zimmer mit der virtuellen Version ihres Freundes zu unterhalten.
Sie seufzte, steckte ihr Telefon ein und ging zur Bushaltestelle, wo sich schon eine Menschentraube unter bunten Regenschirmen verkrochen hatte. Heute hatte sich das Wetter dazu entschieden, jegliches Klischee über Irland zu erfüllen. In den zwei Jahren, die sie jetzt schon in Dublin studierte, hatte sie festgestellt, dass es meistens viel schöner war als die Leute, selbst die Iren, immer behaupteten. Nur heute nicht. Ausgerechnet heute, wo sie ein bisschen Sonnenschein gut hätte gebrauchen können, um ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen.
Sie hatte schon damit gerechnet, mindestens einen Bus ziehen zu lassen, weil er zu voll war. Doch schon im ersten, der in ihre Richtung fuhr, war genug Platz für alle. Und es dauerte gar nicht so lange, bis sich alle Wartenden in den Bus gequetscht hatten. Darin war es kuschelig warm und wegen der nassen Klamotten der Mitreisenden so feucht wie in einer Sauna. Mit jedem Atemzug beschlugen die Scheiben ein bisschen mehr.
Doch nicht nur die. Mary musste ihre Brille abnehmen, weil sie nichts mehr sah. Die hatte sie nach dem Sehtest für ihren Führerschein bekommen. Erst da hatte sie gemerkt, wie unscharf ihr Blick eigentlich gewesen war. Anfangs hatte sie die Vorstellung, eine Sehhilfe tragen zu müssen, ziemlich befremdlich gefunden. Aber inzwischen fand sie sich mit Brille doch ganz hübsch. Sie hatte sich für ein großes, eckiges Gestell mit Leopardenmuster entschieden und sich noch eine weinrote Sonnenbrille in Schmetterlingsform anfertigen lassen.
Nachdem ihre Brille wieder klar war, wischte Mary mit dem Ärmel ihres Pullis die Scheibe vor sich sauber, um hinaussehen zu können. Im Obergeschoss vorne links, da saß sie am liebsten. Sie fuhr eigentlich gerne Bus, auch wenn die Dubliner oft auf die vermeintliche Unpünktlichkeit schimpften. Aber das war ihr bisher noch nie so richtig passiert. Und solange sie sich an den Rat einer Kommilitonin hielt und die Linie 18 mied, würde das wahrscheinlich auch nicht so schnell vorkommen. Außer die Busfahrer entschlossen sich zum Streik, was sie letztes Jahr schon erlebt hatte. Doch dann lief sie eben von zu Hause zur Uni oder zur Arbeit. Ein Spaziergang durch Dublin lohnte sich sowieso immer.
Als Mary ausstieg, schaute sie zum Himmel und schüttelte den Kopf. Das war typisch. Es hatte aufgehört zu regnen und zwischen den dicken grauen Wolken lugte sogar die Sonne hervor. Doch bestimmt würde es in wenigen Minuten schon wieder ganz anders aussehen. Trotzdem lächelte sie, als sie die wenigen Meter bis zum Black Horse ging, dem Pub, in dessen Küche sie arbeitete. Es war früher Nachmittag, deswegen war der Schankraum kaum besucht. Nur in einer Ecke saßen zwei Bauarbeiter, die sich über ihren Pie mit Erbsen und Champ hinweg unterhielten.
»Hallo Sam!«, rief sie dem robusten walisischen Barkeeper zu, bevor sie durch die Flügeltüren in den hinteren Bereich des Pubs verschwand. Auf dem Weg zur Umkleidekabine kam ihr ihre Chefin entgegen, die gehetzt ins Büro rannte, ohne Mary einen Blick zu überlassen. Mary sah ihr nach und zuckte nur die Schultern. Anfangs hatte sie das noch persönlich genommen, inzwischen aber wusste sie, dass das einfach zum normalen Stress bei der Führung einer Kneipe gehörte.
Nachdem sie sich umgezogen und ihre langen Haare unter einem Haarnetz und einer Mütze versteckt hatte, ging sie in die Küche. Hier waren die Geräte und Möbel verrückt worden, zwischen das Aroma von gebratenem Fleisch mischte sich der beißende Geruch von Putzmitteln. Sie desinfizierte sich die Hände, dann spähte sie hinter das rollbare egal, auf dem die Mikrowellen standen.
»Dich sieht man auch selten auf Knien, Niall«, sagte sie scherzend und klopfte ihrem Kollegen auf die Schulter, der gerade die Fußleisten abwischte.
»Haha, ich freue mich auch, dich zu sehen, Mary. Schnapp dir lieber einen Lappen und eine Flasche Desinfektionsmittel. Die Arbeitsflächen warten nur auf dich.« Er grinste, als er zu ihr aufschaute.
»Mach ich! Es ist ja glücklicherweise nicht so viel los.«
»Deswegen putzen wir ja auch jetzt. Ich glaube auch nicht, dass heute noch viel passieren wird. Das Wetter draußen ist echt bescheiden.« Ihre Kollegin Mailin tauchte hinter dem Kühlschrank auf, um dessen Griffe zu säubern.
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, entgegnete Niall, »heute spielt Irland gegen Frankreich.«
»Im Six Nations Cup? Da muss ich meiner Schwester Jess noch Bescheid sagen, damit sie das nicht verpasst.«
Mailin drehte sich zu ihr, die Augenbrauen zusammengezogen. »Deine Schwester steht auf Rugby?«
»Oh, sie steht auf alle möglichen Sportarten. Sie hat mal ziemlich ambitioniert Lacrosse gespielt und ist dann ins Schwimmteam gewechselt. Jetzt nach der Schule hat sie sich dem Triathlon verschrieben.«
»Joah, so einen Triathlon absolviere ich auch jeden Tag vorm Frühstück«, sagte Niall grinsend, als er sich ächzend aufrichtete. Dann fragte er: »Und was machst du?«
Bevor Mary darauf antworten konnte, streckte Sam den Kopf durch die Durchreiche. »Einmal Eintopf mit Brötchen bitte!«
»Kommt!«, rief Niall und schob das egal zurück an die Wand. Dann nahm er eine Portion Eintopf, den die Frühschicht heute Morgen vor der Öffnung des Pubs zubereitet hatte, aus dem Kühlschrank und stellte sie in die Mikrowelle.
Währenddessen putzten Mailin und Mary die Küche fertig. Nach ein paar Minuten piepte die Mikrowelle, und auch der Backofen spuckte das fertiggebackene Brötchen wieder aus. Niall richtete das Essen an, dann klingelte er nach Sam und reichte es zu ihm durch. Nachdem der den Teller abgegeben hatte, drehte er sich um und stützte sich mit den Ellenbogen auf der Durchreiche ab. Es sah ziemlich lässig aus und dabei verrutschte seine schwarze Kochjacke. Da sah Mary zum ersten Mal etwas auf seinem Schlüsselbein, das aussah wie ein Drache. Niall hatte offensichtlich ein Tattoo! Das hatte sie nie von ihm erwartet, sie hatte ihn wesentlich weniger leichtsinnig und abenteuerlustig eingeschätzt. Obwohl man die Art, wie er dort vor ihr lümmelte, fast schon als lasziv bezeichnen konnte.
»Also, zurück zum Sport. Was machst du? Oder bist du nicht so der sportliche Typ?«, fragte Mailin noch einmal.
Mary sah sie abschätzend an, sie war sich nicht sicher, ob Mailin sich gerade über ihre Figur lustig gemacht oder das einfach nur so dahingesagt hatte.
Mailin hatte erst vor ein paar Wochen hier angefangen und Mary hatte bisher noch nicht oft mit ihr Schicht gehabt; sie selbst arbeitete ja nur Teilzeit. Sie entschied sich schließlich, die Bemerkung einfach zu ignorieren und nur ihre erste Frage zu beantworten.
»Ich turne, sowohl an Geräten als auch auf der Matte.« Sie konnte es nicht vermeiden, ihrer Stimme einen leicht schneidenden Ton zu verleihen.
Mailin zog die Augenbrauen zusammen und musterte sie von oben bis unten, so als traue sie ihr das bei den kräftigen Oberschenkeln gar nicht zu.
»Das klingt cool! Wie oft trainierst du?« Niall hingegen klang einfach nur begeistert.
Mary ließ ihre Kollegin links liegen und wandte sich an ihn. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Sie zuckte die Schultern. »Leider nur noch einmal in der Woche. Ich kriege es zeitlich nicht anders hin.«
»Na ja, das reicht ja auch, wenn du nebenher noch zur Uni gehst und arbeitest. Wobei ich auch gucken muss, dass ich Zeit fürs Training hab.«
»Was machst du?« Mary rückte etwas näher. Sie fand Niall interessant und konnte sich immer gut mit ihm unterhalten. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Mailin die Augen verdrehte und mit einem Thermometer bewaffnet die Temperaturen in der Salatbar kontrollierte. Mailins Verhalten interessierte Mary aber nicht weiter, sie wollte lieber mehr über Niall erfahren.
»Ich spiele Hurling, hast du dir das schon mal angeguckt? Den Sport gibt es eigentlich nur bei uns.«
Mary schüttelte den Kopf. »Nein, ich hatte noch nicht die Chance beziehungsweise die Zeit dazu. Aber ich will es gerne mal sehen. Und Gaelic Football auch. Ich kann mir das nicht so recht vorstellen, weißt du, dass du bei Fußball auch die Hände benutzen darfst.«
Er zuckte grinsend die Schultern. »Das ist doch beim Rugby nicht viel anders. Nur hat der Ball da eben eine etwas andere Form.«
Plötzlich ging hinter Niall die Scheibe zur Durchreiche wieder auf. »Macht euch auf einen Ansturm gefasst«, sagte Sam warnend. »Gerade kam eine Gruppe von ungefähr zwölf Leuten rein und die scheinen alle ziemlich hungrig zu sein.«
Mary seufzte. »Auweia. Na dann lass sie mal bestellen.«
***
Niall hatte recht behalten. Gegen halb fünf waren die Gäste eingetrudelt, die das Spiel verfolgen wollten, und ab halb sechs war es dann brechend voll, nachdem auch die Büroangestellten ihren Weg hierher gefunden hatten. Und alle hatten Hunger gehabt. Selbst mit David Coughlan, ihrem vierten Kollegen, rotierten sie nur zwischen Grill, Mikrowellen und Herd hin und her, und es blieb keine Zeit, sich weiter über Sport oder über irgendetwas anderes zu unterhalten. Nebenher bekamen sie aber noch mit, wie das Spiel verlief, besonders dank der Jubelstürme oder brunnentiefen Seufzer, die aus dem Schankraum drangen. Am Ende überwog der Jubel, denn Irland hatte gewonnen, wenn auch nur mit zwei Punkten Unterschied.
Mary atmete tief aus, als sie den letzten Teller abgetrocknet und aufgestapelt hatte. »Gott sei Dank! Ich dachte, das geht nie vorbei.«
David lachte kurz auf. »Das war doch noch gar nichts. Hast du schon mal an Feiertagen gearbeitet?«
Mary rollte mit den Augen. »Ja Coughlan, das habe ich schon. Ich bin nicht erst seit gestern hier. Ich hab schon den St. Patrick’s Day und den Muttertag mitgemacht. Trotzdem würde ich sagen, dass wir uns ein Pint verdient haben, oder?«
David grinste. »Gute Idee!« Er wandte sich an die anderen beiden. »Kommt ihr mit?«
Mailin winkte ab. »Nee, ich muss morgen früh raus, hab 'nen Arzttermin. Amüsiert euch mal schön.« Sie nahm ihre Kappe vom Kopf und verließ die Küche.
»Aber ich bin dabei! Wollen wir hier bleiben oder lieber doch woanders hin? Immerhin kriegen wir hier Rabatt.« Niall stieß sich von der Arbeitsfläche ab und gesellte sich zu den beiden. Mary entging nicht, dass er ihr sie dabei nicht aus den Augen ließ. Darüber lächelte sie, was wiederum Niall nicht entging. Seine braunen Augen blitzten.
»Lass uns lieber woanders hin. Ich brauch mal einen Tapetenwechsel«, meinte David und schaute gönnerhaft zu ihr. »Irgendwelche Präferenzen, Mary?«
»Vielleicht was näher am Stadtzentrum? Dann hab ich's nicht so weit bis nach Hause.«
»Klar, kein Problem. Das McLoughlin in der Boyne Street ist nicht so von Touristen überlaufen«, schlug Niall vor.
***
Nachdem sie sich umgezogen hatten, wünschten sie Sam und dem brasilianischen Studenten Cassiano an der Bar einen schönen Feierabend, wenn es denn so weit sein würde. Das allerdings konnte dauern, noch hatte sich die siegestrunkene Menge nicht aufgelöst. Vom Pub aus nahmen sie den Bus bis zum Merrion Square und von dort waren es nur noch ein paar Minuten Fußweg.
»Und nur ein paar Straßen weiter wohne ich«, erzählte Mary auf dem Weg dahin.
David verzog das Gesicht zu einer verblüfften Grimasse. »Dann musst du ja stinkreich sein.«
»Pff«, machte Mary, trotzdem wurde sie rot. »Deswegen geh ich ja arbeiten. Und ich hatte Glück, das Zimmer ist schon ziemlich günstig für die Innenstadt.«
»Kein Grund, sich zu rechtfertigen. Man muss auch mal Glück haben. Warum wolltest du ausgerechnet nach Dublin?«, verteidigte Niall sie.
Sie lächelte ihn an. »Das National College of Art and Design hat einen ausgezeichneten Ruf und außerdem hat eine Freundin aus meiner alten Klasse so von Irland geschwärmt. Ihre Großeltern wohnen in Kilbride.«
David nickte übertrieben. »Ja, das sind gute Gründe, die hervorragend darüber hinwegtäuschen können, was hier eigentlich vor sich geht«, sagte er sarkastisch.
»Ach komm schon, Coughlan. So schlecht ist es hier nicht. Immerhin haben wir Jobs«, entgegnete Niall und verpasste ihm einen Stoß gegen den Oberarm.
David schnaubte nur verächtlich, dann öffnete er die schwere Eichentür zum Pub. Eine Wolke aus Whiskey, Bier und Stimmengewirr drang ihnen entgegen, genauso wie die angenehm warme Luft, die sie wie ein Schal einhüllte. Der Pub war relativ klein, holzgetäfelt und an den Wänden hingen Bilder von berühmten Leuten, die hier schon ein- und ausgegangen waren. Doch die meisten kannte Mary nicht, sie entdeckte nur zwei britische Schauspieler, die ihr etwas sagten. In der hinteren Ecke gab es ein Podest, auf dem ein junger schwarzer Musiker gerade seine Gitarre stimmte.
Für einen Moment musste sie an Jim denken und daran, dass sie ihn heute versetzt hatte, aber dann ließ sie es wieder bleiben. Er hatte ihr immer noch nicht geantwortet, also konnte sie ihm auch nicht weiterhelfen. Sie steckte ihr Telefon wieder ein und drehte sich zu den anderen um, die inzwischen bestellt hatten.
»Was darf's bei dir sein?«, fragte der Barkeeper, während er noch ein anderes Glas befüllte.
»Ich hätt' gern einen Cider«, antwortete sie und tippte auf den entsprechenden Hahn.
Er stellte das volle Glas auf die Theke, nahm sich ein neues, um es zu füllen, stellte es ihr hin und wechselte ihr Geld, alles im Bruchteil einer Minute. Plötzlich lehnte sich ein Betrunkener über die Theke und versuchte, dem Barmann ein High-Five zu geben. Mary wusste schon, warum sie nicht an der Bar arbeitete. Kundenkontakt war nicht so ihr Ding.
Sie rückte von dem Betrunkenen ab und folgte ihren Kollegen zu einem gerade freigewordenen Tisch. Der Musiker war inzwischen mit seinen Vorbereitungen fertig und stellte sich vor: »Hey Leute, mein Name ist Richard und ich werd‘ euch heute durch den Abend begleiten. Meine Musik ist eine Mischung aus Irish Folk und Rhythmen aus dem Heimatland meiner Eltern, Südafrika, die euch hoffentlich gefallen wird.« Er nahm noch einen Schluck aus seinem Wasserglas, dann begann er ins Mikro zu summen und sanft auf dem Korpus seiner Gitarre zu trommeln.
»Cooler Typ, den hab ich schon mal hier gesehen«, meinte Niall und nickte mit dem Kopf in Richtung des Musikers.
»Obwohl er nicht nach den Beatles klingt, findest du ihn gut?«, fragte David spöttisch. Dann wandte er sich an Mary. »Du musst wissen, dass unser lieber Niall die Beatles vergöttert! Ich habe noch nie einen größeren Fan gesehen; wenn jemand auch nur den Namen Paul McCartney erwähnt, werden seine Augen glasig.«
»Ach Quatsch«, murmelte Niall und beschäftigte sich hastig mit seinem Glas, damit die anderen nicht sahen, wie er rot wurde.
Mary zuckte die Schultern. »Das ist doch nichts, wofür man sich schämen müsste. Warte, ich zeig dir was.« Sie fischte ihr Telefon wieder aus ihrer Tasche und rief ihre Galerie auf. »Kommt dir das irgendwie bekannt vor?« Sie hielt ihm ein Bild hin, auf dem sie ein hellblaues Top, einen roten Lederrock, rote Schweißbänder, rote Ohrringe und rote Stiefel trug. Dazu hatte sie ihre Haare in der Manier von Tina Turner toupiert.
Niall sah sie verständnislos an. »Nee, leider nicht. Ich meine, du siehst echt gut aus, wenn auch ein bisschen aus der Zeit gefallen.«
»Ach Niall, wahrscheinlich bist du einfach nur zu jung«, sagte David mit einem väterlichen Blick, er war immerhin fünfzehn Jahre älter als Mary. »Mary sieht hier aus wie eine der heißesten Popschnecken der Achtziger.«
Mary verzog angeekelt das Gesicht. »Bitte, Coughlan, sag nie wieder >heißeste Schnecke<! Das klingt einfach verboten.« Sie schüttelte den Kopf.
»Was er eigentlich damit meint: Das ist ein Outfit, mit dem die deutsche Sängerin Nena sehr berühmt geworden ist und weil sie eine meiner Lieblingssängerinnen ist, ziehe ich mich gerne mal auch so an wie sie. Das sollte dir einfach nur zeigen, dass jeder Fan sein kann, wie er will.«
»Oh, cool! Wie gesagt, du siehst echt gut aus, ich hab nur wirklich noch nie von ihr gehört.«
Mary sog gespielt empört die Luft ein. »Dann wird es Zeit, deine Wissenslücke zu füllen!« Sie stöpselte ihre Kopfhörer in ihr Telefon, hielt sie Niall hin und scrollte durch ihre Bibliothek. »Da!«, sagte sie nur, und spielte eines ihrer Lieblingslieder ab.
Er hörte eine Weile zu und nickte auch im Takt der Musik. Dann nahm er die Kopfhörer wieder ab und sah Mary ungläubig an. »Ich hab kein Wort verstanden.«
Sie lächelte. »Das musst du auch nicht. Ich hab auch erst die Musik entdeckt und mich viel später in die Texte eingelesen. Du denkst, das ist nur Gute-Laune-Pop und dann findest du raus, dass das eigentlich ein Anti-Kriegs-Lied ist. Also nicht das hier, aber ein anderes von ihr.«
»Und das sogar in den USA auf Platz zwei stand. Auf Deutsch! Du siehst, Niall, du hast schon was verpasst«, fügte David hinzu, um mit seinem Wissen zu glänzen.
Niall zuckte nur mit den Schultern. »Jetzt kenne ich sie ja. Und bei Gelegenheit kann mir Mary ja den Rest zeigen.« Er zwinkerte ihr zu und stieß mit seinem Glas an ihres.
Marys Bauch verknotete sich. Hatte er sie damit gerade auf ein Date eingeladen? Was sie noch verwirrender fand, war, dass sie sich plötzlich wie ein kleines Kind darüber freute. Sie war doch eigentlich in einer glücklichen Beziehung! Um wieder einen klaren Kopf zu kriegen, wandte sie den Blick ab und nahm einen Schluck von ihrem Apfelwein.
Aber nach ein paar Minuten wurde ihr nur noch schwummriger, dabei hatte sie bisher kaum Alkohol getrunken. Als sie aufsah, schien es, als würden die Wände auf sie zu rücken. Sie atmete tief durch, aber die Luft war abgestanden und sie spürte einen Anflug von Übelkeit.
»Tut mir leid Leute, ich fühl mich grad nicht so gut. Ich geh mal raus, frische Luft schnappen«, sagte sie im Aufstehen und griff nach ihrer Jacke.
»Warte, ich komm mit« Niall half ihr in ihre Jacke, dann begleitete er sie nach draußen.
Erst dort wurde ihr bewusst, dass seine Hand die ganze Zeit auf ihrem Rücken ruhte. Sie drehte sich zu ihm hin, dabei glitt die Hand von ihrem Rücken, und sagte: »Ich glaube, der Tag war einfach zu lang. Ich geh am besten nach Hause und ins Bett.« Sie lächelte müde und ehe der vernünftige Teil ihres Gehirns Einwände erheben konnte, nahm sie seine Hand und drückte sie.
Er sah sie ernst an. »Soll ich dich nicht lieber nach Hause begleiten? Es ist immerhin fast Mitternacht.«
»Danke, geht schon. Es ist wirklich nicht weit. Aber ich schreib dir, wenn ich zu Hause bin«, entgegnete sie. »Deine Nummer hab ich ja. Also gute Nacht.«
»Ja, gute Nacht. Komm gut nach Hause!«, rief er ihr nach, als sie sich schon halb zum Gehen gewandt hatte.
In ihrem Zimmer angekommen, fühlte sie sich schon etwas besser. Wahrscheinlich hatte sie wirklich nur frische Luft gebraucht. Noch im Stehen, während sie sich ihre Schuhe abstreifte, schrieb sie Niall. Dann ging sie ins Bad und zog sich um. Nach einem letzten Blick auf ihr Telefon machte sie das Licht aus und drehte sich auf die Seite. Es fiel ihr nicht einmal auf, dass Jim noch immer nicht geschrieben hatte.
Das Glück der Erde lag auf dem Rücken der Pferde. Nun, das mochte für andere Menschen gelten, für Jess traf das ganz sicher nicht zu. Obwohl sie nun schon seit bald einem Jahr beim National Trust an Norfolks Küste arbeitete, hatte sie sich mit den Pferden, die hier einen Teil des Naturschutzes übernahmen, noch nicht angefreundet. Wo sie ansonsten allein in jede dunkle Höhle kroch oder sich in die Ecken der tosenden See vorwagte, die sonst keiner ihrer Kollegen betreten wollte - wenn die Vierbeiner in der Nähe waren, bestand Jess darauf, begleitet zu werden und jeden Kontakt möglichst zu vermeiden.
Auch wenn heute die Sonne schien und die Luft knackig, aber nicht zu kalt war, sah Jess mit düsterem Gesicht aus dem Fenster des Jeeps, mit dem sie und ihre Kollegin Cathy auf dem Weg zur Koppel waren.
»Warum genau noch mal hat mich Trevor wieder zum Pferdedienst eingeteilt?«, fragte sie resigniert und sah ihre Kollegin so leidend an, dass die lachen musste.
Cathy zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, vielleicht ist es eine Art Angsttherapie?« Sie lenkte den Jeep über einen holprigen Feldweg, der rechts und links von Deichen begrenzt wurde.
Jess schnaubte. »Wenn das so ist, versucht Trevor mich schon seit Monaten immer wieder zu therapieren. Und zwar ohne Erfolg. Warum kann er nicht einsehen, dass ich einfach nicht für den Umgang mit Pferden geschaffen bin? Ich mache wirklich alles, ich hab auch kein Problem, den Mist der Schweine wegzumachen oder nachts Seehunde zu zählen. Warum ausgerechnet immer wieder die Pferde?«, klagte sie.
»Tja, ich weiß auch nicht. Hast du ihm irgendwann mal etwas getan, das er dir auf die Art vielleicht heimzahlen will?«
Jess schüttelte den Kopf und sagte: »Ich glaube nicht. Ich hab ihn nie beleidigt oder Witze über ihn gemacht.«
»Vielleicht merkt er einfach nur nicht, dass du Pferde nicht magst.«
Jess sah sie skeptisch an. »Dann wäre er entweder blind oder geistig nicht ganz auf der Höhe. Keins davon trifft zu. Wie auch immer, wenn es dir also nichts ausmachen würde, könntest du die Gesundheit der Pferde kontrollieren? Ich schau mir derweil den Zaun an, ob der Reparaturen braucht.«
»Sicher, aber du solltest in der Nähe bleiben, falls eines der Tiere scheut.« Cathy parkte einige hunderte Meter von der Koppel entfernt. Hier ging der Boden in feuchte Salzwiesen über, in denen der Geländewagen einsinken würde. Koppel war aber eher der falsche Begriff, denn das Gehege der Pferde erstreckte sich über fast elf Kilometer entlang der Küste und war nur zur Inlandseite mit einem Holz- und Elektrozaun begrenzt, damit die Pferde nicht auf die Straße liefen.
»Natürlich hab ich ein Auge auf dich. Glaubst du, ich lasse dich mit diesen Biestern allein?«, sagte Jess, als die beiden ausstiegen.
Cathy lachte wieder. »Das sind keine Biester, Exmoor-Ponys sind sehr freundliche Tiere.« Sie nahm den Werkzeugkasten und die Drohne aus dem Kofferraum. »Dann wollen wir sie mal suchen. Hast du schon welche entdeckt?«