Wordwell Rose - Cornelia Jost - E-Book

Wordwell Rose E-Book

Cornelia Jost

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Beschreibung

Vier Schwestern gehen auf Reisen. Das erste Mal ohne ihre Eltern. Drei lange Woche wollen sie auf einem schmucken Anwesen in einem kleinen englischen Dorf verbringen. Aber ganz so reibungslos, wie sie sich das vorgestellt haben, wird es nicht - erst recht nicht, als ein aufgewecktes Zwillingspärchen nicht nur die Reisepläne, sondern auch die Gefühlswelt der Mädchen durcheinander wirbelt.

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Seitenzahl: 342

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Für meine Schwester

Der Sommer macht den Menschen zum Träumer.

Paul Keller

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 1

Die Reise ging bereits gut los. Mary fand ihren Reisewecker nicht, Jess zerknackte - der Himmel weiß, wie sie das anstellte - ihre Zahnbürste und Roseanne besudelte ihre weiße Bluse beim Frühstück mit Himbeermarmelade, so dass sie sich noch einmal umziehen musste. Aber sie fand nichts in ihrem beinahe leer geräumten Kleiderschrank. Susan stöhnte, als sie beobachte, wie ihre Schwestern kopflos durcheinanderliefen.

Sie war neunzehn und die älteste der Meldwin-Schwestern. Ihre Eltern erwarteten von ihr, auf ihre jüngeren Schwestern während der Reise aufzupassen. Mary war achtzehn, Jess siebzehn und Roseanne als das Nesthäkchen fünfzehn Jahre alt. Während ihre Eltern wie jedes Jahr mit dem Wohnmobil ins sonnige Cannes gefahren waren, hatten sich die Schwestern dieses Jahr entschieden, allein mit dem Fahrrad zu verreisen. Ihr Ziel war das kleine Örtchen Wordwell bei Bury St. Edmunds. Dort hatten sie für drei Wochen ein Ferienhaus gemietet.

Während ihre Schwestern versuchten, ihrer Probleme Herr zu werden, ging Susan nach draußen, um die Taschen in den Hänger zu wuchten, den sie sich von ihren Nachbarn geborgt hatte. In dem Moment spähte deren Sohn herüber.

»Moin Susy! Heute geht’s los, oder?« Michael lehnte sich über den Zaun und ließ seine schneeweißen Zähne blitzen. Aber er erzielte nicht den von ihm erhofften Effekt.

Susan blickte nur flüchtig über ihre Schulter, nickte grüßend und widmete sich dann wieder ihrer Arbeit. Die Taschen waren schwer wie Wackersteine, sie fragte sich, was ihre Schwestern da alles eingepackt hatten. Klamotten für drei Wochen konnten doch keinesfalls so viel wiegen.

Anstatt aber seine Hilfe anzubieten, stand Michael nur weiter am Zaun und schaute zu, wie sich Susan abmühte. Seit er seine Zahnspange los war und das Fitnessstudio für sich entdeckt hatte, hielt er sich für Elvis persönlich, der mit gerade mal einem Lächeln ganze Mädchenscharen in Verzückung geraten lassen konnte. Dass das auch mit freundlichen Umgangsformen funktionierte, schien bisher noch nicht zu ihm durchgedrungen zu sein.

Susan und Michael waren im Grunde seit dem Kinderwagen befreundet, sie hatten zusammen Sandburgen gebaut, Hasen über den nahegelegenen Sportplatz gejagt und waren auch in der Schule für nichts als Unfug bekannt gewesen. Aber irgendwann war der Punkt gekommen, an dem sie sich trotz dermaßen großer räumlicher Nähe auseinandergelebt hatten. Das hing vermutlich auch damit zusammen, dass Susan nach der achten Klasse auf eine Schule gegangen war, die sich stärker auf die Naturwissenschaften konzentrierte. Manchmal erinnerte sie sich etwas schmerzlich daran, wie viel Zeit sie miteinander verbracht und wie wenig sie sich jetzt zu sagen hatten. Aber die Zeit ließ sich nun mal nicht zurückdrehen und wenn sie ab Herbst aufs College in Edinburgh ging, um Elektrotechnik zu studieren, bliebe wahrscheinlich überhaupt keine Zeit mehr für ein mögliches Wiederaufleben ihrer Freundschaft.

»Stimmt. Und ich weiß nicht, ob ich dafür bereit bin, drei Wochen ganz allein auf meine Schwestern aufzupassen«, antwortete sie schließlich, als sie fertig war und sich streckte. Dann stemmte sie die Hände in die Hüften. »Was machst du heute noch? Du hast doch bestimmt mächtige Pläne für deine letzten großen Ferien?«

Ihr spöttischer Ton entging Michael. Vielleicht hatte er doch ein paar mehr Gehirnzellen in seinem Training eingebüßt, als sie gedacht hatte. »Ja, absolut! Winston, Henry und ich fliegen morgen nach Mallorca, ein bisschen Sonne tanken. Ich will an meiner Sommerbräune arbeiten.«

Sie prustete, konnte ihre Erheiterung aber hinter einem Huster verbergen. Alles, was Michael werden würde, war rot. Er war bleich wie ein Blatt Papier und sein kurzgeschorener Schopf leuchtete wie ein Feuermelder schon von weitem. Die Vorstellung eines krebsroten Michaels heiterte sie noch weiter auf, aber sie konnte sich beherrschen, vor ihm in schallendes Gelächter auszubrechen. Stattdessen sagte sie: »Dann wünsche ich dir dabei mal viel Spaß. Und übertreib es nicht zu sehr am Ballermann.«

»Äh, mach dir da mal, ähm, keine Sorgen. « Michael kratzte sich verlegen am Kopf. Bevor eine peinliche Pause entstehen konnte, wurde die Tür hinter Susan aufgerissen. Ihre Schwestern stolperten eine nach der anderen ins blendende Sonnenlicht.

»Hallo Michael! « rief Mary, die ihn als erste bemerkte und in solchen Situationen auch die erste war, die ihre Fassung wiedererlangte.

»Hi Ladies!« Er winkte und lächelte in einer Weise, die wohl verwegen wirken sollte, in Kombination mit dem Vogelschiss, in den er sich gerade gelehnt hatte, aber einfach nur bodenlos lächerlich war. Die drei Schwestern sahen sich an und versuchten noch, sich das Lachen zu verbeißen. Allerdings scheiterten sie, als er sich mit ebenjener Hand draufgängerisch durch die Haare fuhr. Mary, Jess und selbst die eher schüchterne Roseanne wurden Opfer eines ausgewachsenen Lachanfalls. Susan stand nur daneben und rollte mit den Augen. Als sie zu Michael schaute, hatte sie fast so etwas wie Mitleid mit ihm, wie er da über dem Zaun hing, sämtliches Selbstvertrauen ihn verlassen hatte und dann auch noch Vogelkot in seinen Haaren klebte. Er war bereits jetzt so rot wie sie ihn sich nach einem zu ausgiebigen Bad in der mallorquinischen Sonne vorstellte.

»Wie, äh, auch immer«, stammelte er und stieß sich vom Zaun ab. »Viel Spaß bei eurer Reise.«

»Danke Michael! «, rief sie ihm hinterher und wandte sich dann an ihre Schwestern. »Seid ihr dann fertig, ihr Kicherelsen?«

Mary wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. »Ja, heh, sind wir.«

»Wunderbar. Da kann’s ja losgehen!«.

Großen Fortschritt machten sie in der ersten halben Stunde allerdings nicht. Normalerweise brauchten sie keine fünf Minuten, um die Stadtgrenzen hinter sich zu lassen. Heute jedoch hatten sich anscheinend sämtliche Freunde, Bekannte und Nachbarn dazu entschlossen, die Straßen zu bevölkern und die Schwestern darüber auszufragen, wohin sie denn mit dem großen Hänger wollten. Jess würde sie ja am liebsten alle links liegen lassen, aber ihre Schwestern waren einfach zu höflich, um Mrs. Doyle, Mr. Miller oder das Ehepaar Fox mit ein paar Floskeln abzuspeisen. Stattdessen erzählten sie allen haarklein ihre Reiseroute.

Sie wollten durch die Fenlands fahren, eine Moor- und Sumpflandschaft, die früher ein Überschwemmungsgebiet gewesen war, durchzogen von unzähligen Kanälen. An einigen Stellen standen sogar Windmühlen, sodass die Gegend eher aussah wie die holländische Provinz.

***

Sie waren seit anderthalb Stunden unterwegs und bisher ließ sie das Wetter nicht im Stich. Die Sonne schien fröhlich und warm vom Himmel, was ihnen an den Steigungen den Schweiß auf die Stirn trieb. Darum machten sie jetzt ihre erste Pause. Susan ließ eine Packung Kekse kreisen und Mary reichte Wasserflaschen aus ihrem Rucksack.

»Gib mir bitte mal ein Taschentuch«, bat Jess und zog geräuschvoll die Nase hoch. Als sie sich schnäuzte, klang es, wie Roseanne trocken bemerkte, wie ein Donnerschlag. Doch als Mary erneut in den Himmel schaute, wusste sie, dass nicht Jess' Schnauben so gedröhnt hatte. Die Wolken, die plötzlich schnell aus Süden kamen, bildeten eine undurchdringliche, schwarze Wand, aus der es gefährlich grollte. Rasch schaute sie sich um, ob sich vielleicht irgendwo eine Möglichkeit zum Unterstellen bot. Vor der nächsten Straßenbiegung, zischen einem Gatter und einer alten Eiche, entdeckte sie glücklicherweise ein Wartehäuschen.

»Los, kommt!«, befahl sie den anderen, die noch nichts bemerkt zu haben schienen, und schob sie in Richtung Unterstand. Ungläubig schauten ihre Schwestern sie an, doch sie folgten ihr bereitwillig, als ein Blitz am Horizont in einen Baum fuhr. Mit ihren Rädern rannten sie hinüber und schoben sie in das kleine Holzhäuschen. Der Hänger jedoch, auf den sie ihre Sachen gepackt hatten, passte nicht mehr in den Unterstand. Susan wollte noch hinauslaufen und statt ihres Rads den Hänger in das Wartehäuschen bugsieren. Doch der Regen ging inzwischen nieder wie ein Vorhang.

»Bleib hier, du erkältest dich bloß, wenn du so nass wirst«, warnte Mary und hielt sie zurück.

Es hörte sich an wie ein wahres Trommelfeuer, als die Regentropfen unablässig auf das Holzdach platschten. Es war so laut, dass sie ihr eigenes Wort nicht verstanden. Dann mischten sich auch noch Donnerschläge und weitere Blitze in den hämmernden Regen. Es erinnerte eher an die Apokalypse als an einen sommerlichen Urlaub.

Sie mussten notgedrungen zusehen, wie ihre Reisetaschen immer nasser wurden. Auf den Straßen bildeten sich dünne Rinnsale, die winzige Kiesel, Eichenblätter und dürre Äste mit sich rissen und die Straßenränder in puren Schlamm verwandelten.

»Schaut euch das an«, sagte Mary kopfschüttelnd. »Wir können nur hoffen, dass die Vermieterin einen Wäschetrockner besitzt. Ansonsten haben wir ein Problem, und zwar ein ziemlich feuchtes. « Die anderen nickten bekümmert.

***

So rasch, wie das Gewitter aufgezogen war, verschwand es auch wieder. Sie wagten sich aus ihrem Unterstand und begutachteten zunächst ihre nasse Kleidung.

»Wie gesagt, wir können nur hoffen«, stellte Susan resigniert fest und schob dann ihr Fahrrad auf die Straße. Sie hatte einige Mühe damit, denn die Reisetaschen waren durch den Regen nicht nur dunkler, sondern vor allem auch wesentlich schwerer geworden. Ihre Schwestern folgten ihr auf die feuchte Landstraße, überprüften vorher aber noch einmal den Himmel. Der allerdings gab sich unschuldig; er war blau und ein laues Lüftchen pustete auch die letzten Wolken davon. Die Pappeln entlang der Straße wogten sanft, als sei zuvor nichts passiert.

***

»Wie lange fahren wir überhaupt noch?«, fragte Roseanne nach einer Weile. Die Landschaft war ja ganz schön, aber langsam wurde sie müde und die Vorstellung, nach ihrer Ankunft keine frischen, nicht durchgeschwitzten Sachen anziehen zu können, ließ ihre Laune nicht unbedingt steigen.

Susan sah auf ihre Uhr. »Ein bisschen weniger als zwei Stunden, ungefähr. Du musst dich also noch etwas gedulden.«

Sie fuhr vornweg und schaute ab und an auf die Karte, die oben auf ihrem vorderen Fahrradkorb lag. Kaum hatte sie ausgesprochen, rief sie: »Stopp!« und bremste ruckartig. Überrascht hielten die anderen an, Jess fuhr fast an ihr vorbei.

»Was ist los?«

Sie blickte sie der Reihe nach an. »Wir haben uns verfahren.«

Sofort warf Jess brüskiert ein: „Nichts da! DU hast dich verfahren, nicht wir! Warum das?«

»Ich habe mich im Straßennamen geirrt. Wir müssen umdrehen. Diesmal aber wirklich alle.« Sie bedachte Jess mit einem letzten Blick, wendete ihr Fahrrad unter großen Anstrengungen auf der ansteigenden Straße und strampelte zur Kreuzung zurück. Sie wandte sich nach rechts und fuhr die Straße hinunter, die sich diesmal sanft abfallend durch die Weizenfelder schlängelte. Roseanne und Mary radelten hinter ihr, Jess bildete immer noch ein wenig beleidigt das Schlusslicht.

Nach einer Stunde machten sie erneut eine Pause. Jess redete mit Susan immer noch kein Wort. Dafür hatte Roseanne einige Fragen an ihre große Schwester.

»Susy, weißt du eigentlich, wie die Frau heißt, die dir das Ferienhaus vermietet hat, und wie alt sie ist?«

Susan schaute Roseanne etwas verwundert an. »Hatte ich dir das nicht schon erzählt?«

Roseanne schüttelte den Kopf. »Nein, du hast es vielleicht den andern beiden erzählt, aber nicht mir. Mir erzählt doch nie irgendjemand irgendwas« erwiderte sie leicht eingeschnappt.

Susan seufzte. »Jetzt übertreibst du aber. Naja, egal. Unsere Gastgeberin heißt Sophie Milton und ist zweiundachtzig Jahre alt. Ihr Anwesen liegt etwas abseits von dem Dorf Wordwell.«

Roseanne zog eine Schnute.

»Warum guckst du so bedröppelt, Rosy?« Mary beachtete die stumme Jess nicht weiter und wandte sich an den Rest ihrer Schwestern.

»Wir bleiben drei Wochen, drei Wochen, bei einer alten Frau, die sonst wo in der Prärie lebt, weitab von möglichen netten Nachbarn, die vielleicht Kinder in unserem Alter haben könnten. Das kann doch nur die pure Langeweile werden.«

Mary lachte. »Das wird wahrscheinlich alles weniger schlimm als du denkst. Bestimmt ist Miss Milton eine ganz reizende Dame und die netten Nachbarskinder sind auch nicht so weit weg. Wir haben doch schließlich unsere Räder.«

Roseanne stieß nur verächtlich Luft aus und nahm dann einen Schluck aus ihrer Wasserflasche. »Vielleicht ist diese Miss Milton aber auch eine richtige Schreckschraube oder, noch schlimmer, sie nimmt nur Leute in ihrem Cottage auf, um sie zu fressen.« Roseannes Stimme nahm einen gruseligen Ton an, als würde sie gerade eine Horrorgeschichte erzählen. Die anderen beiden sahen sie erst mit hochgezogenen Augenbrauen an, dann brachen sie in Gelächter aus, als Roseanne ihre Version einer furchterregenden Hexe zum Besten gab.

Endlich meldete sich Jess zu Wort: »Wir sollten vielleicht langsam wieder aufbrechen, was meint ihr? Wir wollen doch nicht zu spät zu unserer ganz persönlichen Hänsel-und-Gretel-Vorstellung kommen.«

Roseanne drehte sich zu ihr um. »Spricht Madame Schmoll auch mal wieder mit uns? Das ist aber schön.«

Bevor Jess zu einem bissigen Kommentar ansetzen konnte, wedelte Susan zwischen den beiden beschwichtigend mit der Hand. Sie verstaute ihre Flasche im Rucksack und packte ihn wieder unter ihre Landkarte in den Fahrradkorb. Dann schwangen sie sich auf ihre Räder und fuhren weiter. An den Weggabelungen standen weithin sichtbar Schilder des National Trust, die die Landschaften links und rechts als Naturschutzgebiet auswiesen. Schließlich wuchsen hier Pflanzen, die im Rest des Landes schon fast ausgestorben waren.

Kapitel 2

Nach noch einmal anderthalb Stunden Fahrt erreichten sie Wordwell. Das Dorf erstreckte sich an einer Landstraße von einem kleinen Gehöft bis zu einer Ansammlung von vier oder fünf Grundstücken. Zwischendrin lagen Felder, ein Sägewerk und eine verlassene Kirche. Entlang der Straße wuchsen Laubbäume.

»Das ist ja winzig!«, rief Roseanne schockiert, als sie auf der Suche nach Wordwell Rose hindurchfuhren. Jess feixte, ihre schlechte Laune war schon längst verflogen. Stattdessen genoss sie die Fahrt und den sonnigen Nachmittag.

Sie fanden Wordwell Rose gleich auf Anhieb abseits der Asphaltstraße im Wald am Ende eines Schotterwegs. Die große, graue Steinmauer war allerdings auch schwerlich zu übersehen. Zum Zufahrtsweg hin begrenzte ein hölzernes Tor mit aufwendigen Schnitzereien das Grundstück. Rechts davon war auf Augenhöhe ein messingfarbener Klingelknopf angebracht. Über die Mauer rankten Clematisblüten in dunklem Lila und Efeu kletterte in den Steinritzen empor.

Susan stellte ihr Fahrrad ab und drückte die Klingel. Von weither drang ein dumpfer Gong zu ihnen. Dann knirschten Schritte über Kies und das Tor knarrte unwillig, als es aufgeschoben wurde. Heraus trat ein junger Mann Anfang oder Mitte zwanzig mit einer braun karierten Schiebermütze auf dem Kopf, unter der kurze, dunkelblonde Haare hervorschauten. Er lächelte freundlich, als er die Mädchen sah.

»Hallo, ihr müsst die Meldwin-Schwestern sein, richtig?« Susan nickte, brachte aber kein Wort heraus. Wie verzaubert starrte sie in die kristallblauen Augen des jungen Mannes. »Ich bin Benjamin, der Gärtner. Aber ihr könnt mich ruhig Ben nennen. Kommt mit, ich zeige euch das Ferienhaus.«

Es lag im hinteren Teil des riesigen Gartens und war geschützt durch eine große Hagebuttenhecke. So viel konnten sie vom Vorplatz schon erkennen. Der Weg zum Cottage führte an einer großen, zweistöckigen, sandfarbenen Villa vorbei, die von blühenden Rosenbüschen umgeben war. Neben dem Weg wuchsen Kameliensträucher und betörend duftender Lavendel. Alles strahlte eine unaufgeregte, aber selbstbewusste Würde aus. Fasziniert schauten sich die Geschwister um, als sie ihre Räder hinter Ben herschoben. Der Himmel über ihnen hatte sich wieder verdunkelt und es begann zu tröpfeln. Das erinnerte Susan wieder an ihr Gepäck.

»Ach, äh, Ben?«

Er drehte sich um. »Ja?«

»Hat Miss Milton einen Wäschetrockner?«

»Ja. Warum fragst du?« Er schob ein hüfthohes, eisernes Gatter in der Hagebuttenhecke auf, machte noch zwei Schritte und schloss die Tür der Gästeunterkunft auf. Dann deutete er auf die rechte Seite des Hauses, wo ein kleiner Holzverschlag hinter der Hausecke hervorschaute. »Dort ist der Fahrradschuppen«, erklärte er und händigte ihnen noch einen Schlüsselbund aus.

Während sie ihre Fahrräder in den Schuppen stellten, klärte Susan ihn auf: »Wir sind bei einer Pause in ein Gewitter geraten. Uns und unsere Fahrräder konnten wir in Sicherheit bringen, aber der Hänger mit unserem Gepäck für die nächsten Tage ist komplett nass geworden.«

Er zog mitfühlend die Augenbrauen zusammen. »Oh, das ist natürlich blöd, aber kein Problem. Fragt einfach mal Daisy, die Haushälterin. Sie wird sich bestimmt darum kümmern. Ich weiß aber nicht genau, wo sie gerade steckt. « Er schob sich die Mütze aus der Stirn und kratzte sich am Kopf. »Kommt ihr erst mal alleine klar? Ich muss wieder an die Arbeit, da wartet ein Hochbeet auf mich.«

»Ja, klar, wir wollen dich nicht aufhalten!«

»Dann bis später!« Er winkte lächelnd mit seiner Mütze, ehe er hinter der Hecke verschwand.

»Schaut euch schon mal die Zimmer an«, wies Susan ihre Schwestern an, »ich geh Daisy suchen.« Sie zog den Hänger hinter sich her und entschwand ebenfalls durch die Pforte in der Hecke.

Mary betrat als erste den Flur des grauen Steincottage mit dem flach abfallenden Dach und den weiß gestrichenen Fensterläden. Dort wurde sie von dunklem Mobiliar aus Kirschholz, weiß getünchten Wänden und einem wuchtigen Teppich empfangen, auf dem sich Eva und Adam den verhängnisvollen Apfel teilten. Direkt vor ihr führte eine schmale Wendeltreppe, ebenfalls aus Kirschholz und mit gusseisernen Beschlägen versehen, ins Obergeschoss. Links davon ging ein enger Gang ab. Gleich rechts war eine Tür aus Buchenholz. Daran angebracht war ein Schildchen mit einem kleinen Mädchen, das auf einem Nachttopf saß. Das war also augenscheinlich das Badezimmer. Vom Flur gingen noch drei weitere Türen ab.

Staunend schauten sich die Schwestern um. Sie öffneten neugierig die Türen. Hinter der Tür, die der Küche gegenüberlag, verbarg sich das Wohnzimmer. Hier waren die Möbel aus Eichenholz, kunstvoll verziert, und auf allen möglichen Ablagen standen dekorative Teller, Glaskerzenhalter und kitschige Porzellankatzen in sämtlichen Positionen, die den Stubentigern anatomisch möglich waren. Neben der Küche lag das erste Schlafzimmer. Statt wuchtiger Eichen- oder Kirschholzmöbel war die Einrichtung hier ganz in Weiß gehalten, mit einem hellen Schleiflackbett und einem hohen Schrank mit goldenen Knäufen und Füßen in Form von Löwentatzen. Die Wände zierte eine Rosentapete in Pastelltönen. Auf dem Boden war helles Kiefernparkett verlegt und ein rosafarbener Teppich rundete den pastelligen Gesamteindruck ab.

»Leute, ich hab mein Schlafzimmer gefunden!«, rief Roseanne Mary und Jess hinterher, als diese bereits die Treppe hinaufstiegen. Sie warf ihre Tasche auf den Sessel in der hinteren Ecke unterm Fenster und ließ sich auf das weiche Bett plumpsen.

Derweil erkundeten Jess und Mary die obere Etage. Jess öffnete die erste Tür gleich gegenüber der Treppe, doch das Zimmer hier sagte ihr überhaupt nicht zu. In der Mitte stand ein gusseisernes Bett auf dunklem Eichenparkett, das in starkem Kontrast zu den hellen Wänden und den filigran gearbeiteten Metallregalen stand. Mary warf einen Blick über Jess‘ Schulter und stieß leise einen spitzen Schrei.

»Fiep mir nicht ins Ohr«, sagte Jess und trat zur Seite.

»Das Zimmer ist spitze! Überlässt du es mir?«

»Mit Freuden! Mir gefällt es nämlich überhaupt nicht.« Sie ging weiter, während Mary ihren Rucksack auf den Schreibtisch stellte, der direkt unter dem Fenster stand. Das Schlafzimmer am Ende des Flures war das größte. Jess zögerte nicht einen Moment, es Susan zu überlassen. Nicht nur gefiel es ihr nicht gerade, sondern Susan war immer noch die Älteste und hatte außerdem die Reise organisiert. So gern Jess sie auch ärgerte, sie mochte ihre große Schwester. Sie machte die Tür zum dritten Zimmer auf, und blinzelte verblüfft. Eine Schlafcouch, ein nüchterner Schreibtisch und ein schnörkelloser Schrank – das war genau ihr Geschmack. Was jetzt noch fehlte, waren die Poster, aber man konnte ja nicht alles haben. Und zu Hause in Peterborough hatte sie dafür umso mehr, da war jeder Zentimeter Wand in ihrem Zimmer zugekleistert.

Während die anderen ihre Zimmer in Beschlag nahmen, ging Susan zum Anwesen zurück. Der Anhänger polterte dumpf hinter ihr auf dem Pflaster. Als sie wieder auf dem Vorplatz landete, fuhr durch das große Tor gerade ein edler, tannengrün lackierter Oldtimer, dessen glänzende Chromapplikationen sie fast blendeten, als die Sonne gerade durch die Wolken brach. Mit halboffenem Mund betrachtete Susan, wie aus der edlen Karosse eine kleine ältere Dame mit hochgesteckten weißen Haaren stieg. Sie trug ein elegantes schwarzes Nadelstreifenkostüm, darunter eine Rüschenbluse und schwarze Pumps. Auf dem kunstvollen Haarknoten thronte ein kleines schwarzes Hütchen.

Sie standen sich einen Moment lang stumm gegenüber, dann besann sich Susan wieder ihrer guten Kinderstube. »Guten Tag, Miss Milton. Ich bin Susan Meldwin«, grüßte sie die ältere Dame unwillkürlich mit einem Knicks.

Diese lächelte freundlich und winkte dann mit einer weiß behandschuhten Hand. »Hallo Susan. Du musst dich nicht vor mir verbeugen. Die Freude ist ganz meinerseits. Hattet ihr eine gute Anreise?« Miss Milton lächelte, dann erspähte sie den Hänger hinter Susan. »Aber warum schleppst du denn einen Hänger hinter dir her, Liebes?«

Susan schaute über ihre Schulter. »Unsere Fahrt hierher war im Grunde ganz angenehm, bis auf das da. Eigentlich bin ich auf der Suche nach Daisy und einem Wäschetrockner. Wir sind in einen Regenguss geraten. Dabei ist unsere Kleidung für die nächsten drei Wochen nass geworden.«

Miss Milton machte ein mitfühlendes Gesicht. »Dann folge mir, meine Liebe. Ich zeige dir die Waschküche. Daisy kann dir gerade nicht helfen. Sie ist noch beim Arzt.« Sie schloss ihren Wagen ab und stöckelte elegant und erstaunlich sicher über den Kies auf dem Vorplatz. Susan folgte ihr zur Eingangstür der Villa. Zusammen betraten sie einen geräumigen, ovalen Flur mit einem langen, schweren Teppich auf dem ansonsten blanken Steinboden. An den Wänden über den Mahagonitüren in ihren weißen Rahmen hingen Portraits streng und unfreundlich dreinblickender Vorfahren. Eine elegant geschwungene Treppe wand sich über ihren Köpfen ins obere Stockwerk, beleuchtet sowohl von einem Kronleuchter als auch von einer Glaskuppel, die das Tageslicht hereinließ.

Andächtig schaute Susan sich um, während Miss Milton zielstrebig eine unscheinbare Holztür am Ende des Flurs ansteuerte. Sie öffnete sie und wies hinunter in den Keller. »Hier ist die Waschküche. Wenn du Hilfe benötigst, rufst du mich einfach, in Ordnung?«

Susan nickte und holte dann die tropfenden Taschen aus dem Hänger.

»Warte, ich helf dir!«, rief Ben ihr zu, der gerade mit einer Schubkarre um die Hausecke kam, als sie Roseannes Tasche hineinbringen wollte. Ihr Herz hüpfte.

»Danke«, sagte sie und zwang sich, ihre Stimme gefestigt klingen zu lassen, auch wenn ihr Herz nur so flatterte.

Er trug die letzten zwei Taschen in den Keller und half ihr, die Sachen in den Trockner zu räumen. Dabei berührte er sie zufällig am Arm. Verschreckt zog sie ihn zurück und schalt sich innerlich gleich selbst für ihre Schreckhaftigkeit. Mit einem Seitenblick versuchte sie herauszufinden, ob er davon etwas mitbekommen hatte. Als er ihren Blick bemerkte, zwinkerte er und tippte sich an die Mütze.

»Alles klar soweit?«

Sie nickte.

»Gut, dann würde ich wieder hochgehen und den Heckenschnitt zum Kompost bringen.«

»Mach das, den Rest krieg ich alleine hin. Vielen Dank für deine Hilfe.«

Er winkte ab. »Nicht dafür. Also bis später!«

»Ja, bis dann!«, rief sie ihm nach und stellte den Trockner an. Dann hängte sie die nassen Taschen über den Wäscheständer in der Ecke und ging wieder hinauf. Die ganze Zeit bekam sie das Grinsen nicht aus dem Gesicht. Wenn so eine kurze Unterhaltung schon so viele verschiedene Gefühle in ihr auslöste, wie sollte dann erst des Rest des Urlaubs werden?

Auf dem Weg zum Ferienhaus versuchte sie sich die Zimmer vorzustellen und sie war sich sicher, dass ihre Schwestern ihr das kleinste Kabuff überlassen hatten.

Die erste, die ihr über den Weg lief, war Jess, als die gerade aus dem Bad kam. Sie fragte sie nach dem letzten freien Zimmer und Jess sagte zu Susans Überraschung: »Ich hab dir das größte Zimmer überlassen, weil du doch die älteste bist. Komm mit.« Susan war davon ziemlich überrascht, als sie hinter Jess die Wendeltreppe nach oben stieg.

»Da, bitteschön, dein Zimmer«, sagte Jess und wies auf die Tür am Ende vom Flur.

»Oh, vielen Dank!«, erwiderte Susan verblüfft und öffnete die Tür, während Jess in der nebenan verschwand. Das Zimmer warf sie glatt um. An der rechten Wand stand ein großes Ehebett im Landhausstil, überworfen mit einer Decke aus vielen unterschiedlich gemusterten Flecken. Auf dem runden, weiß gestrichenen Tisch mit den weißen Metallstühlen drum herum blühten Lavendel, Lilien, Flieder und Clematis in einer großen Vase. Der Blick durch das große Fenster wurde umrahmt von hellblau-weiß karierten Vorhängen und ging direkt hinaus in den Wald. Zwischen den Buchen und Eichen grasten friedlich einige Rehe.

Sie fischte ihr Tagebuch aus ihrem Rucksack und hielt die ersten Eindrücke ihrer Reise fest. Während des Schreibens begann ihr Magen widerwillig zu grummeln. Richtig, es wurde langsam Zeit fürs Abendessen. Sie schlug das Buch zu und ging nach unten in die Küche. Dort allerdings stellte sie fest, dass es außer einer Packung trockener Butterkekse nichts Essbares gab. Und sie hatte auch nicht daran gedacht, auf ihrer Reise hierher etwas einzukaufen oder von Zuhause etwas mitzubringen. Da sie das als Versäumnis ihrer Pflichten auffasste, beschloss sie, das umgehend zu ändern. Also warf sie einen Blick auf ihre Landkarte. Den nächsten Lebensmittelladen gab es in Bury St. Edmunds, rund sechs Meilen südlich von hier. Jess, Mary und Roseanne kamen gerade in die Küche, ebenfalls auf der Suche nach etwas zu essen. Sie sah auf, als sich ihre Schwestern am Herd versammelten.

»Ich muss noch mal los, hier gibt’s nichts zu essen. Ich brauch bestimmt nur ne Stunde.«

»Was? So lange?«, rief Jess empört ihr nach, als Susan mit ihrer Handtasche und einem Beutel hinaus zum Fahrradschuppen lief. Da hörte sie deren Beschwerde schon nicht mehr. In Eile schob sie ihr Fahrrad bis zum Tor. Ben bog gerade mit seiner Schubkarre um die Ecke, als sie sich in den Sattel schwang.

»Wo willst du denn hin?«, rief er ihr nach und blickte dann besorgt zum Himmel hinauf, weil es schon wieder zu nieseln begann.

»Was zu essen kaufen!«, rief sie, bevor sie durch das immer noch offen stehende Tor verschwand. Der Einwand, den er auf den Lippen hatte, nämlich dass sie alle durchaus auch im Haupthaus mitessen könnten, ging in einer aufkommenden Böe unter.

Sie fuhr zurück durch das Dorf und bog dann an der ersten Kreuzung Richtung Culford ab. Inzwischen wurden die Tropfen immer schwerer. Sie zog sich ihre Kapuze tief in die Stirn, senkte den Kopf und radelte schneller.

***

Als Susan gerade außer Sichtweite war, traf Daisy aus der gegenüberliegenden Richtung auf Wordwell Rose ein. Mit ihrem knatternden, knallgelben Morris Minor Traveller fuhr sie auf den kiesgestreuten Vorplatz. Wo Ben gerade noch am Tor gestanden hatte, war jetzt keine Spur mehr von ihm zu sehen. Daisy stieg aus, rief nach ihm, als sie aber keine Antwort erhielt, zuckte sie nur die Schultern. Also ging sie alleine zum Kofferraum, um zwei volle Einkaufskörbe herauszuholen. Probleme hatte sie damit keine, was man ihr bei ihrer geringen Größe gar nicht zugetraut hätte.

Trotzdem bot ihr Roseanne, die gerade auf Entdeckungstour durch den Garten war, ihre Hilfe an. »Oh, kann ich Ihnen helfen?«

Daisy stellte die Körbe an der Eingangstür ab und ihr rundes Gesicht lächelte freundlich. Ihr Trenchcoat wurde von ihrem großen Busen auseinander gedrückt, als sie die Arme verschränkte und Roseanne eingehend musterte.

»Selbstverständlich, Darling.« Dann stellte sie sich vor und sagte schließlich: »Du kannst mich auch duzen.« Sie winkte sie zu sich ans Auto. »Welche der reizenden Meldwin-Schwestern bist du? Du bist doch eine der Meldwin-Schwestern?« Sie zwinkerte, als sie ihr eine braune Papiertüte überreichte. Dann nahm sie einen weiteren Weidenkorb mit Gemüse aus dem Kofferraum. Als sie sich vom Auto wegdrehten, sah Roseanne den Oldtimer von Miss Milton stehen.

»Stimmt, ich bin Roseanne Meldwin, die Jüngste.« Sie beeilte sich, zu der Haushälterin aufzuschließen, die trotz ihrer Figur ein sportliches Tempo vorlegte. Unterschätzen sollte man diese Frau auf keinen Fall. »Daisy, kannst du mir verraten, was das für ein Auto ist, also das grüne?«

Daisy schüttelte den Kopf. »Es gehört Miss Milton, aber das ist auch schon alles, was ich dir sagen kann. Frag da lieber Ben, der kennt sich mit so was aus.«

Als hätte er gehört, dass die zwei gerade über ihn sprachen, trat er hinter zwei großen Büschen hervor, in der Hand eine Heckenschere. Roseanne brachte rasch die Tüte zu Daisy in die Küche und heftete sich dann an seine Fersen. Sie fand ihn vor einer Buchsbaumskulptur, die wohl einen Hasen darstellen sollte, inzwischen aber ziemlich ausgewachsen war.

»Du, Ben?«

Er grinste angesichts ihres flötenden Tonfalls, drehte sich aber noch nicht zu ihr um. »Ja?«, fragte er lauernd.

»Kannst du mir vielleicht sagen, welche Marke Miss Milton fährt?«

Jetzt hörte er auf, den Buchsbaum zu verschneiden, sie hatte seine volle Aufmerksamkeit. »Oh ja, das kann ich allerdings! Das ist ein Austin Healey 3000 aus dem Jahr 1967. Miss Milton hat ihn von ihrem Vater übernommen und sie hütet ihn wie ihren Augapfel. Er ist sozusagen ihr Baby, weil sie keine eigenen Kinder hat. Wenn ich mehr davon verstünde, würde ich ihn ihr sogar reparieren, aber ich habe mehr Ahnung von Bäumen als von Autos.«

Roseanne stemmte die Hände in die Hüften. »Dafür konntest du mir gerade aber ziemlich viel sagen.«

»Naja, es ist ein schönes Auto und jeder Laie sieht, wie gut es trotz seines Alters in Schuss ist. Mein Freund Dave kümmert sich um ihn und ich schaue ihm manchmal dabei zu. Aber wenn er versucht, mir seine Reparaturen zu erklären, muss ich leider passen. Von der Technik im Auto habe ich keine Ahnung.«

»Bist du ihn denn schon mal gefahren?« Roseanne hatte auch erkannt, dass es sich hier um ein besonderes Auto handelte. Vor ein paar Monaten hatte sie eine Fernsehserie für sich entdeckt, in der seltene Autos wieder aufgemöbelt und dann weiterverkauft wurden. Seitdem betrachtete sie Autos mit neuen Augen und wollte möglichst viel über sie erfahren.

Ben lachte. »Du willst es aber wirklich wissen. Ja, ich bin schon damit gefahren. Das kann ich immerhin noch. Meistens spiele ich Chauffeur, wenn Miss Milton sich mit ihren Landfrauen trifft und etwas trinken will. Ich könnte sie auch auf meiner Bonneville mitnehmen, aber sie meint, sie sei zu alt fürs Motorradfahren.«

Roseanne hatte inzwischen auf dem Findling neben dem Buchsbaum Platz genommen. »Du bist ihr Chauffeur? Ich hätte gedacht, sie könnte sich jemanden leisten, der nur das macht.«

»Miss Milton ist ziemlich sparsam. Und sie hatte mal einen, der aber der Liebe wegen nach Swansea gezogen ist. Danach konnte sie niemanden mehr finden, dem sie ihr Schätzchen anvertrauen wollte. Zumindest hat sie mir das so gesagt. Ich will mich darüber nicht beklagen. Schließlich kann ich deswegen mit diesem Schätzchen fahren.« Er zwinkerte.

»Das glaube ich gerne. Meinst du, ich dürfte mal bei ihr mitfahren?«

»Solange du nicht selbst fahren willst, sollte das kein Problem sein. Ihr seid ja noch ein paar Tage hier, oder?«

Roseanne nickte. »Ja, insgesamt drei Wochen.« Sie wurde unterbrochen von ihrem laut knurrenden Magen. Die letzte Mahlzeit, die der gesehen hatte, waren die Thunfischsandwiches, die sie in ihrer letzten Pause gegessen hatten.

Ben schaute auf seine Uhr. »Es ist wirklich bald Zeit fürs Abendessen.«

»Aber Susy ist noch nicht wieder mit dem Einkauf zurück«, wandte Roseanne ein.

Er zog eine Augenbraue hoch, während er seine Geräte zusammensammelte. »Und was hast du vorhin für Daisy ins Haus getragen? Ihr könnt natürlich heute Abend mit uns essen. Ich verstehe nicht, warum deine Schwester vorhin so überhastet weggefahren ist.«

Roseanne zuckte die Schulter. »Keine Ahnung. Aber ich schätze mal, dass sie ihre Aufgabe als ›Ersatzmutter‹ so perfekt wie möglich erfüllen will.«

»Aber das muss sie doch gar nicht. Ihr seid schließlich alt genug, um euch die Aufgaben zu teilen.« Ben hob die Schubkarre an und bedeutete Roseanne mit einem Nicken, ihm zurück zum Haus zu folgen.

»Stimmt schon. Vielleicht will sie sich auch einfach beweisen, dass sie für uns sorgen kann. Wir können sie ja fragen, wenn sie wiederkommt. Huch!« rief Roseanne, als es mit einem Mal besonders heftig zu regnen begann.

Ben schloss ihr Wordwell Rose auf und sagte: »Ich komme gleich nach, ich bringe nur schnell die Schubkarre in den Schuppen.«

***

Es goss nun schon seit fast zwei Stunden. Besorgt schaute Mary auf ihre Armbanduhr. »Wo bleibt Susy bloß? «, sagte sie mehr zu sich selbst als zu irgendjemand Bestimmten.

Sie saßen mit Miss Milton, Daisy und Ben im Wohnzimmer von Wordwell Rose und tranken Tee.

»Sie wird sicher bald auftauchen«, versuchte Roseanne, die Marys Bemerkung gehört hatte, ihre zweitälteste Schwester zu beruhigen. Keine Sekunde später tönte eine Glocke hinter der Haustür. »Siehst du, das wird sie sein«, fügte sie hinzu und verpasste ihr einen freundschaftlichen Stoß in die Rippen.

Mary war davon nicht begeistert und schlug Roseannes Hand weg. Jess rollte nur mit den Augen und lehnte sich möglichst weit von den beiden weg.

Derweil war Ben aufgestanden und zur Tür gelaufen. Vor ihm stand eine klitschnasse Susan, das Haar klebte strähnig in ihrem Gesicht und die Stoffjacke hing schwer an ihr herunter. In der Hand trug sie einen prallgefüllten, tropfenden Beutel. Sie versuchte, sich das Haar aus dem Gesicht zu wischen und sah ihn bedröppelt an. Er seufzte lächelnd und legte ihr die Decke um die Schultern, die er in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. Dann führte er sie ins Gästebadezimmer hier im Erdgeschoss.

»Daisy hat schon mal das Bad vorgeheizt und Mary hat dir von den getrockneten Sachen ein paar hingelegt. Hoffentlich hat sie die richtigen ausgesucht. Wenn du hier fertig bist, warten im Wohnzimmer der Kamin, heißer Tee und Shortbread auf dich.«

Er zwinkerte, doch Susan war nicht in der Stimmung, ähnlich enthusiastisch zu reagieren. Also nickte er nur und schloss die Tür. Sie sah vor Kälte zitternd in den Spiegel. Eine vollkommen durchnässte junge Frau mit dunklem, strähnigem Haar und bleichem Gesicht schaute sie atemlos an. Ehe sie ihre Füße gar nicht mehr spüren konnte, begann sie lieber, sich auszuziehen. Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke auf und hängte sie mit spitzen Fingern auf den Handtuchtrockner, wo nach und nach auch der Rest ihrer Klamotten landete. Ihre Skinny Jeans klebte wie eine zweite Haut an ihr. Sie kam sich unheimlich lächerlich vor, wie sie da durch das Bad hüpfte und versuchte, sich aus ihrer Hose zu schälen. Aber es war ja niemand da, der sich über sie lustig machen konnte. Schließlich war sie alle störenden Klamotten los und stieg in die Dusche. Das heiße Wasser, das überraschenderweise sofort aus der Brause strömte, perlte an ihren nackten Schultern herab und sie schloss befreit die Augen.

Eine Viertelstunde später fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Sie schlüpfte in die trockenen Sachen und föhnte sich die Haare. Statt der geisterhaften Blässe waren ihre Wangen wieder rosig. Mit federnden Schritten ging sie ins Wohnzimmer. Dass ihre Einkaufstour wenig überlegt gewesen war, hatte sie schon fast wieder vergessen. Sie ließ sich neben Ben auf den letzten freien Platz im Wohnzimmer auf dem geblümten Sofa fallen. Im Kamin flackerte ein helles Feuer und auf Beistelltischchen waren Kerzen entzündet. Miss Milton saß mit Strickzeug auf dem Schoß in einem geblümten Ohrensessel und döste vor sich hin. Ihre Schwestern hockten mit angezogenen Beinen auf einem rosa-weiß gestreiften Sofa und unterhielten sich flüsternd. Als Susan zu ihnen hinübersah, kicherten sie hinter vorgehaltenen Händen. Susan rollte mit den Augen und begann, an dem Shortbread zu knabbern, das neben ihrem Sofa auf einem kleinen Tisch stand. Ben neben ihr studierte eingehend einen Ratgeber über Stauden. Am Kamin stand noch ein zweiter Ohrensessel, in dem Daisy saß und Kreuzworträtsel löste. Im Raum war es still, nur das Feuer knisterte leise vor sich hin. Susan lauschte auf Bens ruhigen Atem und schaute ihn scheu von der Seite an. Sie nahm einen Schluck Hagebuttentee, dann lehnte sie sich zu ihm und deutete auf eine Abbildung in seinem Buch.

»Was ist das für eine Staude?«, fragte sie flüsternd.

Während er ihr die Besonderheiten der Pflanzen erklärte, steckten ihre Schwestern weiter die Köpfe zusammen und tuschelten. Draußen goss es immer noch, der Regen trommelte gegen die Fenster und die Bäume bogen sich gefährlich im Sturm.

Bald schon war ein leises Schnarchen aus dem linken Ohrensessel zu hören. Ben und Susan schauten sich an und grinsten. Jess, Mary und Roseanne kicherten auf ihrem Sofa. Daisy schien das Schnarchen ihrer Arbeitgeberin nicht zu hören, oder sie ignorierte es einfach höflich. Stattdessen sah sie auf die Wanduhr über dem Kamin und dann zum Fenster hinaus.

»Ich glaube, Mädchen, es hat aufgehört zu regnen. Außerdem ist es schon spät. Ihr solltet vielleicht zurück ins Ferienhaus gehen. Ihr habt doch eine recht anstrengende Reise hinter euch«, sagte sie leise und stand auf, um die Kerzen auf den Tischen zu löschen.

Die Schwestern schauten sich erst an, dann nickten sie zustimmend und standen auf.

»Also bis morgen«, sagte Susan und drückte Bens Schulter, bevor sie sich ebenfalls erhob.

»Und eine gute Nacht!«, fügte Mary hinzu. Dann schlichen sie aus dem Wohnzimmer und schlossen die Tür leise hinter sich.

Die Luft war nach dem Regenguss kühler und sie fröstelten ein wenig auf dem Weg zum Cottage. Mit ihren Taschen im Schlepptau schlenderten sie zum Ferienhaus. Sie machten sich nacheinander bettfertig, sagten einander gute Nacht und bezogen dann ihre Schlafzimmer. Der Wind, der zuvor etwas nachgelassen hatte, fegte wieder durch die Wipfel, und irgendwo krächzte ein Käuzchen.

Kapitel 3

Lautes Zwitschern weckte Mary am nächsten Morgen durch das offene Fenster. Außerdem wehte ein laues Lüftchen herein. Von unten aus der Küche drang bereits das Klappern von Pfannen. Sie schlug die Decke zurück und fuhr in ihre Pantoffeln. Dann zog sie sich rasch um und lief die Treppe hinunter. Susan trug ein Tablett mit verführerisch duftenden Pancakes ins Wohnzimmer und stellte es auf den Esstisch. Roseanne verteilte Teller und Besteck auf den vier Platzdeckchen. Bereits auf dem Tisch stand eine Schüssel karamellisierte Ananas.

»Das ist aber ein Festessen!« bemerkte Mary, als sie auf einem der sechs geschwungen gedrechselten Stühle Platz nahm.

»Naja, wir haben immerhin Urlaub. Da können wir uns auch mal was gönnen«, erwiderte Susan und goss reihum Kaffee in die Tassen. Als sie Roseannes Becher übergehen wollte, hielt die sie am Arm fest.

»Bitte, Susy, gieß mir auch mal welchen ein. Ich bin immerhin schon fünfzehn.«

Susan sah sie mit gerunzelter Stirn an, erfüllte ihr aber den Wunsch. »Gib am besten noch Milch und Zucker dazu«, riet sie ihr.

Roseanne wollte protestieren, sie ließ sich von ihrer Schwester doch nicht vorschreiben, wie sie ihren Kaffee zu trinken hatte! Aber als sie sah, wie Mary und Jess synchron in Zustimmung nickten, rührte sie doch Milch und Zucker in ihren Kaffee. Und war am Ende froh, es getan zu haben. »Huh, das schmeckt ja furchtbar!«, rief sie nach dem ersten Schluck und sie wollte sich gar nicht vorstellen, wie schwarzer Kaffee schmeckte.

»Möchtest du, dass ich dir noch mal nachfülle?«, fragte Susan mit zuckersüßer Stimme und klimperte spöttisch mit den Wimpern.

Roseanne bedachte sie mit einem tödlichen Blick, sagte aber nichts dazu. Stattdessen verlangte sie nach der Marmelade. Ihre drei Schwestern kicherten, dann verfielen sie alle in schweigendes Kauen.

***

Als Mary und Susan gerade das Geschirr abwuschen, läutete die kleine Messingglocke in der Diele.

»Geht mal jemand an die Tür?«, rief Susan über den Flur ins Wohnzimmer, wo Jess und Roseanne zusammen über einem Puzzle saßen. Sie mussten noch ein bisschen die Zeit totschlagen, bis die Küchenbrigade fertig war. Dann wollten sie zu einem ausgedehnten Spaziergang aufbrechen.

»Ja!«, rief Jess zurück, lief zur Tür und spähte durch das Schlüsselloch. Vor der Tür standen zwei Jungs, die beide kastanienbraune Haut, eine breite Nase und katzenhafte graue Augen hatten. Der eine aber hatte kurzgeschorenes schwarzes Haar und trug ein weißes Shirt mit einem Band-Logo. Der andere war einige Zentimeter größer, hatte einen schwarzen Afro und trug ein kariertes Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Mary kam mit einem Handtuch aus der Küche und trocknete sich die Hände ab.

»Wer steht da draußen?«, fragte sie und warf sich das Handtuch über die Schulter.

Jess drehte sich zu ihr um. »Zwei Jungs, sehen aus wie Zwillinge.«

»