Ruf der Rusalka - Stephan R. Bellem - E-Book

Ruf der Rusalka E-Book

Stephan R. Bellem

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Beschreibung

Lewis hat sich geschworen, es nie wieder zu tun. Doch der faszinierenden Fremden kann er nicht widerstehen. Als Londons größter Ermittler soll er den Mord an ihrer Freundin aufklären.Aber mit jedem Schritt holen ihn die Bilder seiner Vergangenheit wieder ein und drohen, ihn unter sich zu begraben.Wäre da nicht die Frau an der Themse. Kann sie ihn vor sich selbst retten?Kate kann endlich der Eintönigkeit Manchesters entkommen und wagt sich nach London, um ihrem Traum nachzujagen: der nächsten großen Story.Und was wäre größer als ein Serienmörder?Aber die Morde sind erst der Anfang.Kate und Lewis tauchen ein in eine Welt der Geheimgesellschaften und okkulten Rituale. Können sie die Vernichtung Londons noch aufhalten?

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Kathrinschroeder

Gut verbrachte Zeit

Stephan R. Bellen Ein adliger Trunkenbold, der gern Detektiv spielt, eine junge Frau, die vom Leben als Journalistin träumt und zahlreiche tote junge Frauen im nebligen London vor ungefähr 100 Jahren. Das sind die Zutaten gewürzt mit magischen Zirkeln und einem mysteriösen Butler aus dem dieses Buch aus dem Drachenmondverlag gemixt ist. Mir gefällt das Setting, mag die liebevoll komponierten Figuren, Kates Enthusiasmus, die liebevolle Zimmerwirtin, den deutschen Butler mit Geheimnissen, ja sogar den Möchtegerndetektiv und Buchautoren mit Alkoholproblemen. Mir gefällt das Buch zu etwa 2/3, doch dann rutscht es zum Teil ab. Die "Bösen" oder die Verschwörung zum Bösen, das was dort geschieht und vor allem das Ende. Ja, die Geschichte baut auf Lewis auf nicht auf Kate - doch gerade die charmante Zweigleisigkeit der Ermittlung hat mich über Strecken begeistert. Der titelgebende "Ruf der Rusalka" bleibt nicht viel mehr als eine Idee, angedeutet aber nicht wirklich ausgeformt. Der Schrei...
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Sammlungen



Ruf der Rusalka

Stephan R. Bellem

Copyright © 2019 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

http: www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Nina Bellem

Korrektorat: Michaela Retetzki

Layout: Michelle N. Weber

Umschlagdesign: Alexander Kopainski

Bildmaterial: Shutterstock

ISBN 978-3-95991-900-5

Alle Rechte vorbehalten

Für alle, die das Gefühl haben, verloren zu sein.

Lasst euch Zeit.

Hört auf euer Herz

und euer Weg wird euch finden.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Epilog

Nachwort und Danksagung

Kapitel 1

Montag, 9. September 1895

01:42 Uhr

Lewis

Du hast genug, Lewis. Verdammt, du hattest schon genug, als du zur Tür reingekommen bist.«

Die Stimme drang dumpf an sein Ohr, und es dauerte einige Augenblicke, bis er die Worte entschlüsselt und geordnet hatte. Er winkte ab und brummte dabei in seinen Ärmel. Dann hob er den Kopf ein kleines Stück, gerade weit genug, um frei sprechen zu können. »Noch ein Letztes, ja?«, murmelte er undeutlich.

»Das hast du schon bei dem hier gesagt. Und bei den vier davor«, entgegnete die Stimme mit einem Seufzen. »Geh, solange du noch selbst laufen kannst.«

Lewis van Allington versuchte den Kopf zu schütteln zum Zeichen seines Protestes, doch schon bei der kleinsten Bewegung begann die Welt, sich zu drehen.

Die Stimme schien jetzt direkt neben seinem Ohr zu schweben. »Du hast genug, Lewis.« Der Sprecher machte eine bedeutsame Pause, ehe er fortfuhr: »Zwing mich nicht, dich vor die Tür zu setzen. Mach es nicht noch peinlicher, ja?«

Er ließ die Worte einen Moment lang sacken, wartete, bis sie sich von seinen Ohren in seinen Verstand vorgearbeitet hatten und dort auch wirklich angekommen waren. Schließlich gab er nach. »In Ordnung, Ed.« Lewis erhob sich langsam und mit Bedacht von dem Barhocker und schnippte dabei mehrmals mit den Fingern. »Chester?«, rief er vor sich hin. »Komm her. Wir gehen.«

»Bist du sicher, dass du keine Hilfe brauchst?«, fragte Edward besorgt, während er das letzte Bierglas abräumte.

Lewis schüttelte den Kopf, was ihn so sehr ins Wanken geraten ließ, dass er sich an der Theke abstützen musste, um nicht in besonders ungebührlicher Weise auf dem Boden aufzuschlagen. Die übrigen Gäste, von denen es um diese Uhrzeit nicht mehr allzu viele gab, lachten leise, zeigten vermutlich auch mit ihren dreckigen Fingern auf ihn, doch er ignorierte ihren Spott. »Brauch’ nur frische Luft«, raunte er. »Und den verdammten Hund. Chester!«

Der Dürrbächler trottete gemächlich heran und streckte sich mit genüsslichem Grunzen. Er hatte den Abend schlafend in der Ecke zwischen Theke und Wand verbracht, wo ohnehin nur selten ein Gast sitzen wollte. Vermutlich hatte er getan, was er immer tat: Von Zeit zu Zeit hob er seinen massiven Schädel und blickte neugierig in die Runde, bellte hin und wieder, wenn die Streitigkeiten beim Kartenspielen zu laut wurden, und half Edward im Allgemeinen dabei, ungebetenen Gästen das Verlassen der Kneipe schmackhaft zu machen. Lewis wusste, dass dem Hund die abendlichen Spaziergänge gefielen, denn tagsüber kam er nicht zu sonderlich viel Auslauf. Die Straßen waren immer überfüllt, was es für den großen Hund nicht gerade leicht machte, sich unbekümmert zu bewegen.

Jetzt betrachtete er sein Herrchen hechelnd von der Seite, wobei er die braunen Lefzen fast zu einer Art Lächeln verzog und erwartungsvoll mit dem Schwanz wedelte.

»Bring uns nach Hause«, flüsterte Lewis ihm ins Ohr, als er nach der Leine griff. Dann wandte er sich noch einmal Edward zu. »Schreib’s auf.«

Ed seufzte. »Sag Dietrich einfach, dass er mir das Geld vorbeibringen soll. Du schuldest mir schon über zwölf Schilling.«

Lewis winkte ab. »Jaja. Kümmere mich drum.« Dann gab er Chester ein Zeichen und der Dürrbächler setzte sich gemächlich in Bewegung.

»Nein, sag ihm lieber, dass ich es mir abholen komme!«, rief ihnen Edward noch nach, kurz bevor sie die Bar verließen. Lewis wedelte zur Bestätigung einmal kurz mit der Hand, unsicher darüber, ob er sich die Worte tatsächlich merken würde.

Vor der Kneipe blieb Chester noch einmal stehen und schien auf das nächste Kommando zu warten. Lewis versuchte sich zu erinnern, welchen Weg sie zuvor genommen hatten – es wollte ihm jedoch partout nicht einfallen. Der Alkohol lähmte seine Gedanken, also gab er dem Hund einen Befehl, von dem er sicher wusste, dass er ihn verstand. »Blackfriars.« Es war ein großer Umweg bis zu seinem Haus am Regent’s Park, doch das würde ihn ein wenig ausnüchtern und ihm vielleicht Dietrichs schnippische Kommentare ersparen. Dass Letzteres ein frommer Wunsch bleiben würde, dessen war er sich ungeachtet seines Zustands so gut wie sicher.

Chester grunzte vergnügt und Lewis hatte nicht den Hauch einer Chance. In seinem alkoholisierten Zustand reagierte er viel zu langsam und hielt die Hundeleine noch fest umschlossen, als der Dürrbächler freudig einen Satz nach vorn machte. Der zentnerschwere Hund riss ihn einfach mit sich, und Lewis schlug der Länge nach auf den Boden. Zu seinem Glück war die Seitenstraße nicht gepflastert und der Sturz lief glimpflich ab. Seine Kleider waren verdreckt, seine Würde ramponiert, doch sein Körper unversehrt.

»Halt!«, rief er laut, und Chester blieb mit einem empörten Schnauben auf der Stelle stehen.

Der Hund bedachte ihn mit einem Blick, der wahrscheinlich eine Mischung aus Unverständnis und Besorgnis darstellte, als er zum am Boden liegenden Lewis zurückkam, ihn mit der Schnauze anstupste und fürsorglich dessen Wange ableckte.

»Schon gut«, raunte Lewis und wedelte abwehrend mit den Armen. Er kämpfte sich wieder auf die Füße und stützte sich an einer Hauswand ab. »Langsam. Verstehst du?«

Wie zur Antwort warf Chester ihm eines seiner gehechelten Lächeln entgegen und startete erneut. Diesmal allerdings brav neben seinem Herrchen hertrottend und keinen Schritt schneller, als es der volltrunkene Mensch vermochte.

Dennoch hatte Lewis alle Mühe, sich auf dem unebenen Boden auf den Beinen zu halten, mehrmals geriet er ins Straucheln und rempelte dabei nicht selten Chester an, der die Schläge jedoch schnaubend abschüttelte. Irgendwo ganz hinten in seinem Hirn, wo er noch einen klaren Gedanken fassen konnte, dankte Lewis dem Hund für dessen unerschütterliche Ruhe.

Eine Zeit lang kämpfte er noch um jeden Schritt, den er seinen Beinen abrang, doch schon zwei Straßen weiter klärte die frische Nachtluft seinen Verstand ein wenig auf. Seine Füße fanden besser Tritt, das schaukelnde Gefühl ließ allmählich nach. Dennoch entschied Lewis, auf der Blackfriars Bridge eine kleine Verschnaufpause einzulegen. Er hielt an einer Straßenlaterne an, band Chesters Leine lose darum und stützte sich auf der Brückenmauer ab, blickte hinunter zum Flussufer.

Seine Überraschung hätte nicht größer sein können, als er die kleine Menschentraube dort unten entdeckte, die sich um zwei Polizisten gebildet hatte. Polizisten zu dieser Uhrzeit zu sehen, war schon eine Seltenheit, ein Menschenauflauf dazu verhieß sicher nichts Gutes. Die Menschen redeten aufgeregt durcheinander, sodass ihre Stimmen zu einem einzigen Brummen verschmolzen, als blickte er direkt auf eine Bienenzucht.

Lewis wollte unentdeckt bleiben. Er zog es vor, die Polizisten ungestört bei ihrer Arbeit zu beobachten, und sein Aussichtspunkt hätte nicht besser sein können. Es war seltsam, beinahe schon komisch – er konnte noch so betrunken sein, ein Teil von ihm, der Teil, den Verbrechen faszinierten, ließ sich nicht abschalten, nicht mit noch so viel Schnaps und Bier. Hier stand er auf der Blackfriars Bridge und beobachtete heimlich, wie die Beamten der Metropolitan Police gerade eine Frauenleiche aus einem nassen Sack zogen.

Eine von vielen, dachte er.

Er war zu weit entfernt, um Einzelheiten der Leiche erkennen zu können, und die Polizisten verluden sie bereits auf einen Wagen, um sie zu Scotland Yard zu bringen. Sobald die Laderampe des Karrens wieder hochgeklappt wurde, verließen die ersten Schaulustigen den Ort des Geschehens und gingen in ihre Häuser zurück. Sie würden noch einige Tage ihren Freunden und Bekannten davon erzählen, würden Behauptungen über den Zustand der Leiche aufstellen und dabei maßlos übertreiben, das wusste Lewis. Er wusste jedoch ebenso gut, dass der Vorfall nach wenigen Tagen in Vergessenheit geraten würde. Die Menschen im Southwark hatten genug eigene Probleme, um die sie sich kümmern mussten.

Chesters leises Knurren fing seine Aufmerksamkeit wieder ein, und er folgte dem Blick des Dürrbächlers, der gerade mit aufgestellten Ohren ein kleines Tier fixierte, das auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke entlanghuschte. »Bloß ’ne Ratte.«

Er kraulte ihn hinter dem rechten Ohr, um ihn für seine Wachsamkeit zu belohnen. Chester dankte es ihm mit einem fröhlichen Schwanzwedeln.

Sie beide sahen der Ratte dabei zu, wie sie auf der Brückenmauer entlangrannte und dann plötzlich über den Rand aus ihrem Blickfeld verschwand. »Keine Sorge«, kommentierte Lewis Chesters Winseln, »die kommt schon zurecht.«

Er musste immer wieder den Kopf darüber schütteln, mit welcher Neugier der Dürrbächler die Welt um ihn herum wahrnahm. Und welche Aufmerksamkeit er jedem Lebewesen zollte. In besonderem Maße den Hündinnen im Park, die nach Chesters Auffassung überaus bedürftig waren. Einem Menschen hätte man einen zu zügellosen Umgang mit Frauen nachgesagt.

Er wollte Chester gerade wieder von der Laterne losbinden und den Heimweg fortsetzen, als seltsame Laute an sein Ohr drangen. Es war mehr als ein Schluchzen, auch ein wenig lauter, wie der Klang einer weinenden Frau, doch nicht so hysterisch. Und es war sehr viel melodischer, folgte einem eigenen Rhythmus von erst ansteigender Intensität, jäh gefolgt von einem Verblassen der Stimme. Als würde man zulassen, dass der Wind die eigenen Töne allmählich verschluckte und hinfort trug. Es war beinahe wie ein Gesang. Eine traurige Melodie, die sein Herz schwer werden ließ. Nein, das ist es nicht ganz, dachte Lewis. Gesang ist zu viel gesagt. Er konnte sich die Melodie nicht wirklich erklären, konnte ihr aber auch nicht widerstehen. Sie war ruhig und mit klarer Stimme vorgetragen. Sie ging ins Ohr, summte in seinen Gehörgängen und nistete sich in seinem Kopf ein. Schon jetzt ertappte er sich dabei, wie er dem gleichmäßigen Rhythmus folgte und hin und wieder mit einem leisen, unbeholfenen Summen mit einstimmte.

Er blickte Chester fragend an, und auch der Dürrbächler lauschte der leisen Wehklage mit schief gelegtem Kopf. Hin und wieder stieß er ein hohes Winseln aus und trat nervös auf der Stelle.

»Soll ich nachsehen?«, fragte Lewis und erhielt als Antwort ein weiteres leises Winseln. »In Ordnung.« Er machte einen Schritt, dann wandte er sich noch einmal Chester zu: »Du bleibst hier.«

Unweit neben dem Zugang zur Brücke gab es eine Treppe, die hinunter ans Ufer der Themse führte. Der Nebel hatte die Stufen glitschig werden lassen und Lewis war nach wie vor stark alkoholisiert, sodass er selbst auf ebenen Wegen Probleme mit dem Gleichgewicht hatte. Er nahm die erste Stufe und rutschte aus, das rechte Bein glitt mehrere Stufen hinab und er hatte Glück, dass er das Geländer noch zu fassen bekam.

»Scheiße!«, fluchte er laut, als er mit der rechten Seite schmerzhaft gegen das Geländer schlug. Für einen kurzen Augenblick blieb er auf den Stufen sitzen und atmete durch. Die Wolkendecke lichtete sich gerade ein wenig und der Nebel auf der Themse erstrahlte in bläulichem Mondlicht. Der Fluss war ein leuchtendes Band, das sich wie eine pulsierende Ader durch die gesamte Stadt zog. Und dabei dennoch stets ein ruhender Pol inmitten der Hektik und des Trubels blieb. Die Themse folgte lediglich den Gezeiten. Keinen Geschäften, keinem Kalender, keinen Wünschen. Sie brachte Leben und Wohlstand in die Stadt. Täglich legte eine unüberschaubare Anzahl an Schiffen an den Docks an, brachte Waren aus fernen Ländern und den Kolonien oder nahm Ladung auf, die über die See transportiert wurde.

Und heute Nacht hat sie wieder den Tod gebracht, dachte Lewis. Denn auch das war dieser Fluss. Ein gefräßiges Monster, dem man nur allzu schnell anheimfiel. Und was die Themse einmal in ihren Klauen hatte, gab sie niemals mehr frei.

Er lauschte in die Nacht. Und als er feststellte, dass das leise Wehklagen noch immer zu hören war, raffte er sich auf, zog sich am Geländer empor und setzte seinen Abstieg fort.

Am Flussufer versank er in knöcheltiefem Schlamm. Abends hatte es geregnet, fast bis Mitternacht, und die Erde war aufgeweicht. Seine Schuhe lösten sich nur schwer und unter schmatzenden Protesten aus dem feuchten Grund, als er sich Schritt für Schritt voranarbeitete. An den Brückenpfeilern war ein breiter Absatz. Kinder nutzten ihn gern, um darauf zu sitzen und Steine in den Fluss zu werfen oder mit selbst gebastelten Angeln vergeblich auf die Jagd nach Fischen zu gehen. Und hin und wieder wurde der Platz von Obdachlosen genutzt, um die Nacht nicht schutzlos auf der Straße verbringen zu müssen.

Wobei Lewis nicht einleuchtete, wie viel sicherer ein Brücken­pfeiler bei Nacht im Vergleich zu einer ruhigen Seitengasse war, doch in der Befürchtung, dabei nur auf kompletten Unsinn zu stoßen, hatte er vor Jahren schon aufgehört zu versuchen, die menschliche Psyche nach jedweder sinnhaften Ambition zu durchforsten. Meistens gab es da tatsächlich erschreckend wenig zu entdecken.

Unter der Brücke, auf dem Absatz des ersten Pfeilers saß eine einfach gekleidete Frau. Sie starrte aufs Wasser hinaus und summte ihre traurige Melodie.

Möglicherweise hat sie den Sack mit der Leiche entdeckt, dachte er. Mit jeder Minute verflog die Wirkung des Alkohols weiter und ersetzte seine trübe Gleichgültigkeit durch den grüblerischen Verstand, dem jeder von Leichtigkeit getragene Gedanke zu weichen hatte und der Lewis, sosehr er ihn auch als den ausmachte, der er war, so unendlich missfiel.

Er machte noch einen Schritt auf die Dame zu. Einen kurzen Moment lang wagte er nicht, sie überhaupt anzusprechen. Er wollte ihre Melodie nicht stören, wollte sie nicht so überfallen. Doch schließlich überwog die Neugier, mehr darüber zu erfahren, was hier geschehen war. »Guten Abend, Miss«, sagte er leise.

Sie fuhr erschrocken zu ihm herum.

Er blieb wie angewurzelt stehen, in Bann geschlagen von der Schönheit ihres Antlitzes. Mandelförmige Augen von tiefblauer Farbe schimmerten im Mondlicht beinahe wie die Themse. Sie wurden von hohen Wangenknochen und glatten dunkelblonden Haaren eingerahmt. »Verzeihung«, stammelte er. »Ich kam die Straße entlang und bemerkte den Tumult hier unten.« Er kam ins Stocken, als sie ihn mit einem gleichsam gebannten wie furchtsamen Blick belegte.

»Eine Frau«, sagte sie so leise, dass das Rauschen der Themse ihre Worte fast verschluckte.

Er legte den Kopf schief. »Wie bitte?« Mit dieser Haltung sah er Chester vermutlich ähnlicher, als ihm lieb war, darum straffte er sich, zog das Jackett gerade, nahm den Bowler ab und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, um zwei braune Strähnen aus seinem Gesicht zu wischen.

»Die Leiche, wissen Sie?«, fuhr sie fort und deutete aufs Wasser.

Endlich gelang es ihm, seine Gedanken zu ordnen und ihren Worten zu folgen. »Ah, ich verstehe«, sagte er schnell. »Die Tote wurde in dem Sack angeschwemmt, richtig?«

Sie nickte. »Mord.«

»Bitte?«

»Ihr Tod.«

Er kratzte sich an der rechten Nasenwand, fuhr sich mit den Fingern über die Nasenflügel. »Mord. Sind Sie sicher, Miss?«

»Ja.«

Eine Tote im Sack, fasste er im Geist zusammen. Da ist Mord naheliegend.

Hin und wieder kam es vor, dass sich angesehene Politiker oder Kaufleute auf diese Art einer Hure entledigten, wenn sie beim Liebes­spiel das Zeitliche gesegnet hatte. Lewis konnte nicht ganz nachvollziehen, wie man eine Frau beim Liebesspiel so sehr misshandeln konnte, dass sie ernstlichen Schaden nahm, doch auch das fiel in die Kategorie der Bereiche der menschlichen Psyche, die er niemals völlig verstehen würde … oder wollte.

»Sie darf nicht so enden«, sagte die Frau plötzlich.

»Wie?«

»Vergessen. Sie darf nicht vergessen werden.«

»Kannten Sie die Tote etwa?«

Sie zuckte die Achseln. »Ich bin mir nicht sicher.«

Na herrlich …, dachte er. Da habe ich die einzige Zeugin vor mir, und sie hat durch den Schock ihr Gedächtnis verloren.

Solche Dinge waren keine Seltenheit, er hatte es schon häufiger erlebt. Manche Menschen konnten sich manchmal monatelang nicht an den Hergang des Ereignisses erinnern, nur um dann irgendwann von der ganzen Härte ihrer Erinnerungen überrollt zu werden. In einem seiner Bücher hatte er einen solchen Zeugen erwähnt: Der Butler eines Kaufmannes, der mit angesehen hatte, wie ein Konkurrent des Hausherrn die halbe Familie mit einer Axt erschlagen hatte.

Kein schöner Anblick, aber ein durchaus interessanter Kriminalfall, wie sich im weiteren Verlauf gezeigt hatte. Und es hatte seinen Erfolg begründet, weswegen Lewis der Geschichte von jeher ambivalent gegenüberstand.

Er konzentrierte sich wieder so gut es ging auf sein Gegenüber. Sie wirkte nicht sonderlich verwirrt, schien allerdings gehörig verunsichert. Sie zitterte, hielt ihren Oberkörper fest umschlungen. Lewis wunderte es nicht, denn sie trug lediglich ein einfaches weißes Kleid, zwar mit langen Ärmeln und aus schwerem Leinenstoff, aber kaum genug, um dem kalten Wind zu trotzen.

»Doch«, sagte sie plötzlich. »Doch, ich kannte sie.«

»Und wie war ihr Name?«

Sie blickte ihn fragend an. »Ich weiß es nicht. Wissen Sie es?«

Er seufzte leise.

»Bitte, Mr van Allington, Sie müssen sie finden!«

»Woher kennen Sie …?«, begann er, ließ die Frage aber auf sich bewenden. Vermutlich hat sie mein Bild in den Zeitungen gesehen, schlussfolgerte er.

»Ich wusste, dass Sie kommen würden. Bitte, Mr van Allington!«, wiederholte sie noch ein wenig eindringlicher.

Er legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch. »Ich mache das eigentlich nicht mehr«, flüsterte er.

»Ich weiß«, entgegnete sie.

»Woher?«

»Ich sehe es in Ihren Augen. Ihr Blick ist … leer.«

»Leer«, wiederholte er, »das trifft es ganz gut.«

Sie wandte sich wieder ab und starrte auf die nebelverhangene Themse hinaus. »Die Polizei wird der Sache nicht nachgehen.«

Er schnaubte verächtlich. »Nicht sehr lange, nein.«

Sie entließ ihren Atem in einem tiefen Seufzen, das schon fast so melodisch wie die Wehklage war, die sie zuvor noch gesummt hatte. »Ich brauche Ihre Hilfe.«

Er musterte sie eingehend. Sie wirkte so einsam, so hilflos. So, wie ich mich fühle, dachte er. Wer würde ihr schon helfen? Einer einfachen Frau aus Southwark? Wer wird versuchen, den Tod der Frau aufzuklären? Er schüttelte den Kopf. Niemand.

»Bitte.« Sie schluchzte leise. »Sie darf nicht vergessen werden, darf nicht namenlos sterben.«

Wahrscheinlich ist der Toten am meisten geholfen, wenn diese Frau hier sich wieder an sie erinnert, dachte er. Vielleicht reicht es schon, wenn ich ihr ein wenig durch den Schock hindurchhelfe. Und wenn ihre Erinnerung zurückkehrt, wird sie mit dem Tod der Frau abschließen können … Aber wieso sollte ich?

Er seufzte erneut. »Ich mache das nicht mehr«, wiederholte er.

Sie nickte niedergeschlagen. »Dann sollten Sie jetzt gehen«, sagte sie. »Chester wartet sicherlich schon ungeduldig auf Sie.«

Er wollte sich schon mit einer geheuchelten Entschuldigung verabschieden und die nächtliche Episode möglichst rasch vergessen – sie am besten mit seinen übrigen Erinnerungen im Schnaps ersäufen –, als ihn ein kleines Detail im Geist zwickte. Woher kennt sie Chesters Namen?

Noch immer haftete ihr Blick auf der Themse. Und auch ansonsten schien sie keine Notiz mehr von ihm zu nehmen.

»Kennen wir uns?«, fragte er leicht verunsichert.

»Wir unterhalten uns doch«, entgegnete sie und drehte ihm den Kopf ein wenig zu, sodass er ihren traurigen Blick erkennen konnte.

Woher kennt sie Chester?, hämmerte es in seinem Schädel. Nur Bekannte von ihm kannten den Namen des Dürrbächlers. Er hatte ihn weder in seinen Büchern noch in der Zeitung erwähnt. Aber ich kenne keine verwirrten Obdachlosen!

»Sie sollten weniger trinken«, fuhr sie fort. »Es ist nicht gesund.«

Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. War das einer von Dietrichs Scherzen? Nein, viel zu subtil, verwarf er den Gedanken rasch wieder. Der deutsche Butler neigte zu einer kruden Art Humor, kaum von plumpen Beleidigungen zu unterscheiden. Und seine Witze wirkten stets einstudiert. Lewis vermutete, dass der Mann ein kleines Notizbuch, angefüllt mit schlechten Scherzen, vor ihm versteckte. Womöglich noch mit einer Statistik, wann er sie erzählte, denn seltsamerweise wiederholte sich Dietrich nur äußerst selten. Er war ein unerschöpflicher Quell an unpassenden Kommentaren.

Er vertrieb die Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln und konzentrierte sich wieder auf den Moment. »Miss, woher kennen Sie den Namen meines Hundes?«

»Von Ihnen natürlich.«

Lewis nickte und entspannte sich. Vermutlich hat sie mich einfach vorhin mit Chester sprechen hören, dachte er erleichtert.

Sie blickte kurz zum Himmel. »Sie sollten sich beeilen. Wenn es anfängt zu regnen, bevor sie ihr Haus erreichen, muss der arme Dietrich wieder die Böden wischen.«

»Dafür habe ich ein Mädchen«, antwortete er vorschnell, starrte sie dann jedoch mit offenem Mund an.

Bereits zum wiederholten Mal hatte die Frau ihm die Sprache verschlagen. Etwas, das nicht vielen Menschen gelungen war, vielleicht sogar noch keinem vor ihr. Und erneut fragte er sich, weshalb ihr diese Details aus seinem Leben bekannt waren, er sich aber partout nicht an sie erinnern konnte.

In seinem Kopf arbeitete sein Verstand fieberhaft an einer Lösung des Problems. Und es kristallisierte sich rasch heraus, dass es nur eine Möglichkeit gab, wenn er erfahren wollte, woher sie so viel über ihn wusste: Er musste ihr in der Sache mit der Toten helfen. Wenn er jetzt ginge, würde er sie in dem Moloch, den London darstellte, vermutlich niemals wiederfinden. Und mit einem Mal erkannte er, dass er das über alle Maßen verhindern wollte.

»Ich könnte mir die Leiche morgen ansehen«, sagte er plötzlich.

Schon lächelte sie dankbar. Eine wohlige Wärme breitete sich in Lewis’ Körper aus. Ähnlich des Gefühls, das ihm der Schnaps im Magen vermittelte, nur schöner, echter. Er hatte sich schon lange nicht mehr so gefühlt. Die Leute mieden ihn, seit er den Ruf hatte, jede Fassade durchschauen zu können. Und obwohl seine Bücher zu den von ihm gelösten Kriminalfällen geradezu reißerischen Absatz fanden und ihm ein solides Auskommen ermöglichten, machten sie ihn auch unendlich einsam. Nahezu alle früheren Bekannten und Freunde hatten sich auf Dauer von ihm abgewandt. Zu sehr war er in die Welt der Verbrechen abgetaucht, zu misstrauisch war er allem und jedem gegenüber geworden.

Doch diese Frau fürchtete ihn nicht. Sie bedurfte lediglich seiner Hilfe.

»Wie kann ich Sie erreichen, wenn ich etwas herausfinde?«

»Ich …« Sie machte eine lange Pause, als schien die Antwort ihr Kopfzerbrechen zu bereiten. »Ich … werde hier sein.«

Obdachlos, folgerte er mit einem Kopfnicken. Also war die Tote vermutlich auch obdachlos gewesen, wenn sie sich gekannt hatten. Keine Chance, dass Scotland Yard viel Energie auf den Fall verwendet. »Dann treffe ich Sie also hier«, antwortete er freundlich. »Gegen …«

»Ich bin immer hier«, fiel sie ihm ins Wort.

Er zuckte die Achseln. »Also schön, Miss …«

Sie lächelte.

Er verabschiedete sich und stieg die Treppe wieder hinauf. Chester wartete brav am Laternenpfahl auf ihn. Soweit Lewis das beurteilen konnte, hatte der Dürrbächler sich seit seiner Abwesenheit keinen Zentimeter weit bewegt. Er machte die Leine los. Mittlerweile beeinträchtigte der Alkohol ihn fast gar nicht mehr, darum konnten sie ein etwas schnelleres Tempo anschlagen, was vor allem Chester begrüßte.

Nach der Brücke hielten sie sich links, bogen bald in den Strand ein und spazierten bis zum Trafalgar Square. Dort gingen sie zum Piccadilly Circus und dann die Regent Street weiter in nördlicher Richtung entlang.

Lewis beachtete seine Umgebung kaum noch. All die Jahre in London hatten ihn abstumpfen lassen. All die Sehenswürdigkeiten und kunstvoll verzierten Bauwerke, die die Touristen so liebten, waren für ihn nichts weiter als eine Randnotiz auf seinem Heimweg. Ihn interessierte bloß, die Devonshire Street 17 zu erreichen und das Bett, das dort auf ihn wartete.

Zu Hause angekommen, gab er sich alle Mühe, leise zu sein, um Dietrich nicht zu wecken. Es war paradox und ließ ihn nicht selten mit dem Vorsatz zurück, den Butler zu entlassen, doch meistens war er sehr zufrieden mit ihm.

»Guten Abend, der Herr«, erklang die Stimme des älteren Mannes aus der Küche, und Lewis ließ die Schultern hängen.

Er hat die ganze Nacht gewartet, dachte er. »Guten Abend, Dietrich.«

»Verlief der Tag zu Ihrer Zufriedenheit?« Schon stand er neben ihm und half ihm, den Mantel auszuziehen.

»Ich … nein … ja …«, stammelte Lewis.

Dietrich zog die linke Augenbraue hoch und schnüffelte demonstrativ an Lewis’ Kopf. »Es scheint, als haben Sie alles bekommen.«

Lewis musste immer wieder über den harten Akzent des Deutschen schmunzeln, doch Dietrich ließ sich niemals anmerken, ob es ihn kränkte oder nicht. Eine Erwiderung auf die unpassende Bemerkung gab er jedoch nicht, es wäre ohnehin sinnlos. Die Tatsache, dass der Deutsche es mit ihm aushielt, ließ ihn über viele Dinge großzügig hinwegsehen. »Ich möchte zu Bett gehen.«

Dietrich nickte. »Ich war so frei und habe bereits einen Eimer neben Ihr Bett gestellt.«

Lewis übergab ihm die Hundeleine und machte sich auf den Weg ins Obergeschoss. »Sehr aufmerksam«, murmelte er noch.

»Eine der unzähligen deutschen Tugenden.« Dann führte Dietrich Chester in die Küche, wo er ihm die Pfoten waschen würde, damit der Hund nicht den ganzen Dreck der Straße ins Haus trug, wie er es immer tat.

Lewis van Allington ließ sich indessen müde auf sein Bett fallen. Als er die Augen schloss, da kreisten seine Gedanken um die blonde Frau von Blackfriars Bridge und die Frage, woher sie sich kannten.

Das unangenehme Gefühl durchgeschwitzter Kleidung weckte ihn mit dem ersten Sonnenstrahl. Ein brennender Durst schmerzte in seiner Kehle. Der Durst nach mehr.

Er schlug die Decke beiseite und stellte fest, dass es nicht Schweiß war, der ihn geweckt hatte. Beißender Gestank fuhr ihm in die Nase und ließ ihn angewidert von sich selbst das Gesicht verziehen.

Lewis rollte aus dem Bett, versuchte die Schweinerei nicht weiter zu beachten und landete laut polternd auf dem Fußboden. Auf allen vieren krabbelte er ins Bad.

Er wollte gerade nach Dietrich rufen, als der Butler bereits das Schlafzimmer betrat. »Sie haben geläutet«, stellte er nüchtern fest.

»Mach das Bett sauber«, befahl Lewis, während er mit zitternden Fingern versuchte, den Wasserhahn der Badewanne aufzudrehen.

»Und bring mir etwas zu trinken!«, rief er Dietrich hinterher, als dieser gerade mit dem verdreckten Bettzeug verschwand.

Lewis zerrte sich die klebrigen Sachen vom Körper und verteilte sie achtlos auf dem Boden. Dann kletterte er in die Kupferwanne und beobachtete, wie der Wasserspiegel allmählich anstieg.

Wenig später erschien Dietrich im Badezimmer. In der rechten Hand hielt er ein weißes Tuch, auf der linken balancierte er ein Glas Scotch auf einem Tablett. »Oder wünscht der Herr die Flasche?«

»Natürlich die Flasche!«, herrschte Lewis ihn an. Er konnte nicht fassen, dass der Butler nach all der Zeit noch immer nicht begriffen hatte, dass er einen morgendlichen Drink brauchte! Er brauchte ihn, um sich überhaupt noch normal zu fühlen.

»Also Frühstück in der Wanne, sehr wohl«, sagte Dietrich, stellte das Tablett auf einem Holzbänkchen neben der Kupferwanne ab und hängte das Handtuch ebenfalls sorgsam darüber. »Soll ich eine neue Matratze kommen lassen?«

Lewis verzog die Miene. Wenn ihn seine Erinnerung nicht trog – was sie selten tat –, dann war es bereits der fünfte Zwischenfall dieser Art gewesen. »Ja.« Seine Stimme war kaum leiser geworden.

»Keine Sorge, der Herr. Ich lasse einfach das Gerücht verbreiten, Ihr wäret mit Inkontinenz geschlagen.«

Er bemühte sich, Dietrich nicht zu zeigen, wie peinlich ihm die Situation war. Er griff hektisch nach dem Drink und schüttete den Scotch in einem Zug hinunter. Der Alkohol brannte in seinem Bauch, verströmte eine wohlige Wärme, die er so sehr vermisste.

Und mit dem ersten Schluck hatte auch das Zittern nachgelassen.

Dietrich erschien wenig später mit der Flasche und stellte sie auf das Tablett. »Wohl bekomm’s, der Herr.«

Lewis versuchte ihm einen drohenden Blick entgegenzuwerfen, was sich angesichts seiner momentanen Lage als nahezu unmöglich erwies. »Ich lasse dir viel durchgehen, Dietrich«, fing er an, »aber ich erwarte dafür Respekt von dir.«

Dietrich zog skeptisch eine Augenbraue hoch. »Der Herr bekommt von mir denselben Respekt, den er vor sich selbst aufbringt.« Er wartete steif neben der Badewanne, bereits um diese Uhrzeit schon perfekt herausgeputzt im Frack mit weißen Handschuhen und ohne jede Spur von Müdigkeit. Als Lewis keine Erwiderung parat hatte, nickte Dietrich lediglich vielsagend und reichte ihm ein Stück Seife. »Wenn der Herr vorzeigbar ist, ich habe frische Pfefferminze in der Küche.«

»Wofür sollte ich die wollen?«, fragte Lewis entgeistert.

Dietrich zuckte die Achseln. »Der Herr erinnert sich vermutlich nicht mehr, doch letzte Nacht habt Ihr verkündet, heute Morgen eine Leiche anschauen zu wollen.«

Die Frau!, fiel es Lewis siedend heiß wieder ein. Natürlich! »Oh ja, das will ich in der Tat.« Er ergriff die Seife und begann sich zu waschen.

»Soll ich nach einer Kutsche schicken lassen?«

Lewis nickte, als ihm ein weiteres Detail seiner letzten Sauftour einfiel: »Und Edward kommt heute vorbei, um sein Geld zu kassieren. Ich schulde ihm zwölf Schilling … Gib ihm zwanzig, ja?«

»Ganz wie der Herr wünscht.«

»Jaja. Such mir einen Anzug raus«, befahl er und verwies Dietrich mit wedelnder Hand des Zimmers. »Aber nicht den grauen!«, schickte er noch hinterher.

Lewis tauchte den Kopf unter Wasser und wusch sich so die Seifenreste aus dem Gesicht. Er rieb sich die Augen trocken und kletterte aus der Wanne. Das Handtuch greifend, tapste er zum Spiegel über dem Waschtisch und kontrollierte sein Gesicht. Die letzte Rasur lag zwar schon zwei Tage zurück, doch die Länge der Stoppeln war noch im vertretbaren Bereich. Nicht zu dunkel, dachte er zufrieden und trocknete sich weiter ab.

Dietrich hatte ihm nebst weißem Hemd einen dunkelbraunen Dreiteiler bereitgelegt. Die Matratze hatte er bereits aus dem Bett entfernt und die Fenster waren weit geöffnet, um den sauren Gestank von Erbrochenem aus dem Zimmer zu verjagen. Lewis war stets aufs Neue erstaunt, wie schnell der Mann arbeitete, und griff nach der Unterwäsche.

Er band gerade den Krawattenknoten, als Dietrich eintrat. Auf einem zweiten Tablett balancierte er ein Glas mit grünem Inhalt, das einen sehr aufdringlichen und stechenden Duft verströmte.

»Was soll das sein?«, fragte Lewis abweisend und suchte derweil eine passende Taschenuhr zum Anzug heraus. Gold, entschied er nach kurzem Zögern.

»Der Herr wird sich danach sicherlich klarer im Kopf fühlen«, versprach der deutsche Butler.

»Es riecht, als könnte es Tote aufwecken.«

»Das wurde bisher noch nicht versucht, doch vielleicht kommen wir noch in den Genuss der Situation«, entgegnete er trocken. »Der Herr scheint es mir immer stärker darauf anzulegen.«

»Spar dir das, Dietrich«, versuchte er vergeblich, den geschwätzigen Butler zur Räson zu bringen. Ein weißes Einstecktuch aus der Schublade komplettierte seinen Aufzug und er griff widerstrebend nach dem Glas mit der grünen Flüssigkeit. Er prostete Dietrich scherzhaft zu. »Für Königin und Vaterland.« Dann hielt er die Luft an und stürzte den Inhalt in einem Zug hinunter.

Das Zeug schmeckte scheußlich, wie eine Mischung aus getragenen Socken und Terpentin. Pfefferminz brannte scharf in Kehle und Magen und er hatte das Gefühl, sich jeden Augenblick übergeben zu müssen.

Lewis unterdrückte ein Würgen. »Das ist ja widerlich«, stellte er verächtlich fest.

Dietrich zog eine Augenbraue hoch. »Der Herr schüttet Abend für Abend wesentlich schlimmere Dinge in sich hinein.« Dann drehte er sich auf dem Absatz um und verschwand.

»Ihre Kutsche steht bereit!«, rief er wenig später von unten hinauf.

Lewis prüfte noch ein letztes Mal den Sitz seiner Krawatte, griff seinen Spazierstock, einen einfachen schwarzen Stab mit silbernem Knauf, und den Bowler, den er so gern trug. Dietrich wollte ihn stets dazu bringen, einen Zylinder zu tragen, wie es sich für einen Mann seines Standes gehörte, doch Lewis liebte den dunkelgrauen Bowler. Auch dass der Hut nicht wirklich zum Anzug passte, störte ihn dabei nicht.

Gerade wollte er schon die Ankleide verlassen, als sein Blick durch die offene Tür ins Badezimmer und dort auf die Flasche mit dem Scotch fiel. Sofort fühlte er in sich das Verlangen, sie an die Lippen zu setzen und in einem Zug zu leeren.

In seinem Schmuckkasten, der hauptsächlich mit Uhren und Manschettenknöpfen gefüllt war, lagen auch zwei Flachmänner. Den vergoldeten nahm er heraus und befüllte ihn rasch noch mit dem Scotch, nachdem er sich selbst einen letzten Schluck gegönnt hatte. Augenblicklich entspannte er sich, fühlte sich wieder vital und erfrischt.

Noch mehr Alkohol versagte er sich, denn es war ein schmaler Grat zwischen dem guten Gefühl und dem alles betäubenden Vollrausch, den er sicherlich wieder am Abend suchen würde.

Er trank in Schüben, das wusste er und brauchte es sich auch nicht schönzureden. Nur in letzter Zeit wurden die Pausen zwischen den Schüben kürzer, auch das war ihm noch bewusst, denn er hatte noch lange nicht genug getrunken, um seinen Verstand zu trüben. Zu Beginn war es sicherlich aus Langeweile gewesen, vielleicht auch einfach, weil er es sich leisten konnte. Lewis hatte genug Geld, um sich täglich durch den Alkohol vergessen zu lassen, was immer ihn auch plagte.

Dietrich belegte ihn mit tadelndem Blick – offensichtlich ahnte der Butler schon, was ihn noch im Schlafzimmer aufgehalten hatte.

Lewis zog den Hut ein wenig tiefer in die Stirn. »Chester braucht keinen langen Spaziergang. Ich nehme ihn heute Abend mit.«

»Wie der Herr wünscht«, waren Dietrichs letzte Worte, ehe er die Tür hinter Lewis schloss.

Die Kutsche hatte eine gefühlte Ewigkeit bis zu Scotland Yard gebraucht. Der Verkehr auf den Straßen war einfach die Hölle, selbst die unterirdische Eisenbahn konnte keine wirkliche Abhilfe schaffen.

Er wurde von Inspector Powler begrüßt, einem jungen Mann, der sicherlich einmal eine glänzende Karriere machen würde. Und er war ein Bewunderer von Lewis’ Arbeiten. Der Junge hatte anscheinend jedes seiner Bücher gelesen – nein, auswendig gelernt. Jeden Querverweis auf vorhandene Fachliteratur konnte er zitieren, was vermutlich nicht einmal mehr Lewis selbst gelingen würde.

»Mr van Allington«, begrüßte er ihn aufgeregt. »Was verschafft mir die Ehre?«

Lewis tippte sich zur Begrüßung beiläufig an die Hutkrempe. Der kleinere Mann hatte etwas an sich, was ihn frösteln ließ. Es machte ihm nicht wirklich Angst, doch es widerstrebte ihm, den Mann zu berühren. Das galt auch für einen einfachen Händedruck.

Vielleicht fürchtete er aber auch nur Powlers messerscharfen Verstand. In dem Moment, in dem er meine Hand ergreift, weiß er, dass ich trinke, manifestierte sich eine völlig irrationale Furcht in Lewis. Noch wussten nicht viele Menschen von seiner Sucht. Deshalb trank er in einer abgerissenen Kneipe im Southwark. Dort kannte man ihn nicht, oder es war den Leuten schlicht egal, wer er war.

»Eine Leiche, Mr Powler«, antwortete Lewis knapp. »Was sollte es sonst sein?«

»Oh, Sie arbeiten wieder?«, entgegnete er erstaunt. »Ich dachte, Sie hätten sich zur Ruhe gesetzt?«

Lewis lehnte sich ein wenig nach vorne und schlug mit dem Knauf seines Spazierstocks leicht gegen Powlers Revers. »Männer unseres Schlages können sich niemals zur Ruhe setzen, oder?«

Powler blickte ihn skeptisch an.

»Unser Verstand, Powler«, fuhr Lewis ungerührt fort. »Unser Verstand treibt uns weiter voran. Wie könnten wir verleugnen, was wir sind?«

Der junge Polizist strahlte übers ganze Gesicht und Lewis nickte zufrieden. Dieses kleine Kompliment, das ihn nur wenige Sekunden seines Lebens gekostet hatte, würde ihm die nächsten zwei Stunden, die er sich mit der Leiche beschäftigen wollte, ungleich leichter machen. »Es geht um die Leiche einer Frau«, fügte Lewis hinzu, als er sich sicher war, dass Powler ihn unterstützen würde. »Heute Nacht bei Blackfriars Bridge angespült.« Lewis runzelte plötzlich die Stirn. »Wieso ist eigentlich Scotland Yard dafür zuständig? Blackfriars gehört doch noch zur City.«

Powler machte eine wegwerfende Handbewegung. »Zuständig­keiten … Die Leiche wurde am Southwark angespült und zwei unserer Beamten waren gerade dort unterwegs. Um zwei Uhr nachts streitet sich niemand um einen Leichensack.«

»Verstehe.«

Der Inspector führte ihn in den Keller des Gebäudes. Viele Beamte erkannten Lewis und grüßten ihn, doch Powler machte mit seiner Haltung deutlich, dass er ihn nicht mit ihnen teilen wollte. Lewis war das nur recht, je weniger Schaulustige sich einfänden, desto eher könnte er vielleicht unbemerkt einen Schluck aus dem Flachmann nehmen.

Der Raum war groß, mit gewölbter Decke, an der entlang die Stromleitungen für die neue elektrische Beleuchtung verliefen. Fünf Untersuchungstische standen für Obduktionen bereit, auf einem davon lag ein mit einem weißen Tuch bedeckter Körper. Das Licht leuchtete den Stoff grell aus und erzeugte einen fast unwirklich scharfen Kontrast vor dem dunklen Gewölbekeller. Neben dem Untersuchungstisch stand ein Wagen, der mit allerhand medizinischem Besteck ausgestattet war, um die Untersuchung vorzunehmen. Trotz der vielen brennenden Lampen war der Raum angenehm kühl, was für die Aufbewahrung von Leichen natürlich nur von Vorteil war.

»Der Arzt hat sie sich noch nicht angesehen«, sagte Powler feierlich. »Sie sind der Erste.«

»Schön, schön.« Lewis nahm den Hut ab und legte ihn samt Gehstock auf einen freien Untersuchungstisch. Die Frau war die einzige Leiche an diesem Tag, was allein schon ein kleines Wunder war. Oder man hatte die anderen Toten, von denen London in diesen Tagen einen unerschöpflichen Nachschub zu liefern schien, schlichtweg noch nicht gefunden.

Die Tote war zu Lebzeiten sicherlich überaus hübsch gewesen. Helle, ebenmäßige Haut und große Augen, die in einem absolut symmetrischen Gesicht saßen. Dazu rote Haare, die es wie ein Feuerkranz umrahmten.

»Was denken Sie, Powler?«, fragte Lewis beiläufig, während er die Leiche genauer untersuchte.

Er ließ sich gern die Einschätzung des Mannes geben, denn es zeigte ihm, in welchem Bereich die Untersuchung der Polizei bereits intensiv vonstattengegangen war, oder ob sie überhaupt viel Energie auf das Opfer verwandten.

Powler räusperte sich energisch und sammelte seinen Atem für einen Schwall von Beschreibungen, wie Lewis befürchtete. »Ich denke, sie war gefesselt«, begann er seine Erkenntnisse aufzuzählen.

Lewis musste sich beherrschen, um nicht zu seufzen angesichts dieser unnötigen Nennung des Offensichtlichen. Die wund gescheuerten Hand- und Fußgelenke waren eindeutige Indizien.

Powler fuhr fort. »Man fand sie ohne Kleider in einem Sack. Mehr ist bisher nicht bekannt.«

Lewis deutete auf das Gesicht der Frau. »Ihr Gebiss ist gesund, kein Zahn fehlt. Sie war also vermutlich nicht aus Southwark oder dem East End«, begann er. »Außerdem fand man sie bei Blackfriars, was bedeutet, dass sie westlich davon in die Themse geworfen wurde.«

Powler nickte eifrig, wagte sich sogar noch einmal mit einer eigenen Einschätzung nach vorn. »Ich vermute, dass sie eine Hure ist … war.«

Lewis runzelte die Stirn. »Was macht Sie da so sicher?«

Der junge Beamte kam ins Stocken. »Nun … sie war nackt und ihre Hände offensichtlich gefesselt …«

»Und da haben Sie angenommen, dass sie beim Liebesspiel verstorben ist. Oder dass der Freier es übertrieben hat, nicht wahr?«

Powler druckste herum. »Nun … ja.«

Lewis zuckte die Achseln. »Das klingt auf den ersten Blick plausibel.« Er umrundete den Körper, hob den Arm an und deutete auf die linke Achselhöhle der Frau. »Doch nur auf den ersten Blick.«

Powler kam näher und fixierte den Punkt, auf den Lewis hindeutete. Ein kleiner roter Fleck, kaum zu erkennen. »Was ist das?«

»Eine Einstichstelle, Powler«, sagte Lewis trocken.

»Ein Messer wäre aber viel zu groß«, überlegte der Inspector. »Eine Spritze?«

»Zu klein«, widersprach Lewis. »Nein, die Lage des Einstichs weist mit ziemlicher Sicherheit auf eine Nadel oder ein Stilett hin.« Lewis imitierte mit dem Finger die Lage der Klinge im Körper. »Man hat ihr vermutlich direkt ins Herz gestochen.«

»Aber … hätte sie dann nicht bluten müssen?«

Lewis nickte und nahm sich von dem Bestecktisch eine Lupe. »Hier«, sagte er, nachdem er die Wunde abgesucht hatte. »Hier am Rand sieht man es deutlich. Er ist verkohlt.«

»Wie durch Feuer verbrannt?«

Lewis nickte erneut. »Was immer sie erstochen hat, wurde im Feuer glühend heiß gemacht. Die Wunde wurde sofort kauterisiert. Mögliche Blutungen finden wir nur im Inneren des Körpers.« Er legte die Lupe beiseite. »Die Einstichstelle ist zudem nicht rund, das konnte man gerade deutlich sehen. Darum denke ich, es war tatsächlich ein vierkantiges Stilett.«

»Ein Stilett?«, wiederholte Powler ungläubig. »Faszinierend.«

Lewis lächelte trocken. »Was bedeutet, dass es in jedem Fall Mord war. Einen Unfall können wir nun mit Sicherheit ausschließen. Mir wäre keine Liebespraktik bekannt, die einen Stich ins Herz mit einem glühenden Stilett beinhaltet.«

Powler machte sich Notizen in einer kleinen Kladde.

Lewis bedeckte den nackten Körper erneut mit dem Tuch. »Das Versenken in der Themse diente nur der Verschleierung des eigentlichen Verbrechens.«

»Faszinierend.«

»Was jedoch nicht bedeutet, dass sie keine Hure war«, räumte Lewis ein. »Wie auch immer, sie wurde erstochen.« Er setzte seinen Hut auf, nahm den Stock und wollte schon gehen, als er noch eine Idee hatte. Er entfernte das Tuch erneut von der Leiche und griff nach einem kleinen Spiegel. Damit lenkte er das Licht der Deckenlampe in die Nasenlöcher der Frau um. »Interessant«, murmelte er. »Pinzette, bitte.«

Powler reichte ihm kommentarlos den gewünschten Gegenstand.

Lewis nahm sein Taschentuch und zog es über die Pinzette. Anschließend steckte er diese in das linke Nasenloch der Leiche und drehte sie vorsichtig herum. Als er sie wieder herauszog, war der Stoff schwarz verfärbt.

»Was ist das?«, fragte Powler neugierig.

»Ruß, denke ich«, antwortete Lewis. »Oder Asche. Und der Beweis, dass sie schon tot war, bevor sie in der Themse landete. Denn sonst hätte ich darin Spuren des Wassers gefunden, das ihr bei den letzten verzweifelten Atemzügen, zu denen der Körper sie kurz vor dem Ersticken gezwungen hätte, in die Lunge gedrungen wäre. Diese Nasenlöcher sind jedoch weitestgehend trocken. Sie ist also nicht ertrunken, sondern schon tot im Fluss gelandet.«

»Aber der Sack könnte doch auch wasserdicht gewesen sein.«

»Möglich«, begann Lewis lächelnd. »Jedoch schwer vorstellbar, wenn man die noch immer feuchten Haare betrachtet, finden Sie nicht?«

Seinem Gegenüber trieb es die Schamesröte ins Gesicht. »Natürlich.«

»In was für einer Art Sack hatte man sie gefunden?«

»Kartoffeln. Mit Finnagans Logo darauf.«

Lewis bedeckte sie erneut mit dem Tuch. Er war hier fertig. »Ich frage mich, wer sie war«, sagte er nachdenklich. »Eine junge Frau, gut aussehend und augenscheinlich gesund … Wieso endet sie in einem Kartoffelsack in der Themse?«

»Ich weiß es auch nicht.« Powler hatte es sich offensichtlich zum Ziel gesetzt, auf jeden seiner Sätze etwas zu erwidern.

»Finnagans, ja?«

Er nickte. »Warten Sie einen Moment.« Er verschwand aus dem Raum und seine Schritte verhallten in den Gängen.

Lewis nutzte die Gelegenheit für einen Schluck aus dem Flachmann. Der Scotch brannte wohltuend in seiner Kehle und gab ihm das Gefühl der Sicherheit.

Kurz darauf kehrte Powler mit einem feuchten braunen Leinen­sack zurück. Er breitete ihn auf einem zweiten Tisch aus. »Hier.«

Lewis studierte den Sack eingehend, fuhr mit den Fingern über das Gewebe, doch er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen. Außer Finnagans Logo war der Leinenstoff unbehandelt. Dicke schwarze Tinte ließ die Schrift leicht erhaben wirken. Unter dem Schriftzug »Finnagans« stand noch ein kleines »W«, das bereits verblasste. Lewis rieb mit dem Daumen darüber und der Buchstabe verschwand. »Hmm …«

»Arbeiten Sie an einem neuen Buch? Über den Drowner?«

Lewis legte interessiert den Kopf schief. »Wieso hat der Fall schon einen Namen?«

»Na, sie ist die dritte Tote, die wir auf die Art aus dem Fluss gezogen haben«, entgegnete Powler. »Es stand in allen Zeitungen.«

»Ich lese nicht mehr viel«, murmelte Lewis, aber seine Neugier war unwiderruflich geweckt. »Können Sie mir heraussuchen, was Sie zu den anderen Opfern haben?«

»Sehr gern«, antwortete Powler, offensichtlich hocherfreut, noch von Nutzen zu sein. »Kommen Sie einfach morgen wieder vorbei, dann habe ich alle Berichte parat.«

Kate

Voller Aufregung blickte sie zum Fenster hinaus. Die ganze letzte Stunde der langen Zugfahrt hatte sie damit zugebracht, durch die verdreckte Glasscheibe auf die sich verändernde Landschaft zu starren. Wie die sanften Hügel und Wiesen Mittelenglands allmählich den Bauerndörfern und Vororten rund um London wichen.

London.

Kate wusste, dass sie vermutlich wie ein kleines Schulmädchen grinste, doch ihre Wirkung auf die übrigen Fahrgäste war ihr im Moment egal. Am liebsten hätte sie das Fenster weit aufgerissen und das Gesicht in den Fahrtwind gestreckt. Ruß, Staub und Wasser hatten sich allerdings zu einer klebrigen Masse verdichtet, die den Schiebemechanismus des Fensters blockierten, sodass es sich nicht öffnen ließ.

Dabei hätte sie gerade die Dachkonstruktion von St Pancras Station so gern schon von Weitem bewundert. Die Konstruktion aus Glas und Metall war einzigartig auf der Welt und hatte es sogar bis in Manchesters Zeitungen geschafft. Dieser Anblick allein wäre die Reise wert, hatte sie sich gesagt. Ihn jetzt nicht in vollen Zügen genießen zu können, wirkte wie eine Ironie des Schicksals.

So war sie lediglich auf das Bild der herannahenden Metropole beschränkt. Wie gern hätte sie Londons Vorstadtluft gerochen, nur um sie dann mit dem viel gescholtenen Qualm der Innenstadt zu vergleichen.

Sie seufzte und glitt in den Sitz zurück, faltete die Hände brav im Schoß, wie die Gesellschaft es von einer jungen Dame erwartete, und bemühte sich um eines jener leicht verlegenen Lächeln, die man ihr jahrelang vorgelebt hatte.

Es war allerdings nicht weit her mit ihrer Beherrschung und so holte sie erneut – zum vermutlich hundertsten Mal – den Brief aus ihrer Handtasche hervor, der ihr Leben von Grund auf auf den Kopf gestellt hatte.

… würde ich mich freuen, Sie bei uns in der Redaktion begrüßen zu dürfen …, las sie immer und immer wieder die Zeile, die für sie die Welt bedeutete.

Der Zug drosselte bereits sein Tempo, die Einfahrt in den Bahnhof war nur noch wenige Minuten entfernt.

Eine alte Dame, die in Leicester zugestiegen war, seufzte erleichtert auf. »Endlich können wir aus dieser Büchse raus.«

Kate unterdrückte den Impuls, etwas darauf zu erwidern. Den Fehler, die Alte in ein Gespräch zu verwickeln, hatte sie kurz nach der Abfahrt aus Leicester gemacht. Und nun wusste sie alles über die feiste Dame. Und selbst wenn dieses »alles« nicht länger als eine halbe Stunde zu erzählen gedauert hatte, so war es doch eine halbe Stunde, die Kate niemals wieder zurückbekäme.

Diesmal nicht, dachte sie und biss sich vorsorglich auf die Lippen. Dabei fand sie den Zug alles andere als unbequem. Die Sitze waren weich und gut gefedert, der rote Cordstoff strahlte noch immer, obwohl dieser Waggon sicherlich schon einige Jahre in Betrieb war. Die Tür schloss dicht und ein dunkler Vorhang konnte die Sicht vom Gang in das kleine Abteil hinein versperren. Wenn man von dem klemmenden Fenster absah, dann war dieser Wagen in bestmöglichem Zustand.

Kate ermahnte sich, dass sie in ihrer derzeitigen Euphorie aber auch auf einer handbetriebenen Lore in den Bahnhof St Pancras hätte einfahren können und sich dabei dennoch wie Königin Victoria selbst gefühlt hätte.

Das Bild von ihr auf einem solchen Gefährt, wie sie am Gleis anhielt, sich das sonnengelbe Kleid glatt strich und an der glotzenden Menge vorbeimarschierte, brachte sie zum Kichern.

Jetzt war es so weit!

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein und das breite Kuppeldach von St Pancras Station spannte sich über Lok und Waggons. Katelyn sprang auf, zerrte den kleinen Koffer mit Mühe unter ihrem Sitz hervor. Sie summte vor Freude vor sich hin, als sie die Schiebetür des Abteils aufriss.

Ein Mann im grauen Anzug blickte kurz von seiner Zeitung auf und schüttelte bloß missbilligend den Kopf. »Verdammte Jugend«, murmelte er vor sich hin.

»Ich würde den Zug auch so schnell verlassen, wie ich kann«, mischte sich die Alte ein. »Doch von diesen verdammten Sitzen sind meine Beine ganz taub geworden. Vermutlich werde ich nie wieder aufstehen können.«

Der Mann setzte zu einer Erwiderung an, konnte sich aber ebenfalls im letzten Moment beherrschen, was Kates Lächeln nur noch breiter werden ließ.

Sie zwinkerte ihm von der Alten unbemerkt zu und verließ das Abteil. Sie würde die letzten Meter an der Wagentür verbringen, bereit, aus dem Zug zu springen, sobald er zum Halten gekommen war.

Der dickliche Schaffner drängte sich an ihr vorbei, entriegelte die Tür und stieß sie weit auf. Ein kühler Luftzug trug Kate den ersten Schwall der Londoner Luft in die Nase und sie sog ihn begierig ein.

»Nicht«, versuchte der Schaffner noch, sie aufzuhalten. Vergeblich.

Katelyn inhalierte stechende Luft, rußgeschwängert vom Abrieb der Bremsen, die den schweren Zug mit viel Mühe zum Stehen gebracht hatten.

Sie hustete und Tränen schossen ihr in die Augen.

Der Schaffner reichte ihr ein sauberes Taschentuch. »Pressen Sie das auf Mund und Nase, Miss«, bat er sie. »Dann fällt das Atmen leichter.«

Kate wollte die nette Geste höflich zurückweisen, doch der alte Mann bestand darauf.

»Ich werde Ihnen das Tuch vermutlich nicht zurückgeben können«, krächzte sie verlegen.

Er lächelte, wobei er für sein Alter erstaunlich gesunde Zähne präsentierte. »Das macht nichts. Ich habe viele davon.«

Der Schaffner half ihr, den Koffer durch die schmale Tür zu wuchten, und Kate verabschiedete sich höflich. Dann stand sie auf dem Bahnsteig, machte ein paar Schritte zur Seite, um den Londoner Fahrgästen den Einstieg in den Zug zu erleichtern und tauchte ein in diesen perfekten Moment.

London!, dachte sie aufgeregt. Ich bin frei!

Über ihr spannte sich das breite Kuppeldach, in seiner Bauweise einzigartig auf der Welt, und mehrere Fensterreihen ließen das Tageslicht hindurch. In den schmalen Lichtkegeln sah man Staub, Ruß und anderen Schmutz tanzen, der durch die Schornsteine der Dampfloks geblasen wurde, ehe die Partikel sich irgendwo im Dachgebälk absetzten. Oder auf der Kleidung der Fahrgäste, wie sie bei einem Blick auf ihr helles Kleid feststellte. Sie betrachtete einen Lichtstrahl, der ihren Arm traf und gerade von einer aufflatternden Taube unterbrochen wurde. Darüber zu lesen war eine Sache gewesen – es jetzt in Farbe erleben zu können, war einfach überwältigend.

Katelyn hob den Koffer an. Obwohl sie nicht viel Gepäck bei sich hatte, war das Teil schwer und sperrig. Ohne die Hilfe des Schaffners würde ich vermutlich jetzt noch versuchen, das Ding auf den Bahnsteig zu bekommen