Ruf des Lebens – Zeit der Entscheidung - Evelyn Prentis - E-Book

Ruf des Lebens – Zeit der Entscheidung E-Book

Evelyn Prentis

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Beschreibung

Die Oberschwester lächelte. "Glauben Sie, dass Sie von 9 bis 15.30 Uhr arbeiten können?" Einen Moment lang konnte ich mein Glück gar nicht fassen. Es schien mir nicht richtig zu sein, für so einen kurzen Arbeitstag bezahlt zu werden. Der zweite Weltkrieg ist zu Ende und der Alltag kehrt langsam wieder ein. Die Männer sind von der Front zurück und viele Frauen können zuhause bei ihren Kindern bleiben. Doch das Geld ist knapp und Evelyn merkt schnell, dass sie einen Teilzeitjob finden muss, um über die Runden zu kommen. Zu ihrem Erstaunen wird ihr tatsächlich eine Teilzeitstelle in ihrem ehemaligen Krankenhaus angeboten. Dort ist der Alltag nicht leichter geworden, doch aus dem jungen Mädchen ist eine selbstbewusste und starke Frau geworden, die nicht nur Krankenschwester, sondern jetzt auch Mutter ist. Energisch widmet sich Evelyn ihren neuen Herausforderungen und erkennt, dass sie statt Bombennächten und Kriegsverletzungen nun ganz neuen Feinden gegenübersteht: Keuchhusten, Masern und Kinderlähmung versetzen ganz England in einen Schockzustand ... Die ergreifenden Memoiren der englischen Krankenschwester Evelyn Prentis als deutsche Erstausgabe. Für alle Fans von Donna Douglas und der TV-Serie „Call the Midwife“. Alle Titel der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 337

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Über das Buch

Die Oberschwester lächelte. »Glauben Sie, dass Sie von 9 bis 15.30 Uhr arbeiten können?« Einen Moment lang konnte ich mein Glück gar nicht fassen. Es schien mir nicht richtig zu sein, für so einen kurzen Arbeitstag bezahlt zu werden. Der zweite Weltkrieg ist zu Ende und der Alltag kehrt langsam wieder ein. Die Männer sind von der Front zurück und viele Frauen können zuhause bei ihren Kindern bleiben. Doch das Geld ist knapp und Evelyn merkt schnell, dass sie einen Teilzeitjob finden muss, um über die Runden zu kommen. Zu ihrem Erstaunen wird ihr tatsächlich eine Teilzeitstelle in ihrem ehemaligen Krankenhaus angeboten. Dort ist der Alltag nicht leichter geworden, doch aus dem jungen Mädchen ist eine selbstbewusste und starke Frau geworden, die nicht nur Krankenschwester, sondern jetzt auch Mutter ist. Energisch widmet sich Evelyn ihren neuen Herausforderungen und erkennt, dass sie statt Bombennächten und Kriegsverletzungen nun ganz neuen Feinden gegenübersteht: Keuchhusten, Masern und Kinderlähmung versetzen ganz England in einen Schockzustand … Die ergreifenden Memoiren der englischen Krankenschwester Evelyn Prentis als deutsche Erstausgabe. Für alle Fans von Donna Douglas und der TV-Serie »Call the Midwife«. Alle Titel der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

Über Evelyn Prentis

Evelyn Prentisi, geboren 1915, wuchs in Lincolnshire auf. Mit achtzehn Jahren verließ sie ihr Elternhaus, um eine Ausbildung zur Krankenschwester zu absolvieren. Während des Zweiten Weltkrieges zog sie nach London, heiratete und gründete eine Familie. Sie starb 2001 im Alter von fünfundachtzig Jahren. Über ihr Leben als Krankenschwester hat sie mehrere Bücher geschrieben.

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Evelyn Prentis

Ruf des Lebens – Zeit der Entscheidung

Übersetzt aus dem Englischen von Cécile G. Lecaux

Für meine Schwiegersöhne

Von mir

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Teil II

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil III

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil IV

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Teil V

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil VI

Kapitel 18

Kapitel 19

Impressum

Teil I

Kapitel 1

Der Krieg war vorbei. Nachdem er zweimal in die Verlängerung gegangen war, hatte er endlich ein Ende genommen, wobei das zweite Mal dramatischer und endgültiger gewesen war als das erste.

Als wir von der Hiroshima-Bombe erfuhren, war dieses Ereignis so weit weg, dass es uns weniger erschütterte, als es die Bomben hier getan hatten, deren Zerstörungskraft viele von uns aus nächster Nähe ausgesetzt gewesen waren. Es dauerte lange, bis das Entsetzen auch uns erreichte, und ich war nur eine von vielen, die sich insgeheim fragten, ob ein solches Ausmaß der Zerstörung gerechtfertigt gewesen sei. Über diese Frage dachten wir noch lange nach und diskutierten, ohne je zu einer auch nur ansatzweise befriedigenden Antwort zu gelangen. Aber wenigstens machte die Bombe dem Krieg ein Ende, und das war ein Segen, auch wenn mir gründlich missfiel, auf welche Art dieser Segen über uns gekommen war.

Der erste Tag des Sieges war großartig, ein Tag der Freude, den sich niemand von unterschwelligen Zweifeln, aussichtslosen Grübeleien oder schlafraubenden Schuldgefühlen verderben lassen wollte. Es war ein Tag der Befreiung von der Verdunkelung; ein Tag, getragen von der Hoffnung, dass der nächste Tag – und alle darauffolgenden – perfekt sein würde. Natürlich waren sie das nicht, aber der Gedanke, dass sie es immerhin sein könnten, veranlasste die Menschen, bis spät in die Nacht hinein in den Straßen zu tanzen und in Springbrunnen zu springen, als wollten sie im Zeitraffer das Grauen der vergangenen sechs Jahre wettmachen.

Kinder wurden in Kostüme gesteckt und man setzte ihnen lustige Papphüte auf. Fahnen wurden hervorgekramt und wie wild geschwenkt, und Süßigkeiten, die man lange Zeit gehortet hatte, wurden aus den hintersten Winkeln der Speisekammern hervorgekramt, um zu wackligen Figuren oder Burgen aufgetürmt zu werden, die für helle Farbtupfer auf den mit Union Jacks bedeckten Klapptischen sorgten und von Kindern mit großen Augen bestaunt wurden. Die meisten von ihnen hatten solch eine zügellose Völlerei noch nie erlebt und sollten auch hiernach für lange Zeit keinen solchen Überfluss mehr zu sehen bekommen. Obwohl der Krieg so gut wie vorbei war, wurde immer noch rationiert, Lebensmittelmarken waren fast ebenso kostbar wie Geld, und in den Schlangen vor der Kartoffelausgabe kam es regelmäßig zu Gezänk.

Ich hätte vielleicht auch einen Papierhut gebastelt oder Wackelpeter zubereitet, wäre meine Tochter nicht noch so klein gewesen, dass alles andere als eine Wollmütze auf ihrem seidigen Köpfchen verrutscht wäre, und mir nicht allein bei dem Gedanken daran, was ein Löffel Wackelpeter in ihrem kleinen Bäuchlein anrichten konnte, angst und bange geworden wäre. Vielleicht hätte sie die Süßigkeit sogar vertragen, aber ich war zu lange Krankenschwester gewesen, um ein solches Risiko einzugehen. Ich hielt mich strikt an die Regeln, die man mir im Krankenhaus beigebracht hatte, und ernährte mein Kind – und später beide Kinder – gesund, was Experimente mit Wackelpeter im Milchpulveralter schlichtweg ausschloss. Ich schaltete auch später beide Ohren auf Durchzug, wenn sie jammerten, sie hätten Hunger, wenn es bis zur nächsten Mahlzeit keine fünf Minuten mehr waren. Solch kindisches Aufbegehren musste man im Keim ersticken, wenn aus den Kindern ausgeglichene und verantwortungsbewusste Erwachsene werden sollten.

Meine Kinder waren beide schon fast zwanzig, als ich Dr. Spock entdeckte und durch seine Bücher erfuhr, wie gründlich ich mit meinen Erziehungsmethoden danebengelegen hatte. Indem ich ihnen verwehrt hatte, auf Verlangen etwas zu essen oder aufs Töpfchen zu gehen und sich frei und offen äußern zu dürfen, hatte ich ihrer emotionalen Entwicklung unwiderruflichen Schaden zugefügt. Aber diese Erkenntnis kam zu spät, die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen.

Ich grübelte eines Morgens bei einer Tasse Tee darüber nach, stellte dann Spocks Buch zurück ins Regal und tröstete mich damit, dass Millionen von Müttern ihre Kinder recht erfolgreich ohne die klugen Ratschläge des Doktors großgezogen hatten und noch großzogen. Trotzdem hielt ich fortan Ausschau nach Hinweisen auf emotionale Schäden, die meine Kinder davongetragen haben könnten. Ich dachte an die Stunden, die sie auf dem Töpfchen hatten vergeblich ausharren müssen, bis tiefrote Ringe ihre kleinen Popos verunziert hatten.

Neben Papierhütchen und Wackelpeter verzichtete ich am ausgelassenen Siegestag auch darauf, in den Straßen zu tanzen oder mich in einen Springbrunnen zu stürzen, wenngleich ich doch ausnahmsweise gegen eine meiner eisernen Regeln verstieß.

Als meine Nachbarn bei mir anklopften und mich zu ihrer Party einluden, erklärte ich ihnen, ich würde keinen Alkohol trinken und nicht auf Partys gehen. Ich erwähnte nicht, dass der Hauptgrund, weshalb ich nicht auf Partys ging, der war, dass man mich nie einlud oder zumindest kein zweites Mal. Meine strikte Weigerung, Alkohol zu trinken, hatte mir des Öfteren im Wege gestanden bei Anlässen, bei denen man ruhig mal über die Stränge schlagen durfte. Da ich mich hierzu nur sehr schwer durchringen konnte, war ich nicht gerade ein Gewinn für Feierlichkeiten, bei denen Stärkeres gereicht wurde als Tee.

Aber die Nachbarn ließen nicht locker, und so wickelte ich schließlich wider besseres Wissen mein schlafendes Engelchen in mehrere Tücher, legte es in den Kinderwagen und ging nach nebenan, ein ungutes Gefühl im Bauch wegen der Ausschweifungen, die mich dort erwarten würden.

Wir stellten den Kinderwagen zu den anderen in die Küche und gingen hinüber ins Wohnzimmer, wo es bereits hoch her ging. Ich war zutiefst erleichtert, als mir jemand ein Glas Orangensaft anbot. Erst nachdem das Glas zweimal wieder aufgefüllt worden war, dämmerte mir, dass der Orangensaft anders schmeckte als jener, den wir jede Woche in der Wohlfahrtsklinik bekamen.

Die Kopfschmerzen, die mich am nächsten Morgen plagten, waren dann der letzte Beweis für meinen, wenn auch unfreiwilligen, Verstoß gegen meinen selbst auferlegten strikten Alkoholverzicht. Ich schwor mir, nie wieder mehr als zwei Gläser vermeintlichen Orangensaft zu trinken, wenn mir ein verdächtiger Beigeschmack auffiel.

Ich sollte das eine oder andere Mal gegen diesen Schwur verstoßen, aber immer in einem überschaubaren Rahmen, sodass ich die Fehltritte lediglich mit einem Kater am nächsten Morgen büßte. Und nachdem ich all die Jahre auf jeglichen Alkoholkonsum verzichtet hatte, musste ich doch zugeben, dass die Party am Tag des Sieges mit Abstand die lustigste gewesen war, die ich bis dahin erlebt hatte.

Kurz nach Abwurf der Bombe über Hiroshima stiegen buchstäblich Heerscharen von Soldaten mit ihren Entlassungspapieren in der Hand aus den Zügen und sahen sehr adrett aus in ihren zivilen Nadelstreifenanzügen.

Doch die Heimkehr verlief nicht immer so überschwänglich, wie sie sich das während ihrer Dienstzeit ausgemalt hatten. Ehemänner, die sich mit den Jahren an die Kameradschaft gewöhnt hatten, welche aus der ständigen Gefahr heraus entstanden war und die Soldaten zusammengeschweißt hatte, vermissten zuweilen die Kameradschaft oder sogar die Gefahr. Jene, die in der Ferne von einem normalen Leben geträumt hatten, stellten nun fest, wie langweilig der Alltag in einem kleinen Reihenhäuschen sein konnte. Wie furchterregend der Feind oder auch der Sergeant Major des Regiments gewesen sein mochte, verliefen die Begegnungen mit dem Sachbearbeiter auf dem Arbeitsamt häufig unerfreulicher, als man es den kriegsmüden Männern versprochen hatte. Zwar waren die Verletzungen, die manch einer dort erlitt, weniger offensichtlich als eine Schussverletzung, aber zuweilen nicht weniger schmerzhaft.

Auch die Frauen waren oft schon kurz nach der Rückkehr ihrer Männer ernüchtert. Sie hatten gelernt, allein zurechtzukommen, und konnten ruck, zuck einen Abfluss frei machen, sodass sie wenig Geduld aufbrachten mit einem Ehemann, der stundenlang auf allen vieren herumkroch auf der Suche nach dem Absperrhahn, vor allem wenn die Suche mit einer Pfütze auf dem frisch geschrubbten Küchenfußboden endete, während der Abfluss nach wie vor verstopft war. Viele Frauen hatten den Krieg ohne Sperrhahn überstanden, und die wenigsten wussten, dass es so etwas überhaupt gab. Eine Stricknadel, die lang genug war, um damit in der Verstopfung herumzustochern, etwas Soda und heißes Wasser taten es auch. Aber es war sinnlos, einem Heimkehrer erklären zu wollen, wie man so etwas machte. Er hatte in der Army, in der Navy oder in der Royal Air Force gedient und war Experte für verstopfte Abflüsse. Er wies den Eimer heißes Sodawasser abfällig zurück, ebenso wie die Stricknadel, auch wenn er mit seinen Expertenmethoden nicht weiterkam.

Auch die Kinder taten sich manchmal schwer mit der neuen Lebenssituation. Bei jenen, die gewarnt worden waren, was ihnen von ihrem Vater drohte, wenn sie sich nicht anständig benahmen und mucksmäuschenstill waren, wenn er wieder daheim war, hielt sich die Vorfreude auf ein Zusammenleben mit dem gestrengen Familienoberhaupt verständlicherweise in Grenzen.

Das Bild des Buhmanns mit dem Gürtel hatte sich in den Köpfen der Kinder eingegraben, sodass es ihnen schwerfiel, ein vertrauensvolles Verhältnis zu ihrem Vater zu entwickeln, wie liebevoll dieser ihnen gegenüber auch sein mochte. Und nicht jeder Vater reagierte verständnisvoll und geduldig angesichts der Furcht oder Feindseligkeit, mit der seine Kinder ihm begegneten. Manch einer verlor die Geduld und verwandelte sich tatsächlich in den Buhmann mit dem Gürtel.

Sogar den Säuglingen fiel der Wechsel von Krieg zu Frieden schwer. Jene, die bislang nachts nur das leise Murmeln ihrer Mutter vernommen hatten, reagierten verängstigt auf die fremde raue Stimme aus dem Dunkel. Außerdem waren sie zornig. Auch wenn sie unmöglich verstehen konnten, was in der Dunkelheit des Schlafzimmers vor sich ging, spürten sie doch instinktiv, dass sie jetzt die Aufmerksamkeit der Mutter mit einem Fremden teilen mussten. Derselbe sechste Sinn sagte ihnen zudem, dass das, was da im Dunkeln geschah, nicht zu ihrem Vorteil war. Plötzlich nicht mehr die Hauptrolle zu spielen, nachdem sie so lange im Mittelpunkt des Interesses gestanden hatten, traf sie zutiefst, und sie protestierten mit so lautem Geschrei, dass die Nachbarn überzeugt waren, man würde die armen Kleinen umbringen. Das Geschrei sorgte zwischen frustrierten Ehemännern und besorgten Müttern für ebenso viel Stress wie zwischen den ratlosen Vätern und den eifersüchtigen Babys, und so kam es immer wieder in den unpassendsten Momenten zu Eskalationen.

Meistens erfuhr ich von den Nachkriegsproblemen meiner Nachbarn, wenn ich meine Haushaltsabfälle in den Schweinekübel kippte. Wir lebten in einem winzigen Reihenhäuschen in der Nähe des Hauses, in dem wir zu Beginn unserer Ehe zur Untermiete gewohnt hatten.

Nance, unsere Vermieterin, überraschte mich eines Tages mit der Neuigkeit, dass sie sich scheiden lassen wolle. Bis dahin hatte ich von Scheidung nur in der Zeitung gelesen. Niemand, den ich kannte, hatte je so etwas gewagt. Wenn in meinem Bekanntenkreis jemand in seiner Ehe unglücklich war, behielt er das für sich, löffelte die Suppe aus, die er sich eingebrockt hatte, und machte das Beste daraus. Oft waren es auch die Kinder, die Ehepartner bewogen zusammenzubleiben, auch wenn die Ehe gescheitert war. Dass Nance keine Kinder hatte, mochte ein weiterer Grund sein, weshalb sie nicht länger bereit war, besagte Suppe auszulöffeln.

Sie hatte mir auch geholfen, das Häuschen zu finden, und uns ein paar Möbelstücke überlassen, weit unter Preis, wie sie uns versichert hatte. Sie hatte sich auch erboten, mir beim Streichen zu helfen, weil das für jemanden in meinem Zustand zu gefährlich sei. Wenn ich mich zu viel bewegte, könne sich die Nabelschnur um den Hals des Babys legen und es ersticken. Da die Geburt unmittelbar bevorstand, wollte ich kein Risiko eingehen, und so strich Nance das ganze Haus in einem sehr speziellen Rosaton, um hernach die Wände mit einem Stück Gardine, das sie in einen Eimer mit einem dunkleren Rosaton tauchte, abzutupfen. Diese Technik sei der letzte Schrei, behauptete sie, und viel billiger als Tapezieren.

Als ich vorsichtig anmerkte, dass wir vor dem Streichen vielleicht die alten Tapeten hätten entfernen sollen, entgegnete sie spitz, ich solle das getrost ihr überlassen, und wenn ich es besser könne, solle ich es doch selber machen und dabei das Leben meines Ungeborenen riskieren. Und so mischte ich einfach einen weiteren Eimer Farbe an und versuchte zu verdrängen, was passieren würde, wenn meine Mutter im Frühling und Herbst die Wände gründlich mit Wasser abschrubbte.

Als mein Mann zu seinem ersten längeren Fronturlaub nach Hause kam, war er wenig begeistert von dem Rosaton der Wände und dem Muster, das an Kohlköpfe erinnerte. Nachdem er zweimal sein ganzes Repertoire an halbwegs salonfähigen Flüchen und Schimpfwörtern aufgebraucht hatte, fuhr er in die Stadt, besorgte neue Farbe und ordentliche Pinsel. Er arbeitete seinen ganzen Urlaub hindurch, und wenngleich auch nach dem zweiten Anstrich die Kohlköpfe noch leicht durchschimmerten, sahen die Wände hinterher doch um einiges besser aus.

Erschöpft kehrte mein Mann zurück zu seinem Regiment und zum vergleichsweise erholsamen Exerzieren, Wache schieben und Marschieren. Kurz nach seiner Abreise beschloss unsere kleine Tochter, dass sie genug von der Enge in meinem Bauch hatte, und machte sich auf den schmerzhaften Weg durch den Geburtskanal.

Der Schweinekübel gehörte allen Bewohnern der Reihenhaus-Reihe. Jeden Tag kam ein Bauer vorbei, tauschte den vollen Kübel gegen einen leeren und fuhr mit unserem Beitrag zur Mast seiner Schweine davon. Der Schweinekübel war eine wichtige Kriegsmaßnahme gewesen, und er war ein beliebter Treffpunkt, um Ansichten auszutauschen, voller Mitleid das Unglück gemeinsamer Freunde zu betrauern oder sich gemeinsam am Unglück eines gemeinsamen Feindes zu freuen.

Bis zur Party am Tag des Sieges, auf der ich in die Gemeinschaft aufgenommen worden war und allen bewiesen hatte, dass ich gar nicht so überheblich war, wie alle gedacht hatten, standen die Gründungsmitglieder der Debattierrunde am Schweinekübel in schmallippigem Schweigen beisammen und warteten, dass ich wieder ging, um das Gespräch fortzusetzen, das sie bei meinem Eintreffen unterbrochen hatten. Aus der Art und Weise, wie sie verstummt waren, als ich in Hörweite gekommen war, konnte ich nur schließen, dass ich Tagesthema war – ein Verdacht, der sich bestätigte, nachdem ich in die Gruppe aufgenommen worden war. Ich lernte schnell, dass, wenn jemand dort war, man über jemanden sprach, der gerade nicht anwesend war, und wenn der dann da war, wurde über jemand anderen gesprochen oder auch mal gelästert, aber nicht wirklich böse.

Viele Probleme, die wir bei Kartoffelschalen besprachen, erschienen jenen, die sie nicht betrafen, oft trivial und leicht zu lösen, während die Betroffenen selbst darüber manchmal fast verzweifelten.

Als Edna, die im letzten Reihenhaus wohnte, uns erzählte, dass ihr Sohn begann, seinem Vater gegenüber frech zu werden, fand Selina, die das andere Endhaus bewohnte, hierin nichts Besorgniserregendes.

»Alles, was der Junge braucht, ist eine ordentliche Backpfeife«, meinte sie und kippte eine Schaufel voll rotglühender Asche in den Schweinekübel. Eigentlich war es verboten, Asche in dem Kübel zu entsorgen, aber Selina lebte nach ihren eigenen Regeln.

»Du hast gut reden«, entgegnete Edna düster. »Du musst dir das Gezänk ja nicht anhören. Außerdem ist er fünfzehn und größer als sein Dad.«

Selina schlug den Deckel des Kübels zu, der einen durchdringenden Geruch verbrannten Kohls verströmte, und stolzierte davon.

Bei ihr zu Hause hatten Alter und Größe nie eine Rolle gespielt. Allein aufgrund ihres Mutterstatus stand sie weit über ihren Söhnen, egal wie alt diese waren oder um wie viel sie sie überragten. Sie hatte sechs Jungs großgezogen und ihnen immer dann eine Backpfeife verpasst, wenn sie der Meinung gewesen war, es würde ihnen guttun. Und alle sechs waren ordentlich geraten.

Als es mit Ednas Sohn ein böses Ende nahm, erklärte Selina, das habe sie nicht anders erwartet, um gleich darauf nach Kräften zu versuchen, die arme Edna zu trösten.

Dilys war diejenige aus den Reihenhäusern, die am meisten danach aussah, als würde sie dem Stress des Waffenstillstands nicht standhalten, was Edna hoch befriedigt zur Kenntnis nahm. Sie und Dilys konnten sich nicht leiden. Sie hatten sich vor so langer Zeit wegen etwas zerstritten, und obwohl längst niemand mehr wusste, worum es überhaupt gegangen war, sprachen die beiden seither kein Wort miteinander. Wenn sie einander begegneten, wandten sie den Kopf ab und blickten demonstrativ in eine andere Richtung.

Dilys war ein dralles Mädchen mit kräftigen Knien, die beim Gehen aneinanderscheuerten. Ihre Beine waren fleckig, weil sie im Winter zu nah am Feuer saß, und trotz ihrer Jugend schon voller Krampfadern, die wohl auf ihr massives Übergewicht zurückzuführen waren. Während des Krieges hatte sie tagsüber im lokalen Lebensmittelbüro versucht, Probleme mit Lebensmittelmarken zu lösen, und nachts von ihrem Ehemann geträumt, der an ihrer Seite schnarchen sollte, anstatt irgendwo in Salisbury Plain sein Bataillon mehr schlecht als recht zu bekochen. Nach seiner Entlassung aus dem Kriegsdienst arbeitete Dilys weiter im Lebensmittelbüro, doch die Nächte erfüllten wohl ihre Erwartungen nicht ganz – oder aber übertrafen sogar ihre wildesten Träume.

Anfangs merkten wir nicht, welche Auswirkungen der Frieden auf Dilys’ Liebesleben hatte. Ein, zwei Tage nach der Heimkehr ihres Ehemanns hatte sie uns euphorisch brühwarm berichtet, welche atemberaubenden Variationen ihr leidenschaftlicher Mann sich für die vergangene Nacht ausgedacht hatte. Einiges hatte regelrecht akrobatische Züge, und angesichts von Dilys’ Figur mussten die Verrenkungen schwer zu bewerkstelligen gewesen sein. Aber, wie Edna hierzu nur spöttisch meinte, nachdem wir staunend zurückgelassen worden waren: »Als Armeekoch ist ihr Mann es ja gewohnt, mit zentnerschweren Kartoffelsäcken zu hantieren.«

Edna hatte neben ihrem Taugenichts von einem Sohn noch eine Tochter. Diese war klapperdürr und locker mit einem schottischen Highlander verbandelt seit jenem Abend zu Kriegsbeginn, an dem er ihr im Kino die Hand aufs Knie gelegt hatte. Sie wartete immer noch auf die Einladung nach Schottland, um seine Eltern kennenzulernen. Wir waren bei unseren Schwätzchen schon vor langer Zeit zu dem Schluss gekommen, dass er wahrscheinlich längst Frau und Kinder hatte, die er Ednas Tochter ganz sicher nicht vorstellen wollte. Edna brauchte viel länger, um der Tatsache ins Auge zu sehen, dass der Highlander ihre Tochter wohl nie heiraten würde. Als er dann an Weihnachten keine Karte mehr schickte, hatten wir Mitleid mit Edna wegen des Gesichtsverlustes. Und auch ihre sitzengelassene Tochter tat uns leid.

Selina brachte ihr Mitgefühl mit ein paar sorgfältig gewählten Worten zum Ausdruck. »Wenn ich sie wäre, würde ich ihn abschreiben«, sagte sie fröhlich. »Sie sollte froh sein, dass sie ihn los ist. Andere Mütter haben auch nette Söhne.« Hierauf schwieg sie einen Moment nachdenklich. »Außerdem glaube ich nicht, dass sie je einen Blick unter seinen Kilt geworfen hat. Schade eigentlich.«

Ednas Tochter heiratete schließlich einen anderen, der jedoch mit dreißig im Rollstuhl saß und im Alter von gerade einmal vierzig Jahren starb. Hiernach zog sie wieder bei ihrer Mutter ein und heiratete nicht wieder. Und sie blieb bis zuletzt gertenschlank.

Etwa eine Woche nach der Heimkehr von Dilys’ Ehemann, überraschte sie uns mit einem Gefühlsausbruch. Wir waren alle bei Selina, als es passierte. Sie hatte uns zum Tee eingeladen. »Ganz ungezwungen«, hatte sie hinzugefügt, als fürchtete sie, wir könnten im Ballkleid zum Nachmittagstee erscheinen.

Wir waren bei unserem zweiten Schokoladen-Eclair – Selina hatte eine Freundin, die bei Maypole arbeitete und ab und an ohne Lebensmittelmarken an das eine oder andere Extra herankam –, als jemand Dilys fragte, ob es ihr gut gehe. Sie war seit ein paar Tagen sehr blass und nicht mehr so fröhlich wie sonst. Zum allgemeinen Entsetzen stellte Dilys Teetasse und Teller ab und brach in Tränen aus. Wir schauten weg. Wir hatten Dilys noch nie weinen sehen und waren auf den Anblick nicht vorbereitet.

»Es ist wegen ihm«, sagte sie mit erstickter Stimme, nachdem sie sich in ein Taschentuch geschnäuzt hatte, das jemand hastig aus einem Handarbeitsbeutel gefischt hatte. Wir spitzten die Ohren. Wir gingen davon aus, dass sie ihren Mann meinte, und das versprach, interessant zu werden.

»Was ist denn mit ihm?«, fragte Selina und suchte nach einem weiteren Taschentuch.

»Er bekommt einfach nicht genug«, schluchzte Dilys. »Jeden Abend und jeden Morgen. Ganz ehrlich, ich habe genug davon.« Sie gähnte ausgiebig und überließ es uns zu erraten, wovon genau sie genug hatte, was aber nicht weiter schwer war.

Selina stand von ihrem Stuhl auf und ging zum Sofa. »Nicht doch, Dilys«, sagte sie freundlich und tätschelte Dilys’ Hand. »Nachdem er so lange weg war, hat er wohl einiges nachzuholen.« Selina erzählte uns immer wieder, dass sie mit den Wechseljahren ein Machtwort gesprochen und dem abgeschworen habe.

Einige von uns hegten Zweifel bezüglich der Enthaltsamkeit von Dilys’ Ehemann während seiner Abwesenheit, aber das behielten wir für uns.

»Mag ja sein«, räumte Dilys ein und gähnte wieder, diesmal noch ausgiebiger. »Trotzdem muss er ja nicht alles in einer Woche nachholen, oder?«

Einige der Zuhörerinnen nickten mitfühlend, insbesondere diejenigen, die sich angewöhnt hatten, es sich mit einem Buch im Bett gemütlich zu machen, nachdem ihre Bettgefährten zum Kriegsdienst herangezogen worden waren. Als dann die Zeit gekommen war, das Buch wegzulegen, um alte Gewohnheiten wiederaufleben zu lassen, war es nicht jeder leichtgefallen, von einer entspannten Lektüre zurück zu körperlicher Ertüchtigung zu wechseln.

Dilys litt an Schlafmangel und verlor sogar etwas an Gewicht in dieser Übergangsphase. Sie wurde erst wieder die Alte, als sie schwanger wurde und meinte, es könnten Zwillinge werden, da es in ihrer Familie väterlicherseits häufiger zu Zwillingsgeburten gekommen sei.

Es wurden tatsächlich Zwillinge, und beide waren ebenso kugelrund und fröhlich wie ihre Mutter. Und sie hielten ihre Eltern nachts mit Füttern und Windeln wechseln so sehr auf Trab, dass nicht mehr viel Zeit und Energie übrig war für körperliche Ertüchtigung. Aber die Kinder seien das Opfer wert, erklärte Dilys’ Mann stolz, als er den Kinderwagen schob, den seine Mutter ihnen zur Geburt ihrer ersten Enkel geschenkt hatte.

Sogar Edna musste zugeben, dass die Babys niedlich waren. Sie fing an, Babykleidung in Rosa und Hellblau zu stricken, und bald hatten sie und Dilys das Kriegsbeil begraben und wurden beste Freundinnen.

Ich hatte meine eigenen Nachkriegsprobleme, wenn auch harmlose verglichen mit Ednas und Dilys‘. Ich las auch nach der Heimkehr meines Piloten abends im Bett, wenn ich auch jetzt Bücher aus der Bibliothek auslieh, die man beiseitelegen konnte, ohne gleich den Faden zu verlieren. Ich beseitigte weiterhin Verstopfungen in Abflüssen mit der Stricknadel und einem Eimer Sodawasser, ließ mir aber gerne beim Feuermachen helfen. Ich war nicht sehr geschickt beim Feuermachen. Egal wie sorgfältig ich Papier und Hölzchen auch aufschichtete und wie viele Streichhölzer ich an das Gebilde hielt, es geschah immer wieder das Gleiche: Eine Stichflamme schoss den Kamin hinauf, das Feuer ging wieder aus und ich musste von vorne anfangen.

Einmal war ich nach mehreren vergeblichen Anfeuerungsversuchen so frustriert, dass ich eine Flasche Paraffin über die schwelenden Hölzer kippte, woraufhin die Flammen jedoch nicht nach oben aufloderten, sondern mir ins Gesicht schossen und ich lange mit gezacktem Pony und versengten Augenbrauen herumlief.

Aber es gab noch andere Dinge, die ich nicht besonders gut konnte. Trotz meiner Ausbildung zur Krankenschwester waren meine Fertigkeiten beim Backen und Nähen eher bescheiden. Ich brauchte weniger Zeit, um sämtliche Patienten einer Station mit einer Bettpfanne zu versorgen, als um einen Hemdknopf anzunähen. Und keiner der Biskuitkuchen, die ich nach meiner Heirat backte, wog auch nur ein Gramm weniger als die Leinsamenumschläge, die ich während meiner Zeit als Schwesternschülerin auf Patienten geklatscht hatte.

Das Haushaltsbuch bereitete mir mehr Schwierigkeiten als die komplizierten Berechnungen bei der Dosierung gefährlicher Medikamente. Meine Jahre als Krankenschwester hatten mich nicht auf die Tragödien und Katastrophen eines Hausfrauendaseins vorbereitet. Ich weinte bittere Tränen wegen des Apfelkuchens, der meinen verbrannten Fingern entglitten und in einem matschigen Haufen verkehrt herum auf dem Herd gelandet war. Ich sah betrübt zu, wie mein Kuchen in sich zusammenfiel, anstatt aufzugehen, und ich bekam einen hysterischen Schreikrampf, als eine Maus durch meine Küche lief. Obwohl ich eine Million Kakerlaken auf einem Haufen in einer Krankenhausküche gesehen hatte, brachte mich eine einzige kleine Maus in meiner eigenen Küche völlig aus der Fassung.

Krankenschwestern lernten während ihrer Ausbildung eine ganze Menge, aber nur wenig davon war wirklich hilfreich, wenn man einen Apfelkuchen fallen ließ, den man eigentlich gleich kredenzen wollte, oder wenn es darum ging, eine Mausefalle mit einem Käseköder zu bestücken. Dass man wusste, wie man einen Einlauf verabreichte, half einem nicht, wenn es darum ging, Laken ordentlich zu falten. Die Hausarbeit gab mir ebenso viele Rätsel auf wie seinerzeit die Kurse in Anatomie und Physiologie, und wie bei der Anatomie und Physiologie gab es auch im Haushalt so manches, das mir auf ewig ein Rätsel bleiben sollte.

Kapitel 2

Aber so furchtbar die Apfelkuchen-Tragödie auch gewesen war, wurde sie kurze Zeit später von einem anderen Ereignis noch übertroffen: der Überschwemmung, die einen Teil unserer Einrichtung ruinierte.

Sie ereignete sich nach einem langen, kalten Winter, der die Heizölrechnung fast verdoppelte und das Bett zum wärmsten Ort im Haus machte, wobei der eisige Wind sogar durch die schweren Armeedecken drang.

Zum Zeitpunkt der Überschwemmung hatten wir zwei kleine Kinder, wobei das zweite Gott sei Dank die zu klein gewordenen Kleider seiner Schwester auftragen konnte, da es sich zu meiner großen Freude ebenfalls um ein Mädchen handelte.

Die Wasserpegel stiegen rapide an. Eben noch ein silbriger Schimmer zwischen zwei von Schmelzwasser und anhaltendem Regen angeschwollenen Flüssen, drang das Wasser im nächsten Moment auch schon in unser Haus ein, sodass kleine Wellen an den Tischbeinen leckten und den Teppich durchweichten. Ein Stuhlbein schwamm obenauf, eine Schranktür fiel ab, die Füllung quoll unten aus dem Sofa und eine Matte löste sich vor unseren Augen buchstäblich auf. Rückblickend war es somit gerechtfertigt gewesen, dass Nance für ihre gebrauchten Sachen weniger verlangt hatte, als wir für neue Einrichtungsgegenstände im Billigladen ausgegeben hätten.

Mein Mann paddelte heim und watete ins Wohnzimmer, wo ich mit je einem zappelnden Kind auf jedem Arm hilflos auf dem Tisch stand. Er stieg zu mir auf den Tisch und wir warteten aneinandergeklammert darauf, gerettet zu werden.

Der Mann, der schließlich kam, um mich zu holen, war sehr klein und hätte als Boxer nicht einmal das Federgewicht erreicht. Es sah aus, als könnte ihn die nächste Welle davontragen. Er watete in Gummistiefeln, die ihm bis über die Oberschenkel reichten und bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch machten, herein, berechnete grob mein Körpergewicht, das nach zwei Schwangerschaften und zu viel Apfelkuchen nicht weniger geworden war, und straffte die Schultern.

»Ich trage Sie huckepack«, sagte er mit wenig Begeisterung. Meine Hoffnung, von zwei starken Armen hinausgetragen zu werden, so wie die Frauen in Vom Winde verweht von den Filmhelden getragen wurden, zerplatzte wie eine Seifenblase. Ich kletterte dem armen kleinen Mann auf den Rücken und wurde nach einigen Fehlversuchen recht würdelos aus meinem überschwemmten Haus geschleppt.

Als wir, nachdem das Wasser sich zurückgezogen hatte, nach Hause zurückkehrten, bot sich uns ein trauriger Anblick. Keller und Erdgeschoss waren völlig verschlammt, und eine dunkle schleimige Linie zeigte an, bis wohin das Wasser gestanden hatte. Die Feuchtigkeit reichte fast bis zur Decke, und die Tapeten, die Nance und ich damals vor dem Streichen hätten entfernen sollen, hatten sich in durchweichten Bahnen von den Wänden gelöst.

Wieder weinte ich bitterlich, wobei ich diesmal allen Grund dazu hatte. Ich weinte wegen eines Ereignisses, das ich damals in meiner Naivität für die schlimmste Katastrophe unseres Lebens hielt.

»Hake es als eine Erfahrung ab«, meinte mein Mann philosophisch, als wir den Schlamm aus unserem Haus schaufelten. Ich versuchte es, aber es fiel mir schwer, und das Unglück hing mir noch lange nach. Das Sofa hatte unwiderruflich Schaden genommen.

Nach der Flut kamen kurz hintereinander die Windpocken, Masern und Keuchhusten, und das immer mal zwei. Auf Windpocken und Masern hätten wir schon gerne verzichtet, aber der Keuchhusten war richtig schlimm. Bei den Windpocken und Masern hatte es wenigstens eine kurze Verschnaufpause zwischen der Heilung des einen und der Erkrankung des zweiten Kindes gegeben, aber der Keuchhusten befiel beide zeitgleich. Kaum hatten wir uns wieder hingelegt, nachdem wir die Jüngste kopfüber gehalten hatten, um sie vor dem Ersticken zu bewahren, erlitt schon ihre Schwester einen weiteren Hustenanfall, und der ganze furchterregende Kreislauf begann wieder von vorn.

Wir holten den Doktor, der aber meinte, das müssten wir einfach aussitzen, und schickte uns zum Apotheker, um Hustensaft zu besorgen. Er ließ sich nicht wieder blicken. Vielleicht wäre er ein wenig aufmerksamer gewesen, wenn wir nicht mit unseren Beitragszahlungen bei der Krankenkasse in Verzug gewesen wären. Wir mussten einen Shilling die Woche bezahlen, aber ein Shilling war viel Geld, es sei denn, man rechnete damit, dass niemand so krank wurde, dass man die Versicherung in Anspruch nehmen musste und sich der Beitrag auch lohnte. Wir hatten weder mit Windpocken noch mit Masern oder Keuchhusten gerechnet, schon gar nicht so kurz hintereinander und doppelt. Hätten wir das geahnt, hätten wir unseren Shilling sicher gerne bezahlt, anstatt zu behaupten, wir hätten das Geld nicht, als der Krankenkassenvertreter kam.

Nachdem die Nachbarn erfahren hatten, dass ich vor der Geburt meiner Kinder Krankenschwester gewesen war, erwarteten sie plötzlich von mir, dass ich mit einer Wunderkur aufwartete, die unsere Kinder von dem quälenden Husten kurierte, der uns alle nachts wachhielt. Leider kannte ich kein solches Wundermittel. Und dass ich Krankenschwester war, machte es nicht besser, sondern schlimmer. Ich wusste aus Erfahrung, dass Kinder an alltäglichen Dingen starben, zuweilen auch an Keuchhusten. Ich hatte sie sterben sehen, während ihre Mütter an ihrem Bett gewacht und gebetet hatten, dass ihre Kinder überlebten. Doch Gebete halfen nicht gegen verschleimte Lungenflügel und zugeschwollene Hälse.

Ich erinnerte mich noch gut an eine furchtbare Nacht, als ich noch Schwesternschülerin gewesen war. Der Krankenwagen hatte ein Kind mit Keuchhusten gebracht. Es war ein bildhübscher Junge. Seine Mutter war älter als die meisten anderen Mütter von Kindern in diesem Alter. Es hatte sehr lange gedauert, bis sie schwanger geworden war, umso glücklicher war sie gewesen, als sich ihr größter Wunsch endlich erfüllt hatte. Sie wollte einfach nicht glauben, dass derselbe Gott, der ihr ihren Sohn geschenkt hatte, so grausam sein könnte, ihn ihr wieder zu nehmen. Ihre Gebete wurden nicht erhört. Impfung und Antibiotika gab es damals noch nicht, und bis zu deren Erfindung verabreichten wir unseren Kindern nutzlosen Hustensaft und beteten bei jedem neuen Hustenanfall, es möge der letzte sein und unsere Kinder würden wieder Luft bekommen, bevor es zu spät war.

Eines Morgens klopfte Selina an meine Tür, um sich nach dem Befinden der Kinder zu erkundigen. Ich bat sie herein, und sie erzählte mir von Mitteln gegen Keuchhusten, die garantiert helfen sollten. An diesem Tag scheiterten wir allerdings daran, da wir die erforderlichen Zutaten nicht zur Verfügung hatten.

»Wir brauchen heißen Teer«, sagte sie, während sie den Kopf eines der Mädchen über eine Waschschüssel hielt, während ich dem anderen auf den Rücken klopfte. »Die Dämpfe würden die Lunge sofort frei machen.«

»Aber wo sollen wir heißen Teer herbekommen?«, fragte ich, nicht weil ich an die Wirksamkeit dieses vermeintlichen Hausmittels geglaubt hätte, sondern weil ich an einem Punkt war, an dem ich zu allem bereit gewesen wäre, wenn es nur dem Husten ein Ende gemacht hätte.

»Zu schade, dass gerade keine Straßen in der Nähe geteert werden«, meinte Selina. Mir fiel auch keine Straßenbaustelle im Umkreis ein.

»Was ist mit dem Gaswerk?«, fragte ich. »Vielleicht gibt es ja dort heißen Teer.« Ich hatte keine Ahnung, ob es dort Teer gab oder nicht und dachte auch nicht länger darüber nach, als mir einfiel, dass der nächste Gasometer zehn Meilen entfernt war.

Selina ging hinaus, um die Waschschüssel zu leeren, damit sie für den nächsten Husten-Spuckanfall bereit war. Als sie zurückkam, zog sie noch ein Ass aus dem Ärmel.

»Nach dem heißen Teer ist ein Flug in einem Flugzeug das Beste«, erklärte sie. Ich warf ihr über das blau angelaufene Gesicht meiner Jüngsten hinweg einen Blick zu. Meine Kleinste musste einen neuen Rekord im Luftanhalten während eines Hustenanfalls aufgestellt haben. Die Idee, die Kinder in ein Flugzeug zu setzen, war noch abwegiger, als einen Kessel voll heißem Teer aufzutreiben. Trotz der ruhmreichen Luftschlacht um England und Mr. Churchills Rede, in der es geheißen hatte, noch nie hätten so viele so wenigen so viel zu verdanken gehabt, waren Flugzeuge immer noch etwas Exotisches. Wenn eins der seltenen Flugzeuge über die Dächer hinwegflog, starrten alle neugierig in die Luft. Die Chance, unsere armen Kleinen an Bord eines Flugzeugs zu bekommen, war gleich null. Ich wartete auf einen weiteren Vorschlag von Selina, der auch nicht lange auf sich warten ließ.

»Gänsefett!«, rief sie plötzlich aus. »Meine arme alte Mutter hat auf Gänsefett geschworen, als wir noch Kinder waren. Sie hatte immer eine Schüssel voll in der Speisekammer, und wenn einer von uns gehustet hat, hat sie etwas davon auf einen alten Lappen gegeben und uns auf die Brust gelegt. Das hat Wunder gewirkt.«

Als ich sie hierzu näher befragte, räumte Selina ein, dass ihre arme alte Mutter nur kurz auf Gänsefett geschworen habe. Gebratene Gans war kein alltägliches Gericht, und ohne Gans kein Gänsefett, was die Verfügbarkeit des vermeintlichen Wundermittels bei Heiserkeit und Atembeschwerden eingeschränkt haben dürfte.

»Ist vielleicht auch besser so«, meinte Selina grinsend. »Es hat nach ein, zwei Tagen so ranzig gerochen, dass in der Schule niemand neben uns sitzen wollte, wenn wir Husten hatten.«

Sie ging heim, und ich stellte mich resigniert auf weitere schlaflose Nächte und Erstickungsanfälle ein, in denen ich verzweifelt darauf wartete, dass meine Jüngste wieder atmete.

Wie das Hochwasser ebbte auch der Husten nach und nach ab, aber die Erfahrung hing uns noch lange nach. Die Kinder waren blass und kränklich und wir erschöpft, nachdem wir wochenlang keine Nacht durchgeschlafen hatten.

»Vielleicht sollten wir mit ihnen für ein paar Tage zu deinen Eltern aufs Land fahren?«, meinte mein Mann, als sein Jahresurlaub nahte. Ich wälzte mich die ganze Nacht von einer Seite auf die andere, unschlüssig, ob die Vorzüge einer ländlichen Umgebung die beschwerliche Reise mit zwei Kleinkindern von einem Londoner Vorort bis ins tiefste Lincolnshire überwogen. Am Morgen schaute ich in ihre bleichen Gesichter, dachte an die frische Luft bei meinen Eltern und traf erste Vorbereitungen für unseren Urlaub.

Die winzige Kammer, in der ich einen Großteil meiner Kindheit und Jugend verbracht hatte, war fast unverändert. Nachdem der Krieg wie ein Orkan über Haus, Scheune und Schweinestall hinweggefegt war, war längst wieder alles beim Alten, abgesehen von der milchweißen Gänsekresse, die die Einheimischen auch Bergschnee nannten – einem Überbleibsel der Soldaten, die vorübergehend auf Vaters Wiese kampiert hatten. Der kleine Bach floss weiterhin plätschernd am Haus und am Plumpsklo vorbei und durch die Stechginsterbüsche auf der Koppel. Züge rumpelten, weiße Dampfwolken ausstoßend, vorbei und grüßten pfeifend den Wärter im Schrankenhäuschen. Der Co-op-Fahrer kam immer noch jeden Donnerstag vorbei, wenn auch jetzt in einem Lieferwagen anstatt des Pferdekarrens, der den Donnerstag in meiner Kindheit so besonders gemacht und uns kostenlosen warmen Naturdünger für den Rhabarber beschert hatte. Das Pferd war ein Gewohnheitstier gewesen und hatte jedes Mal ein paar Äpfel dagelassen, während der Co-op-Mann meiner Mutter die Lebensmittel gebracht hatte.

Meine Mutter war ebenfalls ein Gewohnheitstier. Montag war Waschtag, dienstags wurden die Betten frisch bezogen, mittwochs und donnerstags schrubbte und wienerte sie das ganze Haus, Freitag war großer Backtag, samstags bereitete sie das Sonntagsessen vor und sonntags ging sie zweimal zum Gottesdienst. Wenn die Zeit irgendwo stillstehen konnte, dann in diesem kleinen Haus am Ende des Feldwegs, wo wir nun unseren Urlaub verbringen wollten, damit die Kinder sich von dem grauenhaften Winter mit Überschwemmung, Windpocken, Masern und Keuchhusten erholen konnten.

Das Ganze musste bis ins letzte Detail geplant werden. Zwar waren wir mit den Babys schon einmal bei meinen Eltern gewesen, doch ein Aufenthalt mit Kleinkindern, die laufen konnten, erforderte einige Vorsichtsmaßnahmen. Wir kauften von dem Geld für die Miete Schuhe und Strümpfe, bezahlten die Miete von dem Geld, das wir für die Kohle beiseitegelegt hatten, und machten nicht auf, als der Kohlenhändler bei uns anklopfte. Nachdem wir die Fahrkarten und diverse andere Dinge besorgt hatten für den Urlaub auf dem Land, war die mit Kohlenhändler beschriftete Büchse, die im Regal neben jener stand, die mit Milchmann beschriftet war, leer. Um den Kohlenhändler ein wenig milder zu stimmen, warfen wir ihm einen Zettel in den Briefkasten, in dem wir uns dafür entschuldigten, dass wir bei seinem Besuch nicht da gewesen seien, und versprachen, beim nächsten Mal den noch ausstehenden Betrag zusammen mit der Rechnung für die neue Lieferung zu bezahlen. Wir waren angenehm überrascht, dass er nicht sofort auftauchte, um den Restbetrag aus der letzten Lieferung einzufordern. Wir waren dem Kohlenhändler noch nie Geld schuldig geblieben, sodass wir nicht hatten absehen können, wie er reagieren würde.

Der Urlaub war wunderbar. Es gab reichlich frische Luft und die Kinder sogen diese geräuschvoll ein, als ihnen bewusst wurde, dass sie anders roch als die Luft, die sie aus der Londoner Vorstadt kannten.

Meine Mutter lächelte nur nachsichtig, wenn sie Dinge taten, für die sie mir den Hintern versohlt hätte, als ich in ihrem Alter gewesen war, und mein Vater nannte sie seine kleinen Vögelchen und kümmerte sich ganz rührend um sie. Sie fielen nicht in den Brunnenschacht im Garten, obwohl sie sich weit über den Rand beugten und nach der Kröte Ausschau hielten, die ihrem Großvater zufolge dort unten lebte. Mir hatte er dieselbe Geschichte erzählt, als ich noch klein gewesen war, und ich hatte die Kröte ebenfalls nie zu Gesicht bekommen. Er sagte, jeder Brunnen brauche eine Kröte, um das Wasser zu reinigen. Das schien mir eine seltsame Reinigungsmethode zu sein, aber immerhin einfacher als die aufwendigen Filtersysteme, mit denen ich mich während meiner Ausbildung zur Krankenschwester hatte befassen müssen.

Als wir die Straße hinuntergingen, um auf einem benachbarten Bauernhof Milch zu holen, quiekten die Kinder vor Vergnügen, als der Bauer sie mit einem Milchstrahl direkt aus dem Euter anspritzte, und empörten sich lautstark, als der kleine Bauernsohn sich über sie lustig machte und sie Cockneys nannte. Die Mädchen wussten nicht, was ein Cockney war, aber es klang übel genug, um ihren Kampfgeist zu wecken. Die freundliche Bäuerin machte dem Streit ein Ende, indem sie die beiden kleinen Cockneys zum Eiersammeln in den Hühnerstall mitnahm und jeder ein braunes Ei für den Nachmittagstee schenkte.

Auf dem Heimweg schwenkten sie die Milchkanne so heftig, dass sie den Inhalt beinahe in Butter verwandelten, bevor er sicher in der kühlen Speisekammer verstaut wurde. Die Milchkanne schwenken gehörte zu den Dingen, die mir als Kind strengstens verboten gewesen waren, aber meine Mutter meinte, bei meinen beiden sei das etwas anderes, da für sie Milch aus dem Laden komme und nicht von der Kuh. Außerdem lenke sie das Schwenken der Milchkanne von ihren schmerzenden Füßen ab. Sie waren es nicht gewohnt, weite Strecken über Straßen und Feldwege zu laufen, wo wir doch in der Stadt den Bus nahmen, wenn wir irgendwo hinwollten.