Ruf des Lebens – Zeit der Veränderung - Evelyn Prentis - E-Book
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Ruf des Lebens – Zeit der Veränderung E-Book

Evelyn Prentis

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Beschreibung

Wir lernten schnell, mit dem Krieg zu leben. Wir wurden sehr geübt darin, die Patienten, die laufen konnten, rasch in die Schutzräume zu bringen, wenn die Sirenen ertönten. Ebenso geübt waren wir darin, denjenigen, die nicht laufen konnten, einzureden, dass sie dort wo sie waren, sicher wären. Einige glaubten uns, andere nicht.

Evelyn schließt ihre Ausbildung zur Krankenschwester erfolgreich ab und überrascht damit nicht nur die anderen Schwestern und ihre Mutter, sondern auch sich selbst. Nie hätte sie sich diese harte Ausbildung zugetraut. Beflügelt von ihrem Erfolg fasst sie den mutigen Entschluss von Nottingham nach London zu ziehen, um dort in ihrem neuen Beruf weiterzuarbeiten. Doch der Krieg hat London bereits fest im Griff und schon bald prägen Bombenhagel, Luftschutzbunker und unzählige Verletzte den harten Alltag der Krankenschwestern …

Die ergreifenden Memoiren der englischen Krankenschwester Evelyn Prentis als deutsche Erstausgabe. Für alle Fans von Donna Douglas und der TV-Serie „Call the Midwife“. Alle Titel der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Seitenzahl: 338

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Über das Buch

Wir lernten schnell, mit dem Krieg zu leben. Wir wurden sehr geübt darin, die Patienten, die laufen konnten, rasch in die Schutzräume zu bringen, wenn die Sirenen ertönten. Ebenso geübt waren wir darin, denjenigen, die nicht laufen konnten, einzureden, dass sie dort wo sie waren, sicher wären. Einige glaubten uns, andere nicht.

Evelyn schließt ihre Ausbildung zur Krankenschwester erfolgreich ab und überrascht damit nicht nur die anderen Schwestern und ihre Mutter, sondern auch sich selbst. Nie hätte sie sich diese harte Ausbildung zugetraut. Beflügelt von ihrem Erfolg fasst sie den mutigen Entschluss von Nottingham nach London zu ziehen, um dort in ihrem neuen Beruf weiterzuarbeiten. Doch der Krieg hat London bereits fest im Griff und schon bald prägen Bombenhagel, Luftschutzbunker und unzählige Verletzte den harten Alltag der Krankenschwestern …

Die ergreifenden Memoiren der englischen Krankenschwester Evelyn Prentis als deutsche Erstausgabe. Für alle Fans von Donna Douglas und der TV-Serie »Call the Midwife«. Alle Titel der Reihe können unabhängig voneinander gelesen werden.

Über Evelyn Prentis

Evelyn Prentis, geboren 1915, wuchs in Lincolnshire auf. Mit achtzehn Jahren verließ sie ihr Elternhaus, um eine Ausbildung zur Krankenschwester zu absolvieren. Während des Zweiten Weltkrieges zog sie nach London, heiratete und gründete eine Familie. Sie starb 2001 im Alter von fünfundachtzig Jahren. Über ihr Leben als Krankenschwester hat die mehrere Bücher geschrieben. Ruf des Lebens – Zeit des Aufbruchs ist der erste Titel dieser Buchreihe.

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Evelyn Prentis

Ruf des Lebens – Zeit der Veränderung

Übersetzt aus dem Englischen von Cécile G. Lecaux

Für Judith und Barbara, in Liebe

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Teil I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Teil II

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil III

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Teil IV

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil V

Kapitel 15

Kapitel 16

Teil VI

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Impressum

Teil I

Kapitel 1

Ich stand mit schwitzigen Händen im Büro der Oberschwester auf der Matte und scharrte nervös mit den Füßen – wie schon so oft seit dem ersten Tag meiner Ausbildung. Es war eine schäbige, abgewetzte Matte, vor allem in der Mitte abgenutzt, dort, wo vor mir schon Generationen verunsicherter Krankenschwestern unruhig mit den Füßen gescharrt hatten. Dieselbe schäbige Matte, auf der ich bäuchlings gelandet war, als ich das erste Mal zur Oberschwester zitiert worden war. Die Stufe zu verfehlen und auf die Nase zu fallen war meinem Start in die Ausbildung nicht gerade förderlich gewesen.

Damals hatte die Oberschwester mich ebenso eisig gemustert wie sie es heute tat, ohne den leisesten Hauch von Belustigung. Und so wie heute hatte auch damals der fette Scottish Terrier auf seinem Platz neben dem Schreibtisch verächtlich die Zähne gefletscht. Wie damals fühlte ich mich unbehaglich unter dem inquisitorischen Blick und durch den übelriechenden Atem des Tiers. Es kam mir vor, als hätte sich seit damals nichts geändert. Als würde sich nie etwas ändern.

Dabei hatte sich sehr wohl einiges getan! Ich war keine Lernschwester mehr mit einer Haube, die die Ohren verdeckte und mit einem Dutzend Haarklammern befestigt werden musste. Ich hatte meine Abschlussprüfung bestanden und war jetzt eine examinierte Krankenschwester, und auf dem Kopf trug ich nun eine neue Haube, die von wenigen Haarklammern und zwei spitzenbesetzten Schleifen gehalten wurde. Erst an diesem Morgen hatte ich meinen Namen auf der Liste derjenigen gelesen, die die Prüfung bestanden hatten, woraufhin ich auf mein Zimmer gerannt war, um die Schleifen aus der Schublade zu holen, zu bügeln und stolz anzulegen. Obwohl ich sie erst kurze Zeit trug, scheuerten die gestärkten, steifen Bänder bereits unter meinem dicken Kinn. Aber noch waren sie so neu, dass die Freude überwog, vermittelten sie mir doch ein völlig überzogenes Gefühl meiner eigenen Wichtigkeit.

Die Oberschwester schaffte es jedoch sehr schnell, mir dieses erhebende Gefühl wieder auszutreiben. Sie warf nur einen Blick auf die Schleifen und zog missbilligend die Brauen hoch.

»Guten Morgen, Schwester«, sagte sie dann. »Aus Ihren Schleifen schließe ich, dass Sie die Abschlussprüfungen bestanden haben.« In ihrer Stimme schwang ein eisiger, ungläubiger Unterton mit, als wäre sie hiervon ebenso verblüfft, wie ich es gewesen war. Tatsächlich grenzte es an ein Wunder. Es war nicht leicht gewesen. Bei der mündlichen Prüfung hatten die Prüfer und ich uns in mehreren Punkten nicht einigen können, und auch mehrere meiner schriftlichen Antworten hatten Anlass zur Diskussion geboten. Hinterher war ich zutiefst deprimiert gewesen und überzeugt davon, nie den Status einer examinierten Krankenschwester zu erreichen. Dementsprechend war es nicht verwunderlich, dass es der Oberschwester schwerfiel zu glauben, dass ich mich über Nacht von einer Lernschwester, die ihre Haube mit unzähligen Haarklammern befestigte, zu einer echten examinierten Krankenschwester gemausert hatte, die ihre Haube mit Bändern unter dem Kinn fixieren durfte. Zweifellos betrachtete sie mich immer noch als faul, nachlässig und mit mangelnder Liebe zum Detail und ebenso mangelndem Talent für den Krankenschwesternberuf ausgestattet – alles Dinge, die mir in den vergangenen drei Jahren immer wieder Strafpredigten in eben diesem Büro eingebracht hatten. Jede meiner Verfehlungen war in meiner Personalakte vermerkt worden und wurde offenbar jedes Mal gegen mich verwendet, wenn ich – so wie jetzt wieder – auf der kleinen Matte stand.

Ich schwieg eisern und tröstete mich mit dem Gedanken, dass ich selbst als geborene Krankenschwester – die ich zweifellos nicht war –, als Verkörperung von Effizienz und als zweite Florence Nightingale in makelloser blau-weiß gestreifter Uniform nicht herzlicher empfangen worden wäre. Die Oberschwester behandelte alle mit derselben kühlen Herablassung. Sie war die ewige Oberschwester. Ihre Schleifen waren größer, die Spitze edler und der Stoff steifer als bei jeder anderen Schwester an diesem Krankenhaus. Die Bänder ruhten zwischen ihrem zweiten und dritten Kinn und die Schleifen wackelten, wenn sie sprach. Das war das Metronom, nach dem unsere Hoffnungen und Ängste getaktet waren: Bewegten sie sich langsam, blieben auch wir einigermaßen entspannt, aber mit zunehmendem Tempo gerieten wir ins Schwitzen.

Die Oberschwester war der Dreh- und Angelpunkt unseres Lebens, gefürchtet von allen Schwestern unabhängig von ihrem Rang, sogar die dienstältesten Ärzte zollten ihr Respekt. Solange sie an ihrem Schreibtisch saß, ungerührt und weitgehend regungslos, fühlten wir uns sicher in der Gewissheit, dass das Krankenhaus mitsamt Inventar und Personal fortbestehen würde, ganz egal was außerhalb des Geländes vor sich gehen mochte. Doch schon bald sollte sich herausstellen, dass nicht einmal sie von den Ereignissen des Jahres 1938 unberührt bleiben sollte.

Ihre Schleifen zuckten wieder. Sie senkten sich erwartungsvoll herab, als sie den Mund öffnete, und ruckten abrupt nach oben, als sie schroff ihre Meinung kundtat.

»Sie haben sich in den vergangenen Jahren nicht besonders positiv hervorgetan, Schwester«, sagte sie und wartete, dass ich ihr zustimmte. Sie brauchte nicht lange zu warten. Ich war dahingehend erzogen worden, ältere Menschen zu respektieren und höhergestellte Personen zu fürchten. Niemals hätte ich es gewagt, ihr zu widersprechen.

»Ja, Oberschwester«, sagte ich artig. »Nein, Oberschwester«, verbesserte ich mich gleich darauf hastig.

Ihr Blick glitt über meine verknitterte, aber saubere Schürze, verweilte kurz auf meinem glatten, aber schmutzigen Kragen, streifte meine Haube und verharrte schließlich bei den Schleifen, die längst ihre Bedeutung verloren hatten.

»Ich hoffe, dass Sie als examinierte Krankenschwester mehr Beflissenheit an den Tag legen als in der Zeit Ihrer Ausbildung«, fuhr sie kalt fort und ließ mir einen Moment Zeit, darüber nachzudenken, dass sie mir mangelnden Arbeitseifer unterstellte. Ich dachte darüber nach. Sie hatte recht. Ich strotzte nicht eben vor »Beflissenheit«. Das war die letzten drei Jahre so gewesen, und daran würde sich wahrscheinlich auch in Zukunft nichts ändern.

»Ja, Oberschwester. Danke, Oberschwester«, hauchte ich und verließ das Büro.

Drüben in dem tristen, unmöblierten Raum, den wir als Bibliothek bezeichneten, obwohl dort kein einziges Buch zu finden war, stieß ich auf Baker, Weldon, Davies und die Irin. Sie alle qualmten bereits, war die besagte Bibliothek doch der einzige Raum im ganzen Krankenhaus, in dem das Rauchen erlaubt war. Sie hatten mich in den vergangenen drei Jahren durch Mühen, Stress und Entbehrungen begleitet und die Lehrjahre viel erträglicher gemacht, als ich zu Beginn unserer Ausbildung zu hoffen gewagt hatte. Sie hatten ebenfalls das Examen bestanden und bereits vor mir auf der Matte im Büro der Oberschwester mit den Füßen gescharrt. Jetzt konnten wir mit billigen Zigaretten unseren glorreichen Sieg über die feindlichen Prüfer feiern. Wie ich brauchten sie dringend eine Dosis Nikotin, um nach der Ansprache der Oberschwester ihre strapazierten Nerven zu beruhigen.

Ich nahm von Baker eine Woodbine an und zündete sie am glühenden Ende der Park Drive der Irin an. Es war Monatsmitte und der letzte Zahltag nur noch eine ferne Erinnerung, während der nächste noch in ebenso ferner Zukunft lag. Keine von uns konnte sich die luxuriöseren Zigarettenmarken leisten. Bei vielen reichte es kaum für den billigsten Tabak. Weldon gab ihr Monatsgehalt von dreißig Pfund fast vollständig für irgendwelchen modischen Schnickschnack aus, der in der untersten Schublade verschwand, um uns dann lange vor dem nächsten Zahltag um Kippen anzuschnorren, und Davies mit ihrer legendären walisischen Vorsicht zahlte jeden Monat brav einen Teil ihres Gehalts auf ihr Sparkonto ein – als Sicherheit fürs Alter. Mir war Sparsamkeit fremd. Ich war zu einem Alter in Armut verdammt. Und ich besaß auch keine Schublade voller frivoler Unterwäsche. Außerdem hatte ich mich mit einundzwanzig damit abgefunden, dass ich wohl nie heiraten würde.

Weldon nahm sich meine letzte Reszke Minor, brach sie in der Mitte durch und reichte eine Hälfte an Davies weiter.

»Und? Was hat sie gesagt?«, fragte sie mich und warf die leere Zigarettenpackung aus dem Fenster, damit ein Gärtner sich fluchend danach bücken musste. Sie und Davies wussten, dass ich ihnen meine letzte Zigarette nicht vorenthalten hätte. Nicht solange Baker noch welche hatte, die sie mit mir teilte. Zwischen uns hatte sich schon ganz früh eine besondere Freundschaft entwickelt. Die anderen hatten mir – auch ungefragt – in jeder Lebenslage mit Rat und Tat zur Seite gestanden und mich immer aufgerichtet, wenn ich deprimiert gewesen war. Auch wenn wir nicht immer einer Meinung waren, waren wir uns zumindest darin einig, dass die Menschen nun einmal verschieden waren, und ich war definitiv anders als sie oder Baker. Ich besaß keine der unbestimmbaren Eigenschaften, die sie in geborene Krankenschwestern verwandelt hatten, aber das tat unserer Freundschaft keinen Abbruch.

Zwar hatten sie sich zuweilen bemüßigt gefühlt, mich für meine wilderen Ausschweifungen zu tadeln, aber ihre Kritik war nie allzu destruktiv gewesen. Auf jeden Fall hatten sie die vergangenen Jahre viel erträglicher gemacht.

Ich wartete, bis alle Zigaretten glommen, und berichtete ihnen dann, wie überrascht die Oberschwester davon gewesen war, dass ich die Abschlussprüfungen bestanden hatte. Ich imitierte lebhaft die Bewegung ihrer Brauen, ihre kritische Musterung und legte bei der Wiedergabe ihrer Ermahnungen besonderen Nachdruck auf das Wort »Beflissenheit«. Als ich mit meiner kleinen Darbietung fertig war, fing Baker an zu kichern.

Baker war eine fröhliche, vollbusige junge Frau, die auch durch düsterste Gewitterwolken einen Silberstreifen am Horizont erkannte; eine Eigenschaft, die sich als sehr hilfreich erwies, als die Wolken den Himmel derart verfinsterten, dass man schon sehr viel Fantasie brauchte, um noch einen Lichtschimmer zu erkennen.

»Mein Gott«, sagte sie. »Sie muss den Spruch von einem Zettel abgelesen haben, zu mir hat sie nämlich exakt dasselbe gesagt.«

»Zu mir auch!«, bestätigten die anderen unisono.

Ich war kein bisschen überrascht. Die Ansprache hatte auch für mich geklungen wie auswendig gelernt. Wir dachten eine Weile darüber nach, dann blickte Davies von einer zur anderen.

»Mal interessehalber«, sagte sie dann ernst. »Was genau bedeutet eigentlich Beflissenheit?« Wenn Davies etwas sagte, klang es meistens ernst. Sie war eine ernsthafte junge Frau. Ihr fehlte diese entspannte Grundhaltung, die Baker das Leben so viel erträglicher machte. Davies war eine unverbesserliche Schwarzseherin.

Die Irin ließ einen Rauchkringel an die schmutzige Decke steigen, bevor sie ihre Definition des Wortes »Beflissenheit« kundtat. Es war eine sehr irische Definition.

»Das klingt nach ›fließen‹. Vielleicht hat es etwas mit Körperflüssigkeiten zu tun.« Sie blickte dem Zigarettenrauch hinterher als wären es Weihrauchschwaden. Wir anderen schüttelten den Kopf und versicherten ihr, dass – was immer dieses Wort bedeuten mochte – es ganz sicher nichts mit Körperflüssigkeiten zu tun hatte. Körperflüssigkeiten gehörten in die Waschküche oder ins Labor, aber im Büro der Oberschwester hatten sie ganz sicher nichts zu suchen. Und so blieb die Frage nach der Bedeutung von Beflissenheit – wie so viele andere im Laufe der Jahre – unbeantwortet.

Ich war erleichtert, nachdem ich erfahren hatte, dass die Oberschwester mit den Leistungen der anderen ebenso unzufrieden war wie mit meinen. Immerhin stand somit fest, dass sie es nicht speziell auf mich abgesehen hatte. Obwohl ich wusste, dass es unfair war, mich Davies, Weldon und Baker gleichzustellen, kam ich mir jetzt nicht mehr wie eine totale Versagerin vor, die dem Berufsstand der Krankenschwester Schande machte.

Ich konnte der Irin ansehen, dass es ihr ähnlich ging. Sie war ebenfalls keine geborene Krankenschwester. Ihr war diese Laufbahn ebenso aufgezwungen worden wie mir. Und unsere Mütter, die diese Wahl für uns getroffen hatten, waren aus den gleichen Gründen auf diese Berufswahl verfallen: Krankenschwestern wurden auch während der Ausbildung bezahlt und Kost, Logis und Wäsche wurden zusätzlich gestellt, wenn auch das Essen recht bescheiden war. Hinzu kam die naive Überzeugung, dass Krankenpflege eine damenhafte Beschäftigung sei. Sie waren noch altmodisch genug, um sich vorzustellen, dass Krankenschwestern ihre Zeit damit verbrachten, als Engel der Barmherzigkeit fiebrigen Patienten fürsorglich eine kühlende Hand auf die Stirn zu legen. Sie wären vermutlich zutiefst erschüttert gewesen, wenn sie hätten beobachten können, wie wir, kaum dass wir unser behütetes Zuhause verlassen hatten, mit eiskalten Fingern Hand an bettwarme Männerhintern legten.

Daher achtete ich bei meinen Besuchen daheim darauf, nichts zu erzählen, was die Vorstellungen meiner Mutter vom Leben und Wirken einer Krankenschwester zerstört hätte. Ich erzählte ihr nur das, was sie meiner Meinung nach hören wollte.

Baker zupfte nervös am Band ihrer Haube und drehte an den Schleifen. »Die blöden Dinger schnüren mir die Luft ab«, sagte sie und zerrte an dem Band, das ihr ins Fleisch geschnitten hatte. Hierauf zupften wir alle ebenso nervös an unseren eigenen Bändern, drückten unsere Zigaretten auf dem Linoleumboden aus und machten uns mit der neu gewonnenen Würde examinierter Krankenschwestern auf den Weg zu unseren Stationen.

Ich war auf der Frauenstation eingeteilt, was mir ganz recht war. Ich war froh, nicht auf die Gynäkologie zu müssen, deren Stationsschwester es eine sadistische Freude bereitete, neue Krankenschwestern zu drangsalieren. Eine frisch gebackene examinierte Krankenschwester war für sie ein gefundenes Fressen, erst recht, wenn es sich bei der besagten frisch gebackenen examinierten Krankenschwester um mich handelte. Ihre Station war die allererste gewesen, auf der ich gearbeitet hatte, und seit jener Zeit hatten wir wenig Freude aneinander. Es gab auf beiden Seiten Dinge, die man besser vergaß, auch wenn man sie nie verzeihen konnte.

Ich war außerdem froh, nicht für eine Männerstation eingeteilt worden zu sein. Durch zwei Reihen Betten hindurchzugehen, mein rundes, pausbäckiges Gesicht von einem Band und zwei Schleifen vom Rest meines ebenso runden Körpers abgetrennt, hätte zweifellos für große Heiterkeit gesorgt, zumal die Schleifen noch zu neu waren, um Respekt zu gebieten. In ein paar Tagen, wenn sie nicht mehr ganz so steif wären, würden mir gehässige Kommentare über meinen Busen und meinen Hintern vielleicht erspart bleiben, aber nicht so unmittelbar nach der bestandenen Prüfung.

Die Stationsschwester auf der Frauenstation begrüßte mich zwar freundlich, aber ihre Begeisterung hielt sich in Grenzen. Das war nicht persönlich gemeint, sie war insgesamt nicht der überschwängliche Typ. Sie war zierlich und eine graue Maus mit einer sanften Stimme. Der äußerliche Schein verleitete zu der Annahme, ihr Charakter sei ebenso farblos wie ihre Erscheinung, aber jene, die diesem Irrtum verfielen, wurden bald eines Besseren belehrt. Die weiche Schale barg einen stählernen Kern, und sie leitete ihre Station mit der gleichen gnadenlosen Effizienz wie die Stationsschwester der Gynäkologie.

Der einzige Unterschied zwischen den beiden Frauen war, dass die Stationsschwester der Gynäkologie ihre Untergebenen zu unterwürfigem Gehorsam zwang, während die hiesige Stationsschwester ihre Macht auf subtilere Weise ausübte. Wenn sie mit bescheiden gesenktem Kopf, jedoch mit aufmerksamem Blick durch die Station schritt, glätteten die Patienten ihre Bettdecken und entfernten hastig Abfall von ihren Nachttischen, ohne dass sie missbilligend die Stirn runzeln oder gar die Stimme erheben musste. Eine Technik, die im Übrigen bei Krankenschwestern ebenso effektiv war wie bei Patienten.

Wir überschlugen uns förmlich, um ihre Anweisungen auszuführen, und erst hinterher wurde uns bewusst, dass niemand uns zu besonderer Eile angetrieben hatte, schon gar nicht lautstark. Wir konnten selbst nicht genau sagen, auf welche Weise die Dringlichkeit vermittelt wurde, aber wir empfingen das Signal klar und deutlich. Und wir gehorchten.

Nur eins brachte die Stationsschwester aus der Ruhe. Eine Krankenschwester hatte ihre kleine Schwäche an einem Weihnachtsmorgen entdeckt, als das Pflegepersonal im Büro versammelt war und den obligatorischen Weihnachtskaffee trank. In der Außenwelt, draußen vor den Krankenhaustoren, wurde Kaffee noch vorwiegend von wohlhabenderen Leuten getrunken, vom Adel und von wichtigen Persönlichkeiten wie Ärzten und den ranghöchsten, dienstältesten Krankenschwestern. Aber an Weihnachten wurden die Bohnen hervorgeholt, gemahlen und wie eine milde Gabe auf den Stationen ausgegeben, um das Fest einzuläuten. Die meisten von uns hätten eine Tasse Tee vorgezogen, aber wir würgten das bittere Gebräu herunter, weil Weihnachten war und man von uns erwartete, dass wir uns über diese großzügige Geste freuten.

»Woher kommen Sie eigentlich, Schwester?«, hatte die Krankenschwester gefragt, der offenbar das Koffein zu Kopf gestiegen war. Sie war neugierig geworden wegen des leichten Akzents, der zutage trat, sobald die Stationsschwester sich in einem Gespräch auch nur ein wenig ereiferte. Zur allgemeinen Verblüffung brach die Stationsschwester hierauf in schallendes Gelächter aus. Sie lachte, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen, während die übrigen Krankenschwestern verunsichert dastanden und verlegen Löcher in die Luft starrten.

Noch nie hatte jemand die Stationsschwester so erlebt, und nach ihrem sonst so unerschütterlichen Gleichmut brauchten alle eine Weile, um ihre Überraschung zu überwinden. Schließlich stimmte dann doch jemand aus Höflichkeit ein und gab ein zurückhaltendes, leises Kichern von sich. Bald darauf lachten alle mit, obwohl keiner wusste, was eigentlich so komisch war. Schließlich klärte die Stationsschwester sie auf.

»Nether Wallop«, sagte sie atemlos, worauf prompt der nächste Lachanfall folgte. Und so wurde die Frage nach ihrer Herkunft Teil der alljährlichen Weihnachtsroutine, und der Spaß versüßte uns auch den ungewohnten Kaffee.

In den ersten Monaten als examinierte Krankenschwester befand ich mich in einer Art Schockstarre. Alles fiel mir extrem schwer. Das Leben war unerträglich hart. Meine Füße brachten mich um, meine Beine schmerzten und mir blutete das Herz. Das neue Leben glich einem Sprung ins kalte Wasser. Es war völlig anders als alles, was ich je gekannt hatte, und stürzte mich in tiefste Verzweiflung.

Dass mein Dasein als examinierte Krankenschwester die Füße und Beine stark beanspruchte, war jedoch weniger schlimm, verglichen mit dem Herzschmerz und der Verzweiflung, die mich plagten. Dass ich nun plötzlich mit Situationen konfrontiert wurde, in denen von mir erwartet wurde, Anweisungen zu geben, anstatt zu empfangen, versetzte mich regelrecht in Panik. Ich war Mitläuferin, keine Anführerin. Ich überließ gerne anderen die Initiative und befolgte deren Anweisungen. Dass ich jetzt diese Rolle einnehmen sollte, war für mich die größte Herausforderung meiner neuen Position.

Andere frisch gebackene examinierte Krankenschwestern konnten irgendwo auf der Station Stellung beziehen und von dort aus Anweisungen erteilen, die bis in die hintersten Winkel der Station und darüber hinaus gehört wurden. Sie konnten einer Lernschwester mit solcher Autorität auftragen, eine Bettpfanne zu holen, und zwar schnell, dass die Angesprochene alles stehen und liegen ließ, um davonzueilen und im Eiltempo mit dem Gewünschten zurückzukommen.

Bei mir war das anders. Ich hielt immer erst ewig nach einer Lernschwester Ausschau, bat sie um Entschuldigung, weil ich sie bei der Arbeit störte, und fragte, ob sie wohl so nett sei, eine Bettpfanne für den Patienten zu holen, der seit zehn Minuten lauthals nach einer solchen verlangte. Hierauf erntete ich regelmäßig dermaßen genervte Blicke, dass ich mich letzten Endes erneut entschuldigte und selbst lostrabte, um die Bettpfanne zu holen. Die Lernschwestern waren hiervon natürlich begeistert und nutzten meine Führungsschwäche so gnadenlos aus, wie ich es an ihrer Stelle auch getan hätte.

Eines Tages rief mich die Stationsschwester in ihr Büro, um das Problem mit mir zu besprechen. Sie war freundlich, aber bestimmt. So war sie immer. Sie wies mich sanft darauf hin, dass einer der größten Vorteile der Position einer examinierten Krankenschwester darin bestehe, dass man die unangenehmeren Arbeiten den Lernschwestern überlassen könne. Verantwortung delegieren nenne man das. Sie erklärte mir, dass die Fähigkeit zu delegieren ebenso wichtig sei wie Beobachtungsgabe. Richtig angewendet, könnten diese Fähigkeiten aus einer examinierten Krankenschwester in erstaunlich kurzer Zeit eine Stationsschwester machen. Sie rief mir außerdem in Erinnerung, dass die Lernschwestern aufgrund ihres unstillbaren Wissensdurstes bei uns waren, und wenn ich ihnen alles abnähme, würden sie nie etwas lernen. Ich wusste, dass sie mit allem recht hatte, aber das änderte nichts. Es war bereits zu spät. Die Lernschwestern warfen weiterhin bedeutungsvolle Blicke in meine Richtung, wenn etwas anstand, worauf sie keine Lust hatten, wohl wissend, dass ich ihnen die Aufgabe abnehmen würde, wenn sie nur lange genug warteten. Das Gleiche galt für meine Überwachungsfähigkeiten. Wenn ich Schwesternschülerinnen dabei erwischte, wie sie hinter der Küchentür aßen oder tranken, wenn die Stationsschwester gerade nicht da war, wäre es meine Pflicht gewesen, sie anzuschreien, sie zur Schnecke zu machen, ihnen damit zu drohen, sie zur Oberschwester zu schicken, und mir eine besonders verhasste Aufgabe für sie auszudenken, um sie für den Regelverstoß zu bestrafen. Aber ich tat nichts dergleichen. Ich sah mich selbst, wie ich noch vor kurzem hastig kalten Fisch und Scheiben Plumpudding in mich hineingestopft und dabei gehofft hatte, dass mich niemand erwischte.

Zu all den anderen Schwächen kam bei mir hinzu, dass ich immer beide Seiten der Medaille sah und es mir entsprechend schwerfiel, mich für eine Seite zu entscheiden. Die Schleifen trugen auch nicht dazu bei, mir mehr Autorität zu verleihen. Der einzige Vorteil, den mir mein neuer Status einbrachte, war eine Gehaltserhöhung von zwanzig auf fünfundzwanzig Pfund pro Jahr. Davon abgesehen war mein Leben komplizierter denn je.

Natürlich sprach ich mit Davies über das eine oder andere Problem. Wir waren ähnlich streng erzogen worden und hatten demgemäß die gleichen Skrupel, autoritär aufzutreten. Wir waren beide schüchtern, wo Mut gefordert war, und strikte Antialkoholiker, obwohl es uns sicher gutgetan hätte, uns auf den Partys der Irin auch mal einen Schluck zu genehmigen.

Die Irin fand immer einen Grund zum Feiern. Die Partys begannen unweigerlich mit einer vollen Flasche und endeten erst, wenn diese leer war, und trotzdem wurde sie nicht zur Alkoholikerin. Dafür gab es viel zu viele Gäste, die ihren Zahnputzbecher füllen ließen, sodass letztlich jede nur recht wenig trank.

In den Jahren, in denen Davies und ich uns ein Zimmer mit der Irin geteilt hatten, hatten wir uns kein einziges Mal dazu überreden lassen, an einer ihrer Partys teilzunehmen. Wenn sich wieder eine solche ankündigte, bestanden wir darauf, dass sie ihre Flasche nahm und anderswo feierte. Da wir zu strenger Enthaltsamkeit erzogen worden waren, hatten wir stets die Gefahren vor Augen, denen sich jene aussetzten, die dem Alkohol zusprachen wie die Irin. Sie gab kurz nach der bestandenen Abschlussprüfung ihre letzte Party, nicht nur um dieses Ereignis gebührend zu feiern, sondern um uns darüber hinwegzutrösten, dass sie uns bald verlassen würde.

Eines Morgens, noch vor unserer Abschlussprüfung, standen wir in der Bibliothek, starrten finster in unsere leeren Geldbörsen und fragten uns, wo wir den nächsten Penny auftreiben sollten, als die Irin einen Brief erhielt, in dem ihr mitgeteilt wurde, dass sie ein Vermögen in der Lotterie gewonnen hatte. Da der Brief weder Bargeld noch eine Postanweisung enthielt, waren wir immer noch pleite, nachdem die glückliche Gewinnerin sich zumindest halbwegs von dem Schock des unverhofften Geldsegens erholt hatte. Doch das sollte sie nie wirklich tun. Der Gedanke, dass das Geld irgendwo herumlag, bis sie volljährig war, und sie bis dahin weiterhin keinen Penny besaß, verdarb ihr den Appetit und raubte ihr den Schlaf. Doch nach ihrem einundzwanzigsten Geburtstag erhielt sie Zugriff auf das Vermögen und wollte nach Amerika auswandern.

Anfangs lehnten Davies und ich die Einladung zu ihrer Abschiedsparty so wie alle vorausgegangenen Einladungen ab. Da es sich jedoch um einen besonderen Anlass handelte und somit nicht drohte, zur Gewohnheit zu werden, und nachdem die Irin versprochen hatte, für uns eine Flasche Limonade zu besorgen, wenn wir ausnahmsweise über die Stränge schlugen, ließen wir uns erweichen.

Die Party war kein großer Erfolg. Wir saßen in einem fremden Zimmer auf dem Fußboden und wagten nicht, das Licht einzuschalten, für den Fall, dass Mary draußen herumschlich. Mary hatte als Hausmutter im Schwesternwohnheim das Sagen und kam ihren Pflichten mit solchem Enthusiasmus nach, dass ihren Argusaugen nur höchst selten etwas entging. Obwohl wir volljährig und somit wahlberechtigt waren, behandelte sie uns wie Kinder, die ihrer Obhut anvertraut worden waren. Wenn sie uns nach zehn Uhr abends irgendwo anders antraf als in unserem eigenen Zimmer, gab es richtig Ärger. Vor allem wenn wir auch noch Limonade tranken, da der Verzehr von Lebensmitteln auf den Zimmern – ganz egal zu welcher Uhrzeit – strengstens verboten war. Eine Party kam demzufolge erst recht nicht infrage. Partys waren nur an Heiligabend gestattet. Es hätte mehr als nur einer Auswanderung nach Amerika bedurft, um Mary dazu zu bewegen, eine Ausnahme von den unumstößlichen Regeln zuzulassen.

Im Dunkeln zu sitzen mochte uns vor der Hausmutter schützen, trug aber nicht zur guten Laune bei. Die Limonadentrinkerinnen blieben für sich und hatten als Erste ihren Durst gelöscht. Hiernach saßen sie in eisigem Schweigen auf dem ebenso eisigen Linoleum, während der Rest Lieder über eine Frau namens Nellie Dean und grüne Flaschen sang. Nach einer Weile griff die stumme Missbilligung auf die anderen über, und die Party kam schon bald zum Ende.

Die Irin war sehr enttäuscht von dem Misserfolg ihrer Abschiedsfeier und machte Davies und mir am nächsten Morgen beim Frühstück bittere Vorwürfe.

»Ihr seid mir ja schöne Freundinnen«, beschwerte sie sich. »Ihr habt meine Abschiedsfeier verdorben mit eurem Gerede davon, was ihr alles nicht trinkt. Ich wünschte, ich hätte euch nie eingeladen.«

Wir baten um Entschuldigung dafür, dass wir ihr den Spaß verdorben hatten, und versprachen hoch und heilig, dass das nie wieder vorkommen würde. Doch dann fiel uns ein, dass es kein nächstes Mal geben würde, und das stimmte uns traurig.

Fast vier Jahre hatten wir unsere Zigaretten geteilt, einander Strümpfe geborgt, wenn unsere eigenen nicht mehr zu retten waren, hatten zusammen gelacht, geredet und manchmal auch geweint. Die Vorstellung, dass sie uns in Kürze verlassen würde, wurde zu einer kleinen Tragödie, die vielleicht gar nicht so klein war. Wir waren eine eingeschworene Gemeinschaft, verbunden durch chronische Geldknappheit und zu wenig Zeit, um Freundschaften außerhalb des Krankenhauses zu schließen. Die Irin hatte entscheidend dazu beigetragen, die Jahre am Krankenhaus erträglicher zu machen, und doch hatten wir sie nicht angemessen gewürdigt. Erst nachdem sie fort war, erkannten wir, dass sie beispielhaft war für alle Irinnen, mit denen wir im Laufe der Jahre zusammenarbeiten sollten: freundlich, großzügig und eine gute Freundin und nur ganz selten wie in den Iren-Witzen, die später in Comedy-Sendungen dafür sorgen sollten, dass die Zuschauer sich bogen vor Lachen.

»Wir werden sie vermissen«, seufzte Baker am Tag ihrer Abreise. Wir standen an einem der nackten Fenster in der Bibliothek, von wo aus wir den Bahndamm sehen konnten, über den wir uns nach heimlichen Rendezvous so oft ins Schwesternwohnheim zurückgeschlichen hatten, um nicht am Pförtner vorbeizumüssen und so einen Eintrag zu riskieren. Bei dem Anblick konnte ich beinahe die feuchte Erde auf meiner langen Unterhose fühlen, wenn ich die Spurrille hinunterschlitterte, nachdem mein jeweiliger Verehrer mir den Schubs gegeben hatte, den es brauchte, damit der Schwung mich bis nach unten trug.

Doch unsere wilden Tage gehörten nun der Vergangenheit an, so wie die Hauben mit den unzähligen Haarklammern. Wir waren jetzt examinierte Krankenschwestern, Vorbilder für die jüngeren Lernschwestern, und so führte der einzige Weg nun über das Haupttor, das Pförtnerbuch, die Zufahrt und die Vordertür. Alles sehr anständig – und sterbenslangweilig.

»Wir werden ihr Fluchen vermissen«, sagte Weldon wehmütig. »Ich kenne niemanden, der ihr in dieser Disziplin das Wasser reichen könnte.« Dann standen wir eine Weile schweigend da und zollten der Zungenfertigkeit der Irin die gebührende Anerkennung.

»Und das, obwohl sie römisch-katholisch ist«, sagte Davies schließlich in die Stille hinein, ein kleiner Seitenhieb auf den Papismus, der die ansonsten sehr harmonische Beziehung zwischen den beiden ein wenig getrübt hatte. Sie und Weldon hatten sich vom ersten Tag an bestens verstanden, von Weldons Seite, weil deren angeborene Güte sie zu einer ebenso fantastischen Freundin wie Krankenschwester machte, und von Davies‘ Seite, weil diese sich ihre Frömmigkeit bewahrt hatte, obwohl sie nicht mehr regelmäßig zum Gottesdienst ging. Beide hatten meinen liederlichen Lebenswandel zutiefst missbilligt und es entsprechend begrüßt, dass ich das Lotterleben nach bestandener Prüfung aufgegeben hatte.

»Ist mir egal, ob sie eine verfluchte Katholikin ist, ich vermisse sie trotzdem«, sagte Baker trotzig, und es war ihr ernst damit. Obwohl sie selbst gläubige Baptistin war, kannte sie mehr Mittel und Wege, sich nach zehn Uhr abends ins Schwesternwohnheim zu schleichen, als Mary und die Pförtner sich je hätten träumen lassen.

Keine von uns rauchte mehr. Wir hatten dieses Laster vorübergehend aufgegeben, um der Irin zum Abschied ein Feuerzeug zu schenken. Da wir nicht viel Geld hatten zusammenkratzen können, reichte es nur für ein billiges Teil, das den Geist aufgeben würde, lange bevor sie Amerika erreichte, aber die Irin war trotzdem gerührt, da sie aus Erfahrung wusste, welche Opfer wir gebracht hatten, um ihr dieses Geschenk machen zu können. Sie schwor, es immer in Ehren zu halten, auch wenn es nicht mehr funktionierte und sie wieder auf Zündhölzer zurückgreifen müsste.

Wir hatten sie am Bahnhof verabschiedet und waren dann langsam zurückgegangen, wobei wir Trübsal geblasen und in gedämpftem Ton von ihr gesprochen hatten. Aber ihr Schiff hatte kaum den Solent passiert, als wir die Erinnerung an sie bereits wieder verdrängten, um uns wichtigeren Dingen zuzuwenden.

Länger, als den meisten von uns bewusst war, kursierten Gerüchte über einen Mann namens Adolf Hitler. Nach allem, was man so sagte, nahmen wir an, dass es sich um einen deutschen Maler handelte, der in die Armee eingetreten war und dort Karriere gemacht hatte. Gerüchten zufolge war er inzwischen zu einer Gefahr für die ganze Welt geworden, die dringend gestoppt werden musste. Was uns am meisten wunderte, war, dass jemand, der vor kurzem noch ein Niemand gewesen war, plötzlich für solche Aufregung sorgte. Um Licht ins Dunkel zu bringen, fingen wir an, die Nachrichten im Radio aufmerksamer zu verfolgen, und borgten uns sogar Zeitungen von den Patienten, die wir dann im Bett lasen. Trotzdem waren wir immer noch nicht viel schlauer an jenem Abend, an dem Baker unsere vagen Ängste in Worte fasste.

»Was glaubt ihr, was aus uns wird, wenn es zum Krieg kommt?«, fragte sie unvermittelt beim Abendessen in der Messe.

Kapitel 2

Die Frage kam auf, als wir uns gerade durch einen Hammeleintopf kämpften, und war ebenso schwer verdaulich wie das zähe Fleisch. Obwohl wir die Aussagen der politischen Führung in der Zeitung gelesen hatten und die Übertragungen des Palm Court Orchesters von den Radionachrichten abgelöst worden waren, waren wir auf eine so direkte und konkrete Frage nicht vorbereitet. Der Umstand, dass Baker gesagt hatte »wenn« und nicht »falls« machte aus der Möglichkeit eines Krieges eine Wahrscheinlichkeit.

Der Krieg war etwas, das wir würden lernen müssen, so wie wir während unserer Ausbildung alles über das Nervensystem, den Blutkreislauf und alle anderen Systeme hatten lernen müssen. Und mit jedem dieser Fachbereiche hatten wir uns schwergetan, vor allem mit dem der Fortpflanzung. Zu Beginn hatten wir darüber noch weniger gewusst als über die anderen Systeme. Wörter wie »Blut« und »Nerven« nahmen unsere prüden Mütter schon mal in den Mund, aber Fortpflanzung war ein Buch mit sieben Siegeln, das sorgfältig vor unseren neugierigen Blicken verborgen worden war. Und wenn wir doch einmal gewagt hatten, hinten im Schulbus oder bei der Chorprobe das Thema anzuschneiden, hatte das, was wir von anderen darüber erfahren hatten, uns mehr verwirrt als erhellt.

»Vielleicht kommt es ja gar nicht dazu«, meinte Weldon hoffnungsvoll. Sie hatte allen Grund, dies zu hoffen. Neben ihrer Aussteuer und der Unterwäsche in der untersten Schublade, für die sie fast ihr ganzes Gehalt ausgab, mussten noch Spitzenvorhänge genäht werden für das kleine Haus, das Harry von den zweihundert Pfund kaufen wollte, die er seit der Verlobung angespart hatte. Ein Krieg würde ihre Zukunftspläne mit Sicherheit über den Haufen werfen.

Harry war eigentlich mein Verehrer gewesen, bis ich ihn mir leichtfertig durch die Lappen hatte gehen lassen für eine kurze, aber interessante Affäre mit seinem Bruder. Ich hatte mir diese Dummheit schon oft vorgeworfen, hatte es aber Weldon nicht übel genommen, dass sie sich den Mann geangelt hatte, den ich verschmäht hatte. Schon als ich sie das erste Mal zum Tee bei Harry mitgenommen hatte, war für alle offensichtlich gewesen, dass sie füreinander bestimmt waren. Ihre Stimmen hatten so wunderbar harmoniert bei der Arie aus Madam Butterfly, dass kaum ein Auge trocken geblieben war. Meine eigene Stimme hätte niemals so sehr mit Harrys harmoniert wie ihre. Und als es dann so weit war, dass sie ihn über den Schmerz hinwegtrösten musste, den ich ihm zugefügt hatte, war ich ihr nicht böse und steuerte gerne meine sechs Pence bei, als Baker für das Verlobungsgeschenk sammelte.

Harry war Büroangestellter und verdiente um die drei Pfund pro Woche, sodass Weldon, wenn sie sich geschickt anstellte, Aussicht auf ein sorgenfreies Eheleben mit eigenem Haus, ein oder zwei Kindern und vielleicht sogar einer Zugehfrau fürs Grobe hatte. Zumindest war sie davon ausgegangen, bis Baker diese Frage stellte, die sie zutiefst verunsicherte.

Die Antwort auf diese Frage war für Baker ebenso essenziell wie für Weldon. Denn sie trug ebenfalls einen Verlobungsring am Finger, sofern sie lange genug frei hatte, um ihn aus dem kleinen, mit Samt ausgeschlagenen Kästchen zu holen und anzustecken. Sie hatte den Ring von Dr. Collins bekommen, einem feschen Assistenzarzt, der sich auf den ersten Blick in sie verliebt hatte, als sie gerade einmal die Hälfte ihrer Ausbildung hinter sich gehabt hatte. Wir alle waren davon ausgegangen, dass der Ehering, die Orangenblüten und ein Choralgottesdienst folgen würden, sobald sie das Examen bestanden hatte.

In jenen Tagen musste eine Krankenschwester schon sehr gute Gründe haben, ihren Beruf aufzugeben, bevor sie die Prüfung zur examinierten Krankenschwester abgelegt hatte, sofern dies zu Beginn ihrer Ausbildung das angestrebte Ziel gewesen war. Eine Ehe wurde nur selten als ausreichender Grund betrachtet, die Ausbildung vorzeitig abzubrechen. Aber Baker hatte nun die Abschlussprüfungen hinter sich und durfte somit ihrem Namen das Kürzel S. N. R. für State Registered Nurse – staatlich anerkannte Krankenschwester – anfügen. Bis besagter Herr Hitler anfing, sich in Österreich nach mehr Lebensraum für das deutsche Volk umzusehen, hatte Baker sich bereits nach einem Hochzeitskleid umgesehen. Zwar taten uns die Österreicher leid, aber Baker bedauerten wir nicht minder. Die eigenen Zukunftspläne überdenken zu müssen, weil irgendein Kerl, von dem man praktisch nichts wusste, ein Land bedrohte, von dem man noch weniger wusste, empfanden wir als furchtbar ungerecht. Und es sah ganz so aus, als müsste die unterste Schublade, die Baker so liebevoll gefüllt hatte, geschlossen bleiben. Als würde der Inhalt nun doch nicht Stück für Stück herausgenommen, liebevoll in Seidenpapier gewickelt und in einen brandneuen Koffer gepackt werden für die Hochzeitsreise, um Dr. Collins mit Spitzennachthemdchen und Petticoats zu entzücken, die Baker im Schweiße ihres Angesichts mühevoll bestickt hatte, wobei ihr so mancher Fluch über die Lippen gekommen und auch der eine oder andere Blutstropfen geflossen war. Baker tat sich – so wie wir alle – schwer mit Stick- und Näharbeiten. Löcher in unseren schwarzen Wollstrümpfen mit einem beliebigen Faden zu stopfen war für uns schon eine Herausforderung. Die Ausbildung zur Krankenschwester beanspruchte so viel von unserer Zeit, dass wir nicht dazu kamen, andere Fertigkeiten zu erlernen oder zu perfektionieren.

Weldon zerdrückte eine schwarze, matschige Banane, die ein Patient ihr gegeben hatte, damit sie sie im Eimer für die Schweine entsorgte, und verteilte sie unter uns. Wir rührten die Banane in unseren Milchreis in der Hoffnung, der wässrigen, halbgaren Pampe auf unseren Tellern wenigstens ein bisschen Geschmack zu verleihen. Ohne die Banane hätte der Milchreis nach gar nichts geschmeckt, so wie das meiste, was uns in der Messe vorgesetzt wurde. Dank der Banane hatte es zumindest ein wenig Geschmack, auch wenn das Dessert nun noch unappetitlicher aussah als zuvor.

Als unsere Teller leer waren und die Küchenhilfen uns mitgeteilt hatten, dass nichts mehr übrig sei, wischte sich Davies mit einer Ecke ihrer Schürze den Mund ab und schaute in die Runde. Dann sagte sie etwas, das uns nicht minder Bauchschmerzen bereitete als der Eintopf und Bakers Frage.

»Als Archibald mich letzte Woche an meinem freien Tag besucht hat, hat er gesagt, dass er ziemlich sicher ist, dass es Krieg geben wird.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und ließ uns Zeit, ihre Worte sacken zu lassen. Wir brauchten nicht lange. Archibald war der junge Aristokrat, den sie kennengelernt hatte, als sie dessen ebenso aristokratische alte Tante auf einer unserer separaten Stationen gepflegt hatte. Aufgrund des unzweifelhaft tiefblauen Blutes, das durch seine Adern floss, verlieh allein sein Name den Worten ein Gewicht, das sie schneller sacken ließ. Wir wussten, dass er irgendetwas schrecklich Wichtiges tat für irgendeine schrecklich wichtige Stelle in London, und wenn er ziemlich sicher war, dass es einen Krieg geben würde, gingen wir davon aus, dass es aller Wahrscheinlichkeit nach so kommen würde. Wenn irgendwer wusste, was hinter den Kulissen vorging, dann er.

»Er sagt«, fuhr Davies fort, »wenn nicht bald jemand etwas unternimmt, um diesen Hitler zu stoppen, wird er alles plattmachen wie eine Dampfwalze. Er sagt, es müsse ihm endlich jemand Einhalt gebieten.«

Als wir an jenem Abend das Licht ausschalteten, ging uns so einiges durch den Kopf.

Ich hatte seit dem Vorabend unserer Abschlussprüfung nicht mehr so lange wach gelegen. Obwohl ich weder eine unterste Schublade besaß noch einen Verlobungsring, was meine Situation zusätzlich verkompliziert hätte, beunruhigte mich die Aussicht auf einen Krieg ebenso sehr wie meine Freundinnen. Immer wenn wir neun Pence übrig hatten, gingen wir an unseren freien Abenden ins Kino, wo wir uns Filme über den Ersten Weltkrieg und andere vorausgegangene Kriege ansahen. Wir schluchzten solidarisch mit schluchzenden Liebespaaren, weinten mit weinenden Ehefrauen und freuten uns über die Heimkehr der Kriegshelden. Auf der Leinwand sah das alles sehr romantisch aus, aber wenn man die Hauptakteure durch Baker und Dr. Collins, Weldon und Harry oder Davies und ihren Archibald ersetzte, erschien uns das alles weit weniger romantisch. Je mehr ich darüber nachdachte, desto weniger gefiel es mir. Auch wenn die Schwarz-Weiß-Filme von damals nicht annähernd so realistisch waren wie spätere Streifen in Technicolor, genügten sie doch, um uns einen Eindruck davon zu vermitteln, was Krieg bedeuten konnte. Und das Bild, das sie zeichneten, mochte in Ordnung sein für Filmstars und die große Leinwand, aber nicht für echte lebendige (oder tote) Helden. Ich sah vor meinem geistigen Auge, wie der Friede der Frauenstation und das Gezänk der Gynäkologie dem nackten Grauen von Stationen voller schwer verwundeter Soldaten wichen. Ich konnte bereits fühlen, wie das Chaos, das uns erwartete, in greifbare Nähe rückte. Und der ein wenig komisch anmutende kleine Mann mit dem markanten Oberlippenbart, der lauten Stimme und den schwarzen Stiefeln, dieser Hitler, verwandelte sich von einer Witzfigur, die gerne in der Presse karikiert wurde, in eine sehr reale Bedrohung, die mich ängstigte.

Die Patientinnen auf der Frauenstation teilten meine Sorge und redeten von nichts anderem mehr als von Krieg. Die meisten hatten Ehemänner oder Söhne – die einen alt, die anderen jung genug, um bei einer Mobilmachung eingezogen zu werden. Alle wussten das und malten sich aus, wie ihre Männer eines Tages ihrem Zuhause entrissen wurden, um das Bollwerk der Nazidiktatur aufzuhalten, die mit Hitlergruß im Gleichschritt durch ganz Europa marschierte. Doch Europa war Ausland, und das Ausland war weit weg. Es war voller Ausländer, die komische Sprachen sprachen und seltsame Dinge aßen.

»Mein Vater war im letzten Krieg in Frankreich und hat erzählt, dass sie dort Schnecken essen«, sagte eine der Frauen. Alle schüttelten sich bei dieser Vorstellung.

»Und ich weiß genau, dass sie in Yipers Pferdefleisch gegessen haben«, erzählte eine andere. Wieder durchlief uns ein Schauder. Franzosen, oder Froggies, wie wir sie nannten, die Schnecken aßen, waren schon schlimm genug, aber Pferdefleisch war noch abscheulicher.