Ruhestörung - Richard Yates - E-Book

Ruhestörung E-Book

Richard Yates

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Beschreibung

Das feinsinnige Porträt über einen Mann am Abgrund

John Wilder kann sich nicht beklagen: Er ist beruflich erfolgreich und hat ein erfüllendes Privatleben. Seine Abende verbringt er auf Cocktailpartys und die Wochenenden mit der Familie auf dem Land. Alles scheint gut. Doch wenn John ehrlich zu sich ist, dann weiß er, dass tief in ihm schon seit Langem etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist – etwas droht, die Ruhe zu stören ...

Ein eindringlicher und unvergesslicher Blick in die dunkelsten Winkel der Psyche, von einem meisterhaften Erzähler der modernen amerikanischen Literatur.

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Seitenzahl: 387

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RICHARD YATES wurde 1926 in Yonkers, New York, geboren und lebte bis zu seinem Tod 1992 in Alabama. Obwohl seine Werke zu Lebzeiten kaum Beachtung fanden, gehören sie heute zum Wichtigsten, was die amerikanische Literatur des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Sein Debüt Zeiten des Aufruhrs wurde 2009 mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet in den Hauptrollen verfilmt.

Ruhestörung in der Presse:

»Ruhestörung ist phantastisch erzählt. Wer zu lesen anfängt, sollte für die nächsten Stunden keine Termine haben. Es ist ziemlich sicher, dass er sie vergisst.«DER SPIEGEL

»Richard Yates zeigt mit Ruhestörung seine ganze schriftstellerische Größe.«Die Welt

»Präzise und ungemein spannend.«Deutschlandradio Kultur

»Ein tolles Buch.«stern

Außerdem von Richard Yates lieferbar:

Zeiten des AufruhrsElf Arten der EinsamkeitEine besondere VorsehungEaster ParadeEine gute SchuleVerliebte LügnerEine strahlende ZukunftCold Spring HarborEine letzte Liebschaft

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.de und Facebook.

Richard Yates

Ruhestörung

Roman

Aus dem Amerikanischen von Anette Grube

Die amerikanische Originalausgabe erschien 1975 unter dem TitelDisturbing the Peace bei Delacorte Press/Seymour Lawrence in New York, USA. Der Übersetzung lag die 2007 bei Methuen Publishing, London, erschienene Ausgabe zugrunde. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 1975 by Richard Yates Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Umschlag: bürosüd Umschlagmotiv: © Pete Saloutos / Corbis / Getty Images E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-25337-0V001www.penguin-verlag.de

Für Monica McCall

1. KAPITEL

Im Spätsommer 1960 begann für Janice Wilder alles schiefzugehen. Und das Schlimmste daran war, sagte sie später immer wieder, das Schreckliche daran war, dass es aus heiterem Himmel zu geschehen schien.

Sie war vierunddreißig und Mutter eines zehnjährigen Jungen. Dass ihre Jugend schwand, bekümmerte sie nicht – es war sowieso nie eine unbeschwerte oder abenteuerlustige Jugend gewesen –, und falls ihre Ehe mehr einem Arrangement gleichen sollte als einer aufregenden Liebesaffäre, dann war auch das in Ordnung. Niemandes Leben war vollkommen. Sie mochte den geordneten Ablauf der Tage; sie mochte Bücher, von denen sie sehr viele besaß; und sie mochte die hohe, helle Wohnung mit dem Blick auf die Wolkenkratzer von Midtown Manhattan. Es war weder eine luxuriöse noch eine elegante Wohnung, doch sie war gemütlich – und »gemütlich« war eines von Janice Wilders Lieblingswörtern. Sie mochte auch die Wörter »gesittet« und »vernünftig« und »Anpassung« und »Beziehung«. Kaum etwas brachte sie aus der Ruhe oder jagte ihr Angst ein: Das gelang nur Dingen, die sie nicht verstand – und das manchmal in einem Ausmaß, dass ihr der Atem stockte.

»Das verstehe ich nicht«, sagte sie am Telefon zu ihrem Mann. »Was meinst du damit, dass du nicht nach Hause kommen kannst?« Und sie blickte beunruhigt zu ihrem Sohn, der auf dem Teppich saß, einen Apfel aß und die CBS-Abendnachrichten schaute.

»Was?«, fragte sie. »Ich kann dich nicht hören. Du bist was? … Warte, ich gehe ins Schlafzimmer.«

Als sie hinter zwei geschlossenen Türen allein am anderen Apparat war, sagte sie: »Also gut, John. Fangen wir von vorn an. Wo bist du? In La Guardia?«

»Gott sei Dank nicht, ich bin endlich weg von diesem Scheißflughafen. Mindestens zwei Stunden bin ich davor herumgelaufen, bis ich ein Taxi gekriegt habe, und dann war der Fahrer so verdammt geschwätzig, und er – «

»Bist du betrunken?«

»Lässt du mich bitte ausreden? Nein, ich bin nicht betrunken. Ich habe etwas getrunken, aber ich bin nicht betrunken. Hör mal, weißt du, wie viel ich in Chicago geschlafen habe? Die ganze Woche? So gut wie gar nicht. Ein, zwei Stunden in der Nacht, und letzte Nacht habe ich überhaupt nicht geschlafen. Du glaubst mir nicht, oder? Wenn etwas der Wahrheit entspricht, glaubst du es nicht.«

»Sag mir doch, von wo du anrufst.«

»Ich weiß es nicht. Ich bin in irgendeiner Telefonzelle, und meine Beine machen gleich – Grand Central. Das Biltmore. Nein, warte, das Commodore. Ich bin im Commodore und genehmige mir einen Drink.«

»Aber, Liebling, das ist doch praktisch um die Ecke. Du musst nur – «

»Verdammt noch mal, hörst du mir nicht zu? Ich habe gerade gesagt, dass ich nicht nach Hause kommen kann.«

Sie beugte sich, auf der Kante des Doppelbetts sitzend, vor, stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel und hielt den Hörer mit beiden Händen fest. »Warum nicht?«, fragte sie.

»Herrgott. Es gibt Hunderte von Gründen. Mehr Gründe als ich – als ich überhaupt aufzählen kann. Zum einen habe ich vergessen, Tommy ein Geschenk mitzubringen.«

»Ach, John, das ist doch absurd. Er ist zehn Jahre alt, er erwartet nicht, dass du ihm jedes Mal ein Geschenk mitbringst, wenn du – «

»Okay, hier ist noch ein Grund. Da war eine Frau in Chicago, eine aus der PR-Abteilung einer Whiskey-Brennerei. Ich habe sie im Palmer House fünfmal gevögelt. Wie findest du das?«

Es war nicht das erste Mal – es hatte viele Frauen gegeben –, aber es war das erste Mal, dass er es ihr hinknallte wie ein halbwüchsiger Angeber, der seine Mutter schockieren will. Sie wollte sagen, wie hättest du denn gern, dass ich es finde?, doch sie traute ihrer Stimme nicht: Sie könnte verletzt klingen, und das wäre ein Fehler, oder sie könnte trocken und tolerant klingen, und das wäre noch schlimmer. Zum Glück wartete er nicht lange auf eine Antwort.

»Und was hältst du davon? Auf dem Rückflug habe ich die ganze Zeit die nette kleine Kreditkarte von der Fluglinie angeschaut. Weißt du, was ich mit der Karte jederzeit machen kann, wenn mir danach ist? Ich kann sagen: Schluss, aus. In einen großen silbernen Vogel steigen und zum Beispiel nach Rio fliegen, in der Sonne liegen und trinken und überhaupt nichts tun, absolut nichts, bis – «

»John, hör auf damit. Sag mir jetzt, warum du nicht nach Hause kommen kannst.«

»Willst du es wirklich wissen, Schatz? Weil ich Angst habe, dass ich euch umbringen werde, deswegen. Euch beide.«

Wie der Sohn der Wilders sah auch Paul Borg sich die CBS-Nachrichten an. Er fluchte, weil das Telefon genau in dem Moment klingelte, als Eric Sevareid gerade dabei war, Senator Kennedys Aussichten, Vizepräsident Nixon zu schlagen, zusammenzufassen.

»Ich geh ran«, rief seine Frau aus der dampfenden Küche.

»Nein, nein, ist schon okay. Ich geh ran.« Seine Mandanten riefen ihn manchmal zu Hause an und wollten dann sofort seine Stimme hören und nicht erst nach ihm fragen müssen. Aber es war kein Mandant. »Oh«, sagte er. »Hallo, Janice.«

»Paul, ich störe dich nur ungern um diese Zeit, aber ich mache mir schreckliche Sorgen um John …«

Er hörte zu, unterbrach sie ab und an mit Fragen, und diese Fragen veranlassten seine Frau, langsam aus der Küche zu kommen, den Fernseher auszuschalten und sich so nah wie möglich neben das Telefon zu stellen, die Augen weit aufgerissen, der Blick gebannt. Als er sagte, »… Angst, dass er euch umbringen könnte?«, röteten sich ihre Wangen, und sie hob langsam und unsicher ihre Hand und steckte die Finger in den Mund.

»… Natürlich tue ich, was ich kann, Janice. Ich fahre sofort hin und – rede mit ihm, versuche herauszufinden, worin das Problem besteht. Nimm’s nicht so schwer, und mach dir keine Sorgen, okay? Ich melde mich so schnell wie möglich bei dir … Okay, Janice.«

»Mein Gott!«, sagte seine Frau, nachdem er aufgelegt hatte.

»Wo ist meine Krawatte?«

Sie holte sie und zog sein Jackett so heftig aus dem Garderobenschrank, dass der Drahtbügel klappernd zu Boden fiel. »Hat er wirklich gedroht, sie umzubringen?« Sie strahlte über das ganze Gesicht.

»Ach, um Himmels willen, Natalie. Nein, natürlich hat er nicht ›gedroht‹. Offenbar macht er gerade eine Art nervlicher oder emotionaler – ich erzähle es dir, wenn ich zurück bin.«

Er ließ die Tür hinter sich zufallen, doch sie öffnete sie wieder und folgte ihm ein paar Schritte zum Aufzug. »Paul, was ist mit dem Abendessen?«

»Iss du ruhig, ich hole mir etwas in der Stadt. Und hör mal, komm ja nicht auf die Idee, Janice anzurufen. Ich möchte, dass die Leitung frei ist, damit ich sie anrufen kann. Okay?«

Sie wohnten in einem von den neuen großen Gebäuden im nordwestlichen Village; Borg schätzte, dass er nicht mehr als zehn Minuten bis zum Commodore brauchen würde, und als er vom Parkplatz fuhr und dann die Hudson Street entlang Richtung Norden, freute er sich über die Effizienz seines Wagens und seine geschickte, geschmeidige Fahrweise. Er freute sich zudem darüber, dass Janices anfänglich verzweifelte Stimme am Schluss wieder stark und hoffnungsvoll geklungen und dass sie ihn überhaupt angerufen hatte. An einer Ampel warf er rasch einen Blick in den Rückspiegel, um sich zu vergewissern, dass Frisur und Krawatte saßen, und um den nüchternen, reifen Ausdruck seines Gesichts zu bewundern. Erst als hinter ihm gehupt wurde, sah er, dass die Ampel auf Grün geschaltet hatte.

Er entdeckte seinen Mann sofort, als er die Bar im Erdgeschoss betrat. John Wilder saß allein an einem Tisch an der rückwärtigen Wand und starrte in sein Glas, die Stirn auf die Hand gestützt. Doch es war wichtig, das Ganze wie eine zufällige Begegnung aussehen zu lassen, was allerdings nicht schwer sein sollte: Sowohl Johns als auch sein Büro waren ganz in der Nähe; auf dem Weg nach Hause trafen sie sich hier oft auf einen Drink. Um nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, es handele sich um eine Verschwörung, schob er eine Hinterbacke auf einen Barhocker und bestellte einen Scotch mit Soda – »viel Soda« – und zählte lautlos bis hundert, bevor er einen weiteren Blick zu Wilder hinüber riskierte. Keine Veränderung. Sein Haar war von nervösen Fingern zerzaust (was an sich schon merkwürdig war, denn normalerweise war er, was seine Frisur anbelangte, penibel bis zur Eitelkeit), und da sein Gesicht im Schatten lag, war unmöglich zu erkennen, ob er betrunken war oder erschöpft oder – was auch immer. Abgesehen vom Kopf sah er aus wie immer: ein kleiner, gelassener, wohlproportionierter Mann in einem gut geschnittenen Geschäftsanzug, das Hemd frisch, die Krawatte dunkel, auf dem Boden neben sich ein teurer Koffer.

Borg wandte sich wieder der Bar zu in der Hoffnung, dass Wilder ihn sehen würde; er zählte noch einmal bis hundert, dann schlenderte er beiläufig, so hoffte er zumindest, mit dem Drink in der Hand durch den Raum und sagte: »Hallo, John. Ich dachte, du bist in Chicago.«

Wilder blickte auf, und er sah schrecklich aus: blass, Schweißperlen auf der Stirn, die Augen scheinbar unfähig zu fokussieren.

»Gerade zurück?«, fragte Borg und zog einen Stuhl zu sich heran, um sich zu ihm zu setzen.

»Seit einer Weile schon. Was machst du um diese Uhrzeit noch hier?« Zumindest schien er zu wissen, wie spät es war.

»Ich bin erst um sieben aus dem Büro rausgekommen. Es war ein fürchterlicher Tag. Besprechungen, Anrufe, manchmal passiert alles gleichzeitig. Du weißt schon.«

Aber Wilder hörte nicht zu. Er leerte gierig sein Glas und sagte: »Wie alt bist du, Paul? Vierzig?«

»Fast einundvierzig.«

»Mist. Ich bin noch nicht mal sechsunddreißig und fühle mich uralt. Kellner! Wo zum Teufel ist der Kellner?« Als er ihn wieder anschaute, war sein Blick klar und aufmerksam. »Sag mir noch etwas. Warum haben wir beide so unscheinbare Frauen geheiratet?«

Borg spürte, wie er vom Kragen aufwärts bis zum Scheitel rot wurde. »Komm schon«, sagte er. »Du weißt, dass das Unsinn ist.«

»Aber es stimmt. Verdammt, in meinem Fall ist es verständlich, ich war schon immer ein Schwächling. Als Kind haben mir immer alle gesagt, ich schaue aus wie Mickey Rooney, und mit so einem Handikap ist es nicht gerade leicht, gut aussehende Mädchen zu kriegen. Ich glaube, ich habe mich für Janice entschieden, weil sie früher diese wunderbaren großen Titten hatte. Wahrscheinlich habe ich gedacht, die kurzen Beine und die breiten Schultern und das Gesicht würde ich irgendwann nicht mehr sehen. Ich wollte mich einfach für immer zwischen diesen Titten vergraben und die Welt draußen vergessen. Herrgott. Aber das ist meine Geschichte, was ist deine? Ich meine, du bist groß. Wie konnte es passieren, dass du bei einem Alligator wie Natalie gelandet bist?«

»Okay, das reicht jetzt, John. Du hast zu viel getrunken.«

»Blödsinn. Woher willst du wissen, wie viel ich getrunken habe? Ich habe nicht geschlafen, das ist alles. Überhaupt nicht geschlafen, die ganze Woche in Chicago. Ich habe mich mit bloß liegenden Nerven in meinem Bett im Palmer House herumgewälzt, und meine Gedanken haben sich im Kreis gedreht wie bei einem Verrückten – keine Ahnung. Ein nettes kleines Frauchen hat sich zeitweise mit mir herumgewälzt, und nicht einmal das hat geholfen. Aber weißt du was? Ich habe viel über mich erfahren. Wenn man nicht schlafen kann, geht einem manchmal ein Licht auf. Mir jedenfalls. Jede Menge Lichter. Und auf der Fahrt vom Flughafen in die Stadt hatte ich einen verdammt geschwätzigen Taxifahrer, und weißt du, was er gesagt hat? Er hat gesagt – O Gott, du bist doch nicht etwa sauer auf mich, oder, Paul? Du bist sauer, weil ich Natalie einen Alligator genannt habe.«

»Ich bin nicht sauer, ich mache mir Sorgen um dich. Du siehst schlecht aus und redest wirres Zeug. Ehrlich gesagt, ich glaube nicht, dass du heute in der Verfassung bist, nach Hause zu gehen.«

Und Wilder stieß einen lauten Seufzer der Erleichterung aus. »Das glaube ich auch nicht, alter Freund. Ich bin überhaupt nicht in der Verfassung. Ich wollte es Janice erklären, aber sie hat es nicht verstanden. Hör mal, kannst du sie anrufen? Du erklärst es ihr.«

»Klar, John. Ich rufe sie später an.«

»Weil sie alles versteht, wenn du es ihr erklärst. Sie hält dich für ’nen gottverdammten Abraham Lincoln.«

»In Ordnung, John.«

»Du hast ein Scheißglück gehabt, ist dir das klar, Paul? Ich meine, ein Rechtsanwalt ist ein Fachmann, so wie ein Arzt oder ein Pfarrer: Man hört dir zu, wenn du was sagst. Du bist kein Scheißhaufen unter den Füßen anderer Leute wie ich. Taxifahrer, Kellner, mein ganzes Leben lang muss ich mich von solchen Typen tyrannisieren lassen.«

»Was hat der Taxifahrer gesagt, John?«

»Ach, der Klugscheißer. Er ist gefahren wie ein Wahnsinniger, und ich habe mich auf dem Rücksitz gewunden und immer wieder gesagt, er soll langsamer fahren, und er hat gemeint: ›Sie sollten zu einem Psychiater gehen, Kumpel, Sie sind ein nervöses Wrack.‹

Und noch was: Du hast Glück, dass du keine Kinder hast. Mein Gott, wenn Tommy nicht wäre, würde ich meine nette kleine Kreditkarte von der Fluglinie nehmen, in einen silbernen Vogel steigen und nach Rio fliegen, in der Sonne liegen, bis ich kein Geld mehr habe, und mir dann das Gehirn rauspusten. Ich meine es ernst.«

»Nein, das tust du nicht. Lass uns doch vernünftig sein, John. Niemand kommt eine Woche lang ohne Schlaf aus. Ich denke, du brauchst medizinische Versorgung. Du musst dich beruhigen und ausruhen. Ich fahre dich ins St. Vincent’s.«

»Hör mal, Borg. Du bist ein netter Kerl, und du hast einen harten Tag im Büro hinter dir, und es tut mir leid, dass ich deine Frau einen Alligator genannt habe, weil sie auch nett ist und weil sie wahrscheinlich einen köstlichen Nudelauflauf für dich gemacht hat, aber ich bin kein Idiot und lass mich von dir nicht in irgendeinem Krankenhaus wegsperren.«

»Niemand will dich wegsperren. Du lässt dich wegen Erschöpfung ins St. Vincent’s einweisen, sie geben dir ein Schlafmittel, und morgen oder übermorgen kommst du wieder raus, wie neugeboren. Wieder ganz der Alte. Ich sehe keine andere Möglichkeit.«

Es folgte eine Pause. »Lass mich drüber nachdenken.« Und darüber nachdenken hieß, einen weiteren Drink zu bestellen, von dem er die Hälfte in einem Zug trank. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte er dann. »Fahr mich in die Varick Street.«

Und Borg zuckte zusammen, weil er von Anfang an befürchtet hatte, John könnte die Varick Street ins Spiel bringen. Ein paar Jahre zuvor hatten sie gemeinsam eine spottbillige Souterrainwohnung gemietet (eine Kellerwohnung eigentlich, wie sie genau genommen verboten gehörte), als heimliche Zufluchtsstätte vor dem Eheleben. Sie ließen sie ausräumen und weiß streichen, richteten sie mit einem Doppelbett ein, einer gut gefüllten Bar, einem gebrauchten Herd, einem gebrauchten Kühlschrank und genügend anderen Dingen, um es sich »nett« zu machen, und einem Telefon mit einer nicht eingetragenen Nummer: Der Zweck des Ganzen war, dass sich einer von beiden, wenn er auf eine verfügbare, willige junge Frau stieß – Wilder nannte sie Fallobst –, unter dem Vorwand einer Geschäftsreise für einen Nachmittag oder auch ein paar Nächte in die Wohnung zurückziehen und den glücklichen, wenn auch etwas nervösen Junggesellen spielen konnte. Doch es hatte besser geklungen, als es tatsächlich war: Es gab nicht allzu viel Fallobst.

»Du willst nicht wirklich in die Varick Street, John.«

»Wer sagt das? Was ist los, willst du dorthin?«

»Nein. Ich war seit Monaten nicht mehr dort. Aber wenn dir die Frau in Chicago nicht zum Schlafen verholfen hat, warum glaubst du dann, eine andere könnte es?«

»Der Versuch lohnt sich vielleicht. Kennst du Rita? Die bei Time and Life die Recherchen macht? Obwohl – wahrscheinlich ist es schon zu spät, sie anzurufen. Was ist mit der Dicken? Wie hieß die doch gleich? Die mit dem Arzt verheiratet ist? Nein, warte, die ist nach Boston gezogen.«

»Komm schon, John. Sei realistisch.«

Und Wilder gab sich geschlagen. »Realistisch, ja. Das ist mein Problem. Ich war noch nie im Leben realistisch. Habe ich dir schon mal erzählt, dass ich Filme drehen wollte? Herrgott noch mal.« Er trank sein Glas aus. »Okay, Borg, du hast gewonnen. Noch einen Drink, und ich bin realistisch. Kellner!« Er stieß die Hand mit dem Glas so weit in den Gang, wie sein Arm reichte, und wäre vom Stuhl gefallen, hätte er sich nicht mit der anderen Hand am Tisch festgehalten.

»Nicht nötig, dass Sie schreien, Sir«, sagte der Kellner.

»Nicht nötig, dass Sie den kleinen Klugscheißer heraushängen lassen.«

»Hören Sie, Mister, ich muss Sie nicht bedienen.«

»Wirklich? Vielleicht wollen Sie mir dann lieber in den Arsch kriechen, Sie Schleimbeutel?«

»Alles in Ordnung«, sagte Borg und legte einen Haufen Dollarscheine auf den Tisch. »Alles in Ordnung, wir gehen. Komm, John, gib mir deinen Koffer.«

»Willst du damit sagen, dass ich meinen eigenen Koffer nicht tragen kann? Hältst du mich für einen Krüppel?«

Aber der Koffer machte ihm Schwierigkeiten: Er blieb zwischen den Glastüren stecken, und Wilder fluchte so laut, »So eine Scheiße«, dass sich die Leute umdrehten und ihn ansahen. Und während sie zur Lexington Avenue gingen, blieb er mehrmals stehen und stellte den Koffer ab, weil er sich ständig damit gegen das Bein stieß und ihm angeblich die Hand wehtat. Einmal brachte er dabei fast eine Frau zu Fall.

Im Wagen schwieg er, als Borg durch den Verkehr quer durch die Stadt kroch, doch als sie auf der Seventh Avenue nach Süden fuhren, begann er sich auf dem Beifahrersitz zu winden und zu krümmen, und er hob eine Hand, als wollte er die Augen abschirmen. »Um Himmels willen, Paul, fahr vorsichtig. Fahr langsamer.«

»Versuch dich zu entspannen, John. Ich fahre so langsam wie möglich.«

Es war ein betriebsamer Abend in der Notaufnahme des St. Vincent’s – Sanitäter und Assistenzärzte beugten sich über Tragen, die auf dem Boden lagen, eine Frau mittleren Alters lag stöhnend auf einer Untersuchungsliege und blutete im Gesicht –, doch Borg fand einen abgetrennten Bereich, in dem ein junger Mann in Weiß hinter einem Schreibtisch saß und offenbar zuständig war.

»Doktor, das ist nicht wirklich ein Notfall, aber mein Freund hier ist vollkommen erschöpft, er hat seit einer Woche nicht mehr geschlafen, und er muss sediert werden. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass er so was wie einen Nervenzusammenbruch hat oder – «

Borg konnte sich später nicht mehr daran erinnern, mit welchen Worten er den Satz beendet hatte: Er wusste nur noch, dass der Arzt durch seine dicken Brillengläser zuerst den einen, dann den anderen von ihnen beiden angeblinzelt hatte. Wilder hatte vor Langem schon seinen Hemdkragen geöffnet und seine Krawatte heruntergezogen; jetzt zerrte er beides so heftig nach unten, dass ein Hemdknopf abriss, auf den Boden fiel und davonrollte. Als der Arzt ihn anwies, sich zu setzen, ließ er krachend den Koffer fallen und sank auf den einzig verfügbaren Platz, einen großen, altmodischen Rollstuhl aus lackiertem gelben Holz, in dem er klein und hilflos wirkte, vor allem als er zurückrollte und von einem Pfleger aufgehalten werden musste, der wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

»Würden Sie uns bitte allein lassen, Sir?«, forderte der Arzt, und Borg kam seiner Bitte sofort nach. Seine Füße schmerzten. Er war hungrig und müde und wollte nach Hause. Diese Sache wäre bald überstanden. »Ach, ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll, Paul«, würde Janice sagen. »Ich weiß nicht, was wir ohne dich tun würden.«

Die Trennwand war dünn. Er konnte weder die Fragen des Arztes noch Wilders Antworten genau verstehen, doch er nahm an, dass sie die bei einer Aufnahme üblichen Routinefragen abhakten – Name, Alter, Beruf, nächste Angehörige, Krankengeschichte, frühere Perioden der Schlaflosigkeit –, bis auf einmal alles außer Kontrolle geriet.

»Sie haben verdammt noch mal recht, wenn Sie meinen, dass ich getrunken habe. Was zum Teufel würden Sie tun, wenn Sie nicht schlafen können, Sonnyboy? Bonbons lutschen? Die ›Late Show‹ gucken? An Ihrem Schwanz rumfummeln? Hören Sie! Hören Sie, Sie überausgebildete kleine Rotznase, Sie schwule kleine – Hören Sie, ich habe diese Woche vieles über mich herausgefunden. Dinge, die Sie in hundert Jahren nicht verstehen würden …«

Als Borg den abgetrennten Bereich betrat, splitterte Holz, weil Wilder mit der Ferse seines Schuhs die Fußstütze des Rollstuhls eintrat, und der Pfleger sagte: »Ganz ruhig, Mister, ganz ruhig.«

Der Arzt war von seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch aufgestanden, und Wilder sagte: »Mein ganzes Leben lang bin ich ein Scheißhaufen unter den Füßen anderer Leute gewesen, und gerade ist mir aufgegangen, dass ich Größe in mir habe. Ich habe Größe in mir, und wenn Sie nicht aufhören, mich so anzuschauen, wenn Sie sich weigern, mich in dieses beschissene Krankenhaus aufzunehmen, dann werde ich Ihnen Ihre beschissene Brille in Ihren beschissenen Hals schieben. Ist das klar?«

Dann drehte der Pfleger ihn um und rollte ihn einen Flur entlang, und der Arzt erklärte Borg, dass sie ihn hier nicht aufnehmen könnten. Dass man ihn seiner Ansicht nach nur im Bellevue behandeln könnte und dass sofort ein Krankenwagen bereitgestellt würde. »Ich rufe jetzt dort an«, sagte er. »Sie werden Sie erwarten.«

Und kurz darauf saß Borg mit dem Koffer zwischen den Beinen auf einer schmalen Bank in einem Krankenwagen. Er hatte immer gedacht, dass Patienten auf Tragen mit dem Gesicht nach oben transportiert würden, doch Wilder lag auf dem Bauch und wurde von drei oder vier Sanitätern festgehalten, und er schrie noch immer einen Monolog, der so zusammenhangslos war, dass nur die Wörter »Scheiße« und »Wichser« und »Größe« zu verstehen waren. In dem matten grauen und rosa Licht sah Borg, dass Jackett und Hemd ihm bis zu den Schulterblättern hochgerutscht waren; er zog sie nach unten und fuhr ihm mit der Hand über das feuchte, zitternde Rückgrat, in der Hoffnung, ihn dadurch zu beruhigen. »John«, sagte er, ob Wilder ihn nun hörte oder nicht, »du wolltest dich mal richtig ausruhen, und dazu bekommst du jetzt die Gelegenheit. Entspann dich, es ist alles in Ordnung.« Und genau in dem Moment beschleunigte der Krankenwagen, und das Martinshorn wurde eingeschaltet, das zuerst leise knurrte und sich dann, während sie durch die Stadt rasten, zu einem gellenden Schrei steigerte.

»Au!«, sagte Wilder immer wieder, als würden sie nicht ruhig dahinfahren, sondern über Schwellen und Schlaglöcher holpern. »Au! … Au! … Au! …«

Und das Bellevue – oder vor welchem Teil des labyrinthgleichen Gebäudes sie auch immer angekommen waren – war so verwirrend, dass selbst Borg kurzzeitig die Orientierung verlor. Er stand mit offenem Mund da wie ein Idiot und hielt Wilders Koffer, bis ihm jemand ein Formular mit der Überschrift STADT NEW YORK, AMT FÜR KRANKENHÄUSER reichte. Man zeigte ihm, wo er unterschreiben und die Telefonnummern notieren sollte, unter denen er privat und geschäftlich zu erreichen war, und wies ihn an, in der Rubrik »Verwandtschaftsverhältnis« die Bezeichnung »befreundet« einzutragen. Er erledigte alles rasch, weil sie ihn nicht zu Wilder lassen wollten, bis er es ausgefüllt hatte, um dann herauszufinden, dass er sowieso nicht zu ihm durfte, weil Wilders Arme fest um den Nacken zweier großer Pfleger geschlungen waren, die ihn, der immer noch schrie, zu einem Aufzug schleppten, vor dem ein dritter Pfleger mit einem Rollstuhl wartete. Sie zwangen ihn nicht nur, sich hineinzusetzen, sondern schnallten ihn auch fest. Als sich die Aufzugstür öffnete, schoben sie ihn hinein, und er sah, dass hinten auf der Rückenlehne des Stuhls das Wort PSYCHO aufgedruckt war.

»Hören Sie«, sprach Borg den nächstbesten Mann in einem weißen Kittel an, den er fand. »Hören Sie: Wie ist hier das Prozedere?«

Der Mann lächelte, zuckte mit den Achseln und sprach rasch in einer Sprache, die nach Italienisch oder Spanisch klang.

»Sind Sie Arzt?«

»Ich? Nein. Arzt da drüben.«

»Ist das Ihr Koffer, Mister?«, fragte eine andere Stimme.

»Nein. Ich meine ja – warten Sie – ich nehme ihn.«

Dann sagte er: »Doktor, entschuldigen Sie, aber ich bin ein bisschen – Wie ist hier das Prozedere?«

Auch dieser Mann war sehr jung, wie der Arzt im St. Vincent’s, aber er sah so gut aus, dass er die männliche Hauptrolle in einer Krankenhausromanze hätte übernehmen können. »Das Prozedere? Danke, Schätzchen«, sagte er zu einer Schwester oder einer Schwesternhelferin, die ihm einen Hamburger und einen Becher Kaffee gebracht hatte.

»Gern geschehen.«

»Ich meine«, sagte Borg, »können Sie mir erklären, was mit Mr. Wilder passieren wird?«

»Wilder.« Er stellte den Kaffee ab, nahm ein Klemmbrett und schaute blinzelnd darauf. »Ach ja. Und Sie sind der Mann, der ihn eingewiesen hat, richtig? Mr. Berg?«

»Borg. Ich bin Rechtsanwalt.« Und er zog sein Jackett zurecht als weiteren Beweis seiner Respektabilität. Von dem warmen braunen Geruch des Hamburgers wurde ihm ganz schwach vor Hunger.

»Er wird behandelt wie jeder andere Patient, Mr. Borg«, sagte der Arzt mit vollem Mund. »Zuerst einmal wird dafür gesorgt, dass er schläft.«

»Und wie schnell, glauben Sie, kann er wieder entlassen werden?«

»Schwer zu sagen. Jetzt ist Freitagabend, und es ist das Labor-Day-Wochenende. Die Psychiater werden erst wieder am Dienstag da sein und seinen Fall wahrscheinlich am Mittwoch oder Donnerstag besprechen. Und danach liegt es ganz an ihnen.«

»Mein Gott. Labor Day hatte ich ganz vergessen. Das ist – ich hätte das Formular nie unterschrieben, wenn ich daran gedacht hätte – ich meine, das ist wirklich sehr – unglücklich gelaufen.«

»Ich würde mir deswegen keine Sorgen machen«, sagte der Arzt kauend. Von seinen Lippen fielen Fleisch- und Brotkrumen. »Ich denke, dass Sie das Richtige getan haben. Hören Sie, Sie sind doch Anwalt. Haben Sie mit der Polizei zu tun?«

»Nein. Meine Mandanten sind – Nein, ich habe nicht mit der Polizei zu tun.«

»Gut, okay, macht nichts. Sie haben ja gesehen, in welchem Zustand er sich befindet.« Er wischte sich mit seinem weißen Ärmel über den Mund und hinterließ einen Streifen Ketchup darauf. »Was ist wohl besser? Dass er hier eine Weile in Sicherheit ist oder dass er draußen durch die Straßen läuft, bis ihn die Polizei aufgreift und wegen Ruhestörung einbuchtet?«

2. KAPITEL

Er erwachte schweißgebadet und atmete muffige, stinkende Luft. Der Schein einer nackten Glühbirne blendete ihn, doch er sah, dass er in einer eisernen Koje lag, die an Ketten von der Wand hing wie auf einem Kriegsschiff oder im Gefängnis.

»Alle aufstehen«, rief eine Stimme, und er hörte auch noch andere Laute: Stöhnen und Fluchen, elendes Husten und lautes Räuspern, das Quietschen und Krachen der Betten, die hochgeklappt und an der Wand befestigt wurden. »Na los, na los. Alle aufstehen.«

Als er sich aufsetzte, packte ihn eine Hand an der Schulter und stieß ihn auf den Boden. Er trug einen grauen Baumwollschlafanzug, der ihm viel zu groß war: Seine nackten Füße stolperten über die Hosenbeine, und die Ärmel reichten ihm bis zu den Fingerspitzen. Im Licht der Glühbirnen taumelnd und blinzelnd, rollte er als Erstes die Ärmel auf und entdeckte ein locker sitzendes Plastikarmband, auf dem WILDER JOHN C. stand. Er beugte sich vor, um die Hosenbeine hochzukrempeln, wurde jedoch von hinten getreten, fiel auf die Hände und blickte ängstlich auf in das wütende Gesicht eines Schwarzen, der den gleichen Schlafanzug trug wie er.

»Pass auf deinen Arsch auf, Mann. Das hier ist der Gang. Du hast hier nicht herumzustehen und an dir herumzufummeln, steh auf und setz dich in Bewegung.«

Er tat es. Über die an die Wand geklappten Betten wurden Gitter aus Maschendraht gezogen, um zu verhindern, dass sie benutzt wurden: Sie waren tatsächlich im Gang untergebracht, dem Platz zum Gehen. Er war gelb, grün, braun und schwarz; er war weder sehr lang noch sehr breit, doch ungeheuer überfüllt mit Männern jeden Alters, von Halbwüchsigen bis zu Greisen, Weißen, Schwarzen und Puerto Ricanern, die eine Hälfte ging in die eine Richtung, die andere in die entgegengesetzte. Die Vielfalt ihrer Gesichter, die sich in das gleißende Licht schoben, dann in den Schatten und wieder ins Licht, war beunruhigend. Manche redeten miteinander, manche führten Selbstgespräche, doch die meisten schwiegen. Er spürte warmen Stein unter den Füßen, bis er auf etwas Glitschiges trat; dann sah er die Auswurfhäufchen auf dem schwarzen Boden vor sich. Einige der gehenden Männer trugen schmutzige Hausschuhe aus Papier, und er beneidete sie darum; andere rauchten, die Zigarettenschachteln in den Brusttaschen ihrer Schlafanzugjacken, und ihm zog sich der Gaumen zusammen. Dann bemerkte er, dass manche keine Schlafanzugjacken, sondern Zwangsjacken trugen, und am liebsten hätte er gewimmert wie ein Kind.

Zu beiden Enden des Flurs befanden sich geschlossene Fenster, die mit Maschendraht gesichert waren. Das Licht draußen war düster – entweder ein früher grauer Morgen oder ein später grauer Nachmittag –, und außer Lüftungsschächten und fensterlosen Mauern war nichts zu sehen.

In der Mitte des Korridors stand ein Pfleger, ein Schwarzer in grüner Krankenhauskluft, und er eilte zu ihm, den Mund voller Fragen – Hören Sie, wo sind meine Kleider?, Wo ist mein Geld?, Wo ist ein Telefon?, Worum geht es hier? –, doch als er vor ihm stand, fühlte er sich klein und schüchtern und wusste nur noch, dass er dringend aufs Klo musste.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Wo ist die Toilette?«

»Dort drüben.«

Und er folgte dem deutenden Finger zu einer beleuchteten stinkenden Latrine, wo Männer auf Toilettenschüsseln saßen und an einem langen, trogähnlichen Urinal um einen Platz kämpften.

»Das hier«, erklärte ihm ein anderer Pfleger, »ist Ihre Zahnbürste. Sie erkennen Sie daran, dass Ihr Name draufsteht. Sehen Sie den Streifen? Wilder. Wenn Sie fertig sind, stecken Sie sie zurück in die Halterung. Niemand außer Ihnen wird die Zahnbürste benutzen, und Sie werden auch keine fremde Zahnbürste benutzen, verstanden? So kriegt niemand Zahnfleischgeschwüre. Verstanden?«

Einen eigenen Rasierapparat zu besitzen war jedoch niemandem erlaubt. Die Männer standen zu viert oder fünft an und warteten, um sich vor einem beschlagenen Spiegel und unter wachsamen offiziellen Blicken zu rasieren.

»Sobald Sie fertig sind, reinigen Sie den Rasierer und legen ihn auf die Ablage. Sinnlos, daran herumzufummeln, die Klinge geht nicht raus. Der Apparat ist gesichert …«

»Nur Neuzugänge duschen. Nur Neuzugänge duschen. Sie nicht, Gonzales, kommen Sie da wieder raus …«

In der Gemeinschaftsdusche gab es weder Seife noch eine Möglichkeit, die Wassertemperatur zu regulieren: Die Neuzugänge rutschten auf schmierigen Holzrosten herum, während sie versuchten, sich zu waschen, bis jedem ein Handtuch in die eine und der zerknitterte Schlafanzug in die andere Hand gedrückt wurde.

»Kann ich Hausschuhe haben?«

»Es gibt keine Hausschuhe mehr. Hausschuhe sind aus.«

Und dann hieß es zurück in den Flur, wo es nichts zu tun gab, außer auf und ab zu gehen. Er kam an einer verschlossenen Tür mit einem kleinen Fenster aus Drahtglas vorbei, spähte hinein und sah, dass es eine Gummizelle war. Matten, wie sie Ringer und Bodenturner benutzten, bedeckten die Wände und den Boden. Sie war leer, aber die nächste war besetzt: Ein Mann in einer Zwangsjacke lag darin, mit dem Gesicht nach unten und so reglos, als wäre er tot, ein dunkler Fleck Pisse neben dem Oberschenkel.

»Ist mir doch egal! Ist mir doch egal!«

Die beiden Reihen gehender Männer traten beiseite, um einem jungen weißen Mann Platz zu machen, der in der Mitte des Flurs schattenboxend angelaufen kam. Sein Oberkörper war nackt, und die Beine seiner Schlafanzughose hatte er ordentlich auf die Länge einer Preisboxerhose abgerissen; er hüpfte auf und ab, hin und her und verteilte in einem Wirbel gelber Staubflusen Hiebe und Haken.

»Versteht ihr Idioten das denn nicht? Es ist mir egal! Ich will, dass mein Vater mich so sieht!«

»Okay, Henry, ganz ruhig«, sagte ein Pfleger, näherte sich ihm von hinten und legte ihm die Hand auf die Schulter, doch der Schattenboxer drehte sich rasch um und bezog mit beiden Fäusten vor dem Gesicht ihm gegenüber Stellung.

»Nenn mich nicht Henry, du blöder schwarzer Idiot – nenn mich Doktor, oder ich brech dir jeden verdammten Knochen in deinem – «

»Gar nichts werden Sie tun, Doktor«, sagte ein zweiter Pfleger, und gemeinsam hielten sie ihn an den Armen fest; sie waren beide größer als er und hatten keine Mühe, ihn umzudrehen und den Korridor entlangzuführen. Er wehrte sich nicht gegen ihren Griff, doch seine Schreie wurden lauter, bis es klang, als werde er gleich in Tränen ausbrechen.

»Verdammt noch mal, wenn ich möchte, dass mein Vater mich so sieht, dann geht euch das nichts an, ihr blöden, schwarzen, strohdummen, wichsenden – «

»Ihr Vater kann Sie jetzt sowieso nicht sehen, Doktor. Kommen Sie mit, außer Sie wollen, dass Roscoe Sie mit einer Spritze ruhigstellt.«

»Ja, ja, verpasst mir ruhig eine Spritze, mehr könnt ihr eh nicht. Große Sache! Ihr armseligen, blöden – Wie ist das eigentlich? Geht ihr nach Hause und sagt zu euren Frauen: ›He, Baby, ich hab heute einen Doktor gehabt‹? ›Hab einem richtigen weißen Doktor in den Arsch gespritzt‹? Vergesst bloß nicht, dass ich euch beide anzeigen werde und euren kleinen Kumpel Roscoe gleich mit, weil ihr versucht habt, mich nach Wingdale zu schicken. Ich werde das Krankenhaus verklagen wegen Behandlungs – wegen Behandlungsfehler, und wenn die Tatsachen – wenn die Tatsachen erst einmal auf dem Tisch sind, werdet ihr …«

Er war jetzt nicht mehr zu sehen und auch nicht zu hören wegen des Gelächters und Gejohles und der Pfiffe, die bei seinem Abgang laut wurden. Ein weiterer grün gekleideter Schwarzer eilte mit einer Spritze den Flur entlang; er blieb unter einer Glühbirne stehen, hielt sie hoch, blinzelte sie an und drückte gerade so fest darauf, dass an der Spitze der Nadel ein Tropfen Flüssigkeit austrat. Dann ging er auf den schreienden Mann zu.

»Na los, pack ihn dir, Roscoe«, rief jemand. »Mach ihn fertig.« Und während sich die Männer wieder in Bewegung setzten, wurde weiter gelacht.

Wilder spürte, wie ihn jemand am Ellbogen berührte und meinte, eine Stimme »Willst du mich küssen?« sagen zu hören.

»Was?«

Ein auffallend gut aussehender junger Schwarzer stand da und lächelte ihn an, auf dem Kopf die zum Turban gewickelte Schlafanzugjacke; er rollte ganz sachte die Schultern, um die Schönheit seines nackten Oberkörpers zur Geltung zu bringen, und hielt seinen halb erigierten Schwanz in der Hand. »Willst du mich küssen?«

»Nein.«

»Ach, das ist schon in Ordnung. Ist schon in Ordnung. Du kannst mich küssen, wenn du möchtest, aber nur wenn du zuerst ›Ich liebe dich‹ sagst.«

Es war Zeit für das Frühstück. An einem Ende des Korridors wurde eine Doppeltür geöffnet, und die beiden Reihen vereinten sich zu einer rempelnden Schar.

»Okay, langsam, langsam. Immer nur zwei. Immer nur zwei auf einmal, oder niemand kriegt nichts zu essen …«

Das Gefühl, in der Falle zu sitzen, war im Speisesaal noch schlimmer: Wenn man erst einmal seitwärts und gekrümmt in die schmale Spalte zwischen dem langen Tisch und der nicht verrückbaren, hölzernen Bank mit der hohen Lehne geschubst worden war, kam man nicht mehr heraus. Wilder saß eingezwängt zwischen einem zahnlosen, uralten Mann und einem dicken Jungen, dessen feuchter Mund offen stand, als habe er Schmerzen, weil die Tischkante gegen seinen Bauch drückte. Jeder bekam eine Plastikschale klebrigen Haferbreis mit Dosenmilch und einen Becher lauwarmen Kaffee, und Wilder wurde erst klar, dass er Hunger hatte, als er den Haferbrei mit einem großen Armeelöffel aus Blech in sich hineinschaufelte. Wenn er essen, den Kaffee trinken, eine Zigarette auftreiben und ein Telefon finden konnte, bestand die Möglichkeit, dass die Welt zu ihrem normalen Zustand zurückkehren würde. Doch dann schaffte es der alte Mann nicht, den zitternden Löffel ans Zahnfleisch zu heben, ohne den Haferbrei zu verschütten, und der dicke Junge nahm die Schale in beide Hände, tauchte das Gesicht hinein und schlabberte wie ein Hund, während ihm der Brei über die Brust lief, und an einem anderen Tisch schrie eine schrille Stimme zunehmend panisch: »Lasst mich hier raus, lasst mich hier raus, lasst mich hier raus …«

Als er dem Speisesaal endlich entkommen war, entdeckte er, dass die Männer, die am wenigsten verrückt aussahen, dabei waren, sich vor einer verschlossenen Tür am Ende des Korridors zu versammeln. Neben der Tür saß auf einem hohen Stuhl ein Polizist – nicht ein uniformierter Wachmann des Krankenhauses, sondern ein richtiger New Yorker Polizist mit Abzeichen, herabbaumelndem Schlagstock und Pistole im Holster. Er kaute Kaugummi und sprach mit niemandem, nicht einmal mit den Pflegern, und er trug eine Sonnenbrille, deren Gläser silbern verspiegelt waren: Versuchte man ihm in die Augen zu schauen, dann sah man nur ein doppeltes Abbild des eigenen Gesichts. Dennoch schien es der Platz, an dem man sich am besten aufhielt: der Ort, an dem es am wahrscheinlichsten war, dass rationale Dinge geschahen.

»He da, Shorty. Wie geht’s dem alten Shorty heute?« Der Mann, der das sagte, war selbst nicht viel größer als Wilder, und er war hässlich – ein gelbliches Gesicht mit eng zusammenstehenden Augen und einem breiten, humorlosen Lächeln voller schlechter Zähne –, doch in seiner Schlafanzugtasche steckte eine Schachtel Zigaretten. »Ich habe dich gesehen, als sie dich gestern Abend gebracht haben. Junge, du warst vielleicht durchgeknallt.«

»Ja?« Er konnte sich an nichts mehr erinnern, was nach der Fahrt im Krankenwagen, in dem Paul Borg ihm den Rücken gerieben hatte, geschehen war.

»Du hast geschrien und gebrüllt, du warst überhaupt nicht mehr zu bremsen; sie haben dir eine Spritze gegeben, und du hast trotzdem nicht aufgehört. Ich habe mir gedacht, Herrgott noch mal, das muss ein knallharter Bursche sein, das muss ein großer Kerl sein. Dann habe ich gesehen, dass du noch kleiner bist als ich, und mich kaputtgelacht. Ich hab mich fast totgelacht.«

»Ja, na ja. Könnte ich eine Zigarette haben?«

»Ich werde dich retten«, sagte der Mann und wandte sich ab.

»Mich retten?«

»Er wird dich nicht retten«, sagte eine andere Stimme. »Er hat noch nie jemand gerettet. Er ist ein Arschloch.«

Dann wurde die Tür geöffnet und ein Schwall kühler Luft kam herein – keine frische Luft, aber kühle Luft, die besser roch, wenn auch nur deshalb, weil sie aus einem breiteren, saubereren Korridor hereinwehte –, und ein lauter, fröhlicher Chor war zu hören: »Charlie!« – »He, Charlie!« – »Wie geht’s, Charlie?«

Er war deutlich über eins achtzig und gebaut wie ein Schwergewicht, ein Schwarzer in Grün wie die anderen, doch er beherrschte sie alle, als er seinen Schlüsselbund einsteckte, langsam die Station betrat und einen Wagen mit Medikamenten vor sich herschob. »Guten Morgen … Guten Morgen«, sagte er mit einer tiefen, wohlklingenden Stimme, und sogar der Polizist sagte, »Morgen, Charlie«, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Tür wieder verschlossen war.

»He, Charlie, kann ich kurz mit Ihnen sprechen?«

»Charlie, hören Sie: Erinnern Sie sich, gestern habe ich Sie was gefragt?«

Sie scharten sich um ihn, näherten sich ihm von allen Seiten, während er seinen Wagen genau in die Mitte des Flurs schob, wo er stehen blieb und den Kopf hob, um sie alle anzusprechen.

»Stärkung, meine Herren!«, rief er in die eine Richtung und »Stärkung, meine Herren!« in die andere. Auf den Tabletts auf seinem Wagen standen viele kleine Gläschen, gefüllt mit etwas, das wie Bourbon oder Ahornsirup aussah: Es war weder das eine noch das andere, aber es schmeckte ein bisschen nach beidem.

»Haben Sie meine Zeitung dabei, Charlie?«, fragte ein Mann mit einem schmutzigen Bündel Zeitungen unter dem Arm.

»Oh, nein, Mr. Schultz, Sie haben noch genügend Zeitungen. Wenn Sie die verbraucht haben, bringe ich Ihnen vielleicht eine neue.« Und er wandte sich an einen Pfleger. »Wie viele Neuzugänge gestern Abend?«

»Acht. Wir haben jetzt einhundertsiebzehn auf der Station.«

Charlie zuckte zusammen und schüttelte den großen Kopf. »Das sind zu viele. Und heute werden noch mehr kommen, morgen auch und am Montag auch. Wir sind dafür nicht eingerichtet.« Mit einem Klimpern seines Schlüsselrings schloss er eine Tür mit dem Schild BETRETEN VERBOTEN auf und ermöglichte so einen kurzen Blick in ein gemütliches kleines Büro – ein Tisch mit Stühlen, ein Regal mit Tassen und eine Kochplatte sowie Utensilien zum Kaffeekochen –, bis er mit zwei Schachteln Pall Mall in der Hand wieder herauskam.

»Also gut, einer nach dem anderen, meine Herren«, sagte er zu der gierigen Meute, die sich um ihn scharte. »Stellen Sie sich bitte von rechts an; einer nach dem anderen und immer nur eine. Sie nicht, Mr. Jefferson, sie haben eine Schachtel in der Tasche. Sie kennen die Regeln: Das hier sind Stationszigaretten …«

Alles wurde etwas besser mit Charlies Ankunft, mit der »Stärkung« und den Stationszigaretten. Das Licht war weniger gleißend, die Schatten waren weniger düster, und es gab neue Entdeckungen zu machen: eine lange Holzbank an einer Wand, weitere Sitzgelegenheiten zwischen den hochgeklappten Betten und sogar ein Platz zum Liegen – vier schmutzige Matratzen auf dem Boden einer Nische am anderen Ende des Flurs, ein gutes Stück weit entfernt von den gehenden Männern. Doch die Gummizellen waren immer noch da, sechs an der Zahl, und in einer lag jetzt die verkrampfte Gestalt des Mannes, der vor dem Frühstück schattengeboxt und geschrien hatte. Er lag da mit vor Empörung geöffnetem Mund, als wollte er auch in seinem Drogenschlaf noch schreien, und in seinem dunklen Haar schimmerte Schweiß.

»Wer hat Dr. Spivack eine Spritze gegeben?«, fragte Charlies tiefe Stimme.

»Roscoe, Charlie. Er hat sich wirklich schlimm aufgeführt.«

»Was ist mit seiner Hose passiert?«

»Hat sie selbst zerrissen, er wollte wie ein Boxer aussehen. Dann hat er angefangen zu brüllen von wegen Behandlungsfehler und so weiter. Es gab keine andere Möglichkeit, mit ihm fertigzuwerden.«

»Das verstehe ich nicht. Ich dachte, er macht sich ganz gut.«

»Er hat gute und schlechte Tage, Charlie.«

»Mhm.« Und Charlie holte erneut seine Schlüssel heraus. »Das Mindeste, was wir tun können, ist, die Tür aufzumachen. Ich möchte nicht, dass er aufwacht und die Tür ist zugesperrt. Er braucht auch einen neuen Schlafanzug.«

»Okay, Charlie.«

»Ah, Charlie, Sie sind ein Fürst«, sagte ein zerbrechlicher lahmer Mann von siebzig Jahren oder mehr. »Ein Fürst unter den Männern. Ich schwöre bei Gott – ich schwöre bei Gott, Sie sind ein Heiliger, Charlie.«

»Mr. Foley, ich danke Ihnen für das Kompliment, aber ich habe die Zigaretten schon verteilt und weiß zufälligerweise, dass Sie eine bekommen haben, weil Sie versucht haben, zwei zu nehmen.«

»Ach, liebe Muttergottes, wie können Sie nur an Zigaretten denken? Ich brauche spirituelle Hilfe, Charlie. Spirituelle Hilfe.«

»Dafür bin ich nicht der Richtige. Warum setzen Sie sich nicht eine Weile hin? Ich muss mich noch um andere Leute kümmern. Sie, Sir, sind Sie einer der Neuen? Wie heißen Sie?«

»Wilder. John Wilder.«

»Haben Sie Ihre Stärkung genommen, Mr. Wilder?«

»Ja, ›Stärkung‹«, sagte der alte Mann. »Wissen Sie, was das ist? Es ist Formaldehyd.«

»Jetzt ist es genug, Mr. Foley, gehen Sie weiter.« Dann sagte er: »Es ist Paraldehyd, Mr. Wilder. Sie bekommen es dreimal am Tag, es ist sehr gut für Sie. Beruhigt Ihre Nerven.«

»Ich verstehe. Und sind Sie der Stationspfleger oder – oder was?«

»Ich bin eine männliche Krankenschwester. Es hat immer einer Dienst. Meine Schicht ist von acht bis fünf.«

»Aha. Also, hören Sie, es ist sehr wichtig, dass ich so bald wie möglich telefonieren ka – «

»Oh, nein, Mr. Wilder, Sie werden hier nicht telefonieren.«

»Also, wie schnell – ich meine, wann kann ich mit einem Arzt sprechen?«

Und da erfuhr er, dass die Psychiater erst am Dienstag wiederkämen, dass es durchaus Donnerstag werden könnte, bis sie mit ihm sprechen würden, und dass danach die Länge seines Aufenthalts von ihrer Entscheidung abhinge. »Deswegen schlage ich vor«, sagte Charlie, »dass Sie versuchen, es sich in der Zwischenzeit hier gemütlich zu machen.«

Er schlenderte träge davon, weitere Bittsteller im Schlepptau, und Wilder stand da und sah ihm eine scheinbar unerträglich lange Zeit nach. »Gemütlich«, sagte er, und dann ging er ihm plötzlich hinterher, lief, trat wieder in Schleim und war selbst überrascht, dass seine Stimme so schrill klang: »Gemütlich in dieser Scheißanstalt? Haben Sie komplett den Verstand verloren?«

Charlie wandte sich um, mit einem langen, warnend erhobenen Zeigefinger die plappernden Männer hoch überragend. »Mr. Wilder. Ich ermahne Sie jetzt, nicht zu schreien und sich zu beherrschen. Ich möchte es nicht noch einmal sagen müssen.«

Gelb und grün und braun und schwarz; schwarz und braun und grün und gelb. Die einzige Möglichkeit, die Geräusche und Gerüche auszublenden, bestand darin, sich auf die Farben zu konzentrieren und einen Fuß vor den anderen zu setzen. An der Latrine vorbei bis zu der Stelle, wo der Polizist saß, umkehren, am Speisesaal vorbei bis zum anderen Ende, umkehren. Ein kleiner Mann konnte sich unbemerkt in einer Menge wie dieser bewegen, wenn er den Mund hielt, den Blick nach vorn richtete und die Arme an den Körper presste, um niemanden zu streifen. Er konnte regelmäßig atmen und sich mit sich selbst beraten; er konnte sogar in Tränen ausbrechen, wenn er es lautlos tat, und niemand würde ihn bemerken.

Statt zu weinen, setzte er sich auf den einzigen freien Platz auf einer Bank im Flur, und eine braune Hand legte sich ihm auf den Oberschenkel.

»Es ist in Ordnung.«

»Was?«

»Es ist in Ordnung. Du kannst mich küssen, wenn du möchtest, aber nur wenn du zuerst ›Ich liebe dich‹ sagst.«

Er stand auf und setzte wieder einen Fuß vor den anderen, und er hatte drei Runden durch die Station gedreht, als er eine freie Matratze in der Nische am Ende fand. Sitzen war besser als Gehen, und Liegen war noch besser, auch wenn er dabei tief in dem Geruch nach Schweiß und stinkenden Füßen versank. Er wand sich und brach mit dem Gesicht nach unten zusammen – zum Teufel mit allem –, und er schlief sogar eine Weile oder glaubte es zumindest, bis er die Augen öffnete und sah, dass die Männer, die neben ihm lagen, masturbierten.