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Die Überfälle des wiedererwachten Voodoo-Priesters Comte Badawi und seines Gefolges liegen noch nicht lange zurück. Berlin erholt sich nur allmählich von dem Schock. Zwar wurde der Seelenbinder unschädlich gemacht, doch bei allen, die mit ihm in Berührung kamen, sind Narben geblieben. Das gilt auch für Lilo. Mit anderen jungen Leuten wurde sie in die Villa des Seelenbinders gebracht. Doch sie ist die Einzige, die von einer mysteriösen Hexe in ein tieferes Verlies verschleppt und tätowiert wurde. Monate danach besucht sie mit Freunden eine Halloweenparty. Dort verursacht sie eine Katastrophe, als ihr Stirn-Tattoo aktiviert wird. Unter den Gästen befindet sich auch Tawë, ein Angehöriger der Voodoo-Gemeinschaft und Dämonenjäger des Nyang. Die sich überschlagenden Ereignisse führen die beiden zusammen. Womit er nicht rechnet ist, dass er sich bald einer weitaus gefährlicheren Herausforderung stellen muss als der Werwolf Jagd. Denn fern der Heimat ist die Kraft der Vulkane unerreichbar für ihn und nicht nur die Kälte Berlins kriecht ihm unter die Haut. Allmählich begreifen die beiden, dass sich nicht nur die Geister aus der Welt des Voodoo über Berlin austoben, sondern auch germanische Götter. Alles deutet auf einen Machtkampf in den Geistwelten hin. Die Frage ist, ob Lilo und Tawë zum Spielball der übernatürlichen Akteure werden oder ob sie ihr Schicksal in die Hand nehmen. Runenhexe ist der zweite Band in der offenen Urban‑Fantasy‑Reihe über Berlin. Der Roman baut auf dem ersten Band, dem Seelenbinder auf, kann aber auch unabhängig davon gelesen werden.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Runenhexe
Ein
Urban Fantasy Roman
von
FE Boulaich
Titelseite
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Epilog
Danksagung
Über die Autorin
Weitere Titel
1. Auflage 2022, © FE Boulaich
FE Boulaich, Quellweg 20, 13629 Berlin
Verlagslabel: Urban Fiction Berlin
ISBN 978-3-910523-01-2
Lektorat: Carolin Olivares
Coverdesign: Jaqueline Kropmanns - Design
E-Book-Erstellung: FE Boulaich | Urban Fiction Berlin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
»All den wilden Herzen da draußen!«
Der Vollmond war bereits untergegangen und die Kerzen brannten nicht mehr. Nur die Sterne glitzerten kalt am dunklen Nachthimmel. Ihr kristallenes Leuchten brach sich in den riesigen Glasfenstern des viktorianischen Wintergartens. Zwischen den Bananenstauden und den Palmen in ihren Pflanztrögen hingen Käfige. Weder die Affen, noch die Papageien gaben einen Laut von sich. Der Zigarrenqualm und die exotischen Düfte von sanfter Vanille und honigsüßem Ylang Ylang hatten sich bereits vor Stunden in der Sommernacht verloren.
Zwischen den umgestoßenen Bistrotischen und den Glasscherben bäumte Marie sich keuchend auf, als der erste Atemzug seit Stunden ihre Lungen füllte und ihr geheiltes Herz wieder zu schlagen begann. Der Schmerz des Todes pulsierte noch durch ihre wiedererweckten Muskeln. Sie war zurück. Sie hatte gesehen, was nach dem Sterben kam, aber ihr Geliebter hatte nicht zugelassen, dass sie dortblieb.
»Badawi?«, flüsterte sie in die Stille des Raums. Ihr Hals schmerzte. Mit zitternder Hand berührte sie ihre Kehle, aber da war nichts. Sie hatte einen tiefen Schnitt erwartet. Warum nur? Wie lange lag sie schon hier?
Sie blickte sich um. Die dunklen Flecken auf dem Boden waren in der Finsternis kaum zu erkennen. Dann sah sie an sich hinunter. Über ihrem Herzen befand sich eine frische Narbe, die sich wund anfühlte. Jede Faser ihres Körpers schmerzte. Die Kälte des Bodens klammerte sich an ihren starren Leib. Ihre Füße und Hände kribbelten, als das Blut in sie hineinströmte. Ihre Haut war blass und schimmerte bläulich. Sie konnte die Adern deutlich erkennen. Irgendwie überraschte sie das. War sie kein Geist?
Langsam stand sie auf und fand ihr Gleichgewicht. Sie strich ihren gemusterten Rock glatt und überlegte, woran sie sich erinnerte. Da war nur sein Gesicht. Der Horror über ihren Tod stand in seinen Augen. Hatte er geweint? Sie meinte, sein Schluchzen gehört zu haben. Wieder untersuchten ihre klammen Finger ihren Hals. Kein Schnitt. Aber da war diese Narbe auf ihrem Brustkorb. Dann erinnerte sie sich. Wilhelmina, ihre Schwester, hatte ihr mit einer Scherbe das Herz zerrissen. Marie schluckte die bittere Erkenntnis hinunter, ihr Magen krampfte. Ein unbändiger hohler Hunger klaffte in ihrem Körper wie ein Abgrund und verdrängte jede weitere Erinnerung.
Sie fand Schüsseln mit Obst, Bratkartoffeln, Gemüse und Gulasch im hinteren Teil des Wintergartens. Das Geschirr klirrte in die Stille hinein, als sie aus jeder Schüssel etwas nahm. Sie tauchte ihre Finger in die Soßen und probierte. Ein Feuerwerk an Geschmack entfaltete sich in ihrem Mund. Leider war alles kalt und sie wusste nicht, wie lange es schon hier stand. Doch selbst die toten Fliegen spielten gerade keine Rolle, denn sie starb geradezu vor Hunger. Und da wurde ihr klar, dass sie kein Geist war.
Also griff sie nach der erstbesten Gabel, fischte die Insekten aus dem Gulasch und aß gierig. Ungeachtet jeder Etikette verschlang sie alles, was ihr zwischen die Finger kam. Das Essen spülte sie mit schalem Champagner direkt aus der offenen Flasche hinunter. Nach ihrem wilden Mahl musste sie aufstoßen und ihr wurde übel.
Marie sackte zurück auf den Boden und hielt sich den Bauch. Er drohte zu platzen, aber sie wollte das Essen nicht wieder hochwürgen. Ihre zerzausten Haare fielen ihr ins Gesicht. Sie schienen so wirr wie ihr Verstand. Als es kälter wurde und der Krampf in ihrem Bauch es zuließ, schlang sie ihre nackten Arme um die Beine und wog sich sanft vor und zurück.
Es war ein so schöner Abend gewesen. Sie hatten getanzt. Warum habt ihr mich getötet? Sie drückte ihre Augen auf die Knie. Tränen rollten nass ihre Oberschenkel hinunter. Warum hast du das zugelassen, mein Liebster? Ihre hemmungslosen Schluchzer zerrissen die Totenstille der Halle. Dann erbrach sie sich.
Marie wusste nicht, wie viele Stunden sie auf dem Boden des Wintergartens verbracht hatte, bevor sie wieder aufstehen konnte. Die Morgendämmerung setzte ein, der Garten erwachte zum Leben. Der Geruch des Erbrochenen verätzte ihr vehement die Nase und trieb sie endgültig vom Boden hoch. Immer noch hoffte sie, dass jemand sie finden würde. Die ersten Vögel begannen zu singen. Die Äffchen in den Käfigen, die unter dem Dach hingen, streckten ihr die Ärmchen durch die Gitter entgegen und machten bettelnde Laute. Wahrscheinlich hatten sie Hunger. Doch Marie konnte sich jetzt nicht um die Tiere kümmern. Sie musste herausfinden, was geschehen war und wohin alle verschwunden sein könnten. Warum nur kam ihr niemand zu Hilfe?
Langsam wanderte sie durch die verlassenen Räume. Ein Samtband, an dem der Mottenanhänger ihrer Schwester hing, war um die Türklinke zu seinem Arbeitszimmer gewickelt. Merkwürdigerweise konnte sie die Doppeltüren nicht öffnen, gleichgültig, wie sehr sie daran rüttelte. Badawi, ihr Geliebter, schloss diese Tür nie ab. Als sie das Ohr an das Holz legte und lauschte, meinte sie, Geräusche zu hören.
»Hallo! Ist jemand da drin?«, rief sie. Keine Antwort - stattdessen ein Kratzen auf der Innenseite. Erschrocken wich sie zurück. Wer war dort eingesperrt? Sie erschauderte und lief hinaus in den Garten. Auf der Rückseite des Hauses befand sich ein Fenster zu dem Zimmer.
Enttäuscht stellte sie fest, dass die Vorhänge zugezogen waren. Vor dem Fenster blühten weißer Lavendel, Salbei und dicht gefüllte karminrote Strauchrosen. Die Dornen hielten sie davon ab, näher heranzugehen, um gegen die Scheibe zu klopfen. Also warf sie Steinchen, aber niemand reagierte. Sie war allein. Angst höhlte ihr Herz aus.
Irgendjemand musste ihr helfen. Sie eilte zurück ums Haus und nahm dann den gepflasterten Weg Richtung Gartentor. Die Umgebung verschwamm vor ihren Augen, ihr wurde schwindelig. Sie sollte nicht rennen, sie war noch zu schwach. War der Weg länger geworden? Marie wurde langsamer, ging aber immer weiter. Für einen Moment schloss sie die Augen. Als sie sie wieder öffnete, lief sie auf die Haustür zu. Wie war das möglich? Sie versuchte es ein weiteres Mal und danach noch einmal. Immer passierte dasselbe. Ihr wurde schwindelig und jedes Mal, wenn der Schwindel nachließ, stand sie vor ihrer Haustür oder irgendwo im Garten. Es war ihr nicht möglich, zum Gartentor zu gelangen.
Eine Welle von Panik überkam sie und ließ sie zitternd zurück. Sie war allein und gefangen. Irgendjemand hatte sie auf geheimnisvolle Art und Weise eingesperrt. Aber warum? War sie etwa doch tot und dies alles war nur eine andere Hölle als das Schlachtfeld, dem sie entkommen war? Ein verzweifelter Schrei entrang sich ihrer Kehle. Dann brach sie weinend zusammen, bis sie wimmernd am Boden lag und in den Himmel starrte. Eine Taube flatterte in die Eiche hinter ihr und landete plump. Dann gurrte sie in ihrem eigenen Takt.
Telefon! Das Wandtelefon! Sie würde Hilfe rufen. Schnell war sie wieder auf den Beinen und rannte zurück ins Haus. Mit zitternder Hand nahm sie den schwarzen Ohrschmuck von der Gabel aus Messing und redete deutlich in das Mundstück. »Hallo, Fräulein?«
»Guten Morgen, mit wem kann ich Sie verbinden?«
Eine Welle der Erleichterung schwappte in ihr Herz. Etwas in ihr löste sich, sie lächelte unwillkürlich. Nie hatte sie die Stimme eines anderen Menschen so sehr ersehnt. »Bitte, schicken Sie die Polizei. Ich bin in meinem Haus gefangen.«
»Einen Moment, ich verbinde Sie sofort«, erwiderte die Dame am anderen Ende der Leitung.
Es funktionierte. Sie war gerettet. Nach ihrem Anruf setzte sie sich auf die Stufen vor der Eingangstür und wartete. Dort saß sie, bis die Sonne hoch am Himmel stand. Niemand kam. Wie lange brauchte die Polizei normalerweise für so einen Einsatz? War ihnen die Dringlichkeit nicht bewusst? Schließlich ging sie zurück zum Telefon und ließ sich wieder mit der Polizei verbinden.
»Ich habe vor Stunden angerufen«, empörte sie sich. »Wann kommen Sie vorbei und …?«
»Sie schon wieder, Fräulein Unruhestifter!«, fiel ihr der Beamte ins Wort. »Es ist eine Straftat, falsche Notrufe abzusetzen. Wissen Sie das? Wenn wir Sie erwischen, können Sie mit einer Anzeige rechnen!«
Es verschlug ihr die Sprache. »Aber was reden Sie denn da. Ich bin in meinem Haus und komme nicht raus«, stieß sie hervor. Dann verfiel sie in einen bettelnden Ton: »Sie müssen mir helfen! Bitte, ich flehe Sie an!«
Am anderen Ende atmete der Mann tief ein und aus. »Sie geben nicht auf, was? Wir haben keine Zeit für solche Faxen. Wir waren an der genannten Adresse. Dort befindet sich kein Haus, nur ein verwildertes Waldgrundstück. Finden Sie es lustig, die Polizei derart in die Irre zu führen?«
Jetzt musste sie schlucken. »Sie finden das Haus nicht? Aber … aber …«, stotterte sie.
»Da fällt Ihnen nichts mehr ein, was? Treiben sie Ihre Späße lieber mit jemand anderem.« Damit legte der Polizist auf.
Marie hängte den Hörer zurück an den Telefonautomaten. Wie betäubt nahm sie ihre Umgebung nur stumpf wahr. Sie finden das Haus nicht, kreiste es in ihrem Kopf. Wen sonst als die Polizei könnte sie anrufen? Sie kannte niemanden, der ein Telefon besaß. Außerdem wussten ihre Familie und ihre Freunde nicht, dass sie und ihre Schwester Badawi begegnet waren und nun in seinem Haus wohnten. Ihre Eltern hätten das nicht gebilligt. Daher hatten sie niemanden aus ihrem alten Leben eingeweiht. Das hatte Minna so gewollt.
Sie zermarterte sich das Gehirn, wen sie um Himmels Willen anrufen könnte. Eine beängstigende Gewissheit schlich sich in ihr Herz. Das erste Mal in ihrem Leben hatte sie niemanden. Weder ihre Eltern noch einen Liebhaber - sie schluckte schwer - oder ihre Schwester. Minna hatte sie im Stich gelassen. Ihre Knie wurden weich. Es gab keinen, der das hier für sie regeln würde. Sie war auf sich allein gestellt.
Eine leichte Brise wirbelte Staub auf. Der ausgetrocknete Feldweg führte zwischen Trümmern und tropischer Vegetation entlang. Hier, in der Nähe des Dorfes Layon Fon, das fernab aller Touristenpfade lag, hatten Tawë und sein Lehrer eine Übernachtungsmöglichkeit gefunden. Die Tagestemperatur an diesem Nachmittag im Département-Sud der Insel Haiti betrug angenehme siebenundzwanzig Grad Celsius.
»Madame, was haben Sie gesehen?« Odion Asante-Dembélé stand vor den Trümmern eines Hauses aus unverputztem Backstein und Wellblech. Er sprach ruhig ein auf die Frau mit dem bunten Kopftuch, die stoisch in den Überresten ihrer Hütte nach etwas Brauchbarem suchte.
Tawë wartete direkt hinter ihm und hörte zu, wie sein Lehrer geduldig versuchte, von der Frau Informationen über den Je-Rouges zu bekommen. Der gepflegte Bart des über Fünfzigjährigen war bereits weiß, wie sein akkurat getrimmtes Haupthaar. Sein helles Haar stand im Kontrast zu der dunkelbraunen Haut. In dem eng anliegenden khakifarbenen Louis-Vuitton-Hemd und der dazu passenden luftigen Hose wirkte er in all der Zerstörung und dem Staub fehl am Platz. Sein Lehrer machte einen ebenso eleganten wie vertrauenswürdigen Eindruck, aber Tawë kannte auch seine kaltblütige Seite. Trotz seines Alters war Odion gut trainiert, man sah es an seiner selbstsicheren Körperhaltung.
Seit seinem neunten Lebensjahr bildete Odion ihn zu einem Dämonenjäger des Nyang, dem Geheimbund des Königs von Punt, einem Königreich in Kamerun, aus. Tawë hatte das erbarmungslose Wesen seines Lehrers schnell fürchten gelernt.
Aufgabe der Nyang war es, durch die Welt zu reisen und besondere Zutaten für den magischen Markt zu besorgen. Odion ging es um die Magie und den Ruhm, aber Tawë mochte den Gedanken, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und was war geeigneter, als Dämonen zu jagen und zu vernichten? Wenn Odion dann noch Teile von denen zu Geld machen konnte, war ihm das nur recht. Sein Lehrer betonte außerdem immer wieder, dass es auch darum ging, das Erbe des Königreichs, nämlich das Wissen um magische Wesen und ihre Bekämpfung, zu bewahren.
»Madame, wo ist Ihr Sohn Patrice?«, versuchte es Odion erneut.
Sie stützte ihre Hände auf die Hüften und schaute eine Weile zum Himmel. Dann blickte sie ihn endlich an. »Patrice ist fort und es ist meine Schuld, dass er meinen Sohn geholt hat.«
Nach ihrem Geständnis sackte sie wieder in sich zusammen und stocherte weiter in den Trümmern ihres Hauses. Tawë meinte, sie seufzen zu hören.
»Wir kommen hier nicht weiter«, murmelte Tawë. Zwar wusste er, dass er sich mit solchen Kommentaren zurückhalten sollte und dass Odion in den meisten Fällen durch Geduld und wenn nötig mit Gewalt seinen Willen bekam, aber langsam wurde er dieser Befragung überdrüssig.
Sein Einwand lief ins Leere. Odion bedeutete ihm mit einer Geste, sich zu gedulden. Dann drehte er sich wieder zu der Frau, die sich am anderen Ende des Trümmerhaufens hingesetzt hatte. »Wir sind hier, um zu helfen. Wenn wir schnell sind, werden Sie Ihren Sohn bald wieder in den Armen halten«, rief er ihr zu.
Tränen sammelten sich in den vom Staub rot geäderten Augen der Frau. Feucht schimmerte es über ihren Lippen. Sie holte ein Foto aus ihrer Schürze und hielt es Odion hin. Darauf war ein freundlich grinsender Knabe abgebildet, der vor dem unbeschädigten Haus stand. Mit einer hilflosen Geste rieb sie sich über das Gesicht.
»Der Dämon sah aus wie Jonel, mein Nachbar. Ich sah, wie Patrice zu ihm gelaufen ist. Er trug nur einen Schuh, den anderen habe ich gerade aus den Trümmern geborgen.« Sie griff neben sich und zeigte Odion den abgenutzten Kinderschuh. »Ein Truck startete. Als ich mich nach Patrice umsah, waren beide fort. Das Auto fuhr weg. Mein Nachbar sagt, dass er nichts damit zu tun hat. Er wäre die ganze Zeit bei seiner Schwägerin gewesen.« Sie kniff die Augen zusammen, hielt sich die Hand vor den Mund, schüttelte fassungslos den Kopf. Dann gestand sie endlich, was sie vermutete: »Es war ein böser Geist, Monsieur, ein Je-Rouges mit dem Gesicht meines Nachbarn. Ich habe mein Kind einem Dämon überlassen.« Mit zittriger Hand rieb sie ihre müden Augen.
»Madame, wir werden den Je-Rouges finden und töten. Deshalb sind wir hergekommen. Können Sie sich erinnern, was für ein Auto es war? Oder in welche Richtung sie gefahren sind?«
Seufzend schüttelte sie den Kopf. »Nein, Monsieur, ich weiß nur, dass es ein ziemlich verrosteter Pick-up-Truck war. Sie sind die Straße hinuntergefahren und zwischen den Trümmern verschwunden. Ich konnte sie nicht einholen, war wie erstarrt. Ich habe mein Kind einem Dämon überlassen.« Am ganzen Körper zitternd schluchzte sie leise in ihr staubiges Kleid.
Tawë sah ihr die Erschöpfung an. »Wir werden tun, was wir können, um ihren Sohn zurückzuholen«, stieß er hervor.
Sofort spürte er Odions mahnenden Blick auf sich ruhen. Dann ließen sie die Mutter mit ihrer Verzweiflung allein zurück. Mit ein paar Schritten Abstand folgte er Odion die Straße hinunter.
»Du darfst ihr keine Versprechen geben. Versprechen bedeuten immer eine Schuld, Tawë.«
»Sie tut mir leid, ich wollte ihr helfen. Außerdem habe ich auch nur versprochen, dass wir tun, was wir können.« Er fuhr sich mit den Fingern entlang seiner Haarlinie. Obwohl die kurz geflochtenen Zöpfe verhinderten, dass sich seine Haare verlegten, hatte er sich diese kontrollierende Geste angewöhnt.
»Mit deinem Versprechen schenkst du nur falsche Hoffnung. Der Junge ist seit drei Tagen vermisst. Der Je-Rouges wird ihn schon längst ermordet haben. Alles, was wir tun können, ist …«
»… ihn zu rächen«, beendete Tawë den Satz und erntete ein Kopfschütteln.
»Nein, alles was wir tun können, ist, zu verhindern, dass noch ein Vater und eine Mutter ihr Kind an einen Werwolf verlieren.«
Das hörte sich für Tawë nach keinem großen Unterschied an. »Wie ist der Plan?«
Odion antwortete ihm nicht, sondern ging schweigend weiter zu ihrem gemieteten SUV. Dort angekommen öffnete er die Heckklappe und verstaute den Kinderschuh in einer der Taschen im Kofferraum. Tawë setzte sich hinter das Steuer. In dieser abgelegenen Berggegend ließ Odion ihn zur Übung fahren. Vorsichtig startete er den Wagen und fuhr langsam über die frei geräumte Schotterstraße in die Richtung, in die Patrices Mutter gewiesen hatte. Links und rechts von ihnen war die Zerstörung, die der letzte Hurrikan vor einer Woche angerichtet hatte, überall zu sehen. Das hier war der perfekte Jagdgrund für einen Werwolf und die perfekte Trainingsstrecke für einen Fahranfänger.
»Tawë, weißt du noch, was ich dir über die Je-Rouges erzählt habe?« Odion zog den Kragen seines Hemdes zurecht.
Sicher will er wissen, wie man den dämonischen Werwolf tötet, mutmaßte Tawë und erwiderte: »Ein Je-Rouges kann nur durch pures Eisen verletzt werden.«
»Das gilt dann, wenn er in Wolfsform ist. Aber du hast die Frau gehört. Dieser hat die Gestalt ihres Nachbarn angenommen. Er ist gerissen und böse. Es ist ihm wichtig, dass die Mutter leidet. Sie hat ihm ihr Kind überlassen. Alles ist ihre Schuld.«
Tawë nickte nur. Der Je-Rouges war ein Gestaltwandler, der Katastrophen nutzten, um den Überlebenden noch mehr Leid zu bringen und im allgemeinen Chaos oft davonkamen. Odion und er waren hier, um dem Treiben dieses Je-Rouges ein Ende zu bereiten.
Der Weg führte in die Berge und in die Gegend des Nationalparks mit den Palmen und Farnen der Nebelwälder, die einst die gesamte Insel bedeckt hatten. Er jagte über die Schotterstraße. Hinter einer Kurve endete sie abrupt vor einem Loch. Obwohl er sofort bremste, rutschte der Wagen weiter. Er lenkte stark nach links und zog die Handbremse. Das Auto drehte sich zur Seite und kam schlitternd quer vor der Abbruchkante zum Stehen.
Odion schaute erst die Abbruchkante vor seinem Fenster hinunter, dann mit einer hochgezogenen Augenbraue zu Tawë und meinte: »Hier steigen wir wohl aus.«
»Okay.« Er legte den Rückwärtsgang ein, um das Auto von der Kante weg zu manövrieren, damit Odion aussteigen konnte, aber der stoppte ihn.
»Nein, ich denke, ich klettere zu deiner Seite rüber und du bist heute fertig mit Fahren.«
Gerade hatte es so viel Spaß gemacht. »Wir könnten auch zurückfahren. Vielleicht haben wir eine Abfahrt übersehen?«
»Haben wir nicht. Während du versucht hast, uns umzubringen, habe ich auf die Umgebung geachtet.«
Der Vorwurf in Odions Stimme ließ ihn kalt. Er hatte den Wagen doch im Griff und rechtzeitig gebremst. Etwas enttäuscht von dem fehlenden Vertrauen in seine Fahrkünste stieg er aus und ließ seinen Lehrer aus dem Wagen klettern. Dann suchten sie die Umgebung nach Reifenspuren ab.
»Die Straße wurde wahrscheinlich beim Sturm unterspült. Erdrutsche sind hier häufig. Der halbe Urwald ist schon fortgespült«, sagte Odion.
»Aha«, gab sich Tawë interessiert, während er in die Ferne blickte, wo sich das tiefblaue Karibische Meer bis zum Horizont ausdehnte. Aufgeregtes Flattern hinter ihm erregte seine Aufmerksamkeit. Zwei Vögel stritten in den Baumwipfeln. Anders als bei den zerstörten Häusern wuchs hier dichter Urwald mit hohen Bäumen, Orchideen und Farnen.
Vogelgesang und hohes, scharfes Pfeifen waren zu hören. Tawë sah einen der schrillen Sänger. Es war eine violett schimmernde Amphibie mit blauen Augen - ein Räuberfrosch. Das Tier klebte an einem der moosbewachsenen Steine neben der Straße und ließ seinen insektenartigen Ruf ertönen. Als es Tawës Anwesenheit bemerkte, wurde es still. Dann verkroch der Frosch sich zwischen den Steinen. Irgendwo im Dickicht plätscherte Wasser. Die Luft war schwer und warm. Es roch nach feuchter Erde und Holz. Nichts wies auf die Anwesenheit einer übernatürlichen Kreatur hin.
»Hier sind gebrochene Äste«, rief er.
Odion blickte von der anderen Straßenseite zu ihm hinüber.
Er untersuchte das gesplitterte Holz mit den Fingern. Grobkörniger roter Abrieb blieb auf seinem Daumen kleben. »Da ist Rost dran. Er muss mit dem Auto den Abhang hinunter gefahren sein.
»Nein«, erwiderte Odion bestimmt.
Er warf seinem Lehrer einen fragenden Blick zu. Der stand über der Fahrbahnabsenkung, drückte einen Strauch beiseite und sagte: »Hier sind Fußspuren. Er ist weiter den Berg hinauf.«
»Sollen wir das Auto suchen?«, erwiderte Tawë. Natürlich hoffte er, den Jungen nicht tot vorzufinden, denn er wollte der Frau ihr Kind lebendig zurückzubringen.
»Nein, wir suchen einen Platz, um den Je-Rouges zu rufen.« Odion ging zurück zu ihrem Mietwagen. Dort wechselte er sein Hemd gegen ein schwarzes Funktions-T-Shirt, wie Tawë eines trug, und legte seine Weste an. Dann nahm er eine der Taschen vorsichtig aus dem Kofferraum.
Tawë trat zu ihm, öffnete den Rucksack mit den Waffen und legte das Halfter an. Dann verstaute er seine Beretta im Holster an seinem Oberkörper - nur für den Fall, dass das Monster auf sie warten würde. Als Nächstes nahm er den Rucksack und schulterte den Ring aus reinem Eisen. Odion legte sein Messer bei einer Jagd nie ab.
Sie folgten der Spur mehrere hundert Meter bergauf durch das Dschungelgestrüpp, bis sie sich auf einer kleinen Lichtung verlor. Wohin hatte der Je-Rouges das Kind verschleppt? Es dämmerte. Er wusste, dass die Nacht schneller kam, je näher sie dem Äquator waren, weil die Sonne hier beinahe senkrecht unterging und Haiti lag nur einen Breitengrad höher als seine Heimat Kamerun. Er schätzte, dass in knapp zwanzig Minuten die ersten Sterne am Nachthimmel leuchten würden. Sie mussten sich beeilen, denn die geschärften Sinne des Wolfsdämons waren schon bei Tageslicht den ihren überlegen.
Odion stellte seine Tasche auf den Boden. »Der Ort ist gut geeignet, um ihn herauszufordern.«
»Und der Junge? Wird er gezwungen sein, ihn mitzubringen?«
»Geh nicht davon aus, ihn retten zu können, Tawë. Wir sorgen dafür, dass der Dämon kein Kind mehr holen kann. Nur das ist sicher.«
Ich will ihn aber retten, ging es Tawë dennoch durch den Kopf, während er seine von der Last befreiten Schultern lockerte. Er verstand nicht, warum Odion so darauf erpicht war, ihm klarzumachen, dass der Junge nicht zu retten sei. Genau das war doch ein guter Grund, wenn nicht gar der beste, sich in solch eine Gefahr zu begeben - das Monster aufhalten und das Kind retten. Aber Odion lebte schon immer nach seinen eigenen Grundsätzen und er war nicht in der Position, ihn hinterfragen zu dürfen.
Odion öffnete den Reißverschluss der gepolsterten Tasche und holte eine Batá-Trommel in Form einer Sanduhr daraus hervor. Rundherum war sie mit kunstvollen Zeichen versehen. »Die Magie, um den Je-Rouges zu uns zu zwingen, liegt in den Symbolen deiner Vorfahren«, erklärte er knapp.
In Tawës Rucksack befand sich weitere Ausrüstung. Er holte die Kiste mit der Armbrust hervor und setzte sie mit eingeübten Handgriffen schnell zusammen. Zum Schluss legte er einen der sechs Bolzen mit Spitzen aus purem Eisen in den Lauf und steckte sich die fünf anderen in den Gürtel. »Die Armbrust ist bereit.«
»Gib mir den Ring und halte dich im Hintergrund.« Odion deutete in die Richtung, aus der sie die Lichtung betreten hatten. »Ich werde ihn rufen und mit dem Ring festhalten. Du bist der Hinterhalt. Gut?« Odion schaute ihn ernst an.
Tawë nickte. »Gut.« Es war nicht seine erste Jagd. Sein Lehrer sollte wissen, dass er nicht zögern würde, das Monster zu töten.
Ein Lächeln huschte über Odions Gesicht, bevor er wieder ernst wurde. »Unterschätze deinen Gegner nicht.« Damit legte er den Ring griffbereit vor sich und begann, auf der Trommel zu spielen. Seine Hand schlug rhythmisch kurz und federnd aufs Fell, sodass ein runder, voller Klang entstand. Die tiefen Basstöne hallten stet und durchdringend wie ein Ruf in den Wald. Dann begann Odion, in der Sprache der Initiierten zu singen.
Während sein Lehrer sich auf den Ruf konzentrierte, zog Tawë sich mit den Taschen an den Rand der Lichtung zurück. Die Magie war in die Trommel eingelassen, aber es bedurfte des Willens des Spielers, um sie zu aktivieren. Ein Wille und ein Opfer, das in Blut gezahlt worden war, so band man Magie an Gegenstände. Die Trommel war wie eine Mantra-Maschine, deren Schwingungen mit Tawë interagierten, und er fühlte die Veränderung, die sie hervorriefen. Die Trommelmusik gab den Geräuschen des Dschungels um sie herum einen Rhythmus.
Er musste aufpassen, dass seine Wachsamkeit nicht schwand. Der Werwolf war zwar gezwungen, dem Ruf der Trommel zu folgen, aber er war in keiner Weise an den Trommler gebunden. Ihr Ruf würde den Je-Rouges in Rage bringen und mit wütenden Werwölfen war nicht zu spaßen. Odion machte sich zum Ziel dieser Wut und Tawë beneidete ihn nicht darum. Aber wenn es sein müsste, würde er ohne Zögern an Odions Stelle treten. Dann hörte er das zornige Aufheulen des Dämons tiefer im Urwald und realisierte, dass der Junge jetzt in noch größerer Gefahr sein musste. Hatte Odion das bedacht? Wenn ja, nahm er es in Kauf. Aber Tawë konnte das nicht. Er konnte nicht herumsitzen und auf das Monster warten.
Kurz entschlossen legte er seine Armbrust auf den Boden und nahm aus der Seitentasche eine Dose mit schwarzer Ölfarbe, die Odion regelmäßig zubereitete. Für ihn wurde es Zeit, seine Magie ins Spiel zu bringen. Da sie ihm nicht unbegrenzt zur Verfügung stand, musste er sie genau timen. Und dem wütenden Schrei nach zu urteilen, war es bald so weit. Mit geübter Hand zeichnete er sich Striche und Punkte über die Augen, entlang der Nase und über die Kinnlinie. Diese magischen Symbole waren ebenfalls ein Erbe seiner Vorfahren. Bereits bei ihrer Ankunft auf Haiti hatten sie den Geistern der Insel ihre Aufwartung gemacht. Jetzt sollte er in der Lage sein, sie um Kraft zu bitten.
Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Kontakt seiner Füße mit der fruchtbaren Erde, auf der er stand. Dann schickte er in Gedanken Wurzeln hinab, die immer tiefer in den haitianischen Boden sanken. Er suchte nach etwas, das Energie zu ihm hinaufschicken wollte. Die Wurzeln wuchsen tiefer und tiefer in die Dunkelheit, bis sie auf etwas trafen. Eine fast ausgekühlte Magmakammer, die einst die Vulkane der Insel gespeist hatte. Ihr Inneres loderte noch heiß. Als seine Wurzeln in die Kammer hineinrankten, brannte die Energie entlang der Wurzelkanäle zurück nach oben bis in seine Füße, seine Beine hinauf und durch sein Rückgrat. Auf diese Weise wurden die magischen Zeichen belebt. Die Symbole schmolzen in seine Haut. Zurück im Hier und Jetzt spürte er die Veränderung sofort. Seine Sinne waren geschärft; heiße Energie loderte durch seine Muskeln, bereit auszubrechen.
Odion spielte die Trommel in einem neuen Rhythmus und er erkannte, dass die Macht der Symbole auf der Trommel durch die Vibration in den Wald getragen wurde. Er zog seine Beretta aus dem Holster in den Anschlag. Im Gegensatz zu der Armbrust hatte die Pistole ein Siebzehn-Schuss-Magazin. Das würde er sicher brauchen. Dann rannte er los. Der wütende Schrei wies ihm den Weg. Die Armbrust ließ er zurück.
In der Dämmerung verblassten rasch alle Farben um ihn herum. Als das Zwielicht der untergehenden Sonne vollends gewichen war, stellten sich seine Augen auf die zunehmende Dunkelheit im Wald ein. Dank der Symbole konnte er besser sehen und schneller laufen. Sogar die Fährte, die der Je-Rouges auf seinem Weg hinterlassen hatte, konnte er wahrnehmen. Als der Geruch sich intensivierte, wurde er langsamer und lauschte. Der Lauf durch die Finsternis hatte ihn kaum ermüdet, vielmehr schrie sein Körper nach mehr. Hinter einem umgestürzten Baum erkannte er eine Silhouette. Etwas hockte auf dem Boden und schien sich vor Schmerzen zu krümmen. Langsam schlich er näher.
Die schattenhafte menschenähnliche Gestalt wirkte größer als ein durchschnittlicher Mensch und war stark abgemagert. Sie war in Lumpen gehüllt, trug einen breitkrempigen, ramponierten Strohhut und atmete schwer, schien zu zittern. Dank seiner geschärften Sinne erkannte Tawë, dass sich die sandgraue Haut der Gestalt kräuselte. Doch es war keine Gänsehaut. Dem Mann wuchsen struppige Haare. Es sah so aus, als würde er sich gegen die erzwungene Verwandlung stemmen.
Wo war der Junge? Tawë zog Luft in die Nase und überlegte, was er noch außer dem Geruch des Werwolfs wahrnahm. Blut - und Angst. Da er frische Angst roch, musste der Junge noch leben. Entschlossen, Patrice seiner Mutter zurückzubringen, jagte er, die Pistole im Anschlag, auf die Gestalt zu. Seine Bewegungen waren so flüssig wie die einer Raubkatze auf der Pirsch. Ohne Mühe überwand er die letzten Meter bis zu der Baumwurzel, von der er sich abstieß, zielte und schoss.
Der laute Knall zerriss den Rhythmus der Trommel. Die leere Hülse flog zur Seite. Mit einem bestialischen Schrei sprang das Monster auf und drehte sich zu ihm um. Es war getroffen! Die großen roten Augen brannten vor Hass. Tawë war sicher gelandet, rollte über seine Schulter ab, kam ohne Mühe wieder auf die Beine.
Da sah er den Jungen. Er kauerte unweit der Stelle, wo gerade noch der Werwolf gehockt hatte. Tawës Waffe war bereit für den nächsten Schuss, aber er konnte nicht wild um sich ballern. Er könnte das Kind treffen. Angst überfiel ihn. War er zu spät gekommen? Magmagespeiste Wut loderte durch seinen Körper. Das Monster stürzte auf ihn zu. Ihm blieb keine Wahl, also schoss er. Das Feuer aus dem Lauf erhellte die Fratze des Werwolfs, als ihn der Schuss etwa einen Meter vor Tawë zurückstieß. Das Monster jaulte. Der untere Teil seines schmalen skelettartigen Gesichts war in schmutzige Verbände gewickelt. Unterhalb der Bandagen blitzten Zähne im offenen Maul. Tawë fühlte heißen Atem auf seinen Armen, als der Werwolf sich erneut auf ihn stürzte. Die Gerüche von Blut und Tier mischten sich in der warmen Luft.
Der halbe Oberarm fehlte dem Monster, doch es war in Rage. Zweimal getroffen, bewegte sich der Je-Rouges mit taumelnden Schritten auf ihn zu. Die Wunden schlossen sich bereits wieder. Bevor er erneut schießen konnte, drehte sich der Je-Rouges zu den Trommeln und brüllte seinen Zorn in die haitianische Nacht hinaus. Die Trommeln zwangen ihn zu sich, aber der Werwolf weigerte sich, zu gehorchen. Tawë zielte auf den Kopf und schoss wieder. Der Je-Rouges zuckte zurück. Endlich ergab er sich dem Ruf, hetzte in den Wald in die Richtung, aus der ihn die Trommeln riefen, zurück zu Odion auf die Lichtung. Odion - das wusste Tawë - war der Trance der Trommel verfallen und schlug sie ungeachtet der Schüsse weiter.
Ihm blieb nicht viel Zeit. Wenn er nicht rechtzeitig zurück war, würde ihn sein Lehrer gehörig abstrafen und das wollte er möglichst vermeiden. Er atmete gegen das Adrenalin, das durch seine Adern rauschte, und bremste sich, um dem Monster nicht sofort hinterherzulaufen. Stattdessen sah er sich um. Erst jetzt fiel sein Blick auf Patrice. Der Junge lag am Boden und starrte ihn aus weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen an. Dabei hielt er sich den Bauch. Das Kind war sehr dünn und blass und es zitterte.
»Ganz ruhig. Ich werde dir nicht wehtun.« Vorsichtig hob er die Arme des Jungen an.
Eine lange, blutige Wunde klaffte im Bauch des Kindes. Er hatte nur sein Halstuch. Das presste er Patrice auf den Bauch. Der Junge schnappte nach Luft. Die Wunde war nicht so tief wie befürchtet und blutete auch nicht stark. Im Moment konnte er nichts weiter für Patrice tun, also nahm er ihn in den Arm. Doch die Zeit drängte. Er musste zurück zur Lichtung. Odion war ein erfahrener Jäger, dennoch hatte Tawë plötzlich Sorge, er könnte in Gefahr sein, denn die Geschosse der Beretta hatten den Je-Rouges kaum aufgehalten. Sein Lehrer zählte darauf, dass Tawë die eisernen Bolzen abfeuerte. Mit Patrice im Arm folgte er dem Je-Rouges zurück zur Lichtung.
Hier draußen brannten nirgends Lichter. Nur die Sterne leuchteten klar in weiter Ferne. Seine geschärfte Sicht nahm das Sternenlicht als zarten Schein wahr, der über allem schwebte. Das abrupte Verstummen der Trommeln legte sich wie ein Omen über den Wald. Der Je-Rouges hatte Odion erreicht. Er setzte Patrice in einen hohlen Baumstamm. Noch immer starrte ihn das Kind aus angstgeweiteten Augen an, als er es in die Dunkelheit des Stamms schob. Er wollte ihm etwas Beruhigendes sagen, aber ihm fiel nichts ein, was nicht wie eine Lüge klang. Deshalb flüsterte er nur: »Warte hier auf mich und drück das Tuch fest auf deinen Bauch.«
Als er die Lichtung erreicht hatte, sah er, wie sich der Werwolf vor seinem Lehrer aufbaute. Das Monster stand auf zwei Beinen. Obwohl es leicht gebeugt ging, war es drei Köpfe größer als Odion. Seine langen Arme endeten in riesigen Klauen. Der Werwolf redete leise. Es klang wie ein Knurren. Die roten Augen warfen ihr diabolisches Licht auf die Züge seines Opfers. Odion wirkte gelassen. Feine Schweißperlen glänzten auf seinem Gesicht, das Spiel der Trommel hatte ihn berauscht.
Beunruhigt stellte Tawë fest, dass die Wunden des Je-Rouges vollkommen verheilt waren. Er brauchte die Armbrust, aber die lag auf der anderen Seite der Lichtung. Hastig suchte er den besten Weg hinüber. Im nächsten Moment erscholl ein wütender Schrei und er wirbelte herum. Odion hatte versucht, den eisernen Ring über das Monster zu werfen, aber der Je-Rouges hatte seine List erkannt und das Eisen wild von sich geschlagen. Jetzt zog Odion sein Messer. Auch diese Waffe war mit einer Eisenlegierung überzogen.
Nun zögerte Tawë keine Sekunde mehr, sondern sprintete auf die Lichtung. Noch im Lauf feuerte er sein Magazin zuerst in die Luft und dann, als Odion aus seiner Schusslinie verschwand, auf den Wolf, bis es leer war. Was sein Lehrer tat, konnte er nicht sehen, denn der Je-Rouges stürzte auf ihn zu, was seine gesamte Aufmerksamkeit forderte. Als die letzte Kugel verschossen war, rannte er zum Rand der Lichtung, wo er die Armbrust und die Tasche mit den Waffen abgelegt hatte.
Doch der Je-Rouges war schneller. Dank seiner magischen Geschicklichkeit konnte er dem ersten Klauenhieb des Werwolfs ausweichen, aber jetzt stand er seinem Gegner ohne Waffen gegenüber. Alles, was er tun konnte, war: ducken, springen, ausweichen. Geistesgegenwärtig blockierte er einen Schlag, doch die Kraft der Bestie war unglaublich. Die Wucht warf ihn ein Stück zurück, Schmerz zuckte durch seine Arme. Er stolperte weiter rückwärts über einen Ast und fiel. Hilflos lag er am Boden, als der Je-Rouges ausholte, um ihm einen weiteren Schlag zu verpassen. Doch bevor der Werwolf den Schlag ausführen konnte, bäumte er sich auf und wieder zerriss ein lauter Schrei die Nacht. Odion saß dem Vieh im Nacken und stach mit seinem Messer auf es ein.
Tawë drehte sich zur Seite, kam über alle viere wieder hoch, hechtete die letzten Meter zu seiner Tasche, legte die Armbrust an und ließ den Bolzen fliegen. Wieder schrie das Monster. Odion ließ von ihm ab und landete mit einem Keuchen auf dem Waldboden. Der Bolzen steckte dem Wolf in der Schulter. Während er versuchte, ihn aus der Wunde zu ziehen, brüllte er vor Zorn und Schmerz.
Sofort legte er den nächsten Bolzen nach und schoss ihn ins Maul des Monsters. Ein Jaulen bestätigte ihm, dass er sein Ziel getroffen hatte. Er legte einen weiteren Bolzen nach, wartete aber mit dem Schuss, denn Odion hatte den Ring aus Eisen geholt. Dieses Mal konnte er ihn trotz des Widerstands des Werwolfs über dessen Körper ziehen. Endlich war der Wolf im Radius des Ringes gefangen. Brüllend stemmte er sich dagegen, aber durch die Enge war er nicht in der Lage, die Arme zu heben. Der einzige Weg, den Eisenring zu verlassen, bestand für den Je-Rouges darin, sich in einen Menschen zu verwandeln.
Dann geschah etwas, was Tawë noch nie zuvor beobachtet hatte. Der Werwolf schien in sich zusammenzufallen. Das rot-orange Glühen der Augen wechselte kurz zu Lila, dann explodierte es in gleißendem Weiß. Geblendet wich er zurück. Dabei ließ er den Bolzen fliegen. Jemand schrie und er hoffte, dass es nicht Odion gewesen war.
»Bastarde!«, brüllte eine kehlige Stimme. Schwere, schnelle Schritte kamen auf ihn zu. Indem er zur Seite stolperte, entkam er dem Angriff nur knapp. Der tobende Mann war ein ebenso wilder Widersacher wie der Werwolf. Ohne die Armbrust war Tawë wehrlos. Auch schaffte er es nicht, wieder auf die Beine zu kommen. Der Dämon stürzte sich auf ihn und attackierte ihn mit seinen Fäusten.
Da stach Odion dem menschgewordenen Werwolf sein Messer durch den Rücken ins Herz. Das Monster hatte verloren. Es sackte auf die Knie. Odion packte es am Schopf und trennte den Kopf ab. Blut ergoss sich in Strömen aus dem Hals.
»Nun, Tawë, hat sich dein Ausflug gelohnt?«, fragte sein Lehrer beiläufig, während er Tawë auf die Beine half. Aus einer Verletzung am Auge lief Blut. Sein Bolzen hatte Odion wohl doch gestreift.
»Ja«, erwiderte er, »der Junge lebt.«
Odion nickte. »Dein Mangel an Gehorsam ist ein Problem, Tawë. Du bist noch kein vollwertiges Mitglied des Nyang. Es ist dir nicht vergönnt, eigene Entscheidungen zu treffen. Dafür müsstest du mir beweisen, dass du deren Tragweite erkennst, und das sehe ich einfach nicht bei dir.« Kopfschüttelnd wischte er das Blut von seinem Auge. Er atmete schwer. »Ich werde auch nicht jünger. Diese Jagden fallen mir nicht mehr so leicht wie früher. Ich spüre sie länger in den Knochen.«
»Es tut mir leid. Ich wollte deine Autorität nicht infrage stellen.«
»Das hast du aber.« Odions Stimme hatte einen merkwürdigen Klang und er bekam eine Gänsehaut. Doch dann lenkte sein Lehrer ein. »Wir haben ihn besiegt. Das ist, was zählt. Jetzt sorgen wir dafür, dass er nicht wiederkommt.«
Erleichtert nahm Tawë eine Flasche Wasser aus seiner Tasche. Odion würde nun den Körper des Dämons zerlegen. Er machte sich auf den Weg zu Patrice in seinem Versteck.
Als er mit dem Jungen auf dem Arm die Lichtung betrat, war das Feuer bereits entzündet und die Leiche darin war dank des Beschleunigers, den Odion verwendete, bereits verkohlt.
»Er scheint nicht schwer verletzt zu sein. Wir sind wohl gerade rechtzeitig gekommen«, rief er Odion zu und setzte Patrice ab.
Sein Lehrer kam zu ihnen, untersuchte den schweigenden, etwas apathisch wirkenden Jungen, holte dann Jod und Verbandszeug, um die Bauchwunde zu behandeln. »Sein Körper wird schneller heilen als sein Geist«, meinte er.
Immerhin hat Patrice jetzt die Chance zu heilen, dachte Tawë und setzte sich ebenfalls.
Sie saßen und beobachteten, wie das Feuer langsam herunterbrannte. Irgendwann schlief Patrice ein.
Schließlich begann Odion, das Feuer zusammenzuschieben. »Ich muss zugeben, dass du ihn retten konntest, beeindruckt mich. Allerdings wird es sich noch zeigen, ob das ein Segen für ihn ist.«
»Wir haben ein Kind vor dem Tod gerettet«, erwiderte er rasch. »Das ist ein Segen - für ihn und für seine Mutter.«
Odion lächelte, als er das Feuer schürte. »Sicher hast du recht. Was ist mit dir? Geht es dir nicht auch um deinen Ruf, mein Prinz? «
Jetzt hätte er gerne gelacht, aber er hielt sich zurück. Stattdessen schob er mit einem Stock einen verkohlten Ast zurück in das Feuer. »Mir ist es wichtig, die Menschen vor den Monstern zu schützen und die Magie, die ihnen innewohnt, für etwas Gutes nutzbar zu machen.«
»Das ist auch mein höchstes Ziel, aber ich musste lernen, dass Magie korrumpiert und wir nicht jeden retten können, mein Prinz. Du bist Idealist, genau wie dein Cousin Nathan.« Odion seufzte. »Gib mir einen der Beutel aus der Tasche«, wechselte er das Thema. »Wir sollten die Asche nicht ungenutzt lassen.«
Er zwinkerte ihm zu und Tawë lächelte unwillkürlich. Dann sammelte Odion die Asche des Werwolfs ein. Sie galt als magische Zutat für verschiedene Zauber und hatte wohl auch heilende Wirkung. So viel wusste Tawë. In der Herstellung der unterschiedlichen Zauber war er nicht sehr bewandert. Odion und viele andere der Société wirkten sie. Ihm genügte es, sie benutzen zu können.
Hatte er den Idealismus, von dem Odion gesprochen hatte, von Nathan? Vielleicht. Sein Cousin und er standen sich sehr nah. Nathan Nkosi war der Zeremonienmeister der Mambo Bonnehomme in Berlin. Tawë hingegen reiste mit Odion durch die Welt auf der Suche nach magischen Zutaten und Monstern, die sie ausschalten konnten. Aber sie skypten oft miteinander. Wenn er es recht überlegte, hatte Nathan ihn überhaupt erst in Odions Lehre gebracht. Zu Hause in Kamerun, im Königreich Punt, wartete das höfische Leben auf ihn, aber für die strikten Verhaltenskodexe und Intrigen des Hofes hatte er nichts übrig. Zudem stand er ziemlich weit hinten in der Thronfolge. Als Dämonenjäger des Nyang konnte er seinem Vater viel besser dienen. In seine Gedanken versunken, stocherte er in der glimmenden Glut und zog einen Faden aus der Asche. Den legte er auf die noch glühenden Holzscheite.
»Was ist das?« Er drückte den Faden mit einem Ast in das Glühen hinein, aber er entzündete sich nicht. »Komisch! Der will nicht brennen. Kann er gegen Feuer imprägniert sein?«
»Nur dieser Faden, meinst du?« Odion hob ihn mit seinem Stock aus der Glut und fügte hinzu: »Wie sagte schon Ovid? Alles Menschliche hängt an einem dünnen Faden. Dämonisches wohl auch.« Damit nahm er den Faden vom Stock und wickelte ihn auf. »Interessant, was du so im Feuer findest.«
Sie lachten. Dann packten sie zusammen. Tawë trug den schlafenden Jungen und seine Taschen zurück zum Auto. Die Welt war etwas sicherer und sie hatten ein Kind gerettet. Dieser Tag war ein guter Tag gewesen. In diesem Augenblick fühlte er sich unbesiegbar.
In den frühen Morgenstunden erreichten sie das Zelt, in dem die Frau lebte, seit ihr Haus zerstört worden war. Sie übergaben das Kind seiner Mutter, die außer sich war vor Erleichterung und Freude. Odion entfernte sich rasch. Tawë riet der Frau, sicherzustellen, dass sie keinen Je-Rouges großzog. Sie versprach, mit ihrem Sohn in die Stadt zu fahren und ihn der Mambo, der Priesterin ihrer Gemeinschaft, vorzustellen.
Nachdem er sich von der dankbaren Mutter verabschiedet hatte, suchte er Odion. Er fand ihn einige Meter weiter weg im tiefen Schatten einer Bauruine. Vielleicht sah Tawë ihn aber auch nur, weil er wusste, dass sein Lehrer dort stehen musste. Odion telefonierte mit einem ernsten Gesichtsausdruck. Über dem verletzten Auge trug er eine Klappe. Jetzt nickte er.
»Ich sag es ihm«, sprach er ins Handy. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich verstehe.«
Als er aufgelegt hatte, ging Tawë zu ihm.
»Das war Meeka Mumbi aus Berlin« erklärte Odion ihm. »Du kennst sie noch?«
»Ja. Was will die Société in Berlin von uns? Gibt es schlechte Nachrichten?«
Jetzt schaute Odion so ernst, dass Tawë das triumphierende Lächeln, das bis eben noch auf seinem Gesicht gelegen hatte, verging.
»Jemand hat das Siegel gebrochen. Der Seelenbinder wurde befreit.«
Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen und sein Herz begann, wild zu schlagen. Es gab keine schlimmere Nachricht als diese. Der Seelenbinder! Comte Badawi! Einst war er ein Sklavenjunge in Haiti gewesen, doch der Loa Tir Malice hatte ihn auserwählt. So wurde Badawi zu einem mächtigen Voodoo-Priester, zu einem Houngan. Doch er wandte sich der schwarzen Magie zu. Die Sociétés in der ganzen Welt hatten aufgeatmet, als es der Mambo Bonnehomme 1929 in Berlin gelang, Badawi und seine Gefolgschaft zu bannen.
»Wann?«, stieß er hervor.
»Vor zehn Tagen«, erwiderte Odion. »Er hat die Société überfallen. Die Mambo ist tot. Viele sind gestorben. Viele haben ihre Seelen verloren.«
Der Schwarzmagier, der Bocor, war nicht nur frei, sondern offensichtlich auch zu Kräften gekommen und er wollte Rache. Er hatte die Enkelin von Mambo Bonnehomme getötet. Ihm wurde schwindelig.
»Wir müssen sofort dorthin und ihnen helfen! Was ist mit Nathan?«
Odion schluckte und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Nathan ist unter den Verlusten.«
In diesem Moment spürte er, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Die Nachricht von Nathans Tod schmeckte bitter und stach ihn ins Herz. Sein Cousin stand ihm näher als seine Brüder. Er konnte nicht tot sein. Tawë kannte niemanden, der schneller und stärker war. Wie konnte er tot sein? War er das überhaupt? Der Bocor konnte den Menschen einen Teil ihrer Seele nehmen, die Petit Bonage, und Zombies aus ihnen machen. »Ist er tot oder im Gefolge des Comte?«, fragte er mit zittriger Stimme.
»Nathan ist tot. Es tut mir leid, Tawë.«
Er presste die Fäuste zusammen und kämpfte um Beherrschung. »Es muss dir nicht leidtun. Wir müssen nach Berlin, um ihn aufzuhalten!« Während er sprach stürmte er bereits zum Auto.
»Warte, Junge!« Odion kam hinterher. »Wir fahren nach Berlin, aber nicht, um unsere Leute zu rächen. Der Seelenbinder ist tot. Er wurde besiegt.«
Diese Nachricht war fast noch schlimmer als die von Nathans Tod. Schwer atmend stützte er sich am Wagen ab. Wo sollte er jetzt hin mit seinem Verlust? Und mit seiner Wut? »Was heißt das?«, presste er hervor. Ihm fehlten die Worte. Ohnmacht flutete sein Herz.
»Wir gehen nach Berlin. Sie brauchen unsere Hilfe beim Wiederaufbau der Société. Fleur ist noch nicht so weit, das Erbe ihrer Ahninnen anzutreten und Meeka ist keine Mambo, sondern die Chorleiterin. Aber vorher müssen wir nach Mexiko, um einen Doppelgänger ausfindig zu machen, bevor er wieder untertaucht. Erst danach reisen wir nach Berlin.«
»Wann ist Nathans Beerdigung?«
»Heute in Ndïm.« Odion schüttelte den Kopf und klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. »Das schaffen wir nicht.«
»Warum haben sie uns nicht früher angerufen?«, flüsterte er mehr zu sich als zu seinem Lehrer.
»Sie haben uns erst jetzt erreicht.«
Das Warum spielte sowieso keine Rolle mehr. Es war zu spät. Tawë drehte sich weg, rieb sich die Augen und versuchte, dieses Gefühl der Hilflosigkeit hinunterzuschlucken. Er war außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Gerade war es ihm so gut gegangen. Er schaute zurück zu dem Zelt, in dem Patrice und seine Mutter jetzt lebten. Was brachte es ihnen eigentlich, dass er den Je-Rouges getötet hatte. Konnte die Frau die Behandlung des Jungen überhaupt bezahlen? Wenn Patrice zu einem Je-Rouge wurde, hatte er dann etwas Gutes getan oder dem Bösen nur eine neue Facette hinzugefügt? Hoffnung geschaffen, die unweigerlich zerstört werden würde? Odion hatte recht. Er konnte den Jungen nicht retten. Was brachte es, Gutes zu tun, wenn das Böse übermächtig war und am Ende siegte?
Dann kehrten seine düsteren Gedanken zu seinem Cousin zurück. Der Verlust tat so weh. Er wollte allein sein.
»Wie gut ist dein Deutsch?«, fragte Odion, der ihn wohl auf andere Gedanken bringen wollte.
Resigniert schüttelte er den Kopf. »Deutsch spreche ich noch nicht.«
Sein Lehrer ließ nicht locker. »Wir müssen jetzt die Zutaten für das Siebenzungenpulver besorgen. Steigst du ein?«
»Fahr schon vor. Ich möchte das Stück zum Hotel laufen.«
Odion tat ihm den Gefallen und er lief in das Morgengrauen, das schnell über die Insel hereinbrach. Aber sein Blick war nicht auf den Sonnenaufgang über dem Meer gerichtet. Unverwandt sah er auf seine Schuhe, die mit jedem Schritt Staub aufwirbelten und nur so lange Abdrücke hinterließen, bis sich der Staub wieder legte, gerade so, als wäre er nie hier gewesen.
Marie wanderte durch das Haus. Mehrere Tage waren seit ihrem ersten gescheiterten Notruf vergangen. Jeder weitere Versuch war ebenfalls vergebens gewesen. Niemand konnte oder wollte ihr helfen. Um sich die Zeit zu vertreiben, las sie in der Bibliothek ein Buch über griechische Mythen. Der Einband mit der schlangenhaarigen Medusa hatte es ihr angetan. Medusa, die schönste der Gorgonen, von Athena verflucht und in ein Monster verwandelt, bei dessen Anblick jeder zu Stein wurde. Aber irgendwann war Marie das Warten leid.
In der oberen Etage der Villa gab es Zimmer, die sie bisher noch nie betreten hatte. Badawi, ihr Liebster, hatte ihr nicht direkt untersagt, dort hineinzugehen, aber irgendwie hatte sie den Eindruck gehabt, es wäre verboten. Gelangweilt, wie sie nun war, traute sie sich jetzt in den Raum, den er aufsuchte, wenn er zu seinen Geistern sprach. Immerhin hatte er sie hier zurückgelassen. Wenn es ihm nicht passte, sollte er seinen Hintern zu ihr bewegen. Dann würde sie ihm was erzählen von ewiger Treue und Vertrauen. Pah! Er konnte ihr nichts verbieten - ihr Gefängnis, ihre Regeln.
Mit einem wohligen Schaudern betrat sie den fensterlosen, dunklen Raum. Sie umrundete einen Raumteiler und betrachtete das wilde Ensemble, das sich ihr bot. Vor ihr befand sich ein gemauerter Altar. Ein Bild der Madonna und Bilder von katholischen Heiligen waren neben verschiedenen grotesken Puppen, ähnlich den Masken, die überall im Haus hingen, aufgestellt. Doch es gab noch viel mehr. Versiegelte, bunt bemalte, mit Spiegelfragmenten und Tonköpfen beklebte Flaschen; Kalebassen in jeder Größe, gefüllt mit Blüten und klarer Flüssigkeit, die sich als Rum herausstellte; dazwischen Kerzenstummel, fünfarmige silberne Kandelaber mit angebrannten Kerzen und eine Kiste mit Zigarren. Der halb geöffnete Sarg in der Größe eines Kindes, der an der Seite auf einer Kommode stand, schockierte sie. Ein Totenkopf mit Hörnern war darauf angebracht. Mehrere Rumflaschen standen um ihn herum. Wozu diente dieses Zeug? Zweifel überkamen sie. Badawi, wer bist du?, fragte sie sich. Kenne ich dich überhaupt?
Dann fiel ihr Blick auf den riesigen barocken Spiegel in der Größe einer Schranktür über dem Altar. Mystische Zeichen und rote Kordeln schmückten den verschnörkelten Rahmen. An seinem Kopfende prangte eine siebenköpfige Schlangenfigur, die über den Altar in den Raum hineinragte. Schädel waren in den goldenen Rahmen eingearbeitet und blickten Marie aus leeren Augenhöhlen entgegen.
Sie erschauderte, als sie sich im Spiegel betrachtete. Wie furchtbar sie aussah! Blass, schmutzig, zerwühlt. Sie sollte baden und die Kleidung wechseln. Doch das Spiegelbild hielt sie gefangen. Etwas war damit! Sie sah sich selbst, aber es schien ihr, als würde sie auch ihre Zwillingsschwester in ihrem Abbild erkennen. Wie ein Flüstern kroch ein Gedanke, in ihren Kopf. Minna war nicht im Arbeitszimmer im ersten Stock eingesperrt. Ihre Zwillingsschwester war frei. Sie fuhr sich mit der Zunge über ihre Schneidezähne und kontrollierte im Spiegel, ob sie noch weiß waren. Waren sie nicht. Wieso habe ich gedacht, Minna wäre auch hier?, überlegte sie dabei.
Wegen dem Anhänger, der die Tür zum Arbeitszimmer verschließt, flüsterten fremde Gedanken. Marie zuckte zusammen, wirbelte herum und suchte den Raum ab. Eine Gänsehaut fuhr ihr über die Arme. Aber Minna ist frei, sagte jemand wieder in ihre Gedanken hinein. Sie schüttelte das Gefühl, nicht allein in ihrem Kopf zu sein, von sich und verließ den Raum so schnell sie konnte. Allerdings nicht, ohne hastig eine der Rumflaschen und eine Zigarre zu greifen. Damit floh sie in den Garten.
Sie läuft durch einen Urwald. Überall Blätter und Äste, Puppen und Vogelkäfige hängen an den Bäumen. Es ist so schwül, sie kann kaum atmen.
»Mein Kind!« Die Hexe ruft nach ihr.
Im nächsten Moment prallt sie an eine Glaswand. Angst steigert sich zu Panik. Sie versucht, am glatten Glas emporzuklettern. Wie verzweifelt, wie lächerlich! Ihr Rock ist zu eng. Hinter ihr gluckst jemand. Die Hexe lacht sie aus. Es gibt kein Entkommen. Die Hexe wird sie holen.
»Siehst du nicht, wie ähnlich wir uns sind? Du könntest meine Tochter sein!«
Dann packt die Hexe sie an ihren langen Haaren und zieht sie mit sich. Sie kommt nicht los, kann sich nicht wehren.
»Du wirst meine Tochter sein!«, befiehlt die Hexe.
Furcht umklammert ihren Körper und lässt sie erstarren. Sie kann nicht entkommen. Dafür wird die Hexe sorgen.
Schweißgebadet schnellte Lilo aus ihrem Bett hoch. Wo bin ich?, war ihr erster Gedanke. Jede Nacht derselbe Albtraum. Sie war wie gerädert, erschöpft bis auf die Knochen. Wie spät war es? Sie tastete nach ihrem Handy auf dem Beistelltisch. Ein Blick verriet ihr, sie hätte noch eine volle Stunde schlafen können. Völlig ausgebrannt ließ sie sich zurück auf ihr Kissen fallen.
In Gedanken wiederholte sie ihr Mantra: Du bist NICHT mehr dort. Die Hexe ist tot. Du HAST überlebt. Alles ist gut. Langsam trocknete ihr Angstschweiß in der Bettwäsche. Sie spürte die kalte Luft beim Einatmen, begann zu frösteln, aber ihre Glieder waren tonnenschwer. Sie brachte weder Arme noch Beine dazu, die Decke über sich zu ziehen. Bald gewann die Erschöpfung die Oberhand. Die Augen fielen ihr zu, die Gedanken drifteten weg.
Als der Wecker läutete, stöhnte sie frustriert. Nach weiteren fünf Minuten setzte sie sich unter Zwang auf. Die Decke rutschte vom Bett, Lilo spürte die Dielen an ihren Fußsohlen. Ein Schauer lief durch ihren Körper. Es war zu kühl im Zimmer. Im Oktober war es kalt geworden in Berlin. Sie durfte nicht vergessen, abends die Heizung anzustellen.
Wie aus dem Nichts überfiel sie die Angst erneut. Sie sprang auf, lief ins Badezimmer, kontrollierte ihr Spiegelbild. Müde sah sie aus. Jegliche Sommerbräune war ihrem blassen Teint gewichen und die dunklen Augenringe waren im grellen Spiegellicht deutlich zu erkennen. Um etwas Farbe auf die Wangen zu bekommen, wusch sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser. Danach fühlte sie sich gleich besser. Sie betrachtete ihre Haare.
Ihr zotteliger Bob war lila gefärbt. Am Hinterkopf fand sie eine längere Strähne, die sie mit einer Schere zurückschnitt. Es war eine Bastelschere. Die Stoffschere hatte ihre Mutter ihr weggenommen, nachdem sie versucht hatte, das Tattoo auf ihrer Hand damit rauszuschneiden. Nur ihren Pony ließ sie gerade so lang, dass er das tätowierte Zeichen auf der Stirn überdeckte. Erst als sie mit Rollbürste und Föhn ihre Frisur in Form gebracht hatte, wurde sie allmählich ruhiger. Zur Sicherheit legte sie noch eine Schicht Make-up auf und schminkte ihre Augen tiefschwarz. Nichts sollte mehr an das Mädchen erinnern, dessen Haare der Hexe so sehr gefallen hatten.
Auch bei ihrer Kleidung war sie sorgfältig darauf bedacht, die Male an Hals und Händen unter einem schwarzen Rollkragenpullover und lila Handstulpen zu verdecken. Die enge Jeans und der Hoodie, den sie überzog, kaschierten jegliche Ähnlichkeit mit ihrem früheren Ich. Als sie die Socken anzog, hielt sie kurz inne. Der kleine Zeh vom linken Fuß fehlte schmerzlich.
Schon hallte der morgendliche Ruf ihrer Mutter aus der Küche. »Lieselotte, Frühstück!«
»Gleich.« Schnell steckte sie den verstümmelten Fuß in die Socke und schlüpfte in ihre Hausschuhe. Beim Laufen fehlte der kleine Zeh noch immer. Ihr war nie klar gewesen, dass er tatsächlich eine Funktion hatte. Wahrscheinlich war niemandem klar, wie sehr etwas so Kleines fehlen konnte, bis es weg war.
Sie warf noch einen raschen Blick durch das Fenster. Ihr Zimmer lag im hinteren Teil der Wohnung, sie schaute auf die Straße hinaus. Draußen wurde es gerade hell. Der Burgerladen gegenüber hatte noch die Rollläden unten. Jetzt lief sie durch den Flur in die Küche. Das Mahlen der Kaffeebohnen in der Maschine dröhnte durch den Raum. Es roch verführerisch. Ihre Mutter Irena stand am Fenster und goss sich Milch in den Kaffee.
»Ist der für mich?«
Ihre Mutter sah auf und lächelte. »Da bist du ja, meine Kleine. Nein, deiner läuft gerade durch.«
Lilo wartete, bis ihre Mutter die aufgeschäumte Milch zu dem Espresso hinzugefügt hatte, bevor sie sich an den Küchentisch setzte.
»Du siehst müde aus, mein Engel. Hattest du wieder diese Albträume?«
»Nicht so schlimm. Langsam gewöhne ich mich dran.« Sie versuchte zu lächeln, aber ihre Mutter durchschaute die Farce.
»Halte durch, du darfst nicht aufgeben! Heute rufe ich noch mal die Krankenkasse an. Die müssen einen Therapeuten für dich finden. So geht das nicht. Du brauchst einen Profi. Ich weiß nicht, wie ich dir …« Mitten im Satz brach sie ab und schaute Hilfe suchend zum Fenster hinaus.
Lilo trank ihren Latte macchiato. »Ich gehe heute in die Uni. Um zehn beginnt ein neuer Kurs, den ich belegt habe. Ich glaube, der ist interessant.«
Erleichtert atmete Irena auf und drehte sich lächelnd um. Doch ihre Augen verrieten den Schmerz, den es ihr bereitete, ihrer Tochter nicht helfen zu können. Lilo hasste es, wenn ihre Mutter sie so ansah.
»Gut, sehr gut. Geh zur Uni. Das ist gut.« Irena bedachte sie mit einem hoffnungsvollen Blick und trank einen weiteren Schluck Kaffee.
Sie konnte sehen, dass ihre Mutter jedes weitere Wort im Kopf überdachte und dann zu dem Entschluss kam, besser nichts mehr zu sagen. Irena hatte sich eingestehen müssen, dass sie ihre Tochter nicht beschützen konnte. Es zerstörte sie ebenso, wie die Hexe Lilo zerstört hatte. Und es hielt sie beide in einer Starre gefangen, die Lilo kaum noch ertrug.
Der Moderator vom Frühstücksradio erzählte gerade, dass die Zombieapokalypse allem Anschein nach beendet sei, da seit mehr als zwölf Wochen keine neuen Fälle mehr gemeldet worden waren und die Betroffenen aus den Krankenhäusern entlassen wurden. Der Moderator vermied geschickt, zu erwähnen, dass die sogenannten Betroffenen nicht als geheilt entlassen, sondern vielmehr in Pflegeheime abgeschoben wurden, fiel Lilo auf.
»Du gehst heute aber auf keine Party?«
Lilo schüttelte den Kopf. »Warum fragst du?«
»Na ja! Es ist Halloween und das wird mittlerweile ja auch bei uns immer häufiger gefeiert. Allerdings verstehe ich gar nicht, warum das überhaupt so ist.«
»Die Leute verkleiden sich halt gerne.«
»Als Horrorgestalten? Was für ein Unsinn.« Irena schüttelte den Kopf. »Versprich mir, heute wirklich zu Hause zu bleiben. Ja? Du weißt, wie ich …« Das Klingeln eines Handys von außerhalb der Küche unterbrach sie.
»Das ist meins!« Lilo sprang auf und eilte mit der Kaffeetasse zurück in ihr Zimmer. Sie fühlte sich geradezu befreit.
Ihr Handy war noch an das Ladekabel gesteckt und lag auf dem Nachttisch. Es war Sibel, ihre einst beste Freundin. Aber nach dem Erlebnis mit der Hexe und dem Untoten hatte sie auch ihre alten Freundschaften überdacht. Wenig enthusiastisch nahm sie den Anruf entgegen.
Sibel legte los, bevor sie auch nur »Hallo« sagen konnte. »Hi, ich bin´s, Sibel. Was machst du heute? Du hast nicht auf meine Nachricht geantwortet, deshalb rufe ich an. Lust, mit uns zu Malik ins Krankenhaus zu fahren? Er soll bald entlassen werden. Vielleicht unsere letzte Chance, ihn zu sehen.«
»Ja, klar. Wer ist noch dabei?« Trotz des Kaffees spürte sie wieder diese innere Trägheit, die ihren Körper am liebsten wieder ins Bett gekippt hätte.
»Hat noch keiner reagiert, aber Olli kommt wohl auch. Der kann dich abholen, wenn du magst.«
»Okay, ich frag ihn.«
»Supi, cool. Ich muss jetzt auch raus. Bin schon am Ernst-Reuter-Platz. Hab ne Vorlesung um acht. Bis nachher.«
»Ja«, erwiderte sie, doch ihre Freundin hatte bereits aufgelegt. Das Handy zeigte acht Uhr fünfundzwanzig. Sie musste über Sibel lächeln. Vielleicht tat es gut, den Trupp mal wieder zu treffen.
Ihr blieb noch etwas Zeit, bis der Kurs anfing, und sie wollte ihren Schurwollmantel enger nähen. Ihre Mutter hatte sie schon darauf angesprochen, dass sie so verloren darin aussehen würde. Wenn sie die Seitennähte enger nähte, würde es nicht mehr auffallen, wie viel sie in den letzten Monaten abgenommen hatte. Dann hätte sie weniger Sorgen, hoffte Lilo.
Mit einem Seufzer setzte sie sich an ihren Nähtisch, wo der Mantel schon bereit lag. Gestern hatte sie die Stoffe in Position gebügelt, jetzt musste sie nur noch die Naht setzen. Während sie die Stofffalten unter der Nadel der Nähmaschine zusammenführte, verlor sie sich in dem, was ihre Mutter über die professionelle Hilfe des Therapeuten gesagt hatte. Ihre Gedanken fuhren Karussell: Was soll ich dem erzählen? Was würde der von meiner Geschichte halten? Der würde mich einweisen. Ich müsste dem was vorlügen. Der Stoff wurde dicker, sie presste die Fußpedale der Nähmaschine fester. Sie wollte gar keinen Therapeuten. Die glaubten nicht an Hexen. Voller Wut presste sie den Stoff zwischen Nähfuß und Stichplatte hindurch. Die würden daraus so einen unterbewussten Freudkram ableiten. Aber die Hexe war real.
Mit einem Knirschen verbog sich die Nadel im Stoff. »Fuck!« Frustriert warf sie sich zurück gegen die Lehne ihres Stuhls. War das zum Kotzen! Sie riss das Schränkchen mit ihren Nähutensilien neben sich auf und suchte in den Schubladen nach einer neuen Nadel. Sie fand keine. Genervt zog sie den Mantel aus der Maschine und schnitt die überhängenden Fäden mit der Bastelschere kurz. Weit war sie nicht gekommen mit ihrer Naht.
Dann stand sie auf, warf sich den Mantel über und prüfte den Sitz in der Spiegeltür ihres Kleiderschrankes. Es sah kacke aus und sie konnte es nicht ändern. Wütend schleuderte sie den Mantel von sich und griff ihren Rucksack. Es war noch zu früh, um loszugehen, aber sie brauchte frische Luft.