Seelenbinder - FE Boulaich - E-Book

Seelenbinder E-Book

FE Boulaich

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Beschreibung

Thomas, Schädlingsbekämpfer im dritten Lehrjahr, hat keine Ahnung, was ihn in der verwahrlosten Villa am Wannsee erwartet. Aufgespießte Vögel im Garten, Spukschloss Atmosphäre, vermischt mit Zwanzigerjahre Charme, und zu guter Letzt eine ausgemergelte Leiche mit einer Krone aus Dolchen. Er glaubt sich endgültig in einem Albtraum gefangen, als bis auf die Knochen abgemagerte Gestalten ihn verfolgen und beinahe erwischen. Vor der Toilette einer Pizzeria greifen die Untoten ihn erneut an, in diesem Moment kommt ihm Minna zu Hilfe. Das Mädchen mit den merkwürdigen Augen behauptet, bereits seit siebzig Jahren auf der Flucht zu sein. Von ihr erfährt Thomas, dass es sich bei dem König um Comte Badawi Amara Attisser handelt, einen Voodoo-Priester, der sich bereits vor Jahrhunderten mit dunklen Geistern eingelassen hat. Allmählich erkennt Thomas, dass ihn etwas mit dem Comte verbindet, ein Ereignis, das sich 1789 in Haiti zutrug. Schließlich wird er damit konfrontiert, dass der Comte nach dem Herz von Thomas dem Zweifler trachtet. Ihm wird klar, dass es um weit mehr geht als sein Leben. Ein Urban Fantasy Roman über Voodoo in Berlin. Eine gewagte Geschichte, die sich vom Haiti des achtzehnten Jahrhunderts über die Zwanzigerjahre bis in die heutige Zeit erstreckt.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 461

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Seelenbinder

Roman

von FE Boulaich

Inhalt

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Danksagung

Über den Autor

Ausblick

Impressum

1. Auflage 2021, © FE Boulaich

FE Boulaich

Quellweg 20

13629 Berlin

[email protected]

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

Coverdesign: Ivan Cakić (cakamura)

eBook-Erstellung und Buchsatz: Jana Köbel Autorenservice, www.jana-koebel.de

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Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

„All den treuen Seelen da draußen!“

Prolog

Sie rennt mitten auf der Straße. Ihr Herz schlägt im Rhythmus des vorbeiziehenden Mittelstreifens auf dem Asphalt. Konstante Geschwindigkeit. Ihr Herz im steten Takt. Schweiß. Atem. Der Mond ist untergegangen. Eine sternenklare Nacht. Die Lichter der Großstadt dimmen den Schein.

Hinter ihr! Sie sind hinter ihr! Ihre Verfolger – sie kommen. Nach so vielen Jahren. Sie hatte doch alles im Griff. Nur vereinzelte Angriffe. In die Häuser, durch die Keller, über die Dächer. Etwas treibt sie. Niemals stehen bleiben. Keine Pause. Haken schlagen. Einen Hinterhalt legen. Töten.

Aber dieses Mal ist es anders. Der Eine ist anders. Zu stark. Sie kommt nicht gegen ihn an. Er treibt seine Horde ohne Gnade hinter ihr her. Der Eine jagt, obwohl er gesehen hat, wie sinnlos es ist. Wohin kann sie noch fliehen? Sie stolpert. Ihr Herz gerät aus dem Rhythmus.

Nicht aufgeben. Sie fängt sich. Läuft weiter. Es war schon viel schlimmer und sie lebt noch. Sie will nicht sterben. Sie hat gesehen, was nach dem Tod kommt. So viele Male. An den Schmerz denken, nicht aufgeben.

Autos eilen an Orte außerhalb ihrer Reichweite. Ein Hupen, sie schaut. Der Wagen fährt langsam vorbei. Ein Handy leuchtet hinter der Scheibe zur Aufnahme. Der Fahrer im Dunkeln. Sie muss runter von der Straße, ins Gleisbett.

Die Bahnschienen entlanglaufen. Durch die Schatten. Vorbei an den fünf Gestalten, die auf die S-Bahn warten. Kein Kontakt. Das hier geht sie nichts an. Sie würden sich der Jagd nur anschließen. Es sind schon zu viele.

Kapitel 1

»Da sitzen die Spinner.« Jochen zeigte nach oben in die Eiche, unter der sie standen.

Mann, Jochen! Thomas ignorierte seinen Onkel und suchte seine Handschuhe zwischen dem Werkzeug, das sie vom Wagen mitgeschleppt hatten. Die Raupen hatte er schon gesehen, bevor er die Leiter an den Baum gestellt hatte. Genau deswegen stand sie ja dort.

Leise grummelte er: »Schon klar, warum ich dabei bin. Um die scheiß Leiter hier rauf zu buckeln. Aber könntest du dann wenigstens aufpassen, dass nichts aus dem Eimer fliegt – wie beispielsweise die Handschuhe?«

»Thomas!«

Als er merkte, dass sein Onkel penetrant darauf wartete, schaute er doch in die Eiche. Die pulsierende, grausilbern schimmernde Masse der Raupen zog sich wie ein breites Band locker zehn Meter über ihnen um Stamm und Äste.

»Da sind sie in einer wunderschönen Prozession, bereit, ein Nest zu bilden. Was da schimmert, sind die Brennhaare. Siehst du das?«

»Ist klar«, stöhnte Thomas. Scheiße, Mann, das wusste er. Jetzt gerade ging es ihm nur darum, seine Handschuhe zu finden. Die Dinger waren doch im Eimer gewesen. »Lagen die Handschuhe nicht bei den Masken?«, fragte er laut und schaute Hilfe suchend zu seinem Onkel. Erde an Jochen, hallo!

»Thaumetopoea processionea oder Eichenprozessionsspinner. Manchmal beziehen sich Namen auf einfache Beobachtungen«, erklärte Jochen. Dann fing er an, seine Taschen in der Arbeitshose abzutasten. »Ich habe sie nicht. Bist du sicher, dass sie nicht immer noch hinten im Kasten liegen?«, fügte er hinzu.

Thomas stöhnte. Klar war er sich sicher. Was soll’s, dachte er, wenn die Handschuhe nicht da sind, ist es auch egal. Er starrte noch mal nach oben. Haariges Eichen-Krebsgeschwür, überlegte er. Das hätte auch gepasst für die Mistviecher.

Jochen öffnete seinen Schutzanzug und kramte mit der freien Hand darin herum. Umständlich zog er zwei benutzte Taschentücher hervor. Schließlich schüttelte er den Kopf.

»Nüscht. Keine Handschuhe.« Er machte eine Pause, kam dann wieder auf sein Lieblingsthema: „Schon eines der dreckigen Flimmerhärchen des dritten Larvenstadiums kann bös wehtun. Da musst du kein Allergiker sein.«

Ja, das erzählte Jochen ihm schon zum zehnten Mal heute.

»Das schwillt an und juckt, da hast du wochenlang was von!« Nach einer kleinen Pause fügte sein Onkel hinzu: »Du brauchst doch Handschuhe, Junge! Hast du sie eingepackt?«

Egal, einfach nicken.

»Und bloß nicht einatmen, hörst du? Hast du die Maske?«

»Ja, ja«, murmelte Thomas. Demonstrativ zubbelte er an der Maske, die bereits um seinen Hals hing.

Er kletterte in einen Staubanzug, der drei Nummern zu groß war. Sein Onkel kaufte alles in den Größen, die ihm passten. Sie waren zu fünft, wenn man die Sekretärin mitzählte. Jochen war das Maß aller Dinge in seinem Betrieb. Sein Bauchumfang bestimmte die Größe der Anzüge, die bestellt wurden: XXL. Die Handschuhe waren für seine Pranken gedacht. Nur die Arbeitsschuhe gab‘s individuell.

Thomas war in ein verdammtes Zelt gewickelt. Zum Glück sah ihn niemand. Wenn er sich bewegte, raschelte und rauschte es um ihn herum. Dämlich, dämlich, dämlich. Er strich den Anzug am Körper nach unten und ärgerte sich. Dämlich. Dann würde er jetzt noch mal den Weg zum Auto zurücklaufen und schauen, wo die Handschuhe lagen. Wenn er von dem Tempo seines Onkels ausging, schienen sie ja alle Zeit der Welt zu haben. Er blickte über den gepflegten Vorgarten Richtung Straße, in der ihr Technikerwagen parkte.

Sie befanden sich in einer der teureren Gegenden Berlins. Thomas hatte auf Google Maps gesehen, dass dieses Grundstück bis an den Wannsee reichte, aber von seinem Standpunkt aus konnte er das Wasser nicht sehen. Die Straße kam ihm allerdings bekannt vor. Hier war er schon mit seinem Freund Olli auf der Suche nach irgendwelchen Partys herumgeirrt.

»Wenn du so empfindlich bist wie deine Mutter, kann ich dir nicht versprechen, dass ich dich schnell genug ins Krankenhaus bringe, bevor du mir erstickst.«

Thomas verdrehte die Augen. Gab‘s heute noch was Spannenderes als das? Also bitte!

Jochen zog seinen Lederhandschuh über. »Oh, na so was!«, rief er fröhlich. »Ich habe sie in der Hand. Wunderte mich schon, warum meine Handschuhe so dick sind.« Er gluckste.

Thomas biss sich auf die Lippen. Dazu sagte er besser auch nichts. Staub flimmerte in der Luft. Vorsichtshalber zog er sich den P3-Filter über das Gesicht. Sein Onkel reichte ihm die Handschuhe.

»Geht klar, ich verkneif mir das Atmen, Jochen.«

»Schön, schön.«

Soweit Thomas dem Auftragszettel entnommen hatte, waren sie von der Grundstücksverwaltung gerufen worden, um die Eichenprozessionsspinner zu bekämpfen. Er war im dritten Lehrjahr, hatte aber bisher noch keinen dieser, wie sein Onkel gern betonte, lukrativen Einsätze mitgemacht. Allerdings war er schon wegen Wespen in Bäume geklettert. Das Hantieren mit dem Sauger war an sich umständlicher, als die Sprühflasche zu verwenden. Aber sein Onkel hatte sich da etwas ausgedacht und er vertraute darauf, dass es funktionieren würde.

Jochen schaute von seinem Handschuh auf, griff nach der Leiter und schüttelte prompt den Kopf. »Hopfen und Malz, Junge, die steht doch nicht richtig!«

Was war jetzt wieder falsch? War ihm langsam egal.

Jochen prüfte gefühlte zehnmal, ob die Leiter sicher stand, indem er immer wieder kräftig daran rüttelte und gegen die Leiterschuhe trat.

Thomas zog die P3-Feinstaubmaske über seinem Gesicht zurecht. Widerwillig atmete er die feuchte Luft ein, die sein Atem produzierte. Dann schloss er den Staubanzug unter dem Kinn so, wie sein Onkel es haben wollte. Eine raschelnde Wolke aus Polypropylen umgab ihn. »Geschützt«, erklärte er.

Jochen schaute kurz zu ihm rüber, zeigte dann mit dem Zeigefinger auf seine Stirn. »Da hängt noch was.«

Thomas fuhr mit der Hand über sein Gesicht, um jede Strähne unter die Haube zu befördern. Er schwitzte. Jetzt, Anfang Juli, war der Berliner Sommer auf seinem Höhepunkt und die Prozessionsspinnersaison fast zu Ende.

Natürlich erhielt er noch eine extra ausführliche Anleitung über die Vorgehensweise. Als er mit seinen Erläuterungen fertig war, hielt Jochen den Daumen hoch und schaute wieder nach oben in die Eiche, an der die Acht-Meter-Ausziehleiter lehnte. Offensichtlich suchte er das Nest. Dann griff er das Saugrohr und hielt es Thomas hin.

»Zu dieser Jahreszeit sind die Raupen nicht mehr so mobil. Viele haben sich schon verpuppt. Die Gespinstballen sind festgetrocknet. Ich hoffe, die sind nicht noch höher gewandert, sonst musst du bis ganz nach oben klettern.«

An den Falten, die sich um Jochens Gesichtsmaske bildeten, erkannte er, dass sein Onkel ihn anlächelte.

»Kriegen wir dann auch hin.« Thomas wollte endlich die Leiter hoch und den Job beenden, damit er aus den Sachen rauskam.

Der Baum mit dem Nest der Eichenprozessionsspinner stand am Rand des Anwesens. Die riesigen Eichen des Nachbargartens ragten über die Backsteinmauer, die zwischen den Grundstücken gezogen war.

»Was ist, wenn die Biester auf die Eichen nebenan gewandert sind?«, überlegte Thomas laut.

»Dafür haben wir keinen Auftrag. Wir sind eine Schädlingsbekämpfungsfirma und nicht die Freiwillige Feuerwehr!«

»Ja, aber die wissen ja nicht, wo wir die Raupen runtergeholt haben. Berechnen tun wir’s doch trotzdem denen, die angerufen haben.«

»Das ist hier ne ganz schöne Plackerei, mein Junge. Sicher will ich die Dinger beseitigen, krieg ja auch Geld dafür. Allerdings dürfen wir nicht ohne Auftrag auf das Nachbargrundstück.« Sein Onkel holte kurz Luft. »Aber wenn du rankommst, na ja, dann hol sie weg. Besser wäre es. Ich sage dir, die zecken schlimmer als Wespenstiche.«

Thomas schulterte das Rohr und begann die Leiter hochzusteigen. Jetzt bloß nicht noch mal das Gefährlich-Blabla.

Jochen hatte das Rohr des leistungsstarken Industriesaugers mit Spezialfilter auf zehn Meter verlängert. Es endete in einem Aufsatzrohr aus grauem Polypropylen, mit dessen Kante er die Raupen abkratzen konnte. Sein Onkel würde den Sauger anschalten, wenn er soweit war.

Natürlich kriegte man die haarigen Kackdinger schwerer weg als Hundescheiße von Bauschuhen. Innerlich kotzte Thomas. Er balancierte auf der letzten Stufe der Leiter und streckte sich, um auch wirklich jede Raupe zu erwischen. Der Schweiß rann ihm in Bächen unter dem absolut atmungsdichten scheiß Plastikzelt an seinem Körper hinunter. Er wollte sich überall kratzen. Die Kommandos, die sein Onkel ihm von unten zurief, nervten ihn zusätzlich.

»Da sind noch richtig viele, ne ganze Traube. Weiter rein! Du musst da weiter rein!«

Am liebsten hätte er sich die Maske vom Gesicht gerissen und geschrien, aber die Flimmerhärchen der Raupen, die er abkratzte und einsaugte, schwirrten in der Luft herum. Auf jeden Fall musste er verhindern, dass ihm sein Onkel auf der Intensivstation einen Hab-ich-dir-doch-gesagt-Vortrag hielt. Mit seinem gesamten Gewicht drückte er die Saugdüse den Ast entlang.

Dann passierte es. Durch sein Gehobel brach der Ast weg und krachte mit der Raupenlast nach unten. Thomas rutschte hinterher, konnte sich aber mit seinem freien Arm an einen dicken Ast vor seiner Brust klammern, sodass er nicht von der Leiter rutschte. Das Blut rauschte in seinen Ohren. Oder war es der Sauger, der laut aufheulte?

Jochen schrie. Thomas sah ihn so schnell von der Leiter weghechten, wie ein dicker Mann eben weghechten kann. Überraschend schnell. Der Ast landete auf der Mauer und sackte auf der anderen Seite im Nachbargrundstück raschelnd zu Boden.

»Willst du mich umbringen?«, bellte sein Onkel.

»Sorry, Jochen.« Etwas zog an ihm. Der HT-Rohr-Aufsatz saugte sich an seinem Zeltanzug fest. Der Windzug war fast angenehm. Er ließ die Düse los und schüttelte die Hand aus. Von seiner Position aus konnte er sehen, dass die Raupentraube aufgeplatzt war und sich im Gestrüpp verteilt hatte. Scheiße, Mann!

„Du musst nach drüben und die Biester aufsammeln.“

Na klar! „Okay, dann klettere ich jetzt rüber, um sie aufzufriemeln.“

Nachdem er auf der anderen Seite der Backsteinmauer von der Leiter gestiegen war, schaute er sich um. Ein verwildertes Grundstück. In dicken Lichtkegeln schien die Sonne durch das Blätterdach auf Sträucher und Büsche. Die Luft schimmerte satt. Ungewohnt still war es, jedes Geräusch gedämpft … irgendwie unwirklich … wie in einem Märchenwald. Das hatte er vom Baum aus gar nicht bemerkt. War es hier kühler?

»Achtung!«

Thomas hüpfte zur Seite, als erst der Eimer, gleich danach die Schippe über die Mauer flogen und weich im hohen Gras landeten.

»Alles klar!«, rief er und sammelte die Sachen auf.

Als er den Saugschlauch, der über der Mauer baumelte, anhob, fiel ihm etwas Buntes im Gras auf. Er zog das Gestrüpp zur Seite. Vor ihm lag ein Beutel aus blassgrünem Satinstoff, umwickelt mit einem roten Band, in einer Kuhle. Ein Büschel Pfauenfedern spross daraus hervor wie aus einer Vase. Mit dem Sauger bewaffnet stocherte er in dem Ding herum.

»An?«, kam es von der anderen Seite der Mauer.

»Nein, bin noch nicht so weit.«

Er zog den Schlauch zu sich und schätzte die Entfernung. Das war knapp. Zum Glück lag der Ast in der Nähe der Mauer. Er ging dorthin und suchte den Boden nach Raupen ab, die er mit der Schaufel in den Eimer katapultierte.

Sein Fuß stieß gegen etwas – Glas. Da lag eine Flasche. Um sie nicht zu zertreten, legte er sie mit dem Sauger frei, wie er es zuvor mit dem Beutel gemacht hatte. Er betrachtete die Flasche und runzelte die Stirn.

Außen klebten Stoffreste, im Flaschenhals steckte ein Puppenkopf. Die Haare fehlten, stattdessen trug die Puppe ein gelbes Kopftuch. Das Gesicht war schmutzig, die Augen waren mit dicken roten Strichen bemalt. Ein Auge schaute ihn an, das andere war halb geschlossen. Um nicht darauf zu treten, schubste er die Flasche Richtung Beutel. Was für Spinner trieben sich nachts hier rum?

Auf der anderen Seite der Mauer läutete ein vertrauter Klingelton. »Da muss ich ran«, rief Jochen. »Ich mach jetzt an!«

Der Sauger heulte auf und Thomas begann, die eingesammelten Raupen aus dem Eimer zu saugen. Nach einer halben Stunde mühevoller Ostersuche entschied er, dass er eine Pause verdient hätte. Hier war eh kein Schwein.

Er hörte seinen Onkel immer noch am Telefon reden. Wenn der die Chance bekam, einem Kunden zu erklären, welche Baufehler zu seinem Schädlingsbefall geführt hatten, nutzte er das erbarmungslos aus.

Thomas klemmte den Sauger zwischen die Äste, sodass Zug auf dem Schlauch war und dieser fröhlich wackelte. Dann ging er ein Stück weiter hinein in den Garten auf der Suche nach einer Sitzgelegenheit. Wer arbeitet, darf auch mal Pause machen, sagte er sich, zog die Maske vom Mund und wickelte sich den oberen Teil des Anzugs um die Hüfte. Die Handschuhe klemmte er dazu. Luft, endlich! Er war klatschnass.

Arme schwingend ging er durch das Gras, umrundete einen großen Holunderbusch und wäre fast im ersten der obskuren Äste hängen geblieben, die vor ihm in regelmäßigen Abständen im Boden steckten. Zwischen den Ästen war genug Platz, sodass er durchgehen konnte.

Was diese Umfriedung mehr als Wie-von-Nachbarskindern-aufgebaut wirken ließ, waren die aufgespießten Singvögel. Er erkannte Drossel- und Rotkehlchenkadaver. Sie hingen in unterschiedlichen Positionen an den Spitzen ihrer Äste. Die dürren Vogelbeine und die Flügel standen in unmöglichen Winkeln von den Körpern ab. Sahen aus wie gebrochen.

Tolle Spikes! Er musste grinsen. Bei der Taubenvergrämung klebten sie Spikes auf Dachrinnen und Gesimse, um die Vögel vom Brüten abzuhalten. Die Tiere sollten nicht getötet werden. Es ging nur darum, sie zu vertreiben, damit sie im Wald brüteten und schissen. Hier allerdings waren echte Vogelliebhaber am Werk gewesen. Und das sah nicht nach Vorschrift aus. Die Genehmigung zum Töten von Wirbeltieren besagte: so human und schmerzfrei wie möglich. Die Verordnung schloss Wildtiere allerdings aus.

Er betrachtete sich das tote Rotkehlchen vor ihm genauer: eingesunkene Augen, kahle Stellen, die Federn klebten zusammen. War das Wachs? Eine Schmeißfliege wanderte unentschlossen über den Kadaver. Thomas erkannte ein winziges Fliegen-Ei, dass sie bereits an die Austrittstelle des Stocks gedropt hatte. Widerlich. Wenn er ein Insekt hasste, dann die Fliege. Er pustete sie weg.

Dicke Waldameisen krabbelten auf dem Vogel herum, untersuchten seinen Atemstoß mit ihren Fühlern, bevor sie in dem offenen Schnabel verschwanden. Wie lange die Vögel wohl schon hier hingen? Bei der Hitze bestimmt nicht länger als ein paar Tage.

Da bemerkte er noch etwas und ging in die Hocke, um den Kadaver von unten genauer zu inspizieren. Ein roter Faden mit einem weißen Holzkügelchen hing heraus: ein Faden für eine Nähnadel. Er schnaufte. Dann schaute er entlang der Stäbe. Soweit zu erkennen, baumelten unter den anderen Vögeln ebenfalls Holzkugeln. Seine Sicht verschwamm. Brauchte er ne Brille? Der Wald hinter den gepfählten Vögeln rückte näher. Er blinzelte, bis er das Rotkehlchen vor sich wieder scharf sah. Die metallisch glänzende Fliege war auch wieder da.

Privatpersonen können ja machen, was sie wollen. Ob sie sich selbst vergiften oder die Tiere in Lebendfallen verhungern lassen, sagte er sich und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Jetzt hörte er sich schon an wie sein Onkel.

Er sollte Fotos für Olli machen. Am besten brachte er seinen Kumpel mal hierher. Das war genau der okkulte Scheiß, den der cool fand. In welcher Phase stand der Mond eigentlich gerade? Vollmond, Neumond? Wer machte so etwas? Bestimmt irgendwelche Vollidioten, die sich stark fühlten, wenn sie so ne Kacke veranstalteten.

Als er aus der Hocke hochkam, wurde ihm schummrig. Nach zwei Schritten stabilisierte sich sein Kreislauf wieder. Er sollte was essen. Ein gelber Schmetterling flog knapp an seiner Brust vorbei und zog eine zappelige Kurve entlang des Vogelzauns. Zitronenfalter. Sein Blick folgte dem Schmetterling und dann – sah er das Haus.

Verdammt, Mann! Wo kam die Ruine her? Die hätte er von der Leiter aus sehen müssen. Es gab doch weit und breit keinen Waldstreifen, der die Sicht auf das Haus versperrt hätte.

Hinter dem Vogelzaun wuchsen keine Eichen mehr. Am Rand einer Wildwiese erhob sich, umgeben von Rhododendronbüschen, ein zweigeschossiger Bau mit offenem Dachstuhl. Von seinem Standpunkt aus konnte er die gebrochenen Sparren und Latten erkennen. Die Sonne stand hoch am Himmel, er hörte die Zirpen in den Sträuchern.

Neugierig ging er näher heran. Das Dach war vermoost. Efeuranken bedeckten die Wände. Blauregen überwucherte die gesamte Westwand, der Würger hatte die Dachrinne zusammengequetscht. Über dem Fenster im ersten Stock war das Dach eingebrochen. Daraus wuchs eine Birke. Ein Fensterladen der Gaube war weggesackt, er lag auf dem Dach darunter. Der Putz um die Verzierungen an den Wänden war weggebrochen. Klar – Spritzwasserschäden! Die Rinne funktionierte ja auch nicht mehr. Wie fett, dachte er, die Natur erobert sich das Haus zurück. Hier wächst mit Sicherheit der echte Hausschwamm.

Sein Onkel bot keinen Holz- und Bautenschutz an, auch keine Schwammsanierungen. Aber in der Berufsschule hatten sie das Thema behandelt – ultra interessant! Wenn er sich aufraffen und doch studieren würde, könnte er in Jochens Firma einen eigenen Teilbetrieb mit Sanierungen gründen. Darüber hatten sie mal geredet, er und Jochen. Die Idee versetzte ihn immer noch in Aufregung, aber sein Onkel hatte es sicher schon vergessen. Jedenfalls sprach er nicht mehr darüber, Thomas allerdings auch nicht. Sein Ziel war, die Lehre zu beenden und dann, wenn er das Geld für die Reparatur zusammen hatte, Jochens VW-Bus zu richten und durch Europa zu reisen.

Der Dachstuhl da oben wimmelte sicher nur so von Hausbock und holzzerstörenden Pilzen. Leider hatte er keine Axt dabei. Sonst hätte er einen Balken abbeilen können. Im Auto war auch keine. Egal. Erstmal sehen, was er überhaupt finden würde. Bei dem Loch im Dachstuhl könnte es sich auch um einen Kriegsschaden handeln. Vielleicht lag sogar ne Granate drin. Bei dem Gedanken spürte er, wie die Aufregung seinen Herzschlag erhöhte. Er blickte zurück zur Mauer, hinter der sein Onkel wahrscheinlich immer noch telefonierte.

Dann holte er tief Luft und rief, so laut er konnte: »Ich bin mal kurz pissen.« Egal, ob Jochen es gehört hatte, nur fürs Protokoll, er hatte Bescheid gesagt.

Er entschied, links um das Haus herumzugehen, um den Eingang zu finden. Das Gras reichte ihm bis zu den Knien, mit jedem Schritt riss er seinen Pfad ins Gestrüpp. Hier war schon ewig niemand mehr mit dem Mäher vorbeigekommen. Zarte Netze lagen wie ein Schleier über dem sich neigenden Gras. Dutzende schwarze Spinnen krabbelten aufgeregt aus seinem Weg. Motten, Florfliegen, lauter Kleinviech flog auf, als er durch das Gras stapfte.

Nicht mal Sprayer haben hier ihre Initialen hinterlassen, kam ihm in den Sinn. Nirgends leere Bierdosen. Völlig verlassen. Drinnen vielleicht.

Drei Stufen führten zum Eingangsbereich und zu einer Tür, die von aufwändigem Stuckwerk umrahmt war. Ranken, Blumen und Bögen zogen sich zu einer Frauenbüste hoch, die über der Tür in den Garten blickte. Mücken tanzten vor der steinernen Figur, zwei Libellen jagten im Zickzack durch den Schwarm.

Vor den matten Glasscheiben der Portalfenster waren schmiedeeiserne Gitter angebracht. In den dreckigen Fenstern konnte er Wellen erkennen. Einfachverglasung. Das Glas war sicher nie erneuert worden. In hundert Jahren floss Glas schon ein Stück weit. Er erinnerte sich genau daran, wie ihm Jochen das auf einem alten Berliner Dachboden gezeigt hatte.

Der Stoßgriff, so lang wie sein Unterarm, war einer Echse nachempfunden. Blätter und Blütenstände verzierten das Holz der Eingangstür. Erst jetzt bemerkte er, dass die Tür einen Spalt weit offen stand.

Wer lässt so ein Haus verkommen?, fragte er sich. Vielleicht wegen Denkmalschutz? Wenn es so weit runter ist, kann man es abreißen. Er kam zu dem Schluss, dass das sicher billiger wäre, als es zu sanieren.

Vorsichtig drückte er gegen die Tür. Sie knarzte und schleifte ein Stück über die aufgequollene Schwelle, bis sie sich festsetzte. Völlig verzogen! Aber er passte durch den Spalt. Mist, er hatte keine Arbeitsschuhe an und ne Taschenlampe wäre sicher praktisch. Trotzdem würde er einen Blick hineinwerfen.

Er betrat die Diele. Der Boden bestand aus einem Mosaik in erdfarbenen Tönen. Seine Schuhsohlen zeichneten ein Muster in den Staub. Über ihm hoben sich Ringe eines Wasserschadens auf der fleckigen Decke ab. Wahrscheinlich regnete es seit Jahrzehnten hier rein. Perfekte Bedingungen für einen Schwamm. Beidseitig zweigten Räume ab. Wie gelangte er ins erste Stockwerk? Irgendwo existierte sicher eine Treppe.

Den ersten Raum zierte Parkett mit Fischgrätmuster. Stuck schmückte nicht nur die Decke, sondern auch die Wände, wo die Umrandungen die Rosentapete wie Bilder in Szene setzten. Die zugewachsenen, dreckigen Fenster filterten das Tageslicht, sodass der gesamte Raum in einen warmen Schimmer getaucht war. Der Staub, den Thomas aufgewirbelt hatte, schwebte in glitzernden Schwaden durch die Luft.

Ein Kamin thronte an der gegenüberliegenden Wand. Dahinter hing ein wandhoher Spiegel, besprenkelt mit grünen und kupferfarbenen Flecken. Auf dem Sims stand eine prächtige Uhr, an jeder Seite posierte eine Vase mit Pferdemotiven. Darum herum standen Figürchen aufgereiht. Thomas sah sich als dunklen Schatten an der Wand.

Alles hier erinnerte ihn an Schloss Charlottenburg. Ein Sofa und drei Stühle mit geschwungenen Beinen und Verzierungen am Kopfende standen vor dem Kamin auf einem großen Teppich. Das einstige Weiß war zu Grau nuanciert. Die ehemals wohl tiefroten Bezüge schimmerten Rosé.

Welch ein verwunschener Ort. Die Zeit war stehen geblieben. Wahnsinn! Er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Klar würde er sich das ganze Ding anschauen.

Auf dem Beistelltisch neben dem Zweisitzer lag ein aufgeschlagenes Buch. In dem Likörglas daneben klebte eine tote Fliege. Staubfäden zogen sich vom Rand des Glases bis zum Tisch. Er klappte das Buch zu und las, was auf dem Einband stand: Der Krieg der Welten, H. G. Wells. Das war doch schon mindestens zehnmal verfilmt worden! Vorsichtig blätterte er die ersten Seiten um und fand ein Datum: 1901.

Als er das Buch zurücklegte, fiel ihm auf, dass es nicht besonders verstaubt war. Merkwürdig, 1901 war lange her. Dann fuhr er mit dem Zeigefinger über den Tisch und legte die Mahagoni-Marmorierung der lackierten Platte frei.

Neugierig schob er seinen Schuh unter eine Ecke des Teppichs. Alles klar! Fraßgänge und leere Puppenkokons von Motten. War wohl Schafswolle. Lecker, lecker.

Er trat an den Kaminsims. Die hellen Figürchen entpuppten sich als Zähne. Der Größe nach zu urteilen stammten sie von erwachsenen Menschen. Oder hatten irgendwelche Tiere solche Zähne? Jeder Zahn wies Verzierungen auf – einige Schnitzereien, andere Jade-Inlays.

Sein Blick fiel auf einen Bogendurchgang. Als er sich näherte, bemerkte er, dass dahinter ein Flur lag. Zwei schmiedeeiserne Schlangen sahen ihm von einer Doppelflügeltür am anderen Ende entgegen. Er ging darauf zu.

Als er vor den Schlangen stand, fiel ihm eine Glastür zu seiner Rechten auf. Sie schien in eine Art Wintergarten zu führen, aber die Scheibe war dreckig. Große, dunkle Blätter schoben sich von der anderen Seite daran hoch.

Er betrachtete die Schlangen genauer. Sie waren in runde Embleme aus Metall, verziert mit geometrischen Mustern, gestanzt. Ein Band, an dem ein silberner Anhänger hing, war mehrmals um die Messinggriffe der Türen gewickelt.

Das Schmuckstück gefiel ihm. Es stellte eine Motte dar oder einen Schmetterling, versehen mit ähnlichen Mustern wie die Schlangen. Er hob es an, das Band zerbröselte. Zwischen Rahmen und Tür puffte sanft Staub auf. Dann, im nächsten Moment, stand er wie angewurzelt. Beide Flügel machten einen winzigen Ruck auf ihn zu. Ein sanfter Luftzug kam ihm entgegen – wie ein befreiter Atemzug.

Verdammt! Es roch nach vierhundert Jahren ungeputzter Zähne. Er rümpfte die Nase, lehnte sich einen halben Schritt zurück und stöhnte laut auf. Mit einer Hand hielt er sich die Nase zu und hustete, mit der freien Hand wedelte er vor dem Gesicht herum. Irgendwas verweste da drinnen. Den Geruch kannte er von Leichenwohnungen, die er desinfiziert hatte. Widerlich. Hier vergammelte etwas Großes, ein Waschbär oder ein Fuchs. Er zog die P3-Filtermaske über Mund und Nase, dann drückte er die Türen mit seiner Schulter fest zu. Oder hundert Ratten. Bäh! Es schüttelte ihn. Volle Lunge, na danke. Er räusperte sich, atmete bewusst lange aus, schlug sich auf die Brust und hustete wieder. Dann schob er den Anhänger in seine Hosentasche. Als er den Knoten des Schutzanzuges wieder festzog, ließ ihn eine Bewegung hinter der Glastür aufblicken.

Nichts. War da nicht gerade noch eine Pflanze gewesen? Er hörte ein Tapsen und versuchte zu orten, woher das Geräusch kam. Lief da jemand im oberen Stockwerk herum oder nebenan? Obwohl er angestrengt lauschte, hörte er nichts mehr. Vielleicht eine Krähe auf dem Dach? Er schaute zurück in den Raum, aus dem er gekommen war. Hatte sich das Licht verändert? Wie lange war er überhaupt schon hier drin?

Putz rieselte von der Decke auf ihn herab. Der Gestank drang ihm trotz der Maske wieder in die Nase. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als ein sanfter Windzug an seinem Hals entlangstrich. Er drehte sich nicht um. Er schluckte.

Im Staub neben seinen Schuhsohlenprofilen waren Abdrücke von nackten Füßen deutlich zu sehen. Ihm wurde übel, sein Magen begann zu revoltieren. Nur nicht kotzen! Er war lange genug in diesem Haus herumgeschlichen. Zeit zu gehen.

Das Haus ächzte, er zuckte zusammen. Eine feine Linie bildete sich in der Decke über ihm. Putzbröckchen rieselten auf den Boden. Der Riss teilte sich, teilte sich wieder. Noch eine Bruchlinie splitterte über ihn hinweg. Es regnete Putzstaub. Auch entlang der Wände entstanden Risse.

Der Staub brannte in seinen Augen. Scheiße! Er verlagerte sein Gewicht, der Boden unter ihm knarzte. Er rieb sich die Augen. Etwas schlug gegen ein Fenster, wischte über den Boden. Im nächsten Moment hörte er schnelle tapsende Schritte – wie von Pfoten. Was auch immer das war, es kam auf ihn zu. Er konnte nichts sehen. Verkackter Staub! Er hörte es kommen, aber der Boden knarzte nicht. Eine Krähe. Ein Hund. Ein Waschbär. Wölfe. Wildschweine …

»Jochen?« Vor dem Geräusch seiner eigenen Stimme zuckte er zusammen. Schlagartig wurde ihm klar – das war nie im Leben sein Onkel. Der Boden unter ihm machte einen Ruck. Ohne zu überlegen, drehte er sich um und tastete nach dem Türgriff. Nur weg hier!

Gleich würde es im Bogendurchgang erscheinen und von der Decke erschlagen werden, so wie er auch, wenn er noch weiter hier rumstand. Hastig holte er Luft und schlüpfte in den stinkenden Raum. Gerade als er die Tür zugezogen hatte, rumste es. Ein großer Brocken musste von der Decke gefallen sein. Danach – Stille.

Immer weiter die Luft anhaltend, lehnte er sich vorsichtig gegen die Tür. Etwas schleifte auf der anderen Seite, ein Kribbeln lief über seinen Körper. Die Übelkeit wurde stärker. Da lehnte sich auch etwas von der anderen Seite gegen die Tür. Er spürte es durch das Holz. So fest wie möglich drückte er den P3-Filter gegen sein Gesicht und ließ den Atem langsam aus seinen Lungen entweichen. Nicht husten. Schweiß lief ihm über die Stirn, sammelte sich am Rand der Maske.

Sehr langsam wurde der Türgriff heruntergedrückt. Scheiße, Mann! Hier würde keiner reinkommen. Er hielt dagegen, drückte den Griff hoch. Es ließ nach. Die Klinke schnappte zurück.

Er kniff die Augen zusammen und lauschte. Bitte, verarscht mich!

Eine leise, kratzige Stimme ertönte. Er traute seinen Ohren nicht. Alles, was er verstand, war: »Dawi?« Es klang wie eine Frage.

Fest biss er die Zähne aufeinander. Eines war klar! Auf der anderen Seite befand sich kein Tier. Hinter der Glastür waren nur große Blätter gewesen. Nichts mit Augen! Oder doch? Er versuchte sich zu erinnern, aber er wusste gar nichts mehr mit Sicherheit. Hatte er Augen gesehen?

Es entfernte sich. Er hörte Putzbrocken durch den Raum rollen. Es schleifte etwas hinter sich her.

Langsam ließ er den Griff los. Mittlerweile war ihm speiübel. Er hätte was essen sollen. Oh Gott! Bei dem Gestank nicht an Essen denken! Unsicher blickte er zur Decke. Kam hier jetzt auch alles runter? Wieder versuchte er, sich den Staub aus den Augen zu reiben und blinzelte in den stockdunklen Raum. Weiter hinten auf der gegenüberliegenden Seite befand sich ein Fenster, das mit einer zerschlissenen Übergardine zugehängt war. Das Sonnenlicht, das durch die Löcher des dicken schwarzen Stoffes blitzte, blendete ihn, sodass er nichts erkennen konnte. Alles lag in dunklen Schatten. Als er erneut einen Schritt machte, knarzte der Boden wieder. Er lauschte auf das Geräusch. Das hier war ein Zimmer. Es gab keinen Hall und kein Echo. Die Gegenstände direkt vor dem Fenster zeichneten sich in Silhouetten vor ihm ab. Dort stand etwas. Ein Stuhl? Ein Schreibtisch mit Zeug drauf? Vielleicht ein Arbeitszimmer?

Um seine Augen vor den gleißenden Strahlen zu schützen, hielt er seine Hand davor. Er konnte wage Umrisse der Einrichtung ausmachen. Hohe Bücherregale standen an den Wänden. Aber seine Augen waren noch geblendet und tränten vom Staub. Funkelnde Sterne zogen über seine Pupillen. Eigentlich sah er nen Scheiß.

Wenn er durch das Zimmer laufen und die Vorhänge aufziehen würde, könnte er mehr erkennen. Vielleicht gab es noch eine andere Tür. Aber er zögerte. Sollte er einfach wieder rausgehen? Wohnte hier doch noch jemand? Die Spieße, die Flasche mit dem Puppenkopf, alte verstaubte Bücher von 1901, das Zahnschach … War er etwa eingebrochen?

Er entschied, dass er keinem begegnen wollte. Warum nur stank es so? Heftig atmete er durch die Nase. Auf keinen Fall wollte er so lange bleiben, bis er sich daran gewöhnt hatte.

Seine Gedanken kreisten in der Dunkelheit. Wo kam der Kadavergestank her, wenn es nur einen Ausgang für dieses Zimmer gab? Die Kette hatte er doch gerade erst von den Griffen entfernt. Offene Rohre. Eine Ratte. Offene Rohre in einer Bibliothek? Heizungsrohre?

Es stank nicht nach Ratte. Es stank nicht nach totem Tier. Könnte er in Gedanken kreischen, würde er das jetzt tun. Scheiße, es war Zeit, abzuhauen! Mann, echt jetzt!

Den aufkommenden Würgereiz unterdrückend atmete er flach ein. Dann stieß er die Luft kräftig aus und löste sich von der Tür. Sei kein Ei!, befahl er sich stumm. Du musst es nur in den Garten schaffen.

Beinahe wäre er eine Stufe hinuntergestürzt, die er in der Dunkelheit übersehen hatte, aber er fing sich und stolperte nur zwei schnelle Schritte hinunter in den Raum. Dabei verursachte er allerdings enormen Krach. Fuck! Er trat auf etwas, rutschte mit dem Fuß daran vorbei. Das Ding auf dem Boden rollte! Ein Rohr? Er wollte schlucken, aber sein Mund war ganz trocken. Das Ding gab bei leichtem Druck nach. Also doch kein Rohr. Vielleicht eine Teppichfalte?

Angestrengt lauschte er wieder in die Stille. Nichts. Nur das stete Fluchen in seinem Kopf. Nichts bewegte sich, die Tür blieb geschlossen. Er konzentrierte sich auf einen Riss im Vorhang, durch den die Sonne blitzte. Vorsichtig hob er sein Bein und betete, das da einfach nur Boden war, wenn er den Fuß aufsetzte. Nach zwei weiteren Schritten trat er wieder auf so etwas wie eine Teppichfalte. In Gedanken fluchte er so heftig, dass sein Kopf anfing wehzutun. Mit der Fußspitze tastete er an dem Hindernis entlang. Eine sehr lange, sehr breite Falte.

Er ging um die Riesenfalte herum. Ließ keinen Gedanken zu. Spekulierte nicht. Ging nur zum Fenster. Konzentrierte sich auf das Licht. Blendete den Rest des Zimmers aus. Fühlte mit dem Fuß nach Hindernissen. Stieß dagegen. Hob den Fuß. Tastete damit über die Falte. Stellte den Fuß ab. Hob den anderen. Wiederholte das Prozedere. Sein Atem war so laut. Sein Herz pumpte. Es rauschte im ganzen Zimmer. Stück für Stück arbeitete er sich voran. Nicht hinfallen! Es stank so widerlich.

Am Tisch angekommen sah er genau hin, obwohl sich alles in ihm dagegen sträubte. Das Licht blendete nicht mehr. Das, was auf dem Tisch lag, erkannte er deutlich. Keine Bücherstapel, keine Papiere. Scheiße, nein: ein Mann!

Thomas stand neben den Füßen. Über dem Unterleib lag ein schmutziges, ehemals wohl weißes Laken. Die Brust bedeckte ein Harnisch aus kupfernen Ranken und Winden. Sofort kamen ihm die Türschlangen in den Sinn. Darunter konnte er die Rippenknochen erkennen. Haut und Muskeln schienen geradezu zerfetzt worden zu sein. Auf dem ansonsten unbedeckten Körper glänzte die dunkle Haut, als würde der Mann schwitzen. Die Beine waren mit einem Strick gefesselt. Die eingefallenen Wangen und der haarlose Schädel erinnerten an eine Mumie. In der Nase steckten Tücher und eine Art Krone aus Dolchen war mit einer Schnur um die Stirn gebunden.

Der Typ konnte nur tot sein. Doch irgendwie war Thomas sich nicht sicher. Atmete der Mann? Nein. Was war das Problem? Dann fiel es ihm auf. Der Typ wirkte nicht wie ein Toter. Die geöffneten Augen starrten Thomas an. Ja! Die Augen waren nicht die eines Toten.

Verrotteten Augäpfel nicht als Erstes? Verdammt! Zeit zu gehen! Er fummelte nach dem Vorhang. Wieso zitterte er? Wieso spann er sich das zusammen? Der Kerl war auf jeden Fall tot. Der stank nur. Sonst nichts. Musste er jetzt die Polizei anrufen oder ein Museum? Das flaue Gefühl im Magen verstärkte sich.

Hinter sich hörte er jetzt ein Geräusch, als würde jemand Tapete von der Wand abziehen, gefolgt von einem Stöhnen. Ihm war zum Kotzen. Sein Herz schlug im Hals, er schwitzte, hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Doch er drehte sich um – ganz langsam.

Und dann – sah er sie. Alle. Die Lichtstrahlen beleuchteten sie wie Spots im Theater. Sie lagen auf dem Boden, hingen in den Regalen, krallten sich unter der Decke fest – mit aufgerissenen Mündern.

Sein Hirn pumpte Adrenalin. Er spürte, wie es sich vom Nacken in seine Arme ausbreitete. Sein Herzschlag legte noch einen Zahn zu. Er atmete stoßweise.

Der ganze Raum war voller Leichen! Die Toten trugen zerschlissene Kleidungsfetzen; sie wirkten, wie in einem Kampf erstarrt. Alle schauten mit leeren Augen in Richtung Tür – weg von der Tischleiche. Nein – nicht alle! Gänsehautschauer jagten über seinen Rücken.

Eine schwarze Frau mit Kalk gepudertem Gesicht, die neben der Tür auf dem obersten Regalbrett hockte, schaute Thomas mit einem irren Blick an. Wurde ihr Grinsen breiter?

Seine Hand fand den Vorhang, krallte sich darin fest. Er zog an ihm, ohne großen Erfolg. Staub wirbelte auf, ein paar Strahlen mehr zuckten über das Massengrab, in dem er sich befand. Wollte er wirklich noch mehr sehen? Mit Kraft riss er am Vorhang – nichts. Was klemmte da? Voller Panik suchte er mit den Augen die unmittelbare Umgebung ab. Dabei fiel sein Blick wieder auf die Tischleiche und er konnte nicht mehr wegschauen.

In diesem Moment krachte der Vorhang mitsamt der Stange auf den Boden. Hell schnitt die Sonne in den Raum. Ein Stöhnen ging durch die … Balken? Um Thomas herum knackte es, als würde sich zerknittertes Papier entfalten. Die Pupillen des Mannes verengten sich.

Er spürte, wie das Blut aus seinem Gesicht wich. Ihm wurde schwindelig. Er keuchte. Nur raus. Er drehte sich zum Fenster, schlug gegen das Glas, fand den Griff, rüttelte daran – und hörte eine Bewegung hinter sich. Das war das Letzte, was er wollte. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen. Kippfenster. Ein Kippfenster. Er krallte sich in die obere Fuge des Rahmens und zog. Dann schob er den unteren Teil des Fensters nach außen. Warme Luft strömte in den Raum, doch es öffnete sich nicht vollständig. Galle brannte in seinem Hals.

Als er sich durch die Lücke presste, sah er aus dem Augenwinkel, dass das Laken vom Tisch rutschte. Etwas berührte den Boden. Gierig saugte er die warme Luft in seine Lunge, um nicht ohnmächtig zu werden. Jetzt drang Galle in seine Nase.

Mit geschlossenen Augen ließ er sich aus dem Fenster fallen und landete kopfüber in den Dornenbüschen, die unter dem Fenster wucherten. Rosen! Verdammte Scheiße, Mann! Wer pflanzte hier denn Rosen? Außerdem hing er irgendwie fest. Sein Polypropylen-Anzug hatte sich im Scharnier verfangen.

Er brauchte eine Ewigkeit, bis er sich aus dem Anzug frei gestrampelt hatte und eine weitere Ewigkeit, um aus dem Dornengestrüpp zu kriechen. Die Ranken kratzten durch sein Gesicht, hielten seine Arme fest, stachen durch das T-Shirt.

Voller Wut schrie er auf, fauchte seinen Ärger hinaus. Das konnte doch nicht wahr sein! Er hustete und spuckte Dreck aus der Lunge. Der Geschmack des Raumes haftete immer noch in seiner Nase und lag auf seiner Zunge wie vergammeltes Fleisch.

Tief holte er Luft. Gott, frische Luft war etwas Schönes! Als er den zugewachsenen Weg erreicht hatte, ging er in die Knie. Wie sehr er zitterte!

Kurz schaute er zurück. Sein Anzug hing im Fenster, seine Maske in den Dornen. Passierte all das wirklich oder war er bescheuert? Er atmete schwer. Ihm wurde wieder schummrig. Das war so daneben. Echt jetzt. Die Polizei musste her!

Er starrte in das dunkle Fenster, kniff die Augen zusammen, bis sie wehtaten. Wieder jagte Adrenalin durch seinen Körper. Die Schatten im Raum bewegten sich. Auf seinem Anzug erschien jetzt eine dunkle Hand, die den Fetzen in den Raum hineinzog.

Thomas ächzte. Ihm wurde kalt. Dann rannte er los in die Richtung, aus der er vermutlich gekommen war. Er musste das Haus umrunden, kam jedoch kaum voran. Was war hier los? Das Graszeug verhedderte sich um seine Schuhe. Mit jedem Schritt kämpfte er gegen den Widerstand. Das scheiß Grundstück hielt ihn fest!

Es kostete ihn einige Kraft, so etwas wie Geschwindigkeit aufzubauen. Er rannte an dem Wintergarten entlang, dessen Zugang er vom Haus aus gesehen hatte – wo das schlurfende Ding auf ihn gelauert hatte. Gedanken rasten durch seinen Kopf. Er hätte dort warten sollen … Schwachsinn, die Decke kam runter. Warum war er nicht rausgerannt? Weil da was kam. Was verdammt noch mal hatte ihn so erschreckt? Da war doch nichts gewesen. Alles nur Einbildung! Er war high auf Pilzsporen oder so ne Kacke.

Der Wintergarten im viktorianischen Stil hatte seine guten Tage hinter sich. Die Verstrebungen waren verrostet, die Fenster kaputt. Unkraut und Gestrüpp wucherten aus dem Stahlgestänge.