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Nach einer missglückten Razzia wird Lieutenant Philippe Bayard, ein junger und fürsorglicher Familienvater, von seiner Chefin Commissaire Monique Balcer zu einer Spezialaufgabe abkommandiert: Er soll die reiche Staatsanwältin Isabelle Monville beschützen, die nach einem überlebten Mordanschlag aus dem Krankenhaus entlassen wird. Was nach einer einfachen Aufgabe klingt, entpuppt sich jedoch schon bald als Gefahr für Leib und Leben, denn die Staatsanwältin möchte ihren immer noch frei herumlaufenden Attentäter zur Strecke bringen. Mit Unterstützung seines Kollegen Jean Martin und des Computerspezialisten Paul Zermiak machen sich der Polizist und die Staatsanwältin an diese lebensgefährliche Arbeit, die sie schon bald in eine Welt voller Betrug, Lügen und Korruption hineinzieht.
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Seitenzahl: 882
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Nach einer missglückten Razzia wird Lieutenant Philippe Bayard, ein junger und fürsorglicher Familienvater, von seiner Chefin Commissaire Monique Balcer zu einer Spezialaufgabe abkommandiert: Er soll die reiche Staatsanwältin Isabelle Monville beschützen, die nach einem überlebten Mordanschlag aus dem Krankenhaus entlassen wird. Was nach einer einfachen Aufgabe klingt, entpuppt sich jedoch schon bald als Gefahr für Leib und Leben, denn die Staatsanwältin möchte ihren immer noch frei herumlaufenden Attentäter zur Strecke bringen. Mit Unterstützung seines Kollegen Jean Martin und des Computerspezialisten Paul Zermiak machen sich der Polizist und die Staatsanwältin an diese lebensgefährliche Arbeit, die sie schon bald in eine Welt voller Betrug, Lügen und Korruption hineinzieht.
Betty Heinrich ist ein Kind der neunziger Jahre. Geboren und aufgewachsen ist sie im ländlichen Bayern. Sie arbeitet im medizinischen Bereich und begegnet somit den unterschiedlichsten Charakteren von Menschen Tag für Tag. Während eines Praktikums in einem Krankenhaus kam sie auch mit dem Prozess des Sterbens in Berührung. So wurde ihre Faszination für das Schreiben über Leben und Tod geweckt.
Säen und Ernten ist ihr Debütroman.
Für Daniel, dem wahren Vorbild für all meine Helden. Ruhe in Frieden.
Erster Teil
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Zweiter Teil
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Dritter Teil
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Das friedliche Treiben auf der Avenue de Champs-Élysées, das gewöhnlich nur durch lärmende Autohupen und freche, umherfliegende Tauben unterbrochen wurde, erfuhr an diesem Abend ein jähes Ende. Lieutenant Bayard hatte mit seinem Kollegen Martin und einigen uniformierten Polizisten des ersten Polizeireviers in Paris den Verdächtigen auf der belebten Straße umstellt. Im Hôtel de Crillon hatte die Razzia am frühen Abend begonnen und sich über mehrere Stunden hingezogen. Der Mann, nach dem alle gesucht hatten, Milo Bejic mit Namen, hatte im Verdacht gestanden, kinderpornografische Videos herzustellen, zu vervielfältigen und über ein Forum im Darknet zu verkaufen.
Ein Verbrechen, geplant und durchgeführt im großen Stil, wenn man den Ergebnissen der Polizeiarbeit Glauben schenkte.
Die Ermittlungen waren vor sieben Monaten aufgenommen worden. Der Zufallsfund von pornografischem Material war ein Dateiordner auf einem Computer, den man bei einer völlig anderen Drogenrazzia sichergestellt hatte. Der neue Fall, der sich damit aufgetan hatte und der vom ersten Anschein an nichts für die Jungs von der Drogenfahndung war, wurde daraufhin Commissaire Monique Balcer zugeteilt. Sie war die Leiterin der Abteilung für Mord und Gewaltverbrechen der Pariser Kriminalpolizei. Eigentlich hätten die Ermittlungen dem Dezernat für Sexualdelikte unterstanden, doch weil diese Division so unterbesetzt wie gleichzeitig überarbeitet war, hatte man Balcer in Betracht gezogen. Und diese wiederum hatte ihre beiden einfallsreichsten Kriminalpolizisten auf den Fall angesetzt, Lieutenant Philippe Bayard und Lieutenant Jean Martin.
Die zwei Männer arbeiteten seit drei Jahren zusammen. Bayard, der jüngere von beiden, galt von Tag eins an als der kluge und smarte Kopf, den jeder Führungsbeamte sich wünschte. Er war der Traumkollege, der Traumschwiegersohn, der hübscheste Mann im Polizeigebäude mit dem süßen Lächeln und den blauen Augen von unbegrenzter Tiefe. Dagegen glänzte Martin mit schroffem Ton. Ein faltiger, alter Kauz, dessen Rente am Horizont bereits winkte, und der sich in den letzten Jahrzehnten als der Mann fürs Grobe profiliert hatte. Leicht abgehalftert zog er durch die Straßen, meist mit verschlissenem Mantel, schlecht frisiertem Scheitel und einer Zigarette im Mund. Im Dienst hatte er mehr Kollegen weggebissen, beleidigt und vergrault als sonst jemand vor ihm. Zur Verwunderung einer ganzen Polizeistation hatte er sich aber vom ersten Tag an mit Philippe Bayard verstanden. Der widerspenstige Alte und der Bilderbuchjunge hatten sich als Ermittlerduo gefunden.
Abgesehen davon, dass Commissaire Balcer es liebte, die Erfolge ihrer eigenen Abteilung in den Zeitungen zu lesen, legte sie genügend Vertrauen in ihre Männer, dass diese die Fälle auch ernsthaft lösten. Ermittlungen im organisierten Verbrechen, und dazu zählte man die Arbeit Bejics mit seinen Hintermännern, boten zwar immer die Gefahr, im Dienst den Tod zu finden, gleichzeitig aber auch die Chance, befördert zu werden. Und das hatte Balcer für ihren erfolgversprechendsten Schützling vor. Bayard war ein aufstrebender Polizist. Bei seiner bisher tadellos geleisteten Arbeit würde in nächster Zeit die Beförderung zum Capitaine anstehen. Ein Sprungbrett nach weiter oben. Und, so hoffte Balcer, würde sein warmer Schein des Erfolgs auch auf Martin rieseln, der sich damit die letzten Jahre bis zur Pension sicherte. Denn für ihn legte die Chefin nicht die Hand ins Feuer, dass er sich nicht doch noch eines Tages die Rentenansprüche verderben könnte.
Eben dieser Fall ging schief. Bejic hatte sich anfangs noch in seinem unscheinbaren Verschlag im obersten Stockwerk des Hotels verstecken können. Doch er musste gespürt haben, dass die Polizei ihm dicht auf den Fersen war. Hatte er dieses Mal sein Glück überschätzt und war den Ermittlern auf den Leim gegangen? Nutzte ihm seine Vorsicht nichts mehr und war heute sein Ende besiegelt?
Sie kamen zu schnell näher, die Zeit reichte nicht, um die Festplatten zu löschen und sich selbst aus dem Staub zu machen. Er ahnte, dass er an diesem Tag nicht entkommen konnte.
Mit dem Gedanken im Kopf, sein jämmerliches Leben im Gefängnis fristen zu müssen, startete er einen letzten Versuch einer Flucht über die Feuertreppe des Hotels. Rücksichtslos stieß er zwei Polizisten zur Seite, die ihn aufzuhalten versuchten, und rannte durch eine dünne Glastür, um dann, mit Schnittwunden an den Armen, die Treppe hinunterzulaufen. Das Adrenalin peitschte durch seinen Körper und ließ ihn die Schmerzen, die Hunderte kleiner Splitter in seiner Haut verursachten, vergessen.
Geplant hatte er ein Leben irgendwo im Süden mit all dem illegal verdienten Geld. Jetzt war der Gedanke, als Kinderschänder im Knast von Fresnes zu sitzen, definitiv näher gerückt als der Strand von Nizza. Seine letzte Chance witterte er durch die Flucht nach vorne über die Avenue Gabriel und die Avenue de Marigny hinunter zur Champs-Élysées. Er hätte schon weglaufen sollen, als die Polizisten die Türe zu seinem Stockwerk eingetreten hatten, aber er hatte sich dafür entschieden, lieber die Festplatten zu löschen. Diese Entscheidung bereute er nun. Das Hotel, über dessen Computer-Netzwerk er seine Geschäfte erledigt hatte, war der perfekte Deckmantel für sein unheiliges Treiben gewesen. Jetzt war es zu seinem Untergang geworden.
Seine Waffe, eine Glock 19, hatte Bejic wie üblich im Hosenbund stecken. Auf dem Schwarzmarkt gekauft, nie benutzt und doch parat für den absoluten Notfall. Er legte sie ausgesprochen selten bis niemals ab, höchstens zum Duschen. Selbst beim Schlafen hatte er sie in letzter Zeit immer unter dem Kopfkissen versteckt. Die Paranoia hatte sich bei seinem Job einfach mit in sein Leben eingeschlichen.
Bejic bog auf die Hauptstraße Richtung Arc de Triomphe ein. Menschenmassen versperrten den Weg. Es war ein milder Frühlingsabend und die Menschen schienen sich nach dem Winter nach der lang erwarteten Wärme des Tages zu sehnen. Jetzt standen sie ihm im Weg. Rücksichtslos wie eh und je bahnte sich Bejic seinen Weg. Er zog seine Waffe und lief unbeirrt weiter, die Glock in seiner rechten Hand haltend. Er drehte sich nicht um. Doch er wusste, dass sie ihn verfolgten.
Polizeisirenen kamen näher, wurden lauter und lauter. Es dauerte nicht lange, bis die Pariser Polizei ihn eingekreist hatte. Ganz vorne dabei der motivierte Jungspund aus Commissaire Balcers Abteilung: Philippe Bayard.
An der Kreuzung der Metro-Station George V hatte eben dieser Bayard ihn eingeholt, während Polizeiautos die gesamte Breite der Straße versperrten. Reifen quietschten und Menschen schrien und rannten um ihr Leben. Lärm, Chaos, Blaulicht und Panik stülpte der Szenerie eine unheilbringende Stimmung über. Bejic hatte verloren, als er vor einer Wand von Streifenwagen und Polizisten stehen bleiben musste.
„Hände hoch und da lassen, wo ich sie sehen kann.“ Mit gezogener Dienstpistole hatte Bayard sich seit Wochen auf diesen Moment gefreut. Endlich diesen Verbrecher zu finden und zu verhaften, dem sie so viel Zeit, Mühe und Aufwand geopfert hatten. Jetzt war es so weit. „Waffe fallen lassen!“
Bejic rührte sich nicht. Es war einer von diesen Augenblicken, in denen die Erde stillstand. In seinem Kopf hämmerten die Gedanken unkontrolliert an das Innere seiner Schädeldecke. Warum jetzt? Das Geschäft war so gut gelaufen. Warum er? Gab es keine anderen Kriminellen mehr in Frankreich, denen die Polizei ihre Aufmerksamkeit schenkte? Die schlimmste Frage für ihn war jedoch eine ganz andere: Wie würde die Zukunft im Gefängnis aussehen? Kinderschänder, und als das würde er bei den Mithäftlingen gelten, waren die untersten Mitglieder in der brutalen Hierarchie, die hinter Gittern herrschte. Niemand würde ihn respektieren oder gar Mitleid mit ihm haben, somit keine erfreuliche Aussicht.
„Bejic, lassen Sie die Waffe fallen! Letzte Warnung!“ Der Ton in Bayards Stimme wurde schärfer. Er wurde nervös, weil er es hasste, wenn sich Verbrecher seinen Anweisungen widersetzten. Diese Momente der Ungewissheit raubten ihm sein sonst so unerschütterliches Selbstvertrauen. Was würde er tun, wenn Bejic seiner Aufforderung nicht nachkam? Würde er schießen? Bayard hatte noch nie einen Menschen erschossen. Verprügelt ja, aber niemals jemanden ins Jenseits befördert. „Lassen Sie die Waffe fallen!“ Jetzt schrie er.
Von dieser Sekunde an geschah alles blitzschnell. Bejic riss den Arm mit der Pistole nach unten. Seine Augen, in die der junge Polizist blickte, verrieten seine Absicht, das Feuer auf die nächststehenden Passanten zu eröffnen. Doch Bayard hatte das minimale Zucken seiner Muskeln bemerkt, weit bevor es die anderen Kollegen registrierten. Er reagierte am schnellsten, sah die Leben der unschuldigen Menschen in Gefahr und ehe die meisten Anwesenden das Geschehen realisierten, bohrte sich eine Kugel aus Bayards Waffe in Bejics Brust. Ein kurzer Schrei, dann fiel der Mann auf die Straße und ein riesiger Strom aus Blut floss aus der Wunde, die direkt zu seinem Herzen führte. Bayard hatte die Schulter anvisiert, doch durch die unvorhersehbare Bewegung des Verfolgten hatte die Munition ihr eigentliches Ziel verfehlt und war zum blutigen Todesstoß geworden.
Es dauerte nicht lange, bis Bejic mitten auf der Champs-Élysées verstarb.
Das Medienecho auf diesen Einsatz und sein spektakuläres Ende auf der Champs-Élysées waren ebenso überwältigend wie verwirrend. Manche Zeitungen lobten das beherzte Eingreifen der Polizei im Milieu eines der widerlichsten Verbrechen der Menschheit, der Kinderpornografie, andere wetterten über die Gefährdung der zivilen Bevölkerung und einer versagenden staatlichen Organisation. Alle Fernsehsender brachten die Neuigkeit in ihren Nachrichten und die ausländischen Korrespondenten stürzten sich auf die Geschehnisse jenes Abends wie Habichte auf Kaninchenjungen. In Paris war, wieder einmal, auf offener Straße ein Drama geschehen. Und die Welt bekundete ihr Interesse daran.
Es hätte trotz der mannigfaltigen Kritik, die an Bayard und seinen Kollegen vonseiten der Medien geübt wurde, ein Meilenstein in deren Lebenslauf werden können. Doch am Tag nach der Razzia und dem Tod Bejics war ein Video aufgetaucht, das einen neuen Aufschrei in der Bevölkerung provozierte. Ursprünglich dem Sender FR1 anonym zugespielt, brauchte es genau einen Tag, bis man die wichtigsten Sekunden des Videos als Fotos abgedruckt in jeder Zeitung des Landes auf der Titelseite fand. Das TV-Programm wurde nur noch von einer einzigen Neuigkeit bestimmt: Das Video, das zeigte, wie Bayard den Flüchtigen erschoss.
Leider wies der Mitschnitt, dessen Ursprung im Dunkeln blieb, keinen Ton auf. Dafür stellte das schummrige Licht des Abends in Kombination mit einer Handykamera von mäßiger Qualität eine gänzlich zwielichtige Situation dar, in der eine wichtige Sache nicht zum Vorschein kam: Niemand konnte die Armbewegung von Bejic sehen, seinen Blick in die Menge, seinen Willen, mit letzter Kraft unbeteiligte Passanten mit in den Tod zu stürzen. Somit gab es augenscheinlich auch keinen Grund, ihn von vorne zu erschießen.
Das Video machte die Runde, noch bevor Bayard, Martin oder irgendjemand ihrer Vorgesetzten die Aufnahme gesehen hatten. Und was in den ersten Stunden nach der Razzia noch gelobt worden war, entwickelte sich schnell zu einer medialen Hetzjagd auf den Polizisten, den man auf dem Video sah: Lieutenant Philippe Bayard.
Niemand interessierte sich für den Polizeibericht oder die Aussagen der Kollegen. Für die Reporter der Fernsehsender und Radiostationen war dies nicht mehr von Bedeutung. Es zählte nur, was ein wahnwitziger Passant mit seinem Mobiltelefon aus einer schlechten Position heraus gefilmt hatte.
Der Weg ins Revier der Pariser Kriminalpolizei glich einem Spießrutenlauf mit Kameras und Mikrofonen. Für Bayard und seinen Partner Jean Martin, an diesem Tag noch griesgrämiger als eh und je, war die Einbestellung zum Gespräch keine Überraschung. Mit eiserner Miene und zielstrebigen Schritten bahnten sie sich ihren Weg durch die Menschenmenge, die vor dem Revier im Stadtteil Belleville auf sie wartete.
Im Gebäude selbst herrschte eine angespannte Stimmung. Jeder, der Bayard kannte, wusste, dass er nicht zu den Polizisten gehörte, die gerne und offenherzig Menschen erschossen. Dafür war er zu integer, loyal und gesetzestreu. Wenn man es jemandem zugetraut hätte, dann vielleicht Martin. Er war bekannt wegen seiner Freundschaften zu sämtlichen Dealern und Zuhältern der Stadt, er hatte die besten V-Männer von Paris und in seiner Wohnung mehr rezeptpflichtige Opiate versteckt als so manche Apotheke vorrätig hatte. Er war eigensinnig, launisch, oftmals bissig zu jedem, der ihm zu nahe kam, aber mit Bayard hatte er immer ein unzertrennliches Team gebildet, egal, ob in der Mordkommission oder beim organisierten Verbrechen. Wie die beiden zusammenpassten, war den meisten Kollegen nicht erklärlich. Sie harmonierten miteinander und betrachteten den jeweils anderen als Familie. Zwei Männer, die einander ihr Leben anvertrauten.
Auch die Razzia war an sich gut gelaufen, die Vorarbeit akribisch, selbst der Tod eines kriminellen Bejics war in Frankreich als Erfolg zu verbuchen. Nur das Video passte nicht in die perfekte Welt ihrer Polizeiarbeit mit dem glorreichen Ende.
Martin hätte die Sache kaltgelassen, wenn es sich nur um ihn gehandelt hätte. Aber er war nicht auf dem Video zu sehen, nur sein Partner, der liebe und nette Philippe Bayard, der jede Schicht übernahm, um die man ihn bat.
Der blonde Traumschwiegersohn mit der vielversprechenden Karriere in der Zukunft war auf den harten Boden der von den Medien geschürten Hetze gestürzt. Und viele der Pariser Polizisten begannen, den reißenden Berichterstattungen Glauben zu schenken.
Manche Kollegen sahen zu Boden, manche an die Wand, die wenigsten sahen die beiden direkt an, als sie in den ersten Stock des Gebäudes hinaufgingen.
Im Büro warteten Monique Balcer, Philippes und Jeans Vorgesetzte und Leiterin der Abteilung für Mord und Gewaltverbrechen, Commissaire Marc Lagarde, Chef des Dezernats für organisierte Kriminalität der Pariser Polizei, und Richter Louis Degois auf die beiden Polizisten.
Obwohl es noch früh am Tag war, konnte man die Luft bereits schneiden, als das Gespräch begann. Martin und Bayard blieben stehen. Niemand hatte ihnen einen Stuhl angeboten. Sie fühlten die Anspannung, die von dieser grotesken Situation ausging. Wer in das Büro der Chefin kommandiert wurde, hatte ein ernsthaftes Problem am Hals. Balcer war nicht gerade dafür bekannt, besonders weich und liebevoll zu sein. Sie führte ihre Abteilung mit harter Hand und genau das bereitete Bayard die meisten Sorgen, als ihre Vorgesetzte als Erste das Wort ergriff: „Lieutenant Martin, Lieutenant Bayard“, sie klang spitz, „wie Sie sicherlich ahnen, können wir die Ereignisse von vorgestern nicht unter den Teppich kehren.“ Sie machte eine kleine Pause, die die Nervosität Bayards ins Unendliche katapultierte. „Niemand hat die Absicht, Ihnen zu schaden, aber wir müssen sehen, wie wir Sie aus der Schussbahn der Medien bekommen.“
„Schlechtes Wortspiel“, warf Degois etwas zu verächtlich ein.
„Bejic hatte seinen Arm bewegt und wollte mit seiner Waffe schießen. Ich habe ihn davon abgehalten, auf Zivilisten zu ballern. Wäre es den Medien lieber, ich hätte ihn nicht erwischt und Bejic hätte stattdessen Frauen und Kinder erschossen? Dieses Video ist aus einem verdammt schlechten Winkel heraus gemacht. Sie glauben doch nicht wirklich, dass ich sonst auf ihn geschossen hätte. Er kam meinen Aufforderungen nicht nach, die Waffe niederzulegen. Er hat sich bewegt und ich sah die Sicherheit der Menschen an diesem Ort ernsthaft gefährdet.“ Bayards Stimme bebte. Der junge Beamte war lauter geworden, als er es beabsichtigt hatte, und war mit dem Oberkörper immer mehr Richtung Schreibtisch gewandert, um seiner Aussage mehr Nachdruck zu verleihen. Er hatte sich verteidigt, dabei hatte ihn noch niemand angeklagt.
„Das wissen wir. Alle Kollegen, die an dem Fall beteiligt waren, sagen das Gleiche aus, aber die Medien interessiert das nicht.“ Balcer strich sich an ihrem Rock imaginäre Falten glatt.
„Um es kurz zu machen ...“, jetzt warf sich ein genervter Degois verbal dazwischen, „... Lieutenant Martin, Sie haben den Einsatz geplant und mit durchgeführt. Um Sie vor weiteren Problemen oder Anklagen zu schützen, gehen Sie zum Ende des Monats in den Vorruhestand. Bis dahin brauchen Sie Ihren Urlaub auf. Der Papierkram ist so gut wie erledigt.“
Schlagartig wich in Jeans Gesicht die rote Farbe einem gefährlichen Weißton. Aber er blieb still, sagte nichts.
„Lieutenant Bayard, Sie werden dem Personenschutz zugeteilt. Ab morgen dürfen Sie Staatsanwältin Monville bewachen. Da können Sie soweit keinen Schaden anrichten.“ Die Verachtung in der Stimme des Richters war kaum zu überhören.
Es ratterte in Bayards Kopf. Vorruhestand für Jean? Personenschutz als seine neue Aufgabe? Hatte er sich verhört oder war das ein dummer Alptraum, aus dem er nur noch erwachen wollte? Warum bestrafte Balcer sie beide? Jean hatte mit Bejics Tod absolut nichts zu tun. Sie hatten hervorragende Arbeit geleistet, waren für ihren Erfolg gelobt worden. Konnte ein einziges Handyvideo von miserabler Qualität das alles verändern?
Nun hatte Bayard genug: „Personenschutz? Ernsthaft? Das machen nur die, die man zu sonst nichts brauchen kann. Dieser ganze Fall, die ganze Ermittlung, die ganze Hintergrundarbeit wurden von mir und Martin organisiert, geplant und durchgeführt. Wir haben einen Kinderpornografie-Dealer geschnappt und eine beachtliche Menge an Beweismaterial gesichert. Und das ist jetzt der Dank dafür? Jean wird aussortiert und ich darf einen Aufpasser spielen und werde von den Nacharbeiten abgezogen? Niemand kennt sich so gut aus wie Martin und ich. Das ist schwachsinnig!“ Er bebte vor Zorn. „Und noch dazu diese Monville? Das ist doch die, die nicht alle Latten am Zaun hat!“ Wut trieb ihm Tränen in die Augen.
„Beruhigen Sie sich, das ist beschlossene Sache. Wenn Sie sich aufregen, hilft das keinem weiter. Reichen Sie Beschwerde ein, Sie wissen selbst, wie viel das bringt. Und jetzt muss ich los, meine kostbare Zeit ist nicht unendlich und die erste Sitzung am Gericht fängt gleich an“, sagte Degois und schon war er samt seiner schwarzen Aktentasche aus dem Raum verschwunden.
Für Philippe schien die Erde zu beben. Innerhalb von Sekunden sah er seine Karriere den Bach hinunterschwimmen und sein ganzes Leben gleich mit. Wie konnte Martin nur so ruhig bleiben?
„Bayard, bitte beruhigen Sie sich!“ Monique Balcer, sonst etwas unterkühlt und wenig empathisch, stand auf, stöckelte um ihren Schreibtisch herum und nahm Bayard in den Arm. Dieser ließ es überrascht über sich ergehen, auch wenn er diese Geste seiner Vorgesetzten nicht einzuordnen wusste.
„Wir müssen noch etwas besprechen, meine Herren.“ Die Chefin setzte sich wieder und bot den freigewordenen Stuhl mit einer Handbewegung ihren Leuten an. Jean nahm dankend an und schwang seinen massigen Körper auf den runden Cocktailsessel.
„Sehr wohl, Commissaire, wir müssen besprechen, warum Sie uns nicht verteidigen. Warum Sie Richter Degois so mit uns umspringen lassen. Warum Sie zulassen, dass die ganze Welt mich für schuldig hält, obwohl ich nichts anderes als meinen verdammten Job erledigt habe!“ Wieder war Bayard immer lauter geworden.
„Lieutenant, Sie müssen ein wenig ruhiger werden, wenn Sie noch Karriere machen wollen.“
„Was für eine Karriere? Meinen Sie die, die gerade den Bach runtergeht?“, erboste er sich patzig und ernst.
„Lassen Sie Degois reden. Er steht unter Druck, weil das Innenministerium ihm im Nacken sitzt. Er braucht etwas, um sich zu profilieren. Und Sie beide sind zu seiner Chance geworden, zu zeigen, welcher harte Hund in ihm steckt. Die richterliche Aufsicht über den Fall Bejic wurde ihm zugeteilt. Deshalb sollten wir uns mit ihm gut stellen.“ Sie schluckte die überschüssige Spucke in ihrem Mund hinunter. „Aber jetzt, wo er weg ist, können wir über die wirklich wichtigen Dinge reden.“ Ihr Blick tastete erst Bayard ab, dann Martin, die sie beide ungläubig anstarrten. „Heute Morgen, ziemlich früh, gab es einen Brand in der Asservatenkammer, in der alles, was Sie gestern gesichert hatten, gelagert war. Die Beweismittel wurden abgefackelt, die Sicherheitsvorkehrungen gekonnt umgangen. Es war ein gezielter Anschlag. Da sind Lagarde und ich uns einig. Aber wir wissen nicht, wer dahintersteckt.“
„Heißt das, alle Festplatten, alle Beweise sind zerstört?“ Das erste Mal, dass Martin den Mund aufmachte.
„Ja, das heißt es. Und bei der Effizienz dieser Tat und den nicht vorhandenen Spuren müssen wir davon ausgehen, dass es jemand von uns ist.“ Dieser Schlag ging tief.
„Von uns? Sie meinen, ein korrupter Polizist hat die Asservatenkammer angezündet?“, fragte Martin skeptisch.
„Können Sie sich noch daran erinnern, warum wir Sie beide von der Mordkommission zusammen mit diesem Computerfreak für diesen Fall im organisierten Verbrechen geholt haben?“ Lagarde warf die Frage ein und zog damit die volle Aufmerksamkeit auf sich. „Haben Sie sich nie gefragt, warum wir Polizisten aus Belleville genommen haben und keine aus dem Hauptgebäude am Quai des Orfèvres? Ich hatte das Gefühl, dass wir einen Maulwurf in der Abteilung haben, jemanden, der wichtige Informationen an die falschen Leute weitergibt. Also vertraute ich mich Monique Balcer an, der verschwiegensten und fähigsten Kollegin, die ich kenne. Und damit kamen Sie beide ins Spiel. Monique pries Sie als integer an und das haben Sie auch bewiesen. Die Ermittlungen, die Sie aufgenommen haben, verzeichnen großartige Erfolge. Aber absolut nichts wurde zu Tage gefördert, was auf einen korrupten Polizisten in den eigenen Reihen hingedeutet hätte. Die Beweise aus dem Hôtel de Crillon hätten vielleicht etwas Neues aufgedeckt und das wollte augenscheinlich jemand verhindern. Alle Beweise sind verbrannt. Das ist kein Zufall.“
„Das haben Sie uns nie erzählt“, gestand Philippe. Im Minutentakt wurden hier neue Informationen ausgepackt. „Dass Sie jemand Korrupten in Ihrer Abteilung vermuten?“
„Weil wir niemanden warnen wollten. Sie sollten unvoreingenommen an die Ermittlungen herangehen können. Ehrlich gesagt, ich hätte auch nicht damit gerechnet, dass jemand den Schneid aufbringt, die Asservatenkammer anzuzünden.“ Wäre die Situation nicht so ernst gewesen, hätte Philippe vielleicht über Lagardes Aussage gelacht.
„Schöne Scheiße.“ Derb, wenn auch ehrlich von Jean.
Commissaire Balcer presste ihre Hände auf den hölzernen Schreibtisch. „Unsere Wahl fiel auf Sie beide, da Sie zu den loyalsten, integersten und besten Kriminalpolizisten gehören, die diese Stadt je gesehen hat. Auch wenn Sie, Kollege Martin, manchmal in zweifelhaftem Ruf stehen, hat das Ihrer Arbeit nie geschadet. Und Bayard, Sie werden es noch weit bringen, sobald dieser Zwischenfall hier ausgestanden ist.“ Dann verschränkte sie die Arme, was ihr Halt zu geben schien, als sie zu ihrem finalen Plädoyer kam. „Wir haben heute den zehnten März, bis zum Ende des Monats sind es noch einundzwanzig Tage. Sehen Sie zu, dass Sie etwas Brauchbares finden. Wir werden ebenfalls unser Bestes tun. Gehen Sie dem Brand nach, befragen Sie Ihre zwielichtigen Kontakte, setzen Sie Paul auf weitere Verdächtige an, machen Sie, was Sie für richtig halten, um Ihre Ehre wieder herzustellen. Nur wird es für alles, was Sie tun, von offizieller Seite keine Bestätigung geben. Bringen Sie uns die Wahrheit über den Brand, finden Sie den korrupten Kollegen und niemand wird Sie in Frührente schicken oder Ihnen die Karriere verbauen. Ach ja, und bitte, seien Sie vorsichtig, wem Sie vertrauen.“
„Verstanden.“ Martin hatte sich schnell mit der Situation abgefunden, seine Pensionierung noch einmal abwenden zu können, auch wenn dies bedeutete, dass er drei Wochen ohne jegliche Sicherheit ins Blaue hinein ermitteln musste.
Doch Bayard ließ sich nicht so einfach abwimmeln. „Was ist mit dieser Staatsanwältin? Was soll ich mit der machen? Meinte Richter Degois das ernst?“ Ein unpassendes Lächeln huschte über das Gesicht der Vorgesetzten.
„Ja, Isabelle Monville wurde vor drei Monaten angeschossen und wird seitdem im Hôpital Paris Saint-Joseph behandelt. Morgen wird sie entlassen. Holen Sie die Frau um elf Uhr ab. Tun Sie so, als wäre Ihr Leben völlig in Ordnung, damit Degois nichts zu Ohren kommt, was er nicht hören soll. Alles Weitere wird sich ergeben. Ich denke, Isabelle wird keine Probleme machen. Vielleicht kann sie Ihnen ja sogar helfen? In gewissen Ansichten und Herangehensweisen dürften Sie sich ähneln. Betrachten Sie die Staatsanwältin als notwendiges Übel, das Sie abholen müssen, damit Degois Ruhe gibt. Die Hauptsache ist, Sie halten sich von Reportern fern und lassen alle anderen hier im Polizeiapparat in dem Glauben, Sie hätten sich geschlagen gegeben. Die Einzigen, die Bescheid wissen, sind Lagarde und ich. Noch Fragen?“
Bayard biss sich auf die Lippen. Am liebsten hätte er irgendetwas durch die geschlossene Fensterscheibe geworfen, was, objektiv betrachtet, jedoch wenig hilfreich gewesen wäre. „Aber nur um sicherzugehen“, wandte er sich an seine Vorgesetzte. „Wir reden schon von dieser einen verrückten Staatsanwältin, von der es heißt, sie könne mit den Toten sprechen?“ Seine Augen wurden groß, während Balcer mütterlich grinste.
„Ganz genau die.“
Mit einer Mischung aus Trotz und Widerwillen begab sich Philippe Bayard am nächsten Tag um elf Uhr ins Hôpital Paris Saint-Joseph. Laut Angabe der Empfangsdame, die hinter einer panzersicheren Scheibe ihr Dasein fristete, wurde er bereits im ersten Stock erwartet.
Das Zimmer, in welchem Staatsanwältin Isabelle Monville die vergangenen Tage verbracht hatte, war einfach zu finden, denn zwei uniformierte Polizisten standen vor der letzten Tür am Ende des Korridors. Er begrüßte die Kollegen, wies sich aus, löste die beiden von ihrem Wachdienst ab und betrat nach einem kurzen Klopfen das Zimmer. Er kannte Staatsanwältin Monville nicht persönlich, nur die Erzählungen über sie, dass sie ziemlich komisch sein musste. Auf jeden Fall war er auf das Schlimmste gefasst, als er den Raum betrat.
Abholbereit, mit gepacktem Koffer und mit angezogener Jacke auf der Bettkante sitzend, empfing sie ihn in dem aufgeräumten Krankenzimmer. Ihrem Gesichtsausdruck nach war sie wenig erfreut, ihn zu sehen, was sich in ihrer leblosen Stimme widerspiegelte: „Sind Sie Philippe Bayard, mein Abholservice und Aufpasser?“
„Ja, das bin ich, Madame.“ Das war der erste Augenblick, in der er sie richtig ansah. Die Frau, die ihn so barsch begrüßte, war klapperdürr. Kachektisch, ausgemergelt und blass wirkte sie wie eine Magersüchtige. Vielleicht war sie schon immer schlank gewesen, vielleicht hatte sie seit dem Anschlag auf ihre Person den Appetit verloren oder das Krankenhausessen war hier ungenießbar. Bayard vermutete irgendeine Mischung dieser Faktoren, die die Staatsanwältin so ausgezehrt und zerbrechlich wirken ließen. Die Schmerzen und Torturen der vergangenen Wochen hatten ihr Übriges geleistet: Monvilles linker Arm steckte in einer orthopädischen Schlinge, am rechten Handrücken klebte ein großes Pflaster und sie wankte einen kurzen Augenblick, als sie vom Bett aufstand. Geradeso, als hätte sie Probleme, ihr linkes Bein zu belasten.
Philippe erhaschte einen weiteren Blick auf ihren Körper. Für die Beschreibung zierlich war sie zu groß, für den Ausdruck Laufstegmodel zu klein. Sie trug Jeans, einen enganliegenden, weißen Pullover und schwarze Stiefel. Jedes Kleidungsstück sah aus wie neu gekauft. Die langen, hellbraunen Haare hatten sowohl dunkle als auch blonde Strähnen und waren vom vielen Liegen am Hinterkopf plattgedrückt. Die tiefgrünen Augen schimmerten matt, ihr Gesicht wirkte fahl. Die Strapazen des dreimonatigen Krankenhausaufenthaltes waren definitiv nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Und trotzdem ging von Isabelle Monville eine besondere Aura aus, die Bayard sofort bemerkte und der er sich nicht entziehen konnte. Wenn sie ihn ansah, dann kam es ihm vor, als würde sie in ihn hineinblicken können. Ihre Augen suchten nach der Seele und er spürte, dass er nichts vor ihr verbergen konnte.
In ihrer Gegenwart nahm er unwillkürlich Haltung an. Seine Wehrdienstzeit lag Jahre zurück, doch sein Rücken wurde gerade, seine Kopfhaltung stolzer, genauso, wie die Offiziere es ihm damals beigebracht hatten. Die feindselige Stimmung vom Anfang hellte sich zusehends auf, als die Staatsanwältin ihre erste Musterung beendet hatte. Sie lächelte nicht, doch sie entspannte sich, als hätte sie akzeptiert, dass von Bayard keine Gefahr ausging.
„Danke, dass Sie mich fahren. Und ja, bevor eine Frage kommt: Ich habe mich über Sie informiert. Ich weiß, wer Sie sind und ich weiß, warum Sie mich bespaßen sollen, statt Ihrem eigentlichen Job nachzugehen. Das tut mir alles sehr leid. Sie haben gute Arbeit geleistet und werden trotzdem bestraft. Das ist weder richtig noch fair.“ Sie zog ihren Mantel mit der rechten Hand zu und schaffte es, gleichzeitig auf ihr Gepäck zu deuten. Es zeigte das Ende jeglicher, aufkeimender Sentimentalität. „Können Sie meinen Koffer nehmen? Ich will endlich hier raus.“
Monville bewegte sich langsam und vorsichtig. Sie zog ihr linkes Bein etwas nach und klammerte sich tapfer an den Handlauf des Krankenhausflures zu ihrer Rechten. Am zweiten Dezember war sie vor dem Gerichtsgebäude in der Innenstadt von Paris niedergeschossen worden. Der Täter war unerkannt geflohen und hatte sie mit insgesamt fünf Kugeln im Körper zurückgelassen.
Es wäre ein Todesurteil gewesen, hätten die Sicherheitsbeamten des Justizpalastes nicht sofort Hilfe geholt, hätte der Krankenwagen nicht zufällig nur zwei Straßen weiter gestanden und hätte die alles entscheidende Kugel das Herz nicht um vier Zentimeter verfehlt. Der Schaden, den die Geschosse angerichtet hatten, bestand aus einem zertrümmerten linken Schulterblatt, einem gebrochenen Brustbein, einem angeschossenen Oberschenkelknochen, einem Lungenkollaps und diversen Weichteilschäden. Nach drei Wochen im künstlichen Koma hatte Monville sich erstaunlich schnell erholt, sodass sie jetzt, ein Vierteljahr später, selbstständig das Krankenhaus verlassen konnte. Nur der linke Arm hatte noch nicht zu seiner alten Bewegungsfähigkeit zurückgefunden. Isabelle redete sich täglich ein, dass es als Rechtshänderin nicht so schlimm wäre, eine Zeit lang auf diesen Arm verzichten zu müssen. Die Ärzte hatten ihr dagegen prophezeit, dass die linke Schulter einen lebenslangen und nicht nur einen temporären Schaden davongetragen haben könnte. Doch diese Wahrheit zu akzeptieren, weigerte sie sich.
Philippe Bayard war verwirrt, als er Monville zum Auto brachte, ihr beim Einsteigen half und den Koffer verstaute. Er hatte eine andere Frau erwartet. So befremdlich, wie man ihm erzählt hatte, wirkte sie nicht auf ihn. Außer, dass sie ihm ohne Umschweife sagte, was sie wollte, und offensichtlich nie um den heißen Brei herumredete, war sie ein Häufchen Elend mit mittelmäßig frisierten Haaren und rabiaten Umgangsformen, jedoch keine durchgeknallte Karrierestaatsanwältin.
„Bitte fahren Sie ins siebte Arrondissement, Rue de Grenelle! Von dort aus werde ich Ihnen den Weg beschreiben.“
„Sehr wohl, Madame.“ War er Chauffeur oder Polizist? In Bayard taten sich Zweifel auf.
Zu zweit quälten sie sich durch den Pariser Mittagsverkehr. Die Hupen, das lebensgefährliche Kurvenschneiden der Fahrradfahrer, die lärmenden Mopeds, all das lenkte sie geschickt von der Tatsache ab, dass zwei Menschen, die sich nichts zu sagen hatten, in einem Auto saßen und, auf Befehl von oben, Zeit miteinander verbringen mussten.
Es war an einer Ampel, als Philippe die Frage nicht mehr zurückhalten konnte, die ihm die ganze Nacht im Kopf herumgekreist war: „Stimmt es, dass Sie mit den Toten reden können?“ Sofort biss er sich auf die Zunge. Ausgesprochen klang der Satz so viel abstruser als der reine Gedanke.
„Nein, das kann ich nicht, habe es noch nie gekonnt und werde es wohl nie können.“ Sie fuhr sich mit der rechten Hand gestresst durch die Haare. „Ich weiß gar nicht, wer diesen Unsinn in die Welt gesetzt hat.“ Mit einem verächtlichen Schnauben sah sie gespannt auf den Bürgersteig neben der Straße. „Alle halten mich für verrückt, weil ich einmal gesagt habe, ich könne eine Krebserkrankung riechen. Bei meinem Pech hatte die betroffene Person dann tatsächlich zwei Tage später die Diagnose Magenkrebs erhalten. Hätte ich damals bloß meinen Mund gehalten, müsste ich mich jetzt nicht von allen auslachen lassen. Wie konnte ich nur so dumm sein, diesen Satz vor versammelter Mannschaft rauszulassen.“
Philippe überkam das Bedürfnis, die Situation zu entschärfen. Monville schien das Talent zu haben, innerhalb eines Satzes die gesamte Stimmung kippen zu lassen. Und er versuchte das Beste, was ihm einfiel: „Aber das können doch manche Hunde auch, also Krebs erschnüffeln, meine ich. Genauso wie Drogen oder Geld oder illegale Tiere am Flughafen. Darüber habe ich eine Doku im Fernsehen gesehen. Vielleicht haben Sie einfach nur besonders viele Riechzellen in ihrer Nase?“ Hätte er sich noch mehr auf die Zunge beißen können, so hätte er es jetzt getan. Philippe versuchte gerade noch den Schaden abzuschätzen, den er damit angerichtet hatte, Sozialpädagogik mit Polizeiarbeit zu vermischen. Wie dumm konnte man sich eigentlich anstellen, fragte er sich. Hatte er die Staatsanwältin gerade ernsthaft mit einem Münsterländer oder einem Labrador der Zollbehörden verglichen?
Isabelle Monville schluckte belustigt einen Kommentar hinunter, faselte etwas von: „So hat das auch noch nie jemand betrachtet“, und wurde dann ein Stück lauter, „das Gericht ist ein Haifischbecken. Da wird alles gegen einen verwendet. Ein Hauen und Stechen. Wir Staatsdiener sind kaum besser als die, die wir einsperren.“
Die Ampel wurde grün und Bayard fuhr weiter.
Isabelle Monville hatte erstaunlich schnell Vertrauen zu dem Polizisten gefunden, den sie heute das erste Mal sah und der sich nicht über ihre direkte, wortkarge Art beschwerte. Ihr gefielen die Haare, die so blond waren, wie sie kaum ein Mann und noch seltener ein Franzose hatte. Und dabei machte er aber nicht diesen krankhaft blassen Eindruck mit den sommersprossigen Wangen, sondern er sah einfach nur gut aus. Bayards Augenbrauen waren kräftig aber gepflegt, ebenso sein Dreitagebart, der ein wohlgeformtes, aber nicht übermäßig markantes Gesicht umrahmte.
Sie sah, dass er trainierte. Neben seinen breiten Schultern zeichneten sich muskulöse Oberarme ab. Vermutlich hatte er die Muskeln in Bauch und Rücken im Fitnessstudio ebenso gestählt. Er war ausgesprochen attraktiv, ohne Frage, und verheiratet, wenn er den Ring an seinem linken Ringfinger nicht nur aus dekorativen Gründen trug.
Irgendetwas Vertrautes strahlte von ihm aus, befand Isabelle. Was auch immer es war, dass sie ihn nicht für einen x-beliebigen Typen hielt. Ihr fielen die richtigen Worte dafür nicht ein. Philippe musste etwas Besonderes sein und sie wusste nicht, warum. Das Einzige, was sie wusste, war, dass sie ihn mochte. Und sie spürte, dass sie ihm vertrauen konnte. Also brach sie ihr sonst so eisiges Schweigen: „Ich kann noch mehr riechen, übrigens.“
Philippe drehte überrascht den Kopf weg von der Straße zu ihr hinüber auf den Beifahrersitz.
„Wenn eine Frau schwanger ist, dann kann ich ihren veränderten Geruch wahrnehmen, der den anderen verborgen bleibt. Wenn sich ein Kind ankündigt, dann riecht die Frau süßer, fast wie frische Zuckerbonbons, die noch warm sind. Und eine Art Schein umgibt die Schwangere, den nur niemand sehen kann.“ Sie sah auf und blickte in Philippes Augen, die sie fesselten. Ein glücklicher Zufall, dass man im Pariser Verkehr mehr steht als fährt. Anders als erwartet fing Philippe nicht laut zu lachen an, was Isabelle bewog weiterzureden: „Und paradoxerweise rieche ich auch den Tod, der den gleichen Geruch aus einem Menschen verströmen lässt, nur einen Hauch vergorener, wie Bittermandel. Manchmal träume ich von Dingen, die danach passieren. Und ich reagiere oft auf so eine Art von Kraftfeldern, schlechte Schwingungen eben. Das sind Ereignisse, die nur ich fühle und die den anderen Menschen gänzlich entgehen.“ Sie machte eine Pause und wandte sich wieder dem Bürgersteig zu.
Der Stau löste sich auf und Monvilles Fahrer legte einige Meter auf der Straße zurück. „Vielleicht haben Sie und die Leute mit ihrer Einschätzung gar nicht so Unrecht und ich bin tatsächlich verrückt. Aber es ist mir egal. Das ist doch eh alles nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Meine Karriere ist am Ende, mein Körper ist eine Großbaustelle ohne Abschlussdatum und mein Attentäter läuft da draußen immer noch frei herum. Da kann es mir auch schon egal sein, was Sie jetzt von mir denken.“ Dann wurde sie wieder still und stoisch.
Normalerweise hätte Philippe an dieser Stelle nur den Kopf geschüttelt, über so eine Geschichte gelacht. Aber in ihm war etwas passiert. Sein Inneres, undefinierbar wie die eigene Seele, hatte sich erhoben, ihn mit einer ungeahnten Wärme erfüllt und gleichzeitig die Gänsehaut auf die wohlig eingepackten Arme gejagt. Die Stimme in seinem Kopf versuchte, ihn beharrlich davon zu überzeugen, dass diese Frau neben ihm alles andere als geistesgestört war.
Sie saßen noch eine halbe Stunde im Wagen, ehe sie die Rue de Grenelle erreichten, den Mittagsstau hinter sich ließen und auf kleineren Nebenstraßen fuhren. Philippe wandte seine Gedanken nicht mehr von der Frau ab, die da neben ihm saß. Sie hatten kaum geredet, doch so tief miteinander gesprochen und sich einander geöffnet, was eine ungeahnte Fülle von Gefühlen in ihm hinterließ. Sie kannten sich und waren sich noch nie begegnet. Sie waren Fremde und doch gleichzeitig alte Freunde. Ein Teil seines Ichs, das er nicht beziffern konnte, hatte sich verändert und er hatte Isabelle Monville entdeckt. Als die ganz besondere Frau, die sie war.
Philippe bog auf die angegebene Straße ein und dann in die gewünschte Hofeinfahrt, die jedoch von einem schweren gusseisernen Tor versperrt war. Die Weiterfahrt wurde erst ermöglicht, nachdem er geklingelt und sich in der Gegensprechanlage angemeldet hatte, und das Tor sich daraufhin mechanisch in Bewegung setzte.
Das ganze Haus mitsamt der Einfahrt war von Dutzenden Kameras gesäumt. Ein unübersehbarer Fakt, der dem Polizisten sofort ins Auge sprang. Sämtliche Fenster im Erdgeschoss waren vergittert und mit Alarmanlagen ausgestattet. Männer in schwarzen Anzügen mit schwarzen Krawatten kamen ihm entgegen. Leute vom Sicherheitsdienst.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie in Fort Knox wohnen“, scherzte er, als sich der erste Leibwächter vor seine Autotür stellte und ihn somit am Aussteigen hinderte.
„Das tue ich auch nicht“, antwortete Isabelle auf Philippes scherzhaft gemeinten Satz. „Darf ich vorstellen? Das ist nur das Palais Monville.“
Bayard stellte sein Auto im Innenhof des majestätischen Anwesens ab, genau an der Stelle, wo ein Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes ihn anwies. Ein kleines bisschen stockte Philippe der Atem, als er aus seinem alten Citroën stieg und sich umsah. Er wusste, dass es ein Palais Monville gab, dass es irgendwo im Pariser Westen stand und dass es irgendwann einmal zum Besitz irgendeines Königs gehört hatte. Was er aber nicht wusste, war, dass das Palais Monville zu Isabelle Monville gehörte.
Ein in einem anderen Anzug als die Sicherheitsleute gekleideter Mann, der sich als Butler vorstellte und von Isabelle mit dem Namen Xavier gerufen wurde, hechtete aus dem Haus. Er half ihr unverzüglich aus dem Auto, noch bevor Bayard seinen vor Erstaunen geöffneten Mund wieder hatte schließen können. Ein solches Vierseitanwesen, das sich über das ganze Viertel zu erstrecken schien, musste in dieser Lage ein Vermögen wert sein.
Er ging zum Kofferraum und holte das Gepäck heraus. Mit einer Kopfbewegung wies Isabelle ihn an, ihr und Xavier ins Haus zu folgen.
Die Tür, durch die sie ins Foyer gelangten, glich einem königlichen Portal mit schmiedeeisernen Rosenranken als Verzierung und bunten, eingelassenen Gläsern neben goldenen Beschlägen. Das Interieur des Hauses erinnerte an einen fürstlichen Palast. Zumindest stellte sich Bayard einen Palast so vor. Bisher hatte er noch nie einen von innen gesehen.
Gold, Gemälde, zerbrechliche Kostbarkeiten in jedem Winkel des Eingangsbereiches, ein zweiter Butler, der sofort den Koffer in Empfang nahm, eine Haushälterin, die fragte, ob Bayard etwas zur Erfrischung wünschte. Philippe beschlich der Gedanke, dass es ungefähr so am britischen Königshaus aussehen musste, denn eine noch pompösere Einrichtung erschien ihm unmöglich. Die Kronleuchter, die Teppiche, die Fenster, die Vasen, die Sessel, die Vorhänge. Allein die Kommode neben der Tür überschritt den Wert seines Autos.
„Monsieur Bayard, passen Sie auf, dass Ihnen die Augen nicht aus dem Kopf fallen!“ Sie schien das erste Mal zu lächeln.
„Was? Ich meine, wie bitte?“ Die Frage hatte ihn aus dem Staunen zurück auf den Boden der Tatsachen, in diesem Fall Marmor, zurückgeholt.
„Nun ja, Sie machen gerade so erstaunte, riesige Augen, dass ich Angst habe, sie fallen Ihnen heraus.“ Sie lachte herzhaft ob ihres Scherzes.
„Ach so, ja ich ... ich hatte damit nicht gerechnet“, stammelte er. „Seit wann verdient man als Staatsanwältin so viel Geld, dass man sich das hier alles leisten kann? Ähm, ich meine, Entschuldigung, das geht mich gar nichts an. Aber, ... ich habe noch nie so viel Prunk auf einem Fleck gesehen.“ Ein Gefühl der Peinlichkeit beschlich ihn. Diese Frage war unangebracht, das fiel ihm selbst auf. Und herumgedruckst wie ein Erstklässler vor versammelter Mannschaft hatte er auch.
Seit dem Krankenhaus lachte Isabelle das erste Mal schallend und zeigte dabei ihre geraden, wunderbar hellen Schneidezähne, die offensichtlich eine kieferorthopädische Behandlung in ihrer Jugendzeit genossen hatten. „Das Haus gehört meinem Vater und ist seit Jahrzehnten in Familienbesitz. Meine Vorfahren stammen aus dem französischen Hochadel und haben schon vor Generationen erfolgreiche Geschäfte betrieben. Das Palais ist kein neureicher Bau, sondern nur der Spiegel einer langen Vergangenheit. Und ich kann Sie beruhigen, nicht das ganze Haus ist so scheußlich eingerichtet wie die Empfangshalle.“ Isabelle wirkte jetzt direkt sympathisch auf ihn, nicht mehr so abgemagert und krank wie noch im Spital, sondern lebensfroher und besser gelaunt. „Endlich wieder zuhause. Vielen Dank fürs Abholen.“ Und mit den Worten gab Isabelle Philippe ein Küsschen auf die Wange. Nicht ein Küsschen wie man es der Großtante vierten Grades bei der Begrüßung an ihrem neunzigsten Geburtstag gab, sondern ein Küsschen, das Isabelle gefiel, das sie sichtlich genoss und das Bayard leicht erröten ließ.
„Xavier, sorg dafür, dass unser Gast etwas Anständiges zu Mittag bekommt. Ich mache mich in der Zwischenzeit frisch.“
„Und dann?“, fragte Bayard noch immer erstaunt, verwirrt und überwältigt zugleich.
„Dann suchen wir das Arschloch, das auf mich geschossen hat, und Ihren korrupten Kollegen.“
Eine heiße Dusche und neue Kleidung wirkten wie ein Wunder gegen Isabelles jämmerliches Erscheinungsbild. Als sie das Esszimmer betrat, in dem Bayard gerade seinen Rinderbraten samt Nachtisch verspeist hatte, fragte dieser sich, ob das noch dieselbe Person war, die er aus dem Krankenhaus abgeholt hatte. Ihre Haare waren nun gewaschen, glänzten im Schimmer der monströsen Kronleuchter und waren zu einem edlen Chignon-Knoten im Nacken zusammengebunden. Das Gesicht erstrahlte mit einem leichten Make-up und ihre Ohren zierten jetzt kleine Diamanten. Zumindest sah es so für Bayard aus, dem es langsam dämmerte, dass man in diesem Haus keinen Modeschmuck mit falschen Steinchen trug. Ihre Jeans und ihr Pullover waren beide in Blautönen gehalten. Alles an ihr wirkte anders, nur der linke Arm steckte nach wie vor in dieser Schlinge aus dem Krankenhaus.
„Sie sehen toll aus!“ Bayard lächelte ein wenig schief. Ob er sich über die Staatsanwältin wundern sollte oder über sich selbst, fragte er sich die ganze Zeit. Auf eine unbeschreibliche Art und Weise kam sie ihm so bekannt und vertraut vor, auf der anderen Seite hatten sie sich doch noch nie getroffen, geschweige denn miteinander geredet. Aber er fing an, sie richtig zu mögen, obwohl sie sich gerade seit wenigen Stunden kannten.
„Danke für das Kompliment.“ Sie grinste und setzte zur Gegenfrage an: „Hat das Essen geschmeckt?“
„Äh ja, wirklich lecker.“ Immer noch perplex vergaß Philippe zu erwähnen, dass das Menü mit jedem Zwei-Sterne-Restaurant der Stadt hätte mithalten können.
„Gut, dann legen wir los.“
Monville ging geradewegs aus dem Esszimmer hinaus in den Flur und weiter in Richtung Haustüre. Bayard hastete ihr hinterher und hatte sie schnell eingeholt. Auch wenn Isabelle sich redlich bemühte, humpelte sie und bewegte sich langsamer als üblich. Es stellte für einen gesunden Mann wie Bayard überhaupt kein Problem dar, mit ihr Schritt zu halten.
„Wollen Sie jetzt wirklich raus? Ihr Attentäter ist immer noch auf freiem Fuß und ich habe eigentlich den Auftrag, sie zu beschützen, nicht sie auf dem Präsentierteller herumzuführen.“
„Glauben Sie, dass sich Verbrecher von alleine ausfindig machen und irgendwann mit einer Schleife im Haar als Geschenk bei einem Polizeirevier abgeliefert werden? Ich kann erst wieder ruhig schlafen, wenn dieses Arschloch gefunden und verhaftet ist. Außerdem, wenn ich mich recht erinnere, müssen wir obendrauf einen Maulwurf finden, den Brand in der Asservatenkammer aufklären, Ihren Fall mit Milo Bejic lösen und den Kollegen Martin vor der ungewollten Pensionierung retten.“ Sie wies mit dem Kopf in die Richtung des Autos, das immer noch im Hof geparkt stand.
„Woher wissen Sie das alles?“
„Ich habe meine Quellen und keine Zeit zu verlieren.“
„Und wenn Ihnen dabei etwas passiert?“ Der Polizist versuchte mit einer ausladenden Gestik seine Aussage und Zweifel zu untermauern.
„Dann bin ich eventuell tot und sie doppelt am Arsch.“
„Mit Verlaub, das sind nicht gerade grandiose Aussichten.“ Er versuchte, die Autotür zuzuhalten, die Isabelle öffnete.
„Na, dann müssen Sie wohl einfach sehr, sehr gut auf mich aufpassen, Bodyguard.“ Sie kniff die Augen zusammen und lachte über ihren eigenen Witz mehr als angebracht war, während Bayards Eingeweide sich verkrampften.
„Also, wo fangen wir dann an, Frau Staatsanwältin?“ Mit leicht genervtem Unterton in der Stimme ließ Bayard sich auf seinen Fahrersitz gleiten.
„Wo war ihr Büro?“, wollte Isabelle wissen. „Sicherlich nicht im Revier in Belleville, oder? Und auch nicht im Hauptgebäude am Quai des Orfèvres? O Gott, wie hat mich dieser Krankenhausaufenthalt aus dem Tritt gebracht. Also zurück zum Thema. Das Einsatzbüro. Irgendwo versteckt, schätze ich. Wie wäre es, wenn wir dort anfangen, noch einmal die ganze Sache durchzugehen? In einem inoffiziellen Büro der Kriminalpolizei sollte ich sicher sein, nicht wahr? Sonst wäre ja der ganze Aufwand sinnlos gewesen. Dann arbeiten wir dort an Ihrem Fall. Und rufen Sie Martin an. Ich will auch mit ihm sprechen.“ Die Staatsanwältin befahl in ihrem gewohnten Ton.
Philippe sah sie kurz verdutzt an. „Woher wissen Sie, dass unsere Ermittlungen so geheim abliefen? Vom Büro? Von Jean Martin?“
„Wie gesagt, ich habe meine Quellen. Und für den Rest habe ich ein sehr schlaues Gehirn.“
Bayard gluckste aus einer Mischung von Belustigung und Fassungslosigkeit heraus. „Ich nehme das jetzt einfach mal so hin und dann sehen wir weiter.“
„Ich denke, das ist auch das Beste“, sagte Isabelle.
„Müssen Sie eigentlich immer das letzte Wort haben?“, fragte Philippe.
„Ja, meistens schon“, antwortete die Staatsanwältin.
Er startete den Motor des Autos und fuhr im Innenhof einmal im Kreis, bis er wieder vor dem gusseisernen Tor stand, das sich wie von Zauberhand öffnete.
„Das Haus ist gut gesichert“, stellte er lobend fest. „Die Kameras scheinen jeden Zentimeter zu überwachen.“ Es war eine Berufskrankheit, dass er sich, egal, wo er war, immer sofort für die potenziell polizeilich informativen Dinge interessierte.
„Ja, das ist es. Wenn Sie einbrechen wollen, kann ich Ihnen sagen, es ist zwecklos. Mein Vater hat das alles nach einem Raub vor vielen Jahren machen lassen. Seitdem ist nichts mehr passiert außer ein paar Graffitis an den Außenmauern.“
Isabelle erinnerte sich ungern an den großen Einbruchdiebstahl, der stattgefunden hatte, als sie selbst noch ein Kind gewesen war. „Das ist schon dreißig Jahre her, ich war vier oder fünf“, fing sie an. „An diesem Abend damals wurde viel Schmuck gestohlen, Ketten, Uhren, Ringe, aber auch Gemälde und natürlich Bargeld. Meine Eltern und ich waren nicht zuhause und als wir zurückkamen, war alles verwüstet. Bis heute ist das gesamte Diebesgut verschwunden. Auch hat man die Täter nie ausfindig machen können.“
„Das tut mir leid. Es muss schwer gewesen sein, sich hier dann wieder wohl zu fühlen.“ Wenn Diebe ein Haus oder eine Wohnung durchforstet hatten, war es egal, ob es sich um einen Palast oder ein Einzimmerappartement handelte. Die Bewohner waren danach alle traumatisiert und hatten Probleme, sich wieder in den eigenen vier Wänden einzuleben.
„Papa hat einen Tag später das Palais in eine Festung umbauen lassen. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Verstehen Sie? Davor waren wir fast normale Pariser. Reich ja, aber frei und weitgehend von der Öffentlichkeit verschont. Aber danach? Die Ermittlungen, die Presse, die sich auf uns stürzte, der Verlust der wirklich wertvollen Teile, die Gewissheit, dass jemand im eigenen Schlafzimmer gestanden hatte. Die Medien stürzten sich auf uns wie auf ein Event und ab da wurden die ganzen Leibwächter erst nötig. Ich wurde aus dem Kindergarten genommen, kam später auf besonders bewachte Schulen, ich durfte keinen Schritt mehr alleine vor die Türe setzen, hatte keine Freunde mehr. Maman hatte sich verändert, weil ihr Lieblingsbild gestohlen worden war, und Papa trauerte einer blöden Armbanduhr und der Halskette seiner Mutter nach.“
„Wurde von Ihnen auch etwas gestohlen? Ich meine, waren die Diebe im Kinderzimmer?“ Er wusste nicht, warum er diese Frage stellte.
„Nein. Aber da wäre auch nichts zu holen gewesen, außer Plastikpuppen und Hörspiele. Und diese Verbrecher mussten ja gar nicht ins Kinderzimmer gehen, um mir etwas wegzunehmen. Denn an jenem Tag haben sie mir und meinen Eltern das normale Leben gestohlen. Das wiegt bis heute schlimmer als der Verlust einer Spielzeugküche, einer Ming-Blumenvase oder eines Picassos.“
„Warum erzählen Sie mir das?“, fragte Philippe. Die Frau in seinem Auto klang auf einmal so unglaublich sentimental und zart.
„Das weiß ich auch nicht, Lieutenant.“
Es entstand ein langer, ungewollter Moment der Stille, ehe Bayard wieder das Wort ergriff. „Wir fahren in die Rue Rampon, eine kleine Seitenstraße, da ist unser Büro. Wir treffen uns dort.“ Dann holte er sein Handy aus der Hosentasche und drückte es Isabelle in die Hand. „Martins Nummer ist eingespeichert. Rufen Sie ihn an und sagen Sie ihm, dass wir unterwegs sind!“
Und Isabelle tat wie gewünscht.
Eine halbe Stunde später stellte Bayard sein Auto am Parkstreifen einer Parallelstraße ab. Die restliche Strecke gingen sie zu Fuß. Er hatte sich angewöhnt, jeden Tag woanders zu parken, damit sein Bewegungsprofil möglichst undurchsichtig blieb. Nur für den Fall, dass ihn doch jemand beobachten würde. Commissaire Balcer hatte ihnen eingeschärft, mehr als vorsichtig zu sein. Dass Isabelle Monville nun hinkend ihm nachstapfen musste, hatte er bei seiner Parkplatzsuche nicht bedacht.
Bayard sperrte die Haustür mit seinem Schlüssel auf und beide nahmen die Treppen in das erste Obergeschoss. Er klopfte einen Rhythmus an eine der zwei Türen, die vom Treppenhaus abgingen. Dann raschelte etwas und wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür. Jean Martin kam dahinter zum Vorschein.
„Kommt rein! Paul ist auch schon da.“ Schnell huschten Philippe und Isabelle in den Flur der Zweizimmerwohnung.
„Sie müssen Lieutenant Martin sein, sehr angenehm.“ Die Staatsanwältin streckte dem Mann die Hand entgegen, die dieser sofort artig schüttelte. „Korrekt, Madame Monville. Es freut auch mich, Sie persönlich kennenzulernen.“ Dann zeigte er an das andere Ende des Flures. „Folgen Sie mir bitte. Da geht es lang.“
„Darf ich bekannt machen, Paul Zermiak, unser Computerexperte. Isabelle Monville, Staatsanwältin.“ Die beiden schüttelten sich nach Bayards Vorstellung einander die Hände. Das Büro schien früher einmal ein Wohnzimmer gewesen zu sein, welches man nun zweckentfremdet hatte.
Der junge Mann, den Bayard eben als Paul bezeichnet hatte, war sofort aufgestanden, als Isabelle den Raum betreten hatte. „Angenehm, Frau Staatsanwältin. Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Aber erlauben Sie mir die Frage: Was genau wollen Sie hier?“ Zermiak war also niemand, der lange um den heißen Brei herumredete und brachte auf den Punkt, was er sich dachte.
„Ich will es mal so sagen.“ Isabelle legte einen süffisanten Tonfall an den Tag. „Sie drei brauchen Hilfe, Bayard braucht eine Rehabilitation, Martin seinen Job noch für länger und Sie, Monsieur Zermiak, wandern sonst zurück in das Gefängnis, nicht wahr? Sie sind doch der Paul Zermiak, der letztes Jahr versucht hat, die Firewall des Élysée-Palastes zu hacken? Ich erinnere mich an Ihren Namen und daran, Ihre Akte gelesen zu haben. Sie haben verdammt viel Talent, aber jetzt sind Sie auf das Wohlwollen von Polizei und Staatsanwaltschaft angewiesen. Oder besser gesagt, auf das Wohlwollen von Commissaire Balcer.“ In Sekundenbruchteilen kramte Isabelle die Infos aus ihrem Hinterstübchen hervor. Der Name Paul Zermiak hatte am Gericht große Wellen geschlagen, weil er die Verletzlichkeit der eigenen Sicherheitssysteme so drastisch aufgezeigt hatte. Sehr zum Unwohlsein sämtlicher Richter, Minister und sonstiger staatlicher Würdenträger. Außerdem hatte Monique sie per Telefon instruiert. Wenn man etwas vom Krankenbett aus tun konnte, dann war es telefonieren.
„Und was springt für Sie dabei raus?“ Paul erkannte, dass die Staatsanwältin bestens über ihn Bescheid wusste. Und sie hatte recht. Ohne Erfolge im polizeilichen Auftrag würde seine ausgesetzte Haftstrafe schnell wieder vollzogen werden. Damit hatte Balcer mehr als einmal gedroht.
„Im Gegenzug helfen Sie mir, den Menschen zu finden, der versucht hat, mich umzubringen. Wenn wir am Schluss meinen Attentäter und Ihren Saboteur gefunden haben, ...“ Sie sah dramatisch zur Decke. „... ich meine, eine Asservatenkammer brennt ja nicht von selbst ab.“ Ihr Blick ging wieder nach unten, direkt zu Paul. „Wenn wir diese beiden großen Fälle der Pariser Polizei gelöst haben, dann bin ich danach für die Neubesetzung des Jobs als Oberstaatsanwältin dieser Stadt die einzige mögliche Kandidatin.“ Sie lachte ein bisschen zu selbstverliebt. „Also legen wir los, bringen Sie mich auf den neuesten Stand. Ich will jedes noch so kleine Detail wissen.“
Die vier setzten sich an den großen Tisch, der aus drei einzelnen Schreibtischen zusammengeschoben war. Sonst befand sich in der Wohnung nicht viel, außer einem Serverschrank, der zu Pauls Aufgabengebiet zählte, mehreren Computern auf einem weiteren Schreibtisch, Aktenordnern, Glasstellwänden und einer Kaffeemaschine. Im Gesamteindruck beschrieben die Worte kahl, kühl und weiß sehr gut die Einrichtung dieser behelfsmäßig eingerichteten Wohnung.
„Wer weiß alles von diesem Büro?“, fragte Isabelle, als sie auf einem der Stühle Platz nahm.
„Wir drei, sowie Commissaire Balcer und Commissaire Lagarde. Die beiden haben alles organisiert, uns die Schlüssel hierfür in die Hand gedrückt und uns von der Mordkommission beziehungsweise aus dem Gefängnis rausgeholt. Lagarde deutete damals etwas an, dass er einen Maulwurf bei der Polizei vermutete, aber er nannte keinen Namen. Deswegen sollten möglichst wenige Leute eingeweiht werden. Die Polizisten, die bei dem Zugriff im Hôtel de Crillon dabei waren, wurden nur kurz gebrieft und über die Hintergründe der Ermittlung im Dunkeln gelassen. Auf dem Papier war es eine ganz normale Razzia“, antwortete Martin.
„Warum gerade ihr drei? Bayard kenne ich nicht, auch Jean Martin nicht, aber Sie, Zermiak, einen festgenommenen und vorbestraften Hacker. Jeder weiß, dass Sie sich in der Unterwelt besser auskennen als jeder andere Polizist der Stadt. Warum hielt Balcer Sie für geeignet?“ Es war eine Frage mit Sprengcharakter, die Monville stellte.
„Ich will meinen Sohn aufwachsen sehen, wenn Sie es genau wissen wollen. Ich habe in meiner Vergangenheit Fehler gemacht, aber Balcer und Lagarde wussten, dass ich alles tun würde, um aus dem Gefängnis rauszukommen. Ich stehe jetzt auf der Seite des Gesetzes, solange ich jeden Abend zu meiner Familie nach Hause gehen kann. Und ich denke, Balcer weiß das zu schätzen. Und um Ihre nächste Frage gleich zu beantworten: Nein, ich bin nicht das Leck, das Sie suchen!“ Entrüstet sprang Zermiak von seinem Stuhl auf.
„Gut, regen Sie sich wieder ab, ich glaube Ihnen ja. Setzen Sie sich, Sie machen mich nervös.“ Isabelle zweifelte nicht an seinen Worten. Zermiak war jedem Staatsanwalt bekannt. Sein beachtliches Register an Internetstraftaten war legendär und noch legendärer war, dass man ihn vor über einem Jahr geschnappt hatte. Ihn jetzt für die Polizei arbeiten zu lassen, war ein genialer Coup, wenn man seine Familie als Druckmittel so unproblematisch einsetzen konnte. Balcer und ihre unvergleichlichen Einfälle.
Isabelles Augen wanderten zu Martin.
„Ich weiß, dass ich nicht immer regelkonform arbeite, aber ich habe nie meine Kontakte benutzt, um der Polizeiarbeit zu schaden, sondern immer andersherum. Balcer weiß, dass diese Kontakte hilfreich sein können. Und sie weiß auch, dass ich mit Bayard ein gutes Team bilde, das sich noch nie etwas Ernsthaftes zu Schulden kommen ließ.“ Solche Fragen, wie Monville sie ihm entgegenschmetterte, brachten einen alten Hasen wie ihn schon lange nicht mehr zum Schwitzen. „Und für Bayard lege ich meine Hand ins Feuer. Der Kerl ist so sauber, der parkt nicht mal im Halteverbot.“
Der Kommentar ließ Isabelle herzhaft lachen. „Das glaub' ich sofort.“ Sie zwinkerte ihm zu. In diesem Augenblick kam sich Philippe Bayard wie das unschuldigste Lämmchen der Welt vor. „Na, dann erzählen Sie mal, was passiert ist, nachdem Balcer und Lagarde Ihnen den Spezialauftrag gegeben haben.“
In den folgenden zwei Stunden erklärten die Männer alles, was sie im Rahmen ihrer Ermittlungen zutage gefördert hatten.
Milo Bejic war früher unauffällig gewesen. Er hatte eine Zweizimmerwohnung in der Rue de la Grange, in der Nähe des Gare de l‘Est, bewohnt. Er war dreiundvierzig Jahre alt geworden und war sowohl ledig als auch kinderlos geblieben. Als Kind kroatischer Eltern hatte er es im Pariser Stadtosten, wo die Familie jahrelang nach ihrer Migration gelebt hatte, nicht leicht gehabt. Doch mit Ehrgeiz, Fleiß und einem Stipendium hatte er sich einen Abschluss im Studienfach Informatik an einer renommierten Universität erarbeitet. Schließlich hatte er mehrere Jobs in kleinen Betrieben angenommen, bis er, acht Jahre vor seinem Tod, in der Firma LeGrandEx angeheuert hatte und dort zum IT-Chef avancierte. Er war Nutzer der öffentlichen Verkehrsmittel gewesen, hatte regelmäßig in der Brasserie Louis zu Abend gegessen und gänzlich das Leben eines unbescholtenen Bürgers gelebt, bis vor fünf Jahren sein Leben von einem Tag auf den anderen aus dem Gleichgewicht gekommen war. Bei einer Personenkontrolle in der Innenstadt hatte man Drogen in seiner Manteltasche gefunden. Es folgten eine Anzeige und eine Verurteilung vor Gericht. Weil er sich bis zu jenem Tag nichts zu Schulden hatte kommen lassen, hatten die Richter es bei einer Geldstrafe belassen. Bei einer erneuten Kontrolle, wenige Wochen später, fanden Polizisten wieder Drogen. Nur dieses Mal entschied sich das Gericht zu einer Bewährungsstrafe. Bejic verlor seinen Job und stand kurz davor, seine Wohnung nicht mehr bezahlen zu können, als er, laut den Ermittlungen, mit dem Dealen von illegalen Videos begann, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Durch das zufällig sichergestellte Material, das bei einer Drogenrazzia gefunden worden war, hatte die kleine Taskforce um Bayard endlich Anhaltspunkte, um nach ihm zu suchen. So waren sie schlussendlich überhaupt erst auf Bejic gestoßen. Seine Videos kamen aus Asien, außerordentlich gut verschlüsselt, und hinterließen somit kaum Spuren. Seinen Handel im Darknet hatte er professionell aufgezogen und ein Bezahlsystem mit Kryptowährung dort etabliert, was eine garantierte Anonymität für Käufer und Verkäufer bedeutete. Es war für Zermiak alles andere als leicht gewesen, sich in die Computer und das Netzwerk von Bejic einzuarbeiten, aber es war ihm soweit gelungen, dass sie die Razzia im Hôtel de Crillon hatten planen können. Balcer und Lagarde hatten sich außerordentlich zufrieden gezeigt. Nur das Ende war entgegen der Musterlösung verlaufen. Bejic hätte lebend gefasst werden sollen. Tot konnte er keine Hintermänner mehr verraten.
In Martins und Bayards Zusammenfassung blieb der Brand in der Asservatenkammer nicht unerwähnt. Wer auch immer das Feuer gelegt hatte, musste über Hintergrundinformationen verfügt haben. Also war die ganze Aktion ein entscheidender Hieb in Richtung eines korrupten Polizisten. Noch dazu waren die Überwachungsbänder gelöscht worden, niemand hatte etwas gesehen oder sehen wollen und der Brandbeschleuniger war einfaches Benzin, das keiner Tankstelle zugeordnet werden konnte.
Nachdem sich Isabelle Monville alles geduldig angehört hatte, begann es draußen zu regnen. Dicke Wassertropfen klopften gegen die Fensterscheiben wie Applaus in einem kleinen Theater.
„Nun, meine Herren, ich muss über das alles hier nachdenken. Monsieur Bayard, hätten Sie die Güte, mich nachhause zu fahren?“ Isabelle stand auf und wandte sich zur Tür.
„Sie wollen keine Akten lesen, Überwachungsbänder anschauen oder so?“, fragte Martin ungläubig. Erst ihr Bestreben, sich unbedingt das Büro anzusehen und dann so ein abrupter Abgang?
„Nein, ich muss nachdenken. Außerdem bringen mich die Schmerzen in meinem Arm gerade um und ich habe die Tabletten dagegen im Palais“, antwortete Isabelle. Mit einem kurzen Augenrollen verabschiedete sich Bayard von seinen Kollegen und begab sich zur Eingangstür. Eine Diskussion mit dieser Frau schien aussichtslos.
„Soll ich das Auto holen oder haben Sie einen Regenschirm?“ Bayard erinnerte sich daran, dass sie bei Isabelles Geschwindigkeit beim Gehen wohl beide klatschnass werden würden.
„Wie aufmerksam, ich habe keinen Regenschirm, aber ich begleite Sie zum Auto. Ich muss mich etwas in der Gegend umsehen.“ Dann humpelte die Staatsanwältin den Flur entlang, riss die Türe auf und trat in das kalte Treppenhaus hinaus.
„Wer hat Ihnen diese Wohnung als Quartier zugeteilt?“ Isabelle warf einen Blick auf die Nachbargebäude, die allesamt den Eindruck von durchschnittlichen Wohngebäuden machten.
„Das war Commissaire Balcer, wenn ich mich nicht irre. Sie meinte, das wäre ein gutes Büro für eine geheime Ermittlung abseits des Reviers. Weit weg von den anderen Polizisten, wenn womöglich ein Kollege zu unserer Zielscheibe werden würde.“ Auf Monvilles Frage antwortete Bayard wahrheitsgemäß, während sie die Straße zu seinem Auto hinabliefen.
Dort angekommen stieg sie ein, Philippe startete den Motor und fuhr aus dem engen Parkplatz hinaus.
„Wie seid ihr jeden Tag hierhergekommen? Wie ich sehe, gibt es keine Tiefgarage und keinen festen Parkplatz für die Wohnung, oder?“
„Äh nein, wir sollten, laut Balcer, mit der Metro oder dem Bus hierherfahren.“
„Und wer hat die Einrichtung und die Hardware organisiert?“