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Eine Frau wird auf den Straßen von Paris kaltblütig und perfide ermordet. Das Team von Commissaire Monique Balcer macht sich sofort auf die Suche nach dem Täter, doch die gestaltet sich schwieriger als gedacht. Je mehr Informationen von den Beamten zutage gefördert werden, desto undurchsichtiger wird der Fall. Kein leichtes Unterfangen für die Lieutenants Philippe Bayard und Jean Martin und den Computerspezialisten Paul Zermiak. Gleichzeitig muss sich das Ermittlungsteam mit dem unerfahrenen Staatsanwalt Sauvadet herumschlagen, während die zur Oberstaatsanwältin beförderte Isabelle Monville mit ihren ganz eigenen Problemen kämpft.
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Seitenzahl: 736
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Eine Frau wird auf den Straßen von Paris kaltblütig und perfide ermordet. Das Team von Commissaire Monique Balcer macht sich sofort auf die Suche nach dem Täter, doch die gestaltet sich schwieriger als gedacht. Je mehr Informationen von den Beamten zutage gefördert werden, desto undurchsichtiger wird der Fall. Kein leichtes Unterfangen für die Lieutenants Philippe Bayard und Jean Martin und den Computerspezialisten Paul Zermiak. Gleichzeitig muss sich das Ermittlungsteam mit dem unerfahrenen Staatsanwalt Sauvadet herumschlagen, während die zur Oberstaatsanwältin beförderte Isabelle Monville mit ihren ganz eigenen Problemen kämpft.
Betty Heinrich ist ein Kind der neunziger Jahre. Geboren und aufgewachsen ist sie im ländlichen Bayern. Bei ihrer Arbeit im Medizinsektor hat sie ihre Vorliebe für Biomechanik und menschliche Abgründe entwickelt. Vor allem aber versucht sie ihre Horizonte täglich neu zu erweitern und jede interessante Alltagsgeschichte in ihre Romane einfließen zu lassen.
Schwarz auf Pink ist ihr zweites Buch.
Für Mama, du bist das Zentrum meiner Welt und meines inneren Friedens. Danke für alles!
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Die Zugfahrt nach Bordeaux verging schneller, als Lieutenant Philippe Bayard zu hoffen gewagt hatte. Als er im Gare de l’Est in Paris in den TGV eingestiegen war, hatten noch zahlreiche wirre Gedanken über den letzten lebensgefährlichen, teils illegalen Ermittlungsfall seinen Kopf bevölkert, vor allem aber auch die Erlebnisse mit der Staatsanwältin Isabelle Monville, die es bis in die Klatschpresse geschafft hatten. Nun, als er in Westfrankreich ausstieg, hatten sich die dunklen Wolken in seinem Schädel verzogen.
Er war zu seiner Familie gefahren, umarmte und küsste Laure, drückte seinen Sohn, herzte seine Schwiegereltern, spielte mit dem Hofhund, räumte den Koffer aus und widmete sich dann ganz seiner Frau. Philippe hatte die gemeinsame Zeit mit Isabelle vergessen, als er mit Hugo im neu aufgebauten Pool hinter dem kleinen Château planschte. So viel Glück, wie er empfand, als er seinen Sohn mit den gelben Schwimmflügeln im Wasser paddeln sah, hatte er in Paris nie wahrgenommen. Der kleine Mann, der sich abmühte, mit dem Kopf über Wasser zu bleiben, sich trotzdem verschluckte, laut prustete und sich an seinem Rücken festhielt, war nun der schönste und wichtigste Mensch in seinem Leben. Für Hugo, so schwor sich Philippe, musste er Isabelle und alles, was er mit ihr gemeinsam erlebt hatte, vergessen.
Laure genoss die lang ersehnte Ankunft ihres Mannes. Hatten sie sich noch am Telefon gestritten, so war jetzt die Zankerei vorbei und die Zuneigung zurückgekehrt. Vielleicht lag es an den geräumigeren Platzverhältnissen auf dem Weingut, an der klaren Luft oder dem fehlenden Zeitdruck, den Arbeit und Kinderbetreuung verursachten. Wer Laure und Philippe nicht kannte, der mochte denken, sie wären ein frisch verliebtes Paar, wenn sie händchenhaltend durch den Ort spazierten und ihrer Umwelt zeigten, wie sehr sie die gemeinsame Zeit miteinander genossen. Paris und alles, was mit dieser turbulenten Stadt zusammenhing, verschwand unter dem schützenden Deckmantel von Freizeit, dem Wein aus eigener Herstellung und den Kochkünsten von Laures Mutter. Sie waren eine glückliche Familie, die ihr Glück nicht nur spielte, sondern ernsthaft fühlte. Philippe schwor sich, seiner Ehefrau nie etwas von Isabelle zu erzählen. Nicht, dass er mit ihr öfter in Lebensgefahr geschwebt hatte als je zuvor in seinem Leben, nicht, dass er mit ihr in die Sacré Coeur eingebrochen war, nicht, dass er mehrmals mit ihr geschlafen hatte, und auch nicht, dass er sicher war, sie in dieser Zeit wahrhaftig geliebt zu haben. Ein Gedanke, der ihm hier in Bordeaux abwegiger erschien, als morgen die Tour de France zu gewinnen.
Natürlich hatte Laure Fragen gestellt. Zu der Wunde an seinem Kopf, den Schrammen und blauen Flecken, zu den Diskussionen, die sie am Telefon geführt hatten. Aber er erklärte nur die nötigsten Grundzüge, schubste die dienstliche Schweigepflicht vor und spielte die ganze Woche vor seiner Ankunft hier als Kleinigkeit hinunter. Das gefährlichste Detail, dass er bewusstlos in einer Ecke der Opéra Garnier gelegen hatte und der Finanzminister der Republik Frankreich höchstpersönlich ihn hatte töten wollen, ließ er absichtlich unausgesprochen. Vorsorglich hatte er jede Zeitschrift im Haus auf Fotos von ihm und Isabelle Monville durchsucht und erleichtert festgestellt, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte. Alle Magazine waren alt. Laure oder andere Familienmitglieder konnten sich natürlich neue kaufen, doch Philippe war bei jedem Ausflug dabei und merkte schnell, dass Laure gar kein Interesse an dem neuesten Klatsch und Tratsch aus Paris zeigte. Hier in Bordeaux gab es Wichtigeres und Schöneres zu tun, als sich über fremde Menschen aufzuregen. Philippe wusste, dass er eine Chance hatte, dass seine Affäre mit Isabelle nie auffliegen würde, wenn nur alle Beteiligten den Mund hielten. Er selbst würde, was diesen Teil betraf, schweigen wie ein Grab. Und er hoffte, dass ihm dabei weder die Mitwisser noch das Karma einen Strich durch die Rechnung machen würden.
„Woran denkst du?“ Laure stellte zwei Gläser Wein auf den kleinen Glastisch, an dem Philippe saß und dabei weit in die Ferne starrte. Hier war alles so offen, so grenzenlos und grün. Der Blick auf die Weinberge hinter dem Château Fabre, einem alten Gebäude, das seit Jahrzehnten im Besitz von Laures Familie war, schmeichelte jedem Auge.
„An nichts. Ich genieße, wie schön es hier ist.“ Philippe griff nach dem Glas.
Laure setzte sich ebenfalls und stieß mit ihm an. Es war der letzte Abend hier in Cabanac, Laures Heimatgemeinde. Hier war sie aufgewachsen, bis sie für das Studium nach Paris gezogen und dort hängen geblieben war. Sie tranken ein Schlückchen des ausgesprochen guten Roten und stellten die Gläser wieder ab.
„Könntest du dir vorstellen, hier zu leben?“ Auf so eine Gelegenheit hatte Laure seit zwei Wochen gewartet. Endlich mit Philippe sprechen, ungestört und ernsthaft.
„Keine Ahnung. Warum fragst du?“
„Ich muss mit dir reden, Philippe.“
„Tun wir das nicht gerade?“ Er richtete sich auf dem Gartenstuhl auf. Was hatte Laure vor?
„Ich habe ein Angebot bekommen.“ Sie stockte, als wäre es ein dramatisches Geheimnis.
„Welches Angebot? Laure, lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“
„Ich weiß, wie sehr du Paris und das Leben dort liebst. Und deine Arbeit. Dort hast du deine Freunde und Kollegen. Aber vor drei Wochen, als du noch in Paris warst und ich schon hier, kam der Bürgermeister uns besuchen und er teilte mir mit, dass die Dorfschule in Villagrains eine neue Lehrkraft brauche. Es ist eine wunderbare, kleine Grundschule. Der alte Lehrer geht in Pension und ich könnte die Stelle haben. Wir müssten allerdings unseren Wohnsitz in Paris aufgeben. Maman würde sich freuen, wenn wir auf dem Château einziehen würden. Hier ist doch genügend Platz. Oder wir suchen uns irgendwo ein Häuschen oder bauen auf dem Grundstück etwas Eigenes. Hugo würde im Grünen aufwachsen, wir könnten Meerschweinchen und Hunde halten, so wie ich sie früher auch hatte. Wir müssten nie wieder einen Parkplatz suchen und könnten jeden Tag mit den Rädern durch die Landschaft kurven. Meine Eltern hätten ihr Enkelkind näher bei sich. Und weißt du was? Ein zweites oder drittes Kind wäre hier auch kein Problem. Unsere Pariser Wohnung platzt doch jetzt schon aus allen Nähten. Wie soll das weitergehen, wenn Hugo größer ist? Soll er ein Einzelkind bleiben? Ich hätte gerne für ihn ein Geschwisterchen oder sogar zwei. Hier hätten viele Kinder einen wunderbaren Ort zum Aufwachsen.“ In ihrem Redefluss hatte Laure nicht bemerkt, wie still Philippe geworden war. Vielleicht hatte sie in ihrer Euphorie doch etwas übertrieben.
„Aber ...“ Philippe brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen, dann versagte ihm erneut die Stimme.
„Aber das würde bedeuten, dass du deinen Job bei der Pariser Kriminalpolizei aufgeben müsstest. Die Polizei in Bordeaux sucht immer gute Leute. Du könntest dich dorthin versetzen lassen. Oder zur Gendarmerie in eine der kleineren Ortschaften wechseln. Du bist ein ausgezeichneter Polizist. Die Reviere würden sich bestimmt um dich streiten.“ Sie flehte ihn förmlich an. Das Angebot mit der Dorfschule in Villagrains, die meistens nur eine Klasse pro Jahrgang führte und in einem kleinen Gebäude mitten im Ort untergebracht war, erschien ihr wie ein Segen. Paris war so eng, so gefährlich, so grau und so laut. Hier in Bordeaux würde alles besser sein. Die Familienplanung stellte kein Problem mehr dar und die Kriminalität war weitaus gefahrloser als in der Großstadt. Die meisten Polizisten auf dem Land beschäftigten sich mit ausgebüxten Kühen, geklauten Opferstöcken und verirrten Fahrradfahrern. Laure stufte die Wahrscheinlichkeit, dass Philippe hier angeschossen oder getötet würde, als ausgesprochen gering ein. Sie schämte sich nicht für den Gedanken, ihren Mann vor dem dienstbedingten Tod bewahren zu wollen.
„Das hast du dir alles schön überlegt.“ Philippe wandte seinen Blick von ihrem Gesicht ab und starrte weiter in die Weinberge, die zweihundert Meter hinter dem Haus begannen und sich dann bis zum Horizont erstreckten. Er musste zugeben, dass der Plan nicht schlecht klang. Er versprach ein ruhiges Leben in der Natur, umringt von einer Großfamilie und einem nervenschonenden Job. Aber Paris aufgeben? Die Stadt verlassen, die ihn mit achtzehn als Rettungsanker aufgefangen hatte? Die Arbeit beim Dezernat für Mord und Gewaltverbrechen gefiel ihm ausgesprochen gut. Er mochte seine Kollegen, Paul, Jean, sogar Commissaire Balcer. Konnte er sie einfach verlassen, nachdem sie so viel miteinander durchgemacht hatten? Und was würde Isabelle dazu sagen? Sofort ohrfeigte er sich innerlich selbst für diesen Gedanken. Zwei Wochen hatte er es ausgehalten, ohne an diesen Namen denken zu müssen. Jetzt war er wieder da, keilte sich zwischen die Synapsen im Gehirn und sprang von Schädelknochen zu Schädelknochen. Er wollte Isabelle nicht mehr sehen, nie wieder treffen, am liebsten weder privat noch beruflich. Die Affäre war beendet. Hart und ohne Umschweife hatte er ihr alles erklärt, was ihn zu dieser Entscheidung gebracht hatte. Natürlich hatte er sich danach schlecht gefühlt, als er sie durch die geschlossene Tür ihres Schlafzimmers weinen hörte, und auch kurz daran gedacht, doch wieder umzukehren. Aber er war standhaft geblieben, hatte das Palais verlassen, seine Wohnung aufgesucht, den Koffer genommen und war in den Zug gestiegen. Danach hatte er Isabelle aus seinen Gedanken verbannt. Jetzt stand sie also wieder vor der Tür und bat um Einlass. Nein, eigentlich bat sie nicht darum, sondern trat einfach ein und machte sich zwischen ihm, Laures Zukunftsplanung und seinen eigenen Gedanken im Kopf breit. Philippe sah zu seiner Frau. Sie wartete immer noch auf eine Antwort und schien von seiner bisherigen Reaktion wenig begeistert.
„Ab wann könntest du in der Dorfschule arbeiten?“
„Ab September nächsten Jahres. Aber da Anfang Juli die Ferien beginnen, würde ich bereits im Juli eingestellt werden, da ich mich um die Planungen fürs darauffolgende Schuljahr und um die Ferienbetreuung kümmern müsste. Wir hätten also elf Monate Zeit, um den Umzug zu organisieren.“
„Bis wann musst du dich entschieden haben?“
„Die Bewerbungsfrist läuft bis Anfang Dezember, die Entscheidung wird im Januar getroffen. Wir müssen also nichts übers Knie brechen.“ Ein aufmunterndes Lächeln huschte über ihre Lippen.
„Gut zu wissen.“ Philippe nahm einen großen Schluck Wein. Aus Paris wegzuziehen und sein bisheriges Leben aufzugeben, war sicherlich keine Entscheidung, die man aus dem Bauch heraus treffen sollte. „Aber wir fahren morgen ganz normal nach Hause zurück?“, fragte er.
„Natürlich fahren wir jetzt erst wieder nach Paris zurück.“ Laure verstand den Sinn der Frage nicht. „Das ist vielleicht alles ein bisschen viel für den Moment. Aber ich bitte dich, dir darüber Gedanken zu machen. Über unser ganzes Leben, über die Zukunft, Kinder und all das. Willst du wirklich ewig in dieser kleinen Wohnung leben, wo ich Unterrichtsvorbereitung und Korrekturen am Küchentisch erledigen muss, weil ich keinen anderen Arbeitsplatz habe? Was Größeres in Paris können wir uns aber nicht leisten. Hier hätten wir so viele Möglichkeiten, viel Platz und die Familie in unmittelbarer Nähe. Das solltest du alles in Betracht ziehen.“ Sie schluckte. Ihre Freude über das Stellenangebot war eindeutig größer als seine. „Versprich mir, dass du in dich gehst und darüber nachdenkst.“
„Ich verspreche es hiermit. Ich werde darüber nachdenken“, sagte er und leerte dann sein Glas in einem Zug.
Im so fernen Paris entwickelten Lieutenant Jean Martin und dessen Vorgesetzte Commissaire Monique Balcer sehr bald ein Gespür dafür, was sie mit den Ermittlungen zu Xavier Lacroix’ Tod aus der Dunkelheit ans Licht heraufbeschworen hatten. Sein vermeintlicher Suizid hatte sich als eiskalter Mord entpuppt. Unter dem Kommando von Balcer hatten er, Philippe Bayard, Paul Zermiak und Staatsanwältin Isabelle Monville den algerischen Tipasa-Clan aufgedeckt. Nachdem an die Öffentlichkeit gedrungen war, dass in besagtem Clan mehrere Staatsdiener, darunter ein korrupter Richter und der amtierende Finanzminister Fornior involviert waren, war die Pariser Bevölkerung auf die Straße gegangen und die Regierung in Schieflage geraten. Einige Menschen hatten den Rücktritt des gesamten Kabinetts gefordert, andere Neuwahlen und wieder andere waren nur mitmarschiert, um nachher sagen zu können, dabei gewesen zu sein. Manchmal hatte es drei Demonstrationen an einem Tag gegeben und oft hatte man nur erahnen können, was die genauen Intentionen der wütenden Masse zu sein schienen.
Für Martin und Balcer war der plötzliche Ruhm um ihre Person, mit dem sie die Medien plötzlich überschütteten, überwältigend. Jetzt glich es einer Meisterleistung, unerkannt aus dem Hinterausgang des Polizeireviers zu flüchten, ehe ein sensationslüsterner Fotograf schon einen Schnappschuss gemacht hatte. Während Martin sich dezent im Hintergrund hielt, nahm Balcer fast alternativlos die Pressetermine wahr: Sie gab Interviews, sprach auf Konferenzen und hielt stets Rücksprache mit dem amtierenden Bürgermeister von Paris, Gérard Mathon. Dass er ihr Geliebter war, wussten die wenigsten, dass François Monville, Isabelles Vater, ihnen die Zweitwohnung seiner Tochter an der Kirche Notre Dame für ruhigere Stunden zur Verfügung gestellt hatte, wusste niemand. Wie sehr sie sich auch alle nach Normalität sehnten, wenn man der Grund dafür war, dass die Regierung eines Landes, wie Frankreich, in den Grundfesten schwankte, das Privatleben war jedenfalls für eine Zeit lang vorbei.
Doch die Aufmerksamkeit auf die Staatsführung hatte auch ihre guten Seiten. So bewältigten Martin und Balcer die bürokratische Arbeit im Fall Xavier Lacroix und Paul Zermiak erhielt die dauerhafte Einstufung als Freigänger. Seine vorübergehende Anstellung bei der Kriminalpolizei von Paris wurde genehmigt und seine Arbeit offiziell belobigt. Die Haftstrafe nicht hinter Gittern verbüßen zu müssen, sondern bei seiner Familie bleiben zu dürfen, bedeutete Paul mehr als jede Auszeichnung es gekonnt hätte.
Zusammen standen sie Commissaire Marc Lagarde bei. Dieser Kollege, dessen Frau tiefer als jemals vermutet im Tipasa-Clan verwurzelt war, hatte mit ordentlichen Problemen zu kämpfen. Er wurde verhört, als potenzieller Mitwisser eingestuft, durchsucht und dann irgendwann von allen Vorwürfen entlastet. Nie hatte er auf der falschen Seite des Gesetzes gestanden. Dass er mit einer korrupten Rechtsmedizinerin verheiratet war, hatte sich als sein persönliches Pech herausgestellt, seine Integrität jedoch nie angegriffen.
Selbst nach Philippes Rückkehr aus seinem Urlaub in Bordeaux gab es noch genügend Arbeit für alle. In einer Stadt wie Paris schliefen die Verbrecher nie.
„Kann ich am Freitagvormittag zwei Stunden ohne Leibwächter haben? So ganz allein? Ohne Fahrer, ohne alles?“ Isabelle trat, ohne anzuklopfen, in das Zimmer ein, das die Sicherheitsfirma, die seit dem Einbruch ins Palais vor Jahrzehnten beauftragt worden war, als Büro und Schaltzentrale nutzte. Wie erwartet saß Tom Mannington hinter dem Computer, der auf einem alten, massiven Holztisch stand. Tom war zu so etwas wie ein Einsatzleiter befördert worden und kümmerte sich jetzt nicht nur um Isabelle, sondern um alles, was die Familie Monville im Aspekt auf Sicherheit betraf.
Drei Wochen waren seit Philippes abruptem Abgang aus Isabelles Schlafzimmer vergangen. Erst hatte sie völlig verzweifelt geheult. Als sie dann keine Kraft mehr gehabt hatte, noch länger in Selbstmitleid zu baden, hatte sie sich aufgerafft, ihre Termine wahrgenommen und sich so brav verhalten, dass es direkt gespenstisch auf Tom gewirkt hatte. Isabelle hatte härter als je zuvor gearbeitet, Frage und Antwort im Fall Lacroix gestanden, als Staatsanwältin vor Gericht Kriminelle vorgeführt und als Tochter von François Monville alles erledigt, was Chloé, seine Assistentin, ihr in den Terminkalender geschrieben hatte. Die Bodyguards waren erfreut über den plötzlichen Sinneswandel, der Isabelle von der rebellischen Femme fatale zur unkomplizierten Frau hinabgestuft hatte. Statt ihrem Personal davonzurennen, schwamm sie jetzt abends im Pool, hatte unwillkürlich ihren Alkoholkonsum verringert und sich an alle Absprachen gehalten. Umso überraschter wirkte Tom, als Isabelle nun Zeit komplett für sich alleine forderte.
„Hallo, Madame Monville.“ Tom sah vom Computer auf und schenkte Isabelle ein freundliches Lächeln. Seit die Sache mit Xavier geklärt war, legte er großen Wert darauf, seine Dienstherrin zu siezen, mit Nachnamen anzureden und den gebührenden Abstand zu bewahren. Er hatte mit Isabelle geschlafen, bereute die Nacht zutiefst und hatte sich geschworen, diesen Fehler kein zweites Mal zu begehen. Isabelle war ausgesprochen schön, aber auch genauso unberechenbar und gefährlich für seine Karriere und seinen Job. „Darf ich fragen, warum Sie sich zwei Stunden am Freitag früh ohne Personenschutz wünschen?“
„Nein, darfst du nicht.“ Isabelle verzichtete auf die förmliche Anrede, wenn niemand anderer im Raum war. Sie mochte Tom und sie hatte kein Problem mit all den Dingen, die zwischen ihnen vorgefallen waren.
„Wir gehen zurzeit von einer erhöhten Gefährdungslage aus. Als Verantwortlicher für den Sicherheitsdienst kann ich von einem Ausflug ohne Personenschutz nur abraten. Würden Sie vielleicht einen Fahrer akzeptieren, der sich dezent im Hintergrund hält?“ Im Prinzip konnte Isabelle tun und lassen, was sie wollte, doch ihre Vorliebe, den Bodyguards zu entkommen, war legendär und endete meist in brenzligen Situationen.
„Nein. Ich werde mich am Freitag für zwei Stunden ganz alleine durch die Stadt bewegen. Und wenn ich einen von euch sehe, wie er mir hinterherspioniert, sorge ich höchstpersönlich dafür, dass dessen Arsch danach Kirmes feiert. Haben wir uns verstanden?“
„Ja.“ Er nahm einen Stift und kratzte sich damit an seinem Kopf mit der dicken, dunklen Haarpracht. Langsam ergraute auch Tom, selbst wenn er es nicht wahrhaben wollte. „Ich kann Sie doch eh nicht davon abhalten, uns zu entwischen. Aber ich würde mich freuen, wenn Sie es sich noch anders überlegen.“
„Werde ich nicht. Du kannst froh sein, dass ich überhaupt Bescheid gebe. Also Freitag, von neun bis elf, werde ich nicht da sein und Gnade dir Gott, wenn ich einen von deinen Leuten sehe.“ Sie drohte mit dem Finger.
„Gewiss, Madame. Ich habe mich bereits gefragt, was mit Ihnen los ist und wann Sie wieder etwas aufmüpfiger werden. Wie ich sehe, sind Sie wieder auf dem Weg, die alte Isabelle Monville zu werden.“
Sie atmete einmal tief ein. „Ich weiß nicht, was du meinst Tom“ sagte sie ohne eine Gefühlsregung. „Ich mache immer, was ich will, und höre damit jetzt nicht auf.“ Dann drehte sie sich um, verließ ohne Verabschiedung den Raum und warf die Tür hinter sich ins Schloss. Vielleicht hatte sie Spaß daran, den gutaussehenden Briten zu überraschen. Sein Madame-Monville-Gelaber nervte sie, aber wenn er es für richtig hielt, dann akzeptierte sie seine Anrede. Aber ihn zu verblüffen gefiel Isabelle. Sie wollte ob der Situation lachen oder zumindest sanft darüber lächeln. Doch sie hatte seit drei Wochen nicht gelacht und würde auch jetzt nicht damit anfangen.
Es war Freitag kurz nach elf und Isabelle war immer noch nicht von ihrem Ausflug zurück. Tom sah fast sekündlich auf die Uhr und bereute die Entscheidung, nicht doch einen Mann auf sie angesetzt zu haben. Einen Kollegen, den sie nicht kannte, jemanden, der in Freizeitkleidung statt im Anzug im Sicherheitsabstand hinter ihr her trabte und sie nicht aus den Augen ließ. Aber Tom hatte ihr versprochen, nichts dergleichen zu unternehmen. Sie wollte mit der Metro fahren und er hatte seinen Kommentar darüber, wie unverantwortlich er das fand, einfach nur wortlos hinuntergeschluckt. Jetzt war genau die Situation eingetreten, die er hatte vermeiden wollen. Die ausgemachte Zeit war überschritten und langsam, aber sicher machte er sich Sorgen. Um ihre Person, um ihre Gesundheit und um seinen Kopf, den ihm François Monville zweifelsfrei abreißen würde, sollte seiner Tochter etwas zugestoßen sein. Tom wählte Isabelles Nummer auf seinem Telefon, doch niemand meldete sich. Als die Mailbox sich einschaltete, legte er auf und probierte es gleich ein weiteres Mal.
Es wurde elf Uhr fünfzehn. Immer noch niemand da. Hatte die Metro Verspätung oder hatte sich jemand auf die Gleise geworfen? Er wies seinen Kollegen Keith an, das zu überprüfen. Wenn Isabelle nicht kam, wo sollte er die Suche nach ihr anfangen? Sie kannte zu viele Schlupfwinkel, zu viele Immobilien und gar zu viele Menschen, als dass man eine Frau wie Isabelle aufspüren konnte. Der einzige Weg, sie zu finden, war, ihr Handy zu orten. Doch Isabelle kannte sich aus und hatte bestimmt das Telefon ausgeschaltet oder weggeworfen, ehe er die Erlaubnis des Providers eingeholt hatte.
Halb zwölf. Warum hatte er ihr eigentlich gestern ein weiteres Mal die Bedeutung von erhöhter Bedrohurtgslage erklärt? Wie absolut gefährlich ihr Vorhaben, alleine in der Stadt herumzulaufen, wirklich war? Von all dem hatte sich Isabelle nicht von ihrem Plan abbringen lassen. Sie war morgens aufgestanden, hatte das Palais ohne Personenschutz in Richtung U-Bahn verlassen und war seitdem nicht mehr aufgetaucht.
Viertel vor zwölf. Tom schwitzte. Auch wenn es Ende August und noch ziemlich heiß war, lag es nicht an der Außentemperatur, die sein Sakko durchnässen ließ. Er rannte im Foyer umher, schickte seine Kollegen in den Sicherheitsraum, um die Kameras zu überprüfen, und überlegte sich, welches Land kein Auslieferungsabkommen mit Frankreich hatte, falls ihr doch etwas passiert war und er vor der Rache von Isabelles Vater fliehen musste. Würde er als Nächstes ein Erpresserschreiben im Postkasten vorfinden?
Zwölf Uhr. Gerade als Tom kurz davorstand, einen Schreikrampf zu bekommen, bog ein schlankes, zartes Wesen um die Ecke. Er lief aus dem Haus und über den Innenhof, um die kleine Tür im schmiedeeisernen Eingangstor persönlich zu öffnen. Wut vermischte sich mit Erleichterung. „Wo warst du?“ Er bellte die Frage auf Englisch, weil seine innere Anspannung ihn die Französisch-Kenntnisse vergessen ließ.
„Das geht dich nichts an“, blaffte Isabelle in ebenso gutem Englisch zurück. Sie war es gewohnt, auf Fremdsprachen zu antworten, sodass Tom sie kaum überraschte.
„Es geht mich sehr wohl etwas an, wenn du eine Stunde zu spät kommst. Das war so nicht verabredet. Du wolltest um elf Uhr zurück sein und jetzt ist es Mittag. Ich habe mir Sorgen gemacht. Es hätte so viel passieren können. Du hattest mein Vertrauen und hast es missbraucht!“ Jetzt erst merkte er, dass er kein Französisch sprach und Isabelle eher vertraulich als offiziell angesprochen hatte.
„Jetzt mach mal halblang.“ Sie keifte ebenso böse zurück. „Ich bin ein freier Mensch, der heimkommt, wann es ihm passt. Außerdem habe ich dir schon einmal gesagt, dass du dir keine Sorgen um mich machen musst. Das muss niemand, kapiert? Wenn es dich so brennend interessiert, ich war beim Zahnarzt. Und ich weiß nicht, wann ich das Recht an dich abgetreten habe, mein Leben komplett zu überwachen. Also wähle deine Worte mit Bedacht und lass mich in Ruhe.“
„Du warst beim Zahnarzt?“ Tom wirkte verdutzt. Er hatte mit etwas Dramatischerem gerechnet.
„Ja. Das gehört übrigens zu den Menschenrechten, eigenständig zu einem Zahnarzt zu gehen. Ich habe einen freiliegenden Zahnhals oben rechts, falls du es noch genauer wissen willst. Das tat weh und jetzt nicht mehr. Noch Fragen? Willst du wissen, ob er eingespritzt hat oder nicht? Ach ja, genau, Zahnstein hat er auch entfernt und alle Zähne poliert. Ist das genug, um deine Neugier zu befriedigen?“
Tom biss sich auf die Unterlippe. Isabelle war wütend und irgendwie beschlich ihn das Gefühl, dass es besser wäre, sie nicht weiter auf die Palme zu treiben. Deshalb nickte er nur.
„Gut. Jetzt bin ich hier. Ich habe auch nicht mehr vor, heute das Palais zu verlassen. Nur zur Info.“ Sie stapfte an ihm einen Schritt vorbei. „Und jetzt lass mich gefälligst in Ruhe.“ Dann lief sie ins Haus, damit er die Tränen in ihren Augen nicht sehen konnte.
Den Rest des Nachmittags lag Isabelle im Bett. Sie hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, das Mittagessen verweigert und sich mit ihrem alten Teddy aus Kinderzeiten unter der Decke verkrochen. Für einen normalen Freitag drückte das Leben etwas zu schwer auf ihre Schultern. Sie lag einfach nur da. Warum genau war sie auf dieser Welt? Warum hatte es ausgerechnet sie, von allen Kreaturen auf diesem Planeten genau sie, erwischt, dass sie diese unglaubliche Verbindung zum Tod und dem Unheil, das sie jagte, geerbt hatte? Während der zahllosen Minuten, die langsam vergingen, dachte sie an den Fluch, von dem ihr ihr Vater vor wenigen Monaten erzählt hatte. Weil sich zwei Frauen vor einem Jahrhundert um einen Mann gestritten hatten, durfte sie jetzt die Folgen mit ihrer Gesundheit bezahlen. All die Schwächeanfälle, die Suizidversuche, der Herzstillstand und die Attacken voller Atemnot waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Jetzt war sie hier, klammerte sich an ihr Kuscheltier und fühlte, wie jede Faser ihres Körpers sich in seine Einzelteile zerlegte. Philippe mischte sich zwischen ihre unheilvollen Gedanken, sein Lächeln, seine Lippen, seine Hände. Er war so konkurrenzlos feinfühlig, schaffte es jedes Mal, wenn sie sich nur angesehen hatten, dass sie sich weniger deplatziert auf dieser Welt vorkam. Doch er hatte sich gegen sie entschieden und im Moment wog dieser Fakt schwerer als alles andere. Die Erinnerung an ihn hatte sie wochenlang verdrängt, nun kam sie unaufhaltsam zurück und machte aus ihr ein noch größeres seelisches Wrack. Gab es jetzt überhaupt noch einen guten Grund, um weiterzuleben? In den letzten Wochen hatte sie keinen Drang danach verspürt, morgens überhaupt noch die Augen aufzuschlagen. War es besser, sich mit Betablockern über den Jordan zu transportieren oder doch mit Benzodiazepinen? Isabelle versank in den Gedanken über die Methode des Sterbens ihrer Wahl, obwohl sie längst wusste, keine Wahl mehr zu haben, als ein entsetzlicher Lärm die Ruhe im Palais zerstörte.
„Madame Monville! Madame Monville!“ Einer der Bodyguards, Isabelle hatte seinen Namen vergessen, klopfte erst lautstark an ihre Schlafzimmertür, um sie dann doch ungestüm aufzureißen und unaufgefordert einzutreten.
„Was ist?“ Isabelle rollte sich auf die andere Seite, um ihn ansehen zu können.
„Sie müssen das Palais verlassen. Sofort.“ Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten, dass der Leibwächter es ernst meinte.
„Himmel, was ist denn los?“ Sie rappelte sich auf, ihren Teddy immer noch fest im Arm haltend. Die Augen waren vom vielen Weinen angeschwollen, ein Abdruck ihres Kissens hatte sich auf der Wange abgezeichnet und rote Striemen hinterlassen. Was Isabelle jetzt sicher nicht wollte, war, dieses Zimmer und dieses Gebäude zu verlassen.
„Das Palais wird attackiert. Wir müssen das Haus räumen und Sie aus der Gefahrenzone bringen.“ Seine Stimme ließ keine Widerworte zu. „Sie werden über den Tunnel und den Tiefgaragenausgang im Gebäude gegenüber evakuiert. Der Wagen mit ihrer Notfalltasche steht bereit. Bitte beeilen Sie sich.“
„Ich habe eine Notfalltasche?“ Isabelle hatte diesen Ausdruck in so einem Zusammenhang noch nie gehört.
„Sie glauben ja gar nicht, was Sie alles haben.“ Der Leibwächter machte nicht den Eindruck, als scherze er gerne und erst recht nicht in diesem Augenblick. „Und jetzt kommen Sie bitte.“
Isabelle hoffte, dass in dieser Notfalltasche etwas Ordentliches zum Anziehen zu finden war. Sie kroch aus dem Bett, schlüpfte in ihre Hausschuhe, krallte sich mit rechts ihre Handtasche, die auf einem Tischchen im Zimmer stand, und umklammerte weiterhin mit ihrer linken Hand ihr Kuscheltier. Wer in Pantoffeln und Jogginghose floh, den störte auch ein Teddy im Arm nicht mehr. Wortlos lief sie dem Mann im Anzug hinterher. Durch das Treppenhaus in den Keller, von wo aus der unterirdische Tunnel begann, der sie unter der Straße hindurchleitete und auf der gegenüberliegenden Seite in einem weiteren Kellerraum ankommen ließ. Ursprünglich waren diese Gänge für Mätressen und Minister gebaut worden, jetzt dienten sie dem Schutz der Familie Monville. Es ging durch mehrere gesicherte Türen, bis Isabelle und der Leibwächter vor einem schwarzen Mercedes standen, der bereits mit laufendem Motor auf sie wartete.
„Wo ist mein Vater?“ Isabelle sah sich um. Ihr Puls hatte sich beschleunigt und ihre unsägliche Traurigkeit, in der sie bis vor einer Minute geschwelgt hatte, war verpufft. So eine derartige Aktion hatte es noch nie gegeben. Die geheimen Tunnel hatte sie das letzte Mal vor einer halben Ewigkeit genutzt. Es war ein Vorteil, wenn einem das ganze Viertel gehörte, was aber auch bedeutete, dass es die Situation nicht weniger einschüchternd machte.
„Ihr Vater ist in der Firmenzentrale. Wir kümmern uns bereits um ihn. Steigen Sie bitte ein. Der Fahrer bringt Sie an einen sicheren Ort.“ Damit riss der Mann im Anzug die Tür des Wagens auf. Wortlos stieg Isabelle ein. Ihre Frisur war zerzaust und sie war alles andere als angemessen für die Öffentlichkeit gekleidet. Eine gerechtfertigte Situation, um zu verzweifeln, doch dafür hatte sie keine Energie mehr.
Der Wagen schoss zum Tor hinaus, beschleunigte und ordnete sich eine Querstraße vom Palais entfernt in den Verkehrsfluss ein. „Ich bringe Sie ins Hotel Miraval. Dort haben wir ein sicheres Zimmer für Sie organisiert, bis die Sache geklärt ist.“ Es war Lucas. Isabelle erkannte jetzt die Stimme und den hemmungslosen Fahrstil. Sie nickte nur, antwortete aber nicht. Ohne selbst zu wissen, was genau im Palais vorgefallen war, häuften sich an diesem Tag die Dramen.
Eine Viertelstunde später, es war jetzt erst halb sieben abends, steuerte Lucas das Auto zielsicher in die Tiefgarage des Hotels, in dem Isabelle noch nie zuvor gewesen war. Er stellte den Wagen auf einem gekennzeichneten Parkplatz ab, öffnete die Autotür für Isabelle, nahm die Reisetasche aus dem Kofferraum und beorderte Isabelle zum Aufzug, der sie beide direkt in den fünften Stock des Gebäudes transportierte.
Im fünften Stock angekommen ging Lucas voraus, überprüfte, ob der Flur sicher war, winkte Isabelle hinter sich her, öffnete eine der Zimmertüren mit einer Schlüsselkarte, winkte ihr abermals und verschloss hinter ihr die Tür mit einem ordentlichen Ruck.
„Wir bleiben hier, bis wir weitere Anweisung erhalten.“ Er stellte die Tasche ab und tippte auf den Lautsprecher, den er im Ohr trug. Mit all den technischen Spielereien machten die Leibwächter auf sie immer den Eindruck, als wären sie eine Mischung aus MI6-Spionen und verkappten FBI-Agenten. Hieß sie dann vielleicht Jackie Kennedy? Hatten ihr die Sicherheitsleute einen Codenamen verpasst? War Adler ihr Vater und schallte Der Adler ist gelandet durch den Funkverkehr, wenn François abends das Palais betrat und sein Feierabend begann?
Isabelle legte sich aufs Bett, schob die Beine unter die Decke und rollte sich wieder in Schlafposition zusammen. Sollte Lucas doch denken oder machen, was er wollte. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe haben.
„Madame Monville?“ Tom stand plötzlich neben dem Bett. Isabelle musste eingenickt sein.
„Ja? Was ist denn jetzt schon wieder?“ Die Frage klang genervt und wenig erfreut. Sie setzte sich auf, um den großen Mann mit den dunkelbraunen Haaren besser ansehen zu können. Seit heute Mittag, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, schien er um Jahre gealtert zu sein.
Tom, der eigentlich sofort etwas hatte sagen wollen, verstummte kurz. Er atmete tief durch, bevor er seine Prinzipien über Bord warf, sich neben Isabelle setzte und sie umarmte. „Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.“
„Ich auch. Aber ich weiß ja nicht mal, wer oder was mir überhaupt etwas hätte antun sollen.“ Sie genoss die Umarmung, ehe sie mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck der letzten Wochen in seine braunen Augen starrte.
„Aktivisten haben Farbbomben gegen die Wände des Palais geworfen und versucht, Molotow-Cocktails durch die Fenster im Erdgeschoss zu schleudern. Wir wussten nicht, wie weit diese Menschen gehen würden, deswegen haben wir dich evakuiert und in Sicherheit gebracht.“ Er lächelte leicht.
„Sag bloß, wir haben jetzt eine Villa Kunterbunt anstelle des kleinen Palastes?“ Sie zog die Mundwinkel nach oben, doch sie ließ sie sofort wieder fallen.
„Das ist leider bitterer Ernst. Aber gefährlicher waren die Brandsätze. Zwei sind in den Salon gefallen und haben dort einen Teppich entzündet. Wir konnten das kleine Feuer gleich löschen, trotzdem ist ein Schaden am Fußboden, an der Einrichtung und natürlich an den Fenstern entstanden.“
„Wenn es nur das ist. Ich glaube wir haben genügend Perserteppiche und sonstigen Kram im Haus, um das auszubügeln.“ Regungslos formulierte sie ihre Worte, die eigentlich zynisch hätten wirken sollen.
„Isabelle, das ist nicht lustig. Das Palais wurde Ziel eines Anschlags. Das dürfen wir nicht auf die leichte Schulter nehmen.“
„Habt ihr die Typen festgenommen, die diesen Blödsinn gemacht haben?“
„Ja. Drei sind uns entwischt, aber die Anzeigen bei der Polizei laufen bereits. Wir haben so gut wie alles von dem Vorfall auf Überwachungskameras und es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis wir die Leute gefunden haben. Die, die wir bereits den Behörden übergeben konnten, waren allesamt Aktivisten des Vereins Green Paris, einer Vereinigung, die gegen Umweltverschmutzung und Artensterben kämpft.“
„Was haben die gegen uns?“ Isabelle strich über die Ohren ihres Teddys, den sie seit ihrer Kindheit immer bei sich hatte, und der deswegen schon starke Gebrauchsspuren aufwies.
„Wir vermuten einen Zusammenhang mit den Minen, die dein Vater in Südamerika gekauft hat. Dieser Verein ist gegen den Abbau der Rohstoffe dort und diese Leute wollten wahrscheinlich mit dieser Aktion ein Zeichen setzen. Das Beunruhigende ist nur, dass sie eure private Wohnadresse herausgefunden haben. Das ist nicht gut, Isabelle.“ Eigentlich wollte er ihr kurz über die Haare streichen, doch er unterließ den Versuch, ihr näher zu kommen. Es war definitiv der falsche Zeitpunkt für Sentimentalitäten.
„Irgendwann musste es so weit kommen. Ich dagegen frage mich, warum mein Vater Minen kauft und mir nichts davon erzählt. Auf der einen Seite liegt er mir seit Jahren in den Ohren, dass ich in die Firma mit einsteigen soll, auf der anderen Seite redet er von Ruhestand und Aufsplitterung des Unternehmens und jetzt kauft er Minen und verliert darüber kein Wort. Warum tut er das?“ Eine berechtigte Fragestellung, wenn man bedachte, dass François mittlerweile vierundsechzig Lebensjahre zählte.
„Das weiß ich leider nicht. Dein Vater wird dir das sicherlich irgendwann erklären. Für heute Nacht haben wir ihn auch in ein Hotel gebracht. Sobald morgen die Fensterscheiben repariert sind, könnt ihr mit gutem Gewissen wieder in das Palais zurück. Wir werden die Sicherheitsvorkehrungen noch einmal verschärfen und den Schutz erhöhen.“ Er nickte, als wollte er seine eigene Aussage sich selbst glaubwürdiger machen.
„Verdammte Scheiße.“ Isabelle lehnte ihren Kopf an Toms Schulter. Lucas stand nicht mehr im Raum. Sie vermutete, dass er draußen vor der Tür Wache schob. „Aber schön, dass du mit dieser albernen Madame-Monville-Anrede aufgehört hast. Das nervt mich bei dir.“
„Das eigentlich nur, weil gerade sonst niemand hier ist. Isabelle, wir müssen einen professionellen Abstand wahren. Für unserer beider Sicherheit.“ So sehr er Isabelle auf besondere Art und Weise gernhatte, so sehr war sie auch einfach nur das zu beschützende Objekt dieses Auftrags.
Sie schwiegen sich eine Zeit lang an. Wann war dieser Alptraum eigentlich zu Ende?
„Muss ich die ganze Nacht hier bleiben?“ Sie rechnete mit einer Antwort, die ihr missfallen würde.
„Ja. Ehrlich gesagt, wäre es das Sicherste und das Vernünftigste, hier zu bleiben. Wir können dir etwas zu essen bestellen, Getränke, alles, was du möchtest. Zahnputzzeug, Kosmetikartikel und frische Kleidung sind in der Notfalltasche.“ Er zeigte mit dem Finger auf die Sporttasche.
„Ach ja, genau die Notfalltasche. Bis vor wenigen Stunden wusste ich nicht einmal, dass ich so eine besitze. Aber es ist interessant, wenn man jeden Tag Neues hinzulernt.“ Sie war aufgestanden und warf die Worte bissig in seine Richtung. Der Tag war ein einziger Höllentrip gewesen und endete jetzt in diesem Doppelzimmer eines Hotels. Grandioses Finale.
„Geht’s dir wirklich gut?“ Tom spürte, wie ihre Stimmung plötzlich umschlug. Eine Mutation von der teilnahmslosen und übermüdeten Isabelle zum zynisch wütenden Drachen.
„Na klar. Alles gut. Ich finde den Tag heute nur ziemlich beschissen und wäre gerne an einem anderen Ort. Irgendwo, wo ich nicht das Gefühl habe, als würden mich die Wände erdrücken wollen.“ Keifend und mit einem verächtlichen Zischen zwischen den Lippen setzte sie sich wieder aufs Bett, von dem sie gerade erst aufgesprungen war.
„Wo wärst du denn jetzt gerne?“ Tom schenkte ihr vergebens ein weiteres Lächeln.
Isabelle stand erneut auf, ging zu ihrer Reisetasche, öffnete den Reißverschluss, steckte ihren Teddy und ihr Handtäschchen in das große Hauptfach, zog ihre Hausschuhe wieder an und packte die Henkel ihrer Notfalltasche.
„Ich will nach Le Havre. Im Ferienhaus ist mehr Luft und mehr Freiheit. Das brauche ich jetzt.“
„Das halte ich für keine so gute Idee.“ Tom stellte sich auf seine Beine und griff nach Isabelles Hand, um ihr die Reisetasche zu entziehen.
„Ich bin ein eigenständiger Mensch. Ich bin volljährig, im vollständigen Besitz meiner geistigen Kräfte und ich werde jetzt nach Le Havre fahren. Diese ewige Bevormundung habe ich ja sowas von satt. Es ist noch nicht einmal einundzwanzig Uhr. Entweder du kommst mit oder ich gehe alleine. Deine Wahl.“
„Du hast keinen Autoschlüssel.“
„Dann nehme ich mir ein Taxi.“
Dieses Argument hätte er sich sparen können, dachte er. Tom spürte Isabelles weiche Haut unter seinen Fingern, denn sie weigerte sich die Tasche loszulassen. Er versuchte einzuordnen, ob Isabelle akute suizidale Züge aufwies oder schlichtweg das bockige Kind raushängen ließ. Sollte er Lucas mitnehmen oder alleine diese Fahrt antreten? War das Ferienhaus in Le Havre sicher genug? Er entschied sich, dass zumindest diese Immobilie nicht schlechter geschützt war als die anderen Wohnungen der Familie Monville in der Stadt, dazu noch weit weg und sicherlich unbekannt für mögliche Aktivisten, Attentäter und sonstige Bedrohungen.
„Das solltest du nicht tun.“ In Le Havre waren Dinge passiert, die er später bereut hatte. Was würde ihn dieses Mal davon abhalten, nicht den gleichen Fehler erneut zu begehen?
„O doch. Und jetzt lass mich vorbei.“ Sie knurrte vor Wut.
„Gut, wie du willst.“ Er ließ sie und die Reisetasche los. „Dann komme ich aber mit. Ich werde dich keine Sekunde unbeobachtet lassen und falls du vorhast, wieder von den Klippen zu springen, werde ich weder so umsichtig noch so verschwiegen reagieren wie damals. Verstanden?“
Isabelle schluckte. „Du bringst mich direkt auf eine Idee. Bisher hatte ich gar nicht vor, mich ins Meer zu stürzen, aber an sich wäre das jetzt ein wunderbarer Abschluss für diesen beschissenen Tag.“ Sie lachte höhnisch.
„Ich meine es ernst. Mach keinen Blödsinn.“ Er packte sie am Arm und starrte ihr erbarmungslos in die Augen.
„Ich auch, Tom“, sagte Isabelle. „Ich auch.“
Die Fahrt verlief ruhig und problemlos. Die Straßen zur Atlantikküste waren frei und gut ausgebaut. Der Mercedes brachte mühelos Kilometer für Kilometer hinter sich, während Isabelle eisern schwieg. In diesem Auto lag kein versteckter Flachmann unter dem Beifahrersitz. Auch sonst war ihre Stimmung mehr als bescheiden. Sie sah zeitweise auf das Armaturenbrett, verfolgte dann wahllos die Bäume am Straßenrand und starrte zum Schluss auf ihre grün lackierten Fingernägel, die überhaupt nicht zu dem alten T-Shirt und der blau-getigerten Jogginghose passten. Tom sprach ebenfalls wenig. Ab und zu funkte er etwas durch die Anlage zu seinen Kollegen durch. Er hatte Bescheid gegeben, dass sie auf expliziten Wunsch Isabelles die Nacht außerhalb der Stadt verbringen wollten. Das Ferienhaus in Le Havre war ein sicherer Ort und niemand konnte es wagen, etwas gegen diesen Plan vorzubringen. Isabelle hatte von ihrem Vater schon längst Narrenfreiheit zugesichert bekommen.
Tom lenkte den Wagen durch das große Gartentor und stellte den Mercedes auf der Parkfläche vor dem Haus ab. Jetzt im August war es warm und die leichte Meeresbrise kühlte die aufgeheizten Gemüter. Isabelle stieg aus, warf mit einem markerschütternden Rums die Autotür zu und genoss die frische Luft, die an der See so viel besser war als in Paris. Der Ozean tobte unablässig. Geräusche, die sie sonst zur Weißglut treiben konnten, hatten hier eine beruhigende Wirkung. Völlig unabhängig davon, was gerade in der Welt geschah, ob man das Palais angriff oder ganz Frankreich. Der Atlantik brauste an diesem Stückchen Erde in unverkennbarer Melodie.
„Jetzt sind wir hier und wenn du zu nah an die Felsen gehst, vergesse ich mich.“ Tom lockerte seine Krawatte. Trotz des Windes war sein Anzug in der Hitze die denkbar schlechteste Kleiderwahl, jedoch eben auch Vorschrift.
„Was willst du dann tun?“ Isabelle ging einen Schritt in Richtung der Felsen. Mit weit ausgebreiteten Armen und einem hoch gehobenen Knie stellte sie sich auf clowneske Art und Weise dorthin. Sie übertrieb und das mit Absicht.
„Ich nehme meine Handschellen und fessle dich damit an irgendeinen Heizkörper, damit du keinen Blödsinn anstellst.“ Er zog ein Paar silbern glitzernde Handschellen aus der Innentasche seines Sakkos.
„Meinst du nicht auch, dass es bessere Möglichkeiten gibt, als mit diesen Dingern zu hantieren? Mir würde da etwas einfallen, was uns beiden bestimmt sehr viel Spaß macht.“ Sie lief ein paar Schritte auf ihn zu und drückte ihm stürmisch ihre Lippen auf die seinen.
Tom wich sofort zurück. „Isabelle, nein!“ Er streckte sich auf volle Länge, sodass Isabelle bei seiner Größe von einem Meter zweiundneunzig den Körperkontakt zu ihm verlor. Dann sah er zur Seite. Er konnte sie nicht ansehen, wollte sie nicht ansehen. Ihr hübsches Köpfchen mit den Kulleraugen und dem unergründlichen Blick vermochten ihn sonst zu unüberlegtem Verhalten verleiten. „Ich bin dein Leibwächter, nicht dein Liebhaber. Das sollten wir trennen, bevor es alles nur komplizierter macht.“
Genervt verdrehte Isabelle die Augen. „Warum müsst ihr Männer euch eigentlich immer so zieren? Ist doch nichts dabei? Ich will ein bisschen Spaß, ein bisschen die Realität verdrängen? Wäre es dir lieber, ich würde mir Koks durch die Nase ziehen?“
„Um Gottes Willen, nein.“ Tom spürte, wie sein Widerstand nachließ. Er wusste, dass Isabelle in Wirklichkeit nicht das abgebrühte Luder war, das sie jetzt gerade vorgab zu sein. Sie war eher seelisch verletzt, aufgewühlt und psychisch labil. Die letzten Wochen war sie so brav und unkompliziert gewesen. Welche Ursache ließ diesen Drachen in ihr nun wieder zum Vorschein kommen?
„Dann stell dich nicht so an.“ Sie ging den Schritt auf Tom zu, den er soeben noch zurückgewichen war. Mit der linken Hand griff sie nach seinem Kinn, während die rechte zielsicher zwisehen seine Beine an die Genitalien langte. Sie war herzlich wenig von seiner körperlichen Reaktion überrascht. „Also entweder treiben wir es hier im Garten oder drinnen im Haus. Du hast die Wahl.“ In ihren Augen lag keine Zuneigung oder Liebe oder Verführung, sondern Hass. Hass auf sich selbst, der Tom zutiefst erschauern ließ und ihn gleichzeitig anturnte. „Du magst es doch, wenn es etwas härter zur Sache geht, oder? Heute Nacht wäre ich zu jeder Schandtat bereit.“
Der Rest ging im Kuss unter, mit dem Tom auf ihr eindeutiges Angebot einging. Es dauerte nicht lange, bis sie gänzlich nackt und hemmungslos im Bett lagen, es trieben wie die Karnickel und dem Bett beängstigende Quietsch-Töne entlockten.
Er schlug die Augen auf. Sonnenstrahlen kitzelten sein Gesicht und versprühten im ganzen Zimmer angenehme Helligkeit. Tom griff auf die andere Seite des Bettes. Sie war leer. Sofort schreckte er hoch und sah sich um. Isabelle lag nicht neben ihm. Wo war sie? Er sprang aus dem Bett, streifte sich die am Boden liegenden Boxershorts vom Vortag über und rannte in die Küche, die hinter der Schlafzimmertür lag. Auch hier keine Spur von Isabelle. Hatte sie sich doch in die Fluten geworfen und ihn wortlos zurückgelassen? Er verfluchte die Schnapsidee, hierher gefahren zu sein, als er die Haustür aufriss und Isabelle auf der Bank daneben sitzen sah. Sie hatte die Beine eng an den Körper gezogen, mit den Armen umschlungen und blickte gedankenverloren auf den Atlantik hinaus.
„Guten Morgen.“
„Morgen.“ Sie würdigte ihn keines Blickes.
„Geht es dir gut?“ Tom setzte sich neben sie.
„Mmh.“ Kein Ja und kein Nein.
Er tat es ihr nach und sah in die Ferne.
„Möchtest du einen Kaffee?“
„Nein.“
„Hast du Hunger?“
„Nein.“
„Oh, Madame ist ja heute Morgen sehr gesprächig.“ Er grinste, ohne zu wissen warum. Vermutlich waren die sexuellen Geschehnisse der Nacht schuld daran, dass er sich so früh nach dem Aufstehen nicht aufregen konnte.
Es folgte ein erneutes Schweigen, das nur vom gleichmäßigen Tosen des Ozeans unterbrochen wurde.
„Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du gestern nicht beim Zahnarzt warst?“
„Keine Ahnung?“ Isabelle weigerte sich nach wie vor, ihn anzusehen.
„Du warst nicht beim Zahnarzt, oder?“
„Nein, war ich nicht.“
„Erzählst du mir, wem du einen Besuch abgestattet hast? Und warum du jetzt so schlecht drauf bist, beziehungsweise warum du dich gestern Nachmittag nur noch im Bett verkrochen hast?“
„Nein und nein.“
„Gut, dann ziehen wir uns jetzt an und fahren nach Paris zurück.“
„Nein.“
„Was nein? Isabelle, schau mich bitte an, wenn ich mit dir rede.“ Er wurde deutlicher.
„Wir fahren nicht nachhause.“ Sie drehte den Kopf widerspenstig. „Ich habe bereits meinen Vater und deine Kollegen darüber informiert, dass wir erst morgen zurückkommen. Offiziell gehe ich heute auf den Schock von gestern ausgiebig shoppen. Inoffiziell würde ich einfach noch gerne aufs Meer hinausgucken und, sobald du wieder einsatzbereit bist, mit dir vögeln.“ Ihre Worte klangen wie Beton.
Tom schluckte. „Ach, darum bitten kannst du jetzt auch schon nicht mehr? Ich meine, heute ist Samstag, ich könnte etwas in meinem Privatleben vorhaben, frei- oder Termine haben. Schon mal daran gedacht?“
„Hättest du heute etwas vorgehabt?“ Ihr Gesicht wirkte so ausdruckslos wie das einer Leiche.
Er ließ die Frage unbeantwortet, denn er wollte nicht zugeben, dass er sie mit Nein hätte beantworten müssen. „Isabelle, ich weiß, dass du das nicht gerne hörst. Aber langsam mache ich mir Sorgen um dich und dein grenzwertiges Verhalten.“ Mit zitternder Hand strich er ihr über die Haare. Er ahnte, wie durcheinander sie sein musste, wusste aber nicht, wie er ihr helfen sollte. Auf der einen Seite war er bereits zu weit gegangen, auf der anderen Seite aber noch nicht weit genug. „Du kannst mit mir über alles reden. Ich schwöre dir, dass dein Vater oder sonst jemand nie etwas davon erfahren wird. Heute Nacht hast du mir den Rücken zerkratzt. Ich denke, du hast währenddessen ein bisschen Vertrauen zu mir gefasst.“ Er dachte an all die Stellungen, die sie ausprobiert hatten. Sie hatten keinen Blümchensex betrieben, sondern der rohen Lust des Fleisches gefrönt.
„Du hast mir auch genügend Haare ausgerissen und Kratzer verpasst. Ich denke, wir sind quitt.“ Isabelle versuchte, gegen ihren inneren Schweinehund anzukämpfen, doch ihre mühsam aufgebaute Fassade brach jetzt Stein für Stein zusammen. Die ersten Tränen kullerten über ihre Wangen und es wurden so viele, bis Tom nicht mehr anders konnte, als sie in den Arm zu nehmen. Was auch immer Isabelle belastete, es war bestimmt keine Kleinigkeit.
Tom schlug die Augen auf und war mehr als erfreut, dass Isabelle neben ihm lag. Sie lebte, war unverletzt und lag so nah bei ihm, dass er ihren Atem an seinem Hals spürte.
„Guten Morgen.“ Er strich ihr über die Wange.
Isabelle öffnete ihre Augen und blickte Tom schweigend an. Die Nacht war lang und so intensiv geworden, dass sie Muskelkater in den Schenkeln spürte. „Morgen.“ Der letzte Rest guter Erziehung sprach aus ihr. Dann versuchte sie, sich von ihm wegzudrehen, um aus dem Bett zu steigen, doch er hinderte sie mit einer Umarmung daran. Tom war muskelbepackt und schwer. So zierlich wie Isabelle war, hatte sie keine Chance, seiner Kraft zu entkommen.
„Hier geblieben, Madame. Es ist viel zu früh für schlechte Laune.“ Dabei drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen. Vielleicht war es die schlechteste Entscheidung seines Lebens, mit der Tochter seines Auftraggebers ins Bett gestiegen zu sein, vielleicht war es aber die einzig richtige, wenn es darum ging, sie vor einer möglichen Dummheit zu bewahren.
„Gehst du bitte runter von mir?“ Isabelle drückte die Arme gegen seine Schultern, doch ihr Vorhaben zeigte sich als wirkungslos.
„Heute Nacht hat's dir noch gefallen.“ Er genoss es, die Oberhand zu haben.
Isabelle verdrehte entnervt die Augen und wandte den Blick von ihm ab. Sie wollte weg. Weg von Tom, weg von diesem Bett, diesem Haus, diesem Ort. „Das war etwas anderes. Lässt du mich bitte frei? Du bist ziemlich schwer.“ Rein körperlich war sie ihrem Leibwächter meilenweit unterlegen. Also gab es nur die Möglichkeit, darum zu bitten.
„Hast du gerade bitte gesagt?“ Tom legte den Kopf schief. Das Wort war in letzter Zeit nicht wirklich oft aus Isabelles Mund gekommen.
„Ach leck mich doch am Arsch!“
„Ich würde dich lieber woanders lecken.“
Nach diesem Kommentar schlug Isabelle mit voller Wucht gegen Toms Brustbein. Es tat ihm weh, doch er war nicht bereit, den Schmerz zu zeigen. Also hielt er diesen und alle folgenden Fausthiebe geduldig aus. Sie hatte nicht die Kraft, die sie brauchte, um ihm körperlich ernsthaft zu schaden. Erst die Kratzer, die sie ihm mit den Fingernägeln zufügte, ließen ihn aufjaulen wie einen jungen Hund.
„Spinnst du?“ Er rieb sich die Schulter, an der Isabelle eine blutende Schramme hinterlassen hatte.
Isabelle entgegnete nichts.
„Das tat jetzt echt weh. Du verstehst wohl überhaupt keinen Spaß mehr, oder?“ Tom versuchte ernst zu bleiben. Sich von einer Frau besiegen zu lassen, war noch nie sein Anspruch gewesen.
„Es tut mir leid. Sag deiner Chefin Bescheid, dass sie ein Schmerzensgeld mit auf die Rechnung setzen soll.“
„Ich will kein Geld.“
„Was willst du dann?“
„Zu hören, was mit dir los ist, wäre ein guter Anfang.“
„Nichts.“ Isabelle zog die Beine an und kauerte sich am Kopfteil des Bettes zusammen. Sie fror, obwohl es bereits weit über zwanzig Grad hatte. „Kostet das eigentlich extra? So eine Einszu-eins-Betreuung einer Klientin?“ Ablenken vom Thema.
„Nein. Und ich denke, du musst dir überhaupt keine Gedanken mehr über die Rechnungen der Sicherheitsfirma machen.“ Er lächelte zart und erinnerte sich daran, was sein eigentlicher Job war.
„Was meinst du damit? Hat mein Vater die Zusammenarbeit aufgekündigt?“ Ihre Augen wurden seltsam groß.
„Nein, Isabelle. Dein Vater hat die Firma gekauft. Mit Wirkung zum ersten September. Unsere Chefin wollte in Rente gehen und es sich irgendwo im Süden gemütlich machen. Ich glaube, da kam ihr das Angebot deines Vaters genau recht.“
Isabelle blieb vor Überraschung der Mund offen stehen. Warum kaufte ihr Vater die Sicherheitsfirma? Und warum erzählte er ihr nichts davon?
„Du wusstest nichts davon, stimmt’s?“
„Nein.“
„Dann hast du die Info nicht von mir.“ Tom hatte den gerade erlittenen Schmerz schon vergessen und näherte sich erneut Isabelle. Von einer Sekunde auf die andere war sie wieder das schutzbedürftige Fohlen, nicht die wild fauchende Kampfkatze. „Monsieur Monville ist zurzeit eh auf Shopping-Tour. Er kauft alles auf, was ihm gefällt. Frag mich aber nicht, warum.“
„Er will das Imperium aufteilen.“ Isabelle ließ die Streicheleinheiten Toms zu. „Er stellt die verschiedenen Sparten zusammen, investiert, um die Steuerlast zu senken und um dann die Einzelteile besser verkaufen zu können. Davon hat er immer geredet, und zwar für später, wenn er einmal nicht mehr arbeiten wolle.“
„Was ist mit dir? Willst du nichts von dem übernehmen?“
„Ich bin Staatsanwältin. Ich habe einen eigenen Beruf, ein eigenes Leben und genügend eigenes Geld auf eigenen Konten. Außerdem traut mir mein Vater die Leitung des Imperiums nicht zu. Also ist seine Entscheidung nur vernünftig.“ Sie ließ sich aufs Kissen fallen.
„Glaubst du wirklich, dass dein Vater dir ein Leben als Geschäftsfrau nicht zutrauen würde? Ich dachte immer, er hält große Stücke auf dich?“
„Nein, das tut er nicht. Ich werde immer das kleine Mädchen mit den Problemen für ihn bleiben, ganz egal, was er der Welt erzählt. Ich bin viel zu direkt für diese scheinheilige Geschäftswelt, viel zu undiplomatisch und psychisch labil. Deshalb ist sein Verhalten, mir die Leitung seines Imperiums nicht geben zu wollen, nachvollziehbar, korrekt und väterlich wohlwollend. Ich bin eine große Belastung. Für ihn, für Philippe, für dich, für mich selbst.“ Die Stimme war immer leiser geworden, bis sie gänzlich unhörbar im Kissen verklang.
„Hör auf, du bist keine Belastung. Für niemanden. So etwas darfst du nicht denken.“ Er zog sie zu sich und nahm sie in die Arme.
„Ich will nachhause“, sagte Isabelle nach einer Weile.
„Dann fahren wir. Das Auto steht vor der Tür. Wir können jederzeit los“, antwortete er und gab ihr einen Kuss auf die Stirn.
„Ich fahre. Gib mir den Schlüssel.“ Isabelle streckte die Hand aus, um von Tom, der gerade die Reisetasche im Kofferraum verstaute, den Schlüssel für den Wagen zu erhalten.
„Hältst du das für eine gute Idee? Wann bist du das letzte Mal gefahren?“
„Ist ein paar Wochen her, aber das ist mir egal. Gib mir den Schlüssel. Ich werde jetzt fahren.“ Kein freundlicher Ton lag in ihrer Stimme. War es wirklich zu viel verlangt, einmal selbst den Mercedes steuern zu wollen? Dass sie bitte sagen könnte, kam ihr dagegen nicht in den Sinn.
„Isabelle, was hast du vor? Ich muss mich ernsthaft gegen deinen Willen stellen. Der Wagen hat einen vierhundert PS starken Motor mit einer riesigen Karosserie drumherum. Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass du damit etwas machen willst, was mir nicht gefällt?“
„Seit wann steht es dir zu, meine Entscheidungen infrage zu stellen?“ Sie knurrte vor Wut. Seit sie aus dem Bett gestiegen war, hatte sich ihre Stimmung nicht gebessert. Selbst die Dusche, die frischen Klamotten und eine herzliche Umarmung Toms konnten daran nichts ändern.
„Ich dachte einfach, dass wir nach den letzten beiden Nächten vielleicht etwas normaler miteinander umgehen könnten? Du bist gerade nicht du selbst und mein Job ist es, dich zu beschützen, notfalls vor dir selbst. Also, was hast du vor?“
„Pass mal auf. Wir sind zwei erwachsene Menschen, die sich ein paar Stunden lang gegenseitig gutgetan haben. Daran ist nichts verwerflich und nichts verkehrt. Aber es gibt dir nicht das Recht, dich über die Rollenverteilung zwischen uns beiden hinwegzusetzen. Wenn ich zu dir sage Gib mir den Schlüssel, dann gibst du mir den Schlüssel. Verstanden?“
Tom schluckte, warf den Kofferraumdeckel mit einem ohrenbetäubenden Knall zu und drückte Isabelle widerwillig den Mercedes-Schlüssel in die Hand. „Ich hoffe, Sie kennen den Weg, Madame Monville“, blaffte er, als er sich mit Schwung auf den Beifahrersitz fallen ließ.
Die ganze Fahrt über schwieg er. Lediglich, als Isabelle vom üblichen Weg nach Paris abwich, ließ er sich zu einem Kommentar hinreißen: „Warum fährst du jetzt rechts weg?“
„Wir fahren nach Deutschland.“ Sie hielt das Lenkrad fest.
„Was machen wir in Deutschland?“
„Ich heize über die Autobahn. Am Sonntag fahren dort keine Lastwagen und ich kenne ein schönes Stück Straße, gleich hinter der Grenze, wo kein Tempolimit gilt. Ich gehe stark davon aus, dass bei diesem Wagen die Höchstgeschwindigkeit nicht abgeriegelt ist?“
Tom atmete laut ein. Auf die Autobahn nach Deutschland, darauf hätte er am letzten Autobahnkreuz selbst kommen können. „Dieser Mercedes fährt so schnell, wie es der Motor hergibt.“ Er begann, sich an den Griff über der Tür zu klammern, obwohl noch weit über zweihundert Kilometer zwischen ihnen und der Landesgrenze lagen.
„Brauchst keine Angst zu haben. Ich mache das öfter. Ist prima, um runterzukommen. Bei diesen Geschwindigkeiten über den Asphalt zu heizen, bringt einen dem Himmel so nah. Eine kurze falsche Bewegung mit dem Wagen und von dir bleibt nichts mehr übrig als matschiger Brei. Aber danach, wenn man wieder zuhause ist, wenn Blutdruck und Puls wieder sinken, ist alles wieder so wie vorher. Manchmal fühlt es sich so an, als wäre es ein Suizid ohne Sterben. Das befreit die Seele.“ Sie grinste.
„Isabelle, du hast echt Probleme. Halt bitte an!“ Tom überlegte, wie er den Wagen zum Stehen bringen könnte, aber ihm fiel keine sichere Möglichkeit ein. Er hoffte, dass die Tankanzeige bald das Reservelämpchen anschalten würde, doch auch das war vergebens. Vorgestern Abend hatte er noch vollgetankt und für einige Kilometer bis hinter die Grenze würde das Benzin auf jeden Fall noch reichen.
Das blaue Schild, das die Bundesrepublik Deutschland ankündigte, entlockte Tom ein Vaterunser. Wenige Meter hinter dem Ort, an dem früher ein Schlagbaum gestanden hatte, zeigte ein weiteres Straßenschild, dass jegliche Geschwindigkeitsbegrenzung nun aufgehoben war. Isabelle sah in den Rückspiegel, setzte den Blinker, zog auf die linke Spur der Autobahn und drückte das Gaspedal durch. Die Motorisierung des Mercedes log nicht. Mit röhrendem Auspuff beschleunigte sie auf über zweihundert Stundenkilometer. Sie jagte mit unheilvollem Tempo an anderen Autos vorbei, überholte alle Fahrzeuge auf der rechten Fahrbahn. Die Landschaft flog an ihnen vorbei, doch Tom schenkte keinem einzigen Baum am Straßenrand seine Beachtung. Er stützte sich am Armaturenbrett ab, stemmte seine Beine im Fußraum gegen die Verkleidung und betete, dass kein Fahrer hinter einer Kurve zu einem Überholmanöver ansetzen würde. Insekten klatschten ununterbrochen gegen die Windschutzscheibe. Verkrampft und mit starrem Blick nach vorne saß Tom auf dem Beifahrersitz, während Isabelle die Geschwindigkeit, die der Motor hergab, weiterhin genoss.
„Pass auf!“ Tom kreischte, was völlig untypisch für ihn war. Doch sein Alptraum wurde gerade wahr. Ein grüner Fiat Punto scherte plötzlich, ohne zu blinken, auf die linke Fahrspur aus, um einen Lastwagen zu überholen. Auch wenn am Sonntag für alle Fahrzeuge über siebeneinhalb Tonnen Fahrverbot herrschte, so hatten LKWs mit besonderer Ladung trotzdem eine Erlaubnis. Die Aufschrift einer Molkerei ließ darauf schließen, dass eine Genehmigung für den Transport verderblicher Lebensmittel vorlag.
Isabelle stieg in die Eisen. Mit beiden Füßen drückte sie Kupplung und Bremse durch. Der Sicherheitsgurt hinderte sie daran, Richtung Windschutzscheibe zu fliegen. Das ABS-System leuchtete auf, die Reifen quietschten, der Abrieb des Gummis hinterließ eine Spur auf dem Asphalt. Es stank und qualmte, noch bevor sie gewaltig an Geschwindigkeit verloren hatte. Sie kam dem Fiat gefährlich nahe
„Brems!“, schrie Tom erneut, doch das tat Isabelle bereits. Der Fahrer des Fiats beschleunigte. Ein Glück, denn Isabelle kam wenige Meter hinter der Stoßstange desselben zum Stehen.
„Ach Scheiße, muss der jetzt rausziehen? Runter von meiner Fahrbahn, du Penner!“ Sie fluchte mit erstaunlicher Inbrunst. Dann gab sie erneut Gas und beschleunigte auf normale Geschwindigkeit, um selbst nicht zu einem Verkehrshindernis zu werden.
Tom schwitzte. Dicke Schweißperlen liefen ihm von der Stirn. Vor seinem inneren Auge hatte er sich schon in einem Sarg gesehen und das obligatorische Näher mein Gott zu dir vom miserablen Kirchenchor seiner Heimatgemeinde in England hatte bereits in seinen Ohren geklungen. „Beim nächsten Parkplatz fährst du raus!“ Wut und Angst machten seine Stimme so eindringlich und laut, dass sich selbst Isabelle nicht zu widersprechen traute.
Bald kam ein Rastplatz. Sie blinkte, fuhr die Abfahrt entlang und brachte den Mercedes in einer Parkbucht zum Stehen. Die Hände weiterhin das Lenkrad umklammernd starrte sie aus dem Fenster.
„Bist du jetzt komplett durchgeknallt? Das war haarscharf! Wir wären dabei draufgegangen und die Leute im Fiat auch. Nur, weil du sterben willst, musst du ja nicht einen Haufen Unschuldiger mitnehmen. Das ist unverantwortlich und schlichtweg beschissen von dir. Nimm eine Überdosis Schlaftabletten oder Drogen oder irgendein Zeug, was du dir sonst immer einwirfst! Schneid dir die Pulsadern auf, stürz dich vom Dach, zünde das Palais an und verbrenn in den Flammen, aber reiß verdammt nochmal nicht andere Leute mit ins Verderben!“ Er knurrte die Worte aus tiefster Kehle. Er wollte sie packen, schütteln, gegen eine Wand werfen, seinem Ärger Nachdruck verleihen. Doch er beließ es aus Mangel an Alternativen bei einer rein verbalen Attacke.
Isabelle blieb stumm. Erst jetzt sah Tom, wie ihre Finger zitterten, wie ihr ganzer Körper bebte und die gerade noch vorhandene Kraft scheinbar augenblicklich aus ihren Gliedern verschwunden war. Wenige Sekunden später erfasste sie ein Heulkrampf. Völlig unfähig, sich richtig zu artikulieren, schrie sie, schlug hemmungslos gegen das Lenkrad, tat sich selbst weh und spürte es gleichzeitig nicht. Sie krallte die Fingernägel ins Leder der Sitze, bis die Haut über den Gelenken weiß wurde. Tom sprang aus dem Auto, lief um die Motorhaube herum und riss die Fahrertür auf. Er zog Isabelle aus dem Wagen, schüttelte sie, um das letzte bisschen Verstand in ihr wach zu rütteln und ließ sich dann, mit ihr in den Armen, zu Boden gleiten. Hier saßen sie nun, neben dem Mercedes, auf dem Teerbelag eines deutschen Autobahnparkplatzes, an einem Sonntagvormittag, an dem Isabelle sich als wenig zurechnungsfähig präsentiert hatte.
„Was zum Teufel ist nur los mit dir?“ Tom drückte den zierlichen Körper an sich, wobei er versuchte, Isabelle davon abzuhalten, sich selbst Schmerzen oder Schaden zuzufügen. Anfangs wehrte sie sich noch, doch bald kapitulierte sie, akzeptierte ihre physische Unterlegenheit gegenüber Tom und weinte herzzerreißend.
„Du hast ja keine Ahnung“, stammelte sie in einem Augenblick der Beruhigung.