Sag's mit Rosen - Victoria Pearl - E-Book

Sag's mit Rosen E-Book

Victoria Pearl

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Beschreibung

"Blümchen" heißt das alte Wohnmobil, mit dem Jessie herumfährt und geradeheraus Frauen anbaggert. Leonie ist von dieser Masche nicht begeistert, doch sie kann sich Jessies Charme nicht entziehen. Eine gemeinsame Reise in dem engen Gefährt bleibt nicht ohne Folgen, aber Leonie befürchtet die baldige Trennung; wie wird Jessie sich entscheiden?

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Victoria Pearl

SAG’S MIT ROSEN

Roman

Originalausgabe: © 2007 ePUB-Edition: © 2013édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-038-7

Coverfoto:

»So allein, schöne Frau?«

Macho, dachte ich, aber ich schaute sicherheitshalber nach links und rechts, denn wie konnte ich wissen, dass wirklich ich gemeint war? Doch niemand sonst saß an diesem frühen Nachmittag an der Promenade und genoss die leichte Brise, die vom See her wehte.

»Du erlaubst doch?«

Ohne meine abschlägige Antwort abzuwarten, setzte sich die menschgewordene Störung neben mich. Verärgert wandte ich mich um und erstarrte mitten in der Bewegung. Es waren weder das ebenmäßige Gesicht noch die lächelnden vollen Lippen, die mich innehalten ließen, sondern der Blick aus den blauen Augen, der eindeutiges Begehren signalisierte.

Diese offensichtlich zur Schau getragene Lust stachelte meinen Ärger weiter an, doch die Person, welche die Signale aussandte, brachte mich aus dem Konzept. Sie war unbestreitbar eine Schönheit. Mit ihrem Lächeln entblößte sie makellos weiße Zahnreihen, die langen Finger strichen durch goldblondes, kurzgeschnittenes Haar. Ihr schlanker Körper beugte sich mir entgegen.

»Na, sprichst du nicht mit mir?« fragte sie herausfordernd.

Was für eine Frau, dachte ich nur, jedoch dieser Gedanke wiederholte sich in einer Endlosschleife.

»Ich bin Jessie«, erklärte die Blonde neben mir immer noch lächelnd und streckte mir dabei ihre Rechte entgegen.

»Leonie«, erwiderte ich wie paralysiert. Mein Blick löste sich endlich von ihrem faltenlosen Gesicht, glitt über ihren Körper und wanderte schließlich wieder zurück zu ihren Augen. Sie war nicht nur schön, fiel mir auf, sie war eindeutig auch noch sehr jung – und ziemlich unverfroren.

»Was hältst du davon, wenn wir was gemeinsam unternehmen?« fragte Jessie in diesem Augenblick.

»Nein, das ist keine gute Idee«, lehnte ich ab. Was wollte sie von mir? Und wie kam sie überhaupt darauf, dass ich irgend etwas mit irgend jemandem, dem ich eben das erste Mal in meinem Leben begegnete, unternehmen würde?

»Komm schon, Leonie!« Sie sprach die Silben meines Namens so schmelzend aus, dass ich unwillkürlich fröstelte. »Du bist allein hier – wie ich! Und bis zum Konzert dauert’s noch ein paar Stunden. Wir könnten’s uns doch gemütlich machen!« Wieder blitzte das Begehren in ihren Augen auf.

Erschrocken wich ich zurück. »Woher willst du wissen, dass ich allein hier bin? Zwar sitze ich hier allein am See, doch das heißt noch gar nichts!«

Ich wollte diese Jessie loswerden. Sie war eindeutig nicht meine Kragenweite. Viel zu jung, viel zu sehr überzeugt von sich, viel zu ungehobelt und natürlich viel zu sehr Macho. Mit solchen Frauen vertrug ich mich gar nicht. Dass sie so direkt auf mich zukam, verunsicherte mich. Sie hatte eine eindeutige Vorstellung von Gemütlichkeit, das konnte ich in ihren Augen sehen, aber wieso fiel ihre Wahl dabei auf mich? Nur, weil ich zufällig hier gesessen hatte? War dieser lauschige Platz am See vielleicht ein geheimer Treffpunkt für eingeweihte Lesben?

Jessies Lachen unterbrach meine Gedankengänge, die immer abenteuerlichere Wege einschlugen.

»Ich weiß es, Leonie! Gestern Abend habe ich dich beobachtet. Stundenlang. Ich war dir ganz nah. Du hast mich nicht gesehen, ich stand hinter dir, hätte dich berühren können. Stundenlang habe ich dich studiert, jede deiner Bewegungen in mir aufgenommen, bin jedem deiner Blicke gefolgt.«

Sie lachte wieder, obwohl ich keinen Grund dafür erkennen konnte. Mir war die ganze Situation unangenehm. Wenn ich mir vorstellte, dass sie mich beobachtet hatte – ich war observiert worden von einer wildfremden Person.

»Du verhüllst dein Interesse an Frauen nicht«, erklärte Jessie unterdessen, zufrieden mit ihren detektivischen Leistungen.

Dass ich inmitten von Hunderten von Menschen, deren ganze Aufmerksamkeit von den Akteuren auf der hellerleuchteten Bühne in Anspruch genommen wurde, auf meine Blicke achten müsste, wäre mir nie in den Sinn gekommen. Es stimmte, ich hatte gestern Abend die Frauen um mich herum angeschaut, vielleicht gar offen gemustert. Sicherlich zeigte ich mehr Interesse, als ich es mir in einer anderen Umgebung gestattet hätte.

»Es geht dich überhaupt nichts an, wen ich wie anschaue«, fauchte ich Jessie an. »Und es ist eine ziemliche Unverschämtheit, wie du mich jetzt hier anmachst«, schob ich hinterher. Ich hoffte, dass meine Stimme genügend Ablehnung und Kälte vermittelte, um Jessie zu vertreiben.

Doch diese lachte nur. »Du bist süß«, erklärte sie mir, »sicher bist du noch viel anziehender, wenn du dich ganz gehenlässt!« Sie schob eine Kunstpause ein, ehe sie fortfuhr: »Wenn du dich hingibst, mir hingibst, nackt und ohne Tabu.«

»Das reicht!« fauchte ich und erhob mich hastig.

Jessie eilte hinter mir her. Mit ihren langen Beinen hatte sie mich schnell eingeholt. »Nun hab dich nicht so«, versuchte sie mich zu besänftigen. »Was ist schon dabei, wenn wir zwei uns den Nachmittag etwas versüßen?«

Ich blieb abrupt stehen. »Lern du zuerst die Grundbegriffe des Anstands«, blaffte ich.

Diesmal folgte sie mir nicht. Außer Atem langte ich im Hotel an.

Hoffentlich wusste Jessie nicht, dass ich die drei Tage, die ich mir für dieses Open-Air freigenommen hatte, hier wohnte. Früher, als ich etwa in ihrem Alter gewesen war, hatte ich campiert. Es war immer lustig gewesen, egal, ob es regnete oder die Sonne vom Himmel knallte. Wir verbrachten die Open-Air-Saison auf provisorischen Zeltplätzen mit Dutzenden anderen, die einen Sommer lang allen Annehmlichkeiten der modernen Zivilisation entsagten.

Diese wilde und von einem Alkoholschleier vernebelte Zeit lag schon lange zurück. Die einstige Clique war Stück für Stück auseinandergebrochen, hatte sich in die Gesellschaft der fleißigen Häuslebauer eingegliedert und konnte der Idee, zu einem Open-Air zu fahren, höchstens ein müdes und mitleidiges Lächeln abgewinnen. Auch ich hatte das Rebellische und Individualistische öffentlich abgelegt. Angepasst und zuverlässig erledigte ich meinen Job, bezahlte Steuern und Krankenkasse und verpasste auch keine Wahl. Selbst der Umstand, dass ich meine Liebe zu Frauen nicht verleugnete, konnte heute nicht mehr als Rebellion bezeichnet werden.

Doch, mein Leben verlief ruhig und in geordneten Bahnen. Es war so, wie ich es mir gewünscht hatte, sicher und überschaubar.

Dass ich gleichwohl jedes Jahr an diesen See fuhr, mir unbekannte Bands unter freiem Himmel anhörte, war reine Nostalgie. Hier hatte ich meine erste große Liebe kennengelernt, mich von ihr in die Frauenliebe einführen lassen auf quietschenden Luftmatratzen in einem Zelt, das weder Hitze noch Regen abhielt. Zugegeben, die Liebe hatte den Winter nicht überdauert, doch darauf kam es nicht an, einzig die romantisch verklärte Erinnerung zählte und führte mich jedes Jahr an diesen Platz.

Seufzend ließ ich mich auf das schmale Bett fallen. Jessie hatte recht, ich war allein hier – so wie jedes Jahr. Meine kurzen Beziehungen wurden von langen Phasen des Single-Daseins abgelöst, und seltsamerweise befand ich mich immer im Sommer im letzteren Zustand. Vielleicht eignete ich mich einfach nicht für das Pärchenverhalten?

Die langen Schatten, welche die Sonne in das schmucklose Zimmer warf, erinnerten mich daran, dass ich heute noch etwas geplant hatte. Die Band, die in einer knappen halben Stunde auf der Bühne stehen würde, kannte ich nicht. Das beunruhigte mich keineswegs, denn offen gestanden lag die musikalische Kost, die auf dem Open-Air serviert wurde, seit Jahren überhaupt nicht mehr auf meiner Wellenlänge.

An diesem frühen Abend verwendete ich ungewöhnlich viel Sorgfalt auf meine Kleidung. Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit griff ich auch zu Make-up. Etwas irritiert von diesen doch seltsamen Anwandlungen fragte ich mich, ob ich tatsächlich hoffte, Jessie noch einmal zu begegnen. Mein Verstand wehrte sich gegen eine solche ungeheuerliche Unterstellung, zumal diese Frau wie erwähnt viel zu ungehobelt, zu schön und auch noch viel, viel zu jung war. Ich beruhigte mich mit der absolut korrekten Überlegung, dass Jessie mich inmitten der Menschenmassen unmöglich ausfindig machen würde, wenn sie das denn überhaupt wollte.

Funk nannte sich das, was die Band, die einen unaussprechlichen und für meine Begriffe völlig nichtssagenden Namen trug, der tobenden Menge bot. Der Nachteil an Open-Airs ist, dass es keine Wände gibt, an die man sich anlehnen könnte. So stand ich also am Rande einer hin und her wogenden Gruppe schwitzender Fans, beobachtete das Farbenspiel der untergehenden Sonne und achtete nicht weiter auf den Lärm, der aus meterhohen Lautsprechertürmen schallte.

Meine Erinnerungen an jenen für mich entscheidenden Sommer retteten mich über die Pause, die nächste Band nahm ihren Platz auf der Bühne ein. Nun erklangen gemäßigtere Töne, obwohl ein eigentlicher Melodiebogen in den Darbietungen noch immer nicht erkennbar war. Die Zeit verstrich unerbittlich. Inzwischen hatte sich der dunkle Mantel der Nacht über die Szenerie gelegt, lediglich die Bühne war hellerleuchtet.

Plötzlich horchte ich auf. Eine Sängerin griff nach dem Mikrophon, machte den obligaten Sound-Check, um dann ihren Hintermännern das Zeichen zum Beginnen zu geben. In dieser Art Musik fühlte ich mich fast schon zu Hause. Rockig und doch manchmal beinahe sanft, die Stimme einmal kratzend, dann wieder schmeichelnd. Das ließ ich mir gerne gefallen, vor allem, da diese Band auch Balladen im Repertoire führte.

Als um mich herum die ersten Feuerzeuge klickten, spürte ich einen Stich in meinem Herzen. Ich sollte mich nicht in der Nähe von verliebten Paaren aufhalten, dachte ich eben, als sich von hinten die Arme einer Frau um mich legten. Mein Körper erstarrte augenblicklich.

»Psst, ich bin’s nur«, hauchte Jessie in mein Ohr.

»Wie hast du . . . Was fällt dir eigentlich . . .«, stammelte ich völlig überrumpelt. Wahrscheinlich konnte sie mich nicht hören, jedenfalls verstärkte sie ihre Umarmung, presste ihren Körper enger an meinen und begann uns beide sacht im Takt zu wiegen.

»Genieß es einfach«, raunte sie.

Jessie war eindeutig im Vorteil. Durch ihre Umarmung nahm sie mir die Möglichkeit, mich umzudrehen und ihr meine Empörung über diese erneute Verletzung meiner Privatsphäre entgegenzuschleudern. Was blieb mir anderes übrig, als mich zu ergeben? Und so unangenehm fühlte sich dieser starke Körper an meinem Rücken gar nicht an. Zurechtweisen konnte ich sie immer noch, entschied ich großzügig, und hoffte insgeheim, dass die Sängerin noch lange, lange weitersingen würde.

»Goodbye, thank you! Good night!«

Vorbei! Sie hatte einfach aufgehört. Jetzt musste ich mich der Realität stellen, und diese befand sich immer noch dicht an meinen Rücken geschmiegt.

Jessie reagierte nicht auf das Ende der Darbietung. Sie blieb einfach hinter mir stehen, hielt mich umarmt, atmete nah an meinem Hals. Ihre Hände streichelten über meinen Bauch, hinauf zu den Brüsten, hinab zum Gürtel, doch sie berührten nichts, was für mich hätte gefährlich werden können. Dennoch, ich genoss jedes Streicheln, spürte sie näher, als sie mir physisch wirklich war. Ich hatte mich an sie gelehnt – ohne Notwendigkeit, wie mir jetzt auffiel. Aber wieso hielt sich Jessie zurück? Wollte sie etwa gar nicht das, was sie heute Nachmittag angedeutet hatte? Musste ich dem Streicheln, das in meinem Körper eine angenehme Wärme erzeugte, Einhalt gebieten?

»Lass uns gehen«, flüsterte Jessie in mein Ohr. Ihre Hand glitt über meinen Arm, fasste meine.

Da ich mich noch immer nicht entschieden hatte, ob ich die junge Frau nun maßregeln sollte oder ob ich ihre Anwesenheit einfach nur genießen wollte, folgte ich der nonverbalen Aufforderung und verließ an ihrer Hand das Festivalgelände.

Jessie, die ich bis jetzt noch nie still erlebt hatte, schwieg. Wir hatten bereits die Seepromenade erreicht, schlenderten sie entlang und entfernten uns stetig von den Menschenmassen.

»Trinken wir noch etwas?« fragte Jessie unvermutet. Vor uns tauchte eben ein hellerleuchtetes Lokal auf. Wenn hier am See das Open-Air stattfand, gab es keine Sperrstunden, und manche Restaurants und Bars hatten bis morgens um fünf oder sechs geöffnet.

Ich nickte. Diesen Abend, der längst zur Nacht geworden war, wollte ich nicht enden lassen. Irgendein verrückter Teil meines Kopfes wehrte sich gegen den Abschied, obwohl ich wusste, dass weder ein Drink noch ein Gespräch noch irgendeine andere Aktion etwas an meiner grundsätzlichen Ablehnung gegenüber dieser Person ändern würde.

Wahrscheinlich lag es an Jessies Alter, dass sie zur fortgeschrittenen Stunde noch ungerührt einen Kaffee bestellen konnte. Für mich war nur ein Tee drin, da ich mir sonst hätte die restliche Nacht schlaflos um die Ohren schlagen müssen.

»Du sagst nicht eben viel«, stellte Jessie fest. Sie hatte bereits die Tasse zur Hälfte geleert. Ihre Augen fixierten mich, als sie fortfuhr: »Wie soll ich dich da kennenlernen?«

»Wieso willst du das überhaupt?« erwiderte ich abwehrend. Mir reichte die Anwesenheit einer jungen, schönen Frau, das war mehr, als mir in den vergangenen Jahren zuteil geworden war. Warum wollte sie jetzt etwas über mich erfahren? Und musste ich dann nicht auch etwas über sie erfragen? Dazu hatte ich keine Lust, denn bestimmt handelte es sich bei Jessie um eine verwöhnte Studentin, die von ihrem Vater, irgendeinem Großindustriellen oder Banker, großzügig unterstützt wurde und deren Mutter sich in den Beautysalons des Landes auskannte. Innerlich seufzte ich erleichtert. Endlich hatte ich meine Selbstironie wiedergefunden. Einen Moment lang war ich tatsächlich in Gefahr gewesen, mich . . . Aber nein! Ich doch nicht! Und diese Jessie konnte es nun wirklich nicht sein. Nicht in diesem Leben.

»Du traust mir nicht über den Weg.« Jessie sagte es nicht vorwurfsvoll, sie lächelte sogar freundlich. »Ich kann es dir nicht verdenken, denn immerhin ist unser erstes Zusammentreffen heute Nachmittag ziemlich verunglückt. Das tut mir leid.«

Jessie holte tief Atem, während ich mir mein Erstaunen über ihre plötzliche Zurückhaltung und den sehr höflichen Ton nicht anmerken ließ. Ich nickte lediglich, lehnte mich demonstrativ desinteressiert zurück und wartete.

»Du musst mich für eine Draufgängerin halten«, brachte Jessie meinen ersten Eindruck auf den Punkt. »Du täuschst dich!«

»Ach? Das glaube ich weniger!« warf ich beißend ein. »So, wie du auf die Menschen zugehst!«

Jessie schüttelte vehement ihren Kopf. »Nein, nein, Leonie! Ich sah nur eben die einmalige Chance . . . Ich dachte, du seiest auf ein Abenteuer aus . . . Du hattest gestern ein eindeutiges Funkeln in den Augen, als du . . .« Sie unterbrach sich, senkte den Kopf und schien nicht recht zu wissen, wie sie mit mir weiterkommen sollte.

»Hör zu, Jessie«, holte ich jetzt aus. Ich wollte sie nicht hängenlassen, doch ein Abenteuer welcher Art auch immer lag mir nicht. »Du hast dich daneben benommen heute Nachmittag, aber nicht heute Abend. Allerdings muss ich dir in aller Deutlichkeit sagen, dass ich nicht interessiert bin, weder an einem Abenteuer noch an einer Affäre.«

»Magst du mich denn gar nicht?« fragte Jessie leise. Bis zu diesem Moment hatte ich nicht gewusst, wie ein Dackelblick aus blauen Augen wirkt.

»Das ist es nicht«, wich ich aus und wusste, dass mögen sowieso der falsche Ausdruck für das war, was ich ihr gegenüber empfand. »Ich bin nur einfach nicht interessiert«, rettete ich mich. Als nächstes würde ich vom Stuhl kippen, denn ich hatte mich inzwischen so weit zurückgelehnt, dass es fast schon akrobatischer Geschicklichkeit bedurfte, das Gleichgewicht zu halten.

Jessie nickte verstehend. »Dann hast du eine Freundin.«

Ehe ich es verhindern konnte, hatte ich diese Annahme verneint.

»Das ist mir jetzt zu hoch: Du stehst auf Frauen, bist allein, siehst dich nach einer möglichen Partnerin oder was auch immer um, und wenn eine kommt, sich dir nähert, mit dir all das genießen will, was du dir erträumst, dann weist du sie zurück?«

In Jessies Stimme schwang so viel Unglauben mit, dass ich mir tatsächlich idiotisch vorkam. Wie sollte ich ihr erklären, dass ich mich neben ihr schlicht minderwertig fühlte? Wenn ich sie anblickte, glaubte ich zu träumen. Sie war nicht real, fassbar oder erreichbar für mich. Warum also sollte ich mir bewusst den Schmerz bereiten, mich mit ihr einzulassen, um von ihr verlassen zu werden?

»Da gibt es verschiedene Gründe«, begann ich wider besseren Wissens zu erklären. »Du bist nicht mein Typ. Ich kam hierher, um mich ein bisschen zu erholen. Ich bin viel zu alt für dich. Mein Leben ist zu hektisch für eine Beziehung oder eine Affäre, ich habe keine Zeit. Ich verliere ungern. Meine längste Affäre dauerte drei Monate . . .«

»Halt, stopp!« Jessie hob die Hände, um meine unlogischen, zum Teil nicht ganz der Wahrheit entsprechenden Argumente abzuwehren. »So genau wollte ich es doch gar nicht wissen«, sagte sie mit einem Lächeln. »Ich war zu direkt, das ist mir inzwischen klargeworden. Und ich habe die Signale, die ich meinte, aufgefangen zu haben, falsch gedeutet.« Sie neigte sich über den Bistrotisch. »Selbst wenn du mir das jetzt nicht glaubst, ich bin keine, die mit der Tür ins Haus fällt. Allerdings, das gebe ich zu, kann ich sehr hartnäckig sein. Wenn ich dich also kennenlernen will, dann werde ich mich davon nicht so schnell abbringen lassen!«

Hatte ich etwas anderes erwartet? Mir schmeichelte Jessies Interesse, sie war ohne Zweifel die attraktivste Frau, die sich mir je genähert hatte. Wenn ich ihr also nicht zu alt war, nicht zu hässlich, nicht zu spießig . . . Wieso eigentlich nicht?

»Sehen wir uns morgen?« fragte Jessie in meine Gedanken hinein.

Oh, wollte sie etwa unser Tête-à-Tête schon beenden? Kein weiterer Verführungsversuch? Offensichtlich hatte sich Jessie eine andere Strategie zurechtgelegt und benahm sich jetzt wie ein nettes Mädchen, das den Gedanken an Sex weit von sich gewiesen hatte.

»Wenn dir daran liegt«, erwiderte ich lahm, erhob mich, bezahlte Tee und Kaffee an der Theke und verließ das Lokal, ohne mich nach meiner Begleiterin umzusehen.

Sie holte mich erwartungsgemäß bald ein. Wie selbstverständlich griff sie nach meiner Hand, und wir legten die letzten Meter bis zu meinem Hotel schweigend zurück. Vor dem Gebäude blieb ich stehen und drehte mich nach Jessie um.

»Gute Nacht«, sagte ich mit belegter Stimme. Ich war unsicher, ob ich mir in diesem Moment mehr erhoffte als die Erwiderung dieses Wunsches oder ob ich genau davor Angst hatte.

»Was ist mit morgen?« fragte Jessie ausdruckslos. Sie hielt meine Hand immer noch fest und machte auch keine Anstalten, dies zu ändern.

»Morgen?« fragte ich verwirrt zurück.

Jessie lachte kurz auf. »Ja, morgen! Du hast versprochen, dass wir uns treffen!«

»Ach ja«, erwiderte ich aus dem Konzept gebracht. »Ich bin am See – so wie heute.«

»Kein Zeitpunkt?« neckte sie mich. Ich schüttelte nur den Kopf und wollte mich von ihr lösen. Dieser andauernde Kontakt mit ihr verursachte in mir je länger, je mehr ein Gefühl von Unsicherheit. Ich hatte Jessie von Anfang an nicht gemocht, zwar war im Verlauf des Abends in dieser Hinsicht eine gewisse Entspannung eingetreten, doch als besonders sympathisch wollte ich sie noch immer nicht bezeichnen. Wenn sie mich nur endlich gehen ließe!

Jessie, die von meinen Gedanken nichts ahnte, zog mich plötzlich nahe an sich heran. Sie ließ meine Hand los – endlich –, dafür umarmte sie mich heftig. Oh Himmel! Sie nahm mir die Luft zum Atmen, drückte mich so fest an sich, dass ich befürchtete, meine Wirbelsäule würde brechen. Dann spürte ich ihre weichen Lippen auf meinen. Sie berührten mich überraschend sanft, fast zögernd. Wenn die Frau mich nicht durch ihre Umarmung atemlos gemacht hätte, ich hätte das Stöhnen nicht unterdrücken können. Da ich mich nicht zu wehren vermochte, wurde Jessie mutiger. Ohne die Lippen von meinen zu lösen, entließ sie mich aus der Umklammerung, fuhr mit ihren Händen langsam über meinen Rücken, schob sie dann unter die dünne Sommerjacke, streichelte meine Seiten, berührte flüchtig meine Brüste.

Meine Knie gaben unter mir nach. Ich sackte zusammen, doch Jessie hielt mich. Mit geschlossenen Augen erkundete sie nun mein Gesicht. Ihre Lippen streiften über meine Stirn, hauchten einen Kuss in ihre Mitte, glitten hinab zu den Wangen, zur Nasenspitze und gelangten zu meinen Mundwinkeln. Sie zupfte an meinen Lippen, nicht aufdringlich, doch zärtlich konnte man es auch nicht nennen. Je länger ihr Mund an meinem verweilte, um so schwächer wurde mein Widerstand gegen diese Verführung. Noch gehorchten meine Lippen dem Befehl, geschlossen zu bleiben, doch ich fühlte, wie meine Herrschaft über meinen Körper bröckelte.

So unvermittelt, wie sie mich umarmt hatte, so plötzlich ließ Jessie mich los und trat einen Schritt zurück. Ich fror am ganzen Leib.

»Gute Nacht!« Ihre Stimme klang fremd, gepresst und rau. Mit langen Schritten verschwand sie in der Dunkelheit.

Längst lag ich im Bett, doch so sehr ich die verwirrenden Eindrücke des Abends mit Logik zu ergründen versuchte, es gelang mir nicht. Das Chaos in mir wurde von Stunde zu Stunde, die ich wach lag, nur noch größer. Vielleicht, überlegte ich, war Jessie gar nicht auf ein Abenteuer aus? Das würde erklären, weshalb sie weder die Situation am Konzert noch beim Abschied vor dem Hotel ausgenutzt hatte. Ich wäre ihr erlegen, das wusste ich, denn die Signale meines Körpers waren mehr als deutlich gewesen. Bestimmt hatte das Jessie auch bemerkt.

Aber wieso gab sich diese junge und für meine Begriffe außerordentlich schöne Frau mit mir ab? Ich konnte ihr nichts bieten, hatte sie von Anfang an zurückgewiesen, mich über sie beschwert. Als schön hatte ich mich noch nie bezeichnet, selbst anziehend war in meinen Augen zu hoch gegriffen, und mein IQ lag bestimmt nicht viel über dem Durchschnitt. Zudem, und das bereitete mir wirklich Kopfzerbrechen, liefen massenweise attraktive lesbische Frauen herum, die ihren vierzigsten Geburtstag nicht direkt vor Augen hatten wie ich.

Jessie gab mir so viele Rätsel auf, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Ich wälzte mich von einer Seite auf die andere und ertappte mich immer häufiger bei der Vorstellung, wie überaus erregend es wäre, wenn sich eine gewisse junge Frau mit mir herumwälzen würde.

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als ich mich endlich aus den Laken schälte und unter die lauwarme Dusche stellte. Ich zwang mich, mich ganz langsam anzuziehen, die Haare gründlich zu kämmen, die Zähne so sauber zu putzen, dass sie glänzten, und keine Slipper, sondern leichte Schnürschuhe anzuziehen. Endlich war ich bereit, mich der Menschheit zu zeigen.

Nach einem Kaffee – mehr vertrug mein Magen heute nicht – brauchte ich unendlich lange, bis ich meine Sonnenbrille gefunden hatte. Nun konnte ich mich nicht mehr selbst aufhalten, ich musste das schützende Hotel verlassen.

Jessie erkannte ich von weitem. Sie saß an der Stelle, an der ich am Vortag die leichte Brise vom See her genossen hatte.

»So allein, schöne Frau?« fragte ich leise, als ich direkt hinter ihr stand.

Jessie fuhr erschrocken herum. »Leonie! Hast du mich erschreckt!« Jessies Stimme zitterte leicht. Wahrscheinlich starrte sie mich mit weit aufgerissenen Augen an, doch die konnte ich nicht sehen, da Jessie wie ich heute eine dunkle Sonnenbrille trug.

»Das war die Revanche«, erklärte ich gütig und ließ mich neben ihr auf der Bank nieder.

»Gut geschlafen?« fragte Jessie.

Meine Antwort interessierte sie nicht, denn sie blickte auf den See hinaus und schien mich bereits wieder vergessen zu haben.

Ich rutschte unbehaglich etwas zur Seite. Jessie war mir zu nah, und den Blick auf ihre festen Brüste unter dem leichten T-Shirt musste ich mir um meinetwillen verbieten.

Plötzlich kam mir meine vor einiger Zeit verstorbene Mutter in den Sinn. »Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.« Eine ihrer zahlreichen Lebensweisheiten. Hätte sie auch wirklich danach gelebt, läge sie heute wahrscheinlich noch nicht unter der Erde.

»Was ist mit dir?« hörte ich Jessie nah an meinem Ohr fragen. »Du machst ein Gesicht, als ob . . .«

Weiter kam sie nicht, denn sie musste mich vor meiner eigenen Schussligkeit retten. In meinem Schreck, Jessie so nah bei mir zu wissen, war ich auf der Bank noch ein Stück nach außen gerückt und hatte dabei außer Acht gelassen, dass ich bereits die Kante erreicht hatte. Jessie griff nach meinem Arm, hielt ihn fest und zog mich mit einem Ruck wieder ganz auf die Sitzfläche. Peinlich, schoss es mir durch den Kopf. Was muss sie von mir denken? Ich kann nicht mal anständig auf einer Bank sitzen.

»Woran hast du vorhin gedacht?« bohrte sie. Ihren Arm legte sie um meine Schultern, wahrscheinlich war dies eine reine Vorsichtsmaßnahme.

Ich schluckte hart. Sollte ich ihr wirklich von meiner Mutter erzählen? Von dieser Frau, die immer alles wusste und doch nie das Richtige zu machen schien? Jessie von ihr zu erzählen, bedeutete so etwas wie die Aufnahme in mein Vertrauen. Hatte sich dieses Mädchen eine solche Ehre verdient?

»Bitte sprich mit mir Leonie!« forderte dieses Mädchen, das viel zu sehr Frau war, an meiner Seite mit leiser Stimme.

»Ich dachte eben an meine Mutter. Sie ist vor zwei Jahren gestorben«, begann ich, ohne mir weiter den Kopf über Jessies Fähigkeiten und Legitimationen als Zuhörerin zu zerbrechen.

»Oh«, entfuhr es ihr, »das tut mir leid. Du standst ihr wohl sehr nahe?«

»Nein, so kann man das nicht sagen. Ich hatte kein besonders gutes Verhältnis zu ihr. Sie war meine Mutter, hat mich zur Welt gebracht und war dabei, als ich aufwuchs – irgendwie. Aber . . .« Ich unterbrach meinen Redefluss. Wie sollte ich Jessie erklären, dass ich meine Mutter zwar akzeptiert hatte, dass sie irgendwie zu mir gehört hatte, obwohl ich mich nie mit vertraulichen Dingen an sie gewandt hatte?

Jessie nickte verstehend. »Erzähl mir von ihr«, bat sie – und ich erzählte.

Meine Lebensgeschichte war nicht interessant, mich langweilte sie schon seit Jahren, doch Jessie schien da anderer Ansicht zu sein. Sie legte ihren Arm enger um mich, strich mit ihren langen Fingern durch mein Haar und wollte immer noch mehr über meine, nach persönlicher Einschätzung langweilige und jetzt eigentlich inexistente, Familie wissen.