Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung - Christian J. Jäggi - E-Book

Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung E-Book

Christian J. Jäggi

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Beschreibung

Die Welt steht mehr denn je vor der Notwendigkeit, eine nachhaltige Friedensordnung zu entwickeln, in welche alle politischen, weltanschaulichen und religiösen Gemeinschaften eingebunden sind und die sie alle mittragen. Auf der Grundlage der vorangegangenen Bände, in denen säkulare Friedensvorstellungen sowie jüdische, christliche und islamische Friedenskonzepte analysiert wurden, stellt der vorliegende Band teils divergierende und teils übereinstimmende Friedensvorstellungen nebeneinander, untersucht sie auf Gemeinsamkeiten und arbeitet Prinzipien einer globalen transsäkularen und interreligiösen Friedensethik heraus.

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Christian J. Jäggi

Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung

Christian J. Jäggi

Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung

Eine Zusammenschau

Tectum Verlag

Bereits erschienen:

Frieden, politische Ordnung und Ethik (2018)

Bausteine einer politischen Friedensordnung im Judentum (2019)

Bausteine einer politischen Friedensordnung im Christentum (2020)

Bausteine einer politischen Friedensordnung im Islam (2021)

Christian J. Jäggi

Säkulare und religiöse Bausteine einer universellen Friedensordnung

Eine Zusammenschau

© Tectum – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2021

ePub 978-3-8288-7343-8

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Werk unter der ISBN 978-3-8288-4242-7 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlaggestaltung: Tectum Verlag, unter Verwendung

des Bildes # 172804103 von dashtik | www.fotolia.de

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet

www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Angaben sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung

Probleme

TEIL 1: TRANSSÄKULARE UND TRANSRELIGIÖSE FRIEDENSETHIK

Die Weltethos-Theorie als Antwort?

Theologie der Befreiung als Ansatz?

Aspekte interkultureller Kommunikation

Diskursethik

Demokratischer Weltstaat als Fortsetzung der Weltethos-Idee

1. Geist versus Materie: Der Grundkonflikt, auf dem alles beruht

Geist – Pneuma – Ruah

Geistige Macht versus Macht des Bösen

1.1 Destruktive Methoden

1.2 Gewalt in den heiligen Schriften

1.3 Schuld

2. Zur Strategie der geistigen Seite

2.1 Die Zurückhaltung der geistigen Seite

2.2 Geistige und materielle Sicht der Geschichte

Gottesboten und Engel

Hebräische Bibel

Neues Testament

Koran

2.3 Einige strategische Folgerungen

3. Friedensarbeit

3.1 Versöhnung

3.2 Vertrauen, Liebe, Barmherzigkeit und Empathie

3.3 Die Befreiung und Entwicklung des mystischen Selbstes

TEIL 2: WAS TUN?

4. Von der materialistischen zur spirituellen Bildung

5. Welche Art von Bildung?

6. Vergeistigung der wissenschaftlichen Erkenntnis

7. Das Problem der Apokalyptik – und die weltpolitische Anarchie

7.1 Kairos – der richtige Zeitpunkt

7.2 Dialog mit den Göttern

8. Ethik in der Politik als conditio sine qua non

8.1 Fragen einer transsäkularen und transreligiösen Ethik

8.2 Die Menschenrechte als unerlässliche Grundlage

9. Eine neue Tugendethik als Antwort?

9.1 Tugendethik oder institutionelle Ethik?

9.2 Politik und Ethik: Das Problem der persönlichen Integrität

9.3 Der Umgang mit dem „ganz Anderen“ als Prüfstein

9.4 Tugendethik und Spiritualität

9.5 Die Gewaltverweigerung als Ziel

10. Notwendige Antworten einer transsäkularen und transreligiösen Ethik

11. Handlungsperspektiven

11.1 Verletzlichkeit

11.2 Ächtung von Gewalt

11.3 Nationalstaaten versus demokratischer Weltstaat

11.4 Durchsetzung einklagbarer Menschenrechte

11.5 Transnationale Demokratie

11.6 Planetare Friedensvision

Fazit

Abkürzungen

Bibliographie

Einführung

Am 6. August 2020 – dem 75. Jahrestag der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki – gab es auf der Welt laut Angaben des Stockholmer Friedensforschungsinstituts Sipri insgesamt 13’400 Atomwaffen (vgl. Kölling 2020:4). Zusätzlich zu den bestehenden neun Atommächten planten oder arbeiteten weitere Länder daran, eigene Atombomben zu entwickeln oder atomar aufzurüsten, so unter anderem Nord-Korea, Iran, Süd-Korea und Japan.

Im Jahr 2020 verliessen die USA unter Trump das Open Sky-Abkommen mit Russland, das die NATO-Staaten mit Russland 1992 geschlossen hatten und das den USA und Russland bis zu 42 gemeinsame Beobachtungsflüge pro Jahr über dem Territorium der Unterzeichnerstaaten erlaubte. Bis 2020 wurden über 1500 gemeinsame Beobachtungsflüge gemacht. Der Vertrag galt als wesentlicher Baustein der vertrauensbildenden Massnahmen und der europäischen Friedens- und Sicherheitsarchitektur (vgl. DW 2020). Im Januar 2021 verabschiedete sich auch Russland – kurz vor Joe Bidens Amtsübernahme – vom Open Sky-Abkommen (vgl. t-online 2021).

Im südchinesischen Meer verschärfte sich 2020 die politische und militärische Spannung weiter. Zwei ETH-Forscher verglichen im Mai 2020 die Situation im südchinesischen Meer mit dem Spannungsfeld im Persischen Golf (vgl. SRF 2020).

All dies zeigt, dass die Friedensthematik weltweit drängende ist denn je.

Maximilian Zech (2019:43) hat die Ansicht vertreten, dass in der heutigen Zeit „die politische Ordnung auf Prinzipien beruhen [muss], die allen Bürgern – Gläubigen und Nichtgläubigen – einsichtig seien“. Das trifft zweifellos zu, wenn sich der Staat nicht einseitig entweder auf die religiösen Vorstellungen von Gläubigen einer bestimmten Denomination oder auf eine ausschliesslich säkulare Sicht des Lebens ausrichten will. In beiden Fällen droht eine zu enge Ausrichtung auf ein partielles Staatsverständnis wesentliche Teile der Bevölkerung zu ignorieren oder gar zu marginalisieren.

Der israelische Historiker Yuval Noah Harari (2018) hat die Meinung vertreten, dass heute die liberale Demokratie vor zwei grossen Herausforderungen steht: auf der einen Seite vor der Zunahme autoritärer Regimes weltweit und sogar im Rahmen der Europäischen Union, und auf der anderen Seite vor der zunehmenden Dominanz von Big-Data-Algorithmen und künstlicher Intelligenz, welche ihrerseits den politischen Prozess immer mehr beeinflussen – oder wenn man will – verzerren. Dabei vertrat Harari die Meinung, dass in vielen Ländern – so etwa in den USA – die ideologische Kluft zwischen den Parteien deutlich abgenommen habe, vor allem wenn man mit den 1930er oder 1970er Jahren vergleiche. An die Stelle weltanschaulicher Auseinandersetzungen sei der zunehmend polarisierende Versuch getreten, „Emotionen zu entfachen, um die öffentliche Debatte und damit die Basis der liberalen Demokratie zu zerstören“ (Harari 2018). Das ist vielleicht ein Grund, warum im politischen Diskurs – nicht nur in den USA – mehr und mehr Demagogie, Beleidigungen der Gegner, Lügen, Fake News und Verschwörungstheorien an die Stelle von politischen Debatten und Auseinandersetzungen um Sachfragen getreten sind. Emotionalisierende Politiker drängen der Wahrheit verpflichtete Sachpolitiker in den Hintergrund und werden gar von den Wählenden mit Stimmen belohnt, während eine auf Konsens und Gemeininteresse ausgerichtete Politik uninteressant geworden ist. Gleichzeitig – so Harari 2018 – habe das demokratische System die Fähigkeit verloren, sinnvolle Visionen für die Zukunft zu entwerfen. Anstelle des politischen Diskurses sei heute die Praxis gerückt, menschliche Schwächen durch Einflussnahme von Algorithmen auszunutzen und Desinformation zu verbreiten, die oft auch geglaubt wird.

Im Buch „Hidden Agendas: Geopolitik, Terror und Populismus“ (vgl. Jäggi 2017a) habe ich die Hintergründe von geopolitischem Hegemonialismus, Terrorismus und Populismus anhand politikwissenschaftlicher Modelle und Erklärungsansätze diskutiert. In diesem Text geht es darum, hinter die politischen Interessen, Zusammenhänge und Bestrebungen zu schauen und neue Perspektiven für eine länder- und weltanschauungsbergreifende Friedensordnung zu diskutieren. Im Zentrum stehen dabei ethische, aber auch theologische und weltanschauungsbezogene Fragestellungen.

Bruno Latour (2018:11) hat in seinem „terrestrischen Manifest“ die These vertreten, dass die Welt spätestens mit der Wahl Trumps zum US-Präsidenten 2016 an das Ende einer auf ein angebbares Ziel ausgerichteten Politik gekommen sei: „Das ist keine ‚postfaktische‘ Politik mehr, sondern vielmehr eine postpolitische, das heisst buchstäblich gegenstandslose Politik“. Doch stimmt das tatsächlich – oder anders herum gefragt: Waren die früheren ideologischen Auseinandersetzungen zwischen „rechten“ und „linken“ Postulaten nicht häufig lediglich Spiegelfechterei, welche – oft sehr erfolgreich – einzig eine machiavellistische Politik versteckten oder wie die Politologen sagen: eine „realistische Politik“ zum Ziel hatten? Dann wäre der einzige Unterschied zu früheren Zeiten, dass heute die Politik ihre – je nach Standpunkt – weltanschaulichen bis ideologischen Feigenblätter verloren hat. Somit wäre die politische Auseinandersetzung heute einfach ein gnadenloser Macht- und Verteilungskampf aller mehr oder weniger mächtigen Gruppen und Institutionen. Die Frage ist, was das für eine globale und ethisch zu verantwortende Politik heisst.

Federico Ignacio Viola (2014:105) hat mit Blick auf Emmanuel Levinas zur Frage einer ethischen Grundordnung geschrieben: „Die Ethik bezieht sich … auf keine Ordnung, sondern sie besteht gerade darin, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, was jede Ordnung verwirrt, nämlich auf die Andersheit des Anderen. In diesem Sinne vollbringt die Ethik einen wirklichen Umsturz der ontologischen vernunftmässigen Ordnung. Aber dieser Umsturz kann nicht als Gewalt gedeutet werden. Denn er geht nicht aus einer Konfrontation von entgegengesetzten Mächten hervor, sondern kommt vielmehr gerade aus der Begegnung mit dem, was sich jedem Versuch von Beherrschung entzieht“. Viola (2014:107) spricht in diesem Zusammenhang vom „subversiven Charakter“ der Ethik, aber nicht in dem Sinne, dass es darum geht, irgendetwas zu verbieten oder sich gegen etablierte Institutionen zu wenden, sondern darum, „nach dem Menschlichen in Gestalt einer Beziehung mit dem Anderen“ zu suchen“ (Viola 2014:107). So gesehen hat die Ethik etwas „An-Archistisches“ (Viola 2014:146), also etwas „Unordentliches“ oder „Anti-Hierarchisches“ – aber nur dann, wenn sie nicht einfach die Entscheidung von Gut und Böse, Richtig oder Falsch auf eine äussere Instanz auslagert, etwa ein „göttliches Gesetz“ oder „die Vernunft“ oder ein – wie auch immer definiertes – „Gemeinwohl“. So verstandene Ethik bedeutet immer wieder, gängige Modelle, Vorstellungen und Verhaltensweisen zu hinterfragen, zu ändern, zu verbessern oder gar zu ersetzen. Aber trotzdem ist es immer wieder notwendig, ethische Erkenntnisse institutionell und normativ umzusetzen und zu standardisieren. Wenn man so will besteht darin ein eigentliches ethisches Dilemma: Ethik ist damit dynamisch und rebellisch, aber gleichzeitig auch regulativ und herrschaftsstabilisierend.

Aus theologisch-ethischer Sicht stellt sich die spannende Frage, ob eher eine demokratische Regierungsform im Sinne eines vernunftbasierten Konsensstaates oder eine – in welcher Form auch immer – von Gott geoffenbarte Heilsordnung und theokratische Regierungsform dem geistigen Fortschritt der Menschheit zuträglicher ist. Beide Regierungsformen unterliegen eigenen, spezifischen Gefahren: Auf der einen Seite ist jeder demokratische Staat von der ethischen Integrität der Politiker, vom guten Willen, dem rationalen Verhalten und von der Bildung der Wählenden abhängig. Gerade in jüngster Zeit hat sich gezeigt, dass Demagogen, Populisten oder machtbesessene Autokraten ihre Anhänger und darüber hinaus sogar Bevölkerungsmehrheiten dazu bringen können, ihre Lügen zu glauben, diskriminierenden Massnahmen gegen andere Menschen oder sogar ungerechtfertigten Kriegen zuzustimmen. Auf der anderen Seite hat die Geschichte bis in die jüngste Gegenwart gezeigt, dass „Gottesstaaten“ jeglicher Provenienz immer wieder vereinnahmt, zu Diktaturen umfunktioniert oder von Anfang an zur Legitimation von Tyrannei missbraucht wurden.

Stimmt deshalb die Aussage von Christian Felber (2015:21) in seiner Schrift über Spiritualität, Freiheit und Gemeinwohl: „Gott als politisches Argument taugt nicht und sollte zu Recht aussortiert werden“?

Beide Regierungsformen leben von ethischen Mindeststandards sowohl der Regierungen als auch der Regierten. Letztlich gilt das alte Webersche Diktum, dass sich letztlich keine Herrschaft längerfristig ohne Zustimmung der Beherrschen halten kann (vgl. Weber 1973:144ff.), immer noch. Wenn Menschen guten Willens und mit geistiger Inspiration herrschen, können beide Regierungsformen religiösen Menschen helfen, sich dem Göttlichen anzunähern – ohne deswegen Atheisten oder Agnostiker auszugrenzen oder abzulehnen. Allerdings scheint es, dass in der heutigen Zeit demokratisch-säkulare Regierungsformen eher angebracht sind, unter anderem, weil immer mehr moderne Menschen eigenverantwortlich und autonom leben und handeln. Jedoch kann die konkrete Ausgestaltung einer Demokratie sehr unterschiedlich sein. Es ist auch durchaus denkbar, dass sich in Zukunft demokratisch-theokratische Mischformen entwickeln werden.

Aus ethisch-theologischer Sicht können wir sagen, dass die aktuellen, Gewalt, Hass und Krieg rechtfertigenden sozio-kulturellen Codes (vgl. Jäggi 2009) durch neue sozio-kulturelle Codes ersetzt werden sollten, die auf folgenden Grundprinzipien beruhen:

– Bedingungslose und grundsätzliche Liebe zu allen Menschen, unabhängig von ihren weltanschaulichen, religiösen oder politischen Vorstellungen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit;

– Ächtung jeglicher Gewalt, besonders auch von weltanschaulich, politisch oder religiös begründeter Gewalt;

– Frieden als universelles Ziel und Beschränkung der Konfliktaustragung auf gewaltlose Mittel;

– Diversität, Heterogenität und sozio-kulturelle Partikularität als individuelles Recht und als Grundlage der Weltgesellschaft; sowie

– umfassende geistige Entwicklung der Menschheit und der einzelnen Menschen als strategisches Ziel.

Probleme

Das spezifische Thema der vorliegenden Arbeit ist die Gegenüberstellung jüdischer, christlicher und islamischer Friedenskonzepte und die spezifischen religiösen Sichtweisen politischer Ethik und deren Vergleich mit säkularen Denkmodellen. Entsprechend werden einander auf der einen Seite säkulare Konzepte religiösen Vorstellungen gegenübergestellt, und auf der anderen Seite jüdische, christliche und islamische Vorstellungen.

Dabei stellt sich die Frage nach dem Stellenwert der Heiligen Schrift sowohl für Gläubige als auch für nicht Gläubige: Für erstere insofern, als die Deutung der Schrift und ihre Auslegung auf die aktuelle Lebenssituation immer dem Verdacht einer Abweichung vom „wahren Glauben“ und damit letztlich der Apostasie unterliegt, für letztere, weil nicht Gläubige vielen Textstellen äusserst kritisch oder gar ablehnend gegenüber stehen und nicht bereit sind, einer – wie auch immer gearteten – Heiligen Schrift Autorität oder Legitimität zuzugestehen.

Wahrscheinlich vor diesem Hintergrund hat Schalom Ben-Chorin bereits 1939 mit Blick auf die Tora Folgendes festgehalten: „Für uns – und darin besteht das ‚neue Denken‘ in dieser Kernfrage des Glaubens, – ist die Thorah tatsächlich Gottes Wort, im ganzen unendlichen Ernst dieses Anspruches, ohne dass wir uns den oft überaus triftigen Argumenten der bibelkritischen Wissenschaft mit Scheuklappen verschliessen müssten. Freilich ist die Thorah nicht das ungebrochene Wort Gottes, sondern das göttliche Urwort, schon gebrochen in dem Augenblick, da es in menschliche (hebräische) Vokabel gefasst wurde, um mitteilbar zu sein……“ (Ben-Chorin 1939:25; Hervorhebung durch den Autor). Das Gleiche gilt sinngemäss auch für die christliche Bibel und für die islamischen sakralen Schriften.

Weil die wichtigsten Konzepte säkularer politischer Ethik bereits aufgearbeitet wurden (vgl. Jäggi 2017a, Schockenhoff 2018 sowie Jäggi 2018a) und zentrale religiösen Texte des Judentums, des Christentums und des Islams auf unsere Fragestellung hin analysiert und diskutiert worden sind (vgl. Jäggi 2019a; Jäggi 2020a sowie Schockenhoff 2018; Jäggi 2021a), liegt das Schwergewicht dieses Bandes auf der Gegenüberstellung, dem Vergleich und der Synthese1 jüdischer, christlicher und islamischer Texte auf der einen Seite und säkularer Denkansätze auf der anderen Seite. Ein Grundproblem eines solchen Vorgehens in Bezug auf säkulare und religiöse Friedensvisionen liegt im völlig unterschiedlichen Bezugsrahmen säkularer und religiöser Friedensethiken und in deren stark divergierenden Ausrichtung.

Nur am Rand berücksichtigt wird in diesem Band die gegenseitige Rezeption religiöser und säkularer Friedens- und Heilskonzepte und die Wirkungsgeschichte dieser Auseinandersetzungen. Dagegen liegt das Gewicht auf gemeinsamen und übergreifenden Konzepten und auf Bausteinen der einzelnen Weltanschauungen und religiösen Vorstellungen, die sich möglicherweise zu einem gemeinsamen Weltfriedensverständnis und zu einer übergreifenden Friedensordnung zusammenfügen lassen.

Dabei sollen auch die Schwierigkeiten eines solchen Vorgehens nicht verschwiegen werden: Viele Bezüge in religiösen und auch in säkularen Texten sind auf frühere Lebenskontexte ausgerichtet, der Fokus liegt oft auf einzelnen Postulaten oder Verhaltensnormen, vielfach werden frühere Ereignisse literarisch so dargestellt oder gar narrativ konstruiert, dass sie zur Intention des Erzählers passen, der keinesfalls heutige Problematiken und Fragestellungen im Blick hatte. Darum sind immer nur indirekte Vergleiche oder Bezüge möglich, also punktuelle Aussagen und Denkfiguren, aber keinesfalls eine unkritische und umfassende Übernahme früherer Normenvorstellungen in globo, etwa im Sinne einer engen Glaubensethik oder einer politischen Utopie irgendwelcher Art. Trotzdem scheint es berechtigt, frühere Texte oder Textfragmente auf heutige Fragen zu beziehen – etwa um Abstand zu heutigen, oft unkritischen Sichtweisen zu gewinnen und vielleicht im besten Fall zu einem Perspektivenwechsel zu gelangen, der gar neuen Raum für innovative Lösungen schafft.

1 Mit Synthese ist hier nicht die Konstruktion einer „Über-Religion“ etwa durch ein synkretistisches religiöses System gemeint, sondern eher der Zusammenbau oder die Zusammenschau einzelner Bausteine säkularer und religiöser – konkret jüdischer, christlicher und islamischer – Provenienz gemeint.

Teil 1: Transsäkulare und transreligiöse Friedensethik

 

Gertrud Brücher (2002:159) hat vorgeschlagen, die unterschiedliche säkulare und religiöse Sicht als „Generaloptik durch Ein- oder Ausschluss des Immanenz/Transzendenz-Schemas“ zu definieren. Doch trifft das zu? So kann auf der einen Seite auch eine säkulare Sicht eine immanente Transzendenz beinhalten, nur dass diese nicht auf ein Jenseits ausgerichtet sein muss, sondern auch auf ein diesseitiges Kollektiv hin orientiert sein kann, wie etwa im Marxismus auf die „Arbeiterklasse“ oder in einer republikanischen Vision auf „das Volk“. Umgekehrt gibt es nicht wenige religiöse Sichtweisen, welche das Diesseits ins Zentrum stellen – etwa die klassische jüdische Sicht oder auch befreiungstheologische Strömungen im Christentum.

Der Säkularismusbegriff gewinnt dann seine Schärfe, wenn es um die Begründungsstruktur geht: Religiöse Ethiken nehmen in der Regel Bezug auf eine ausserhalb des Menschen gedachte oder vorgestellte und kommunizierte Heilsstruktur, während säkulare Ethiken vom Axiom der Eigenverantwortlichkeit und Autonomie des Menschen ausgehen. Die Unterscheidung verläuft also weniger zwischen Transzendenz und Immanenz, sondern eher zwischen Heteronomie und Autonomie des Menschen. Historisch bezeichnet der Begriff des Säkularismus auch die Entflechtung von religiösen und weltlichen Machtstrukturen, weshalb der Säkularismus immer auch eine religionskritische Dimension hatte oder gar zu einer Art „nicht-religiöser Quasi-Religion“ (vgl. Jäggi und Krieger 1991:138ff. sowie 143ff.) wurde, also zu einer mit den Religionen konkurrierenden Weltanschauung. Entsprechend schwang und schwingt bei allen „legitimen und illegitimen“ Kindern der Aufklärung – also vom Humanismus über den Liberalismus bis zum Marxismus – eine religions- oder besser theokratiekritische Denkweise mit.

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Ansatz des iranischen Theologen Mujhahid Shabestari (z.B. 2012:196ff.), der – so Vahdat 2015:166 – versuchte, göttliche und menschliche Subjektivität zu versöhnen (vgl. auch Jäggi 2021a:38).

Dabei ist zu bedenken, dass religiöse Zugänge zu ethischen Überlegungen oft andere sind als Zugänge säkularer, also nicht religiöser Ethik. Dagmar Fenner (2016:62) hat das wie folgt formuliert: „Typisch für den hermeneutisch-verstehensorientierten Zugang religiöser Ethik sind Erzählungen, denen in vielen Religionen eine entscheidende Rolle für die Heranbildung und Festigung des religiösen Ethos zukommt. Religiöse Moral und Ethik sind statt begründungsorientiert wesentlich narrativ, also erzählend. Sie manifestieren sich in den von Generation zu Generation weitergegebenen rituellen Zeremonien, erzählten oder inszenierten Geschichten, Gleichnissen und Bildern. Im Unterschied zu einem nüchternen, möglichst knappen und präzisen Argumentationsstil philosophischer Ethik fehlt religiösen Texten zu ethischen Themen ein systematischer Aufbau……“ (Fenner 2016:62). Doch diese Tatsache hat auch einen entscheidenden Vorteil: Narrative Texte sprechen im Unterschied zu logisch-rationaler Argumentation besonders das Gefühl und die Empathie an, die oft tiefer gehen und nachhaltiger wirken als logisch-vernunftmässige Begründungen – die übrigens nicht selten nachträgliche Rationalisierungen spontan entschiedener Gefühlsentscheide darstellen.

Umgekehrt kann eine Ausschaltung vernunftmässiger Reflexion auch zu Fehlentscheidungen führen, wie man etwa aus der Vorurteils- und Stereotypieforschung kennt. Deshalb ist wohl – wie oft – die Kombination von beidem optimal: narrative und gefühlsbezogene Geschichten und rationale Reflexion der entsprechenden Texte, und zwar immer im Sinne und vor dem Hintergrund autonomer Moral.

Jedoch soll damit nicht einer blinden Gefühlsethik (vgl. Fenner 2016:64) das Wort geredet werden, welche „gute“ oder „richtige“ Entscheide nur auf ein allgemeines Gefühl – etwa ein vages „Wohlwollen“, „Mitleid“ oder „Güte“ – zurückführen wollen und dieses als „Quelle und Gradmesser von Moralität“ (Fenner 2016:64) sehen. Positive Gefühle sind zweifellos wichtige Träger von moralischen Handlungen, aber sie helfen oft in konkreten Situationen, etwa in ethischen Dilemmata, nicht weiter.

Das grosse Problem glaubensgestützter Ethiken besteht darin, dass die Unterscheidung von grundlegenden ethisch-moralischen Prinzipien und situativ-praktischen Normen oft nur schwer zu machen ist – insbesondere, wenn die Gläubigen die gesamte Schrift wortwörtlich nehmen, ohne daran zu denken, dass – gerade narrative Texte – oft metaphorisch gemeint sind und Meta-Aussagen enthalten, die weit über die anwendungsorientierte, direkte Übertragung einer religiösen Aussage hinaus gehen. Diese Problematik kann auf der einen Seite zu religiösem Fundamentalismus und auf der anderen Seite zu einem religiösen Relativismus führen (vgl. dazu auch Fenner 2016:71).

Franz Segbers (1999:71) hat die Forderung aufgestellt, dass christliche Ethik einen doppelten Anspruch habe: Sie wolle einerseits Christen in ihrer theologisch-ethischen Handlungsorientierung unterstützen und anderseits einen Beitrag für den übergreifenden gesellschaftlichen Diskurs leisten. Das gilt im Grunde für jede religions- oder weltanschauungsbasierte Ethik2.

Die gut dokumentierten Diskurse (vgl. Fornet-Betancourt 1992, 1993a, 1993b und 1994) zwischen Vertretern der Befreiungstheologie und der Diskursethik3 haben eines klar gezeigt: Die beiden Ansätze gehen von einem unterschiedlichen Rationalitätsverständnis aus (vgl. Segbers 1999:74). Rationalität kann formal-prozedural – wie in der Diskursethik – oder inhaltlich-strukturell – wie in der Befreiungstheologie – verstanden werden. Dazu kommt, dass jedes Rationalitätsverständnis auch eine wichtige sozio-kulturelle Komponente hat. Das zeigt sich etwa daran, dass die Heiligen Schriften kontroverse und widersprüchliche Haltungen zur Gewaltfrage enthalten (vgl. Fenner 2016:76, aber auch Jäggi 2019a:248ff.; 2020a:169ff. und 2021a:62ff.).

Ein besonderes Problem in einer global gedachten Ethik stellt die Frage dar, was eine „globale Ethik“ überhaupt ist und wo sie sich bewegt. Heather Widdows (2011:7) schreibt dazu kurz und bündig: „For global ethics the frame within which decision-making occurs must be global: the ethical locus is ‚the globe‘. In any ethical analysis it is the globe that constitutes the sphere of concern and thus the needs and perspectives of all global actors are relevant“. Doch was bedeutet das? Ist „globale“ Ethik einfach nur eine „weltweite Ethik“ – ist globale Ethik nicht vielmehr auch eine umfassende, universelle Ethik? Denn „global“ ist nicht nur territorial zu verstehen, sondern auch als Grad hoher Komplexität. Globale Ethik schliesst auch einen permanenten Perspektivenwechsel mit ein, die Fähigkeit zur Erweiterung und Verengung des Blickwinkels, der Autonomie und Entscheidung, sich auf einzelne Aspekte zu fokussieren. Das wird vor allem im Falle von globalen Friedensthemen und Gerechtigkeitskonzepten relevant.

Gleichzeitig ist Frieden – wie der Ethiker Adrian Holderegger (2017:307) betonte –, „nicht bloss ein politisches, sondern zuerst und zuletzt ein moralisches Projekt“. Also muss die Friedensthematik sowohl von der politischen Seite als auch von der Ethik her angegangen und diskutiert werden.

In einem weiteren Sinn stellt sich damit auch die Frage des Guten. Saur (2016:22) hat darauf hingewiesen, dass das Gute nicht unmittelbar zu erkennen ist und dass „das Profil des Guten an den Rändern Unschärfen aufweist“. So werde etwa in der alttestamentlichen Weisheitsliteratur das Böse oft als Gegenpol zum Guten verstanden. Allerdings erschliesse sich auch das Böse meist nicht unmittelbar, sondern könne „nur mittelbar, situativ und dynamisch erfasst werden“ (Saur 2016:22).

Die Weltethos-Theorie als Antwort?

Hans Küng (1990:14) hat in seinem Buch „Projekt Weltethos“ festgestellt, dass „eine Welt, in der wir leben, nur dann eine Chance um Überleben hat, wenn in ihr nicht länger Räume unterschiedlicher, widersprüchlicher oder gar sich bekämpfender Ethiken existieren“. Diese eine Welt brauche ein verbindendes Grundethos, jedoch nicht in Form einer Einheitsreligion und Einheitsideologie, sondern in der Gestalt von verbindenden und verbindlichen Normen, Werten, Idealen und Zielen. Weiter weist Küng (1990:13) darauf hin, dass ohne Religionsfrieden kein Weltfrieden möglich sei – umgekehrt aber auch kein Religionsfrieden ohne Weltfrieden. All das ist zweifellos richtig.

In der wissenschaftlichen Ethik wird „Ethos“ im Allgemeinen im deskriptiven Sinn als Beschreibung der Gesamtheit der bestehenden ethischen Werte und Normen in einer Gesellschaft oder einer Religion verstanden. So spricht etwa Mir (2015:65) von einem öffentlichen Ethos („the public spirit ethos“). Alfons Auer (1995:78 und 96) thematisiert ein alttestamentliches und ein jesuanisches Ethos. Demgegenüber benutzt Küng (1990:46) den Begriff des „Weltethos“ in einem normativen Sinn: „Die katastrophalen ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Entwicklungen sowohl der ersten wie der zweiten Jahrhunderthälfte machen zumindest ex negativo ein Weltethos um des Überlebens der Menschheit auf dieser Erde nötig“ (Hervorhebungen durch Küng).

Doch das Problem liegt darin, herauszuarbeiten, wie ein solches normatives „Weltethos“ aussehen sollte und wie ein solches „Weltethos“ erreicht werden kann. Diese beiden Fragen stehen auch im Zentrum der nachfolgenden Überlegungen.

Wenn auch das Wort „Weltethos“ sehr hoch gegriffen erscheint – ich spreche lieber von überkontextuellen und religions- sowie weltanschauungsüberschreitenden ethischen Bausteinen – hat Küng den Finger auf den wohl wundesten Punkt der heutigen Menschheit gelegt: Die Menschheit sollte als Ganzes gesehen und gedacht werden, als Einheit, und nicht mehr als Konglomerat verschiedenster oder gar sich bekämpfender Nationen, Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften oder Ethnien und Gruppen – und dazu braucht es klare Visionen und praktikable Modelle. Das bedeutet aber auch klare, verbindliche und durchsetzbare ethisch-normative Standards und verbunden damit Institutionen, welche die Einhaltung dieser Standards überwachen und garantieren. Obwohl zwar die Welt davon heute noch weit entfernt ist – früher oder später wird dies unumgänglich sein.

Hans Küng (2010:158) hat eine klare Hierarchie von Ethik (Ethos), Politik und Ökonomie vorgeschlagen: Erstens müsse das Ethos grundsätzlich über Ökonomie und Politik stehen, zweitens sei der Politik ein Primat gegenüber der Ökonomie zuzugestehen und drittens müsse der Markt wirtschaftsfreundlichen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen unterstehen, die er aber nicht selber schaffen könne.

In ihrer ausführlichen Auseinandersetzung mit der Weltethos-Theorie von Hans Küng kommt Dagmar Fenner (2016:199) zum zweifellos richtigen Schluss, dass Küngs Ansatz eine aufklärererische und damit säkulare Grundhaltung voraussetzt: „Religiöse Menschen müssen bereit sein, ein ‚Weltethos‘ vom ‚Heilethos‘ abzukoppeln und eine Säkularisierung im Sinne der Ausdifferenzierung in verschiedene Wertsphären wie die des Guten und Heiligen zu akzeptieren“. Das bedeutet, dass das Weltethosprojekt im Grunde eine säkulare Antwort auf Religionskonflikte ist, so wie der Säkularismus im Grunde die europäische Antwort auf das Problem der Religionskriege darstellte. Damit ist aber das Weltethosprojekt nur bedingt tauglich für die Entwicklung einer umfassenden und globalen Friedensethik. Denn säkulare Ethiken und religiöse Ethiken müssen sich auf Augenhöhe begegnen können – im Sinne eines Diskurses, in den sich alle gleichermassen einbringen können. Dazu kommt, dass – wie ich verschiedentlich gezeigt habe (z.B. in Bezug auf den säkularen Staat vgl. Jäggi 2016b:134) – der Säkularismus als eine mit religiösen Weltanschauungen konkurrierende „Quasireligion“ verstanden werden kann.

Doch was bedeutet eigentlich Säkularismus? Rajeev Bhargava (2007:21) definierte Säkularismus als „Trennung organisierter Religion von der politischen Macht, inspiriert durch einen spezifischen Set von Werten“. Mit anderen Worten: Säkularismus ist ohne Trennung von Religion und Staat nicht denkbar, aber ebenso wenig ist Säkularismus ohne die durch ihn vermittelten Werte zu verstehen. Bhargava (2007:22) weist auch darauf hin, dass Säkularismus mitnichten mit „westlich“ gleichzusetzen ist: Für ein umfassendes und adäquates Verständnis von Säkularismus müsse man überprüfen, wie sich die säkulare Idee über die Zeit und die nationalen Grenzen hinweg entwickelt habe4. Hier besteht auch eine Parallele zu den grossen Religionen: So wie das Judentum, der Buddhismus, das Christentum und der Islam Sprach- und Kulturregionen sowie spätere nationalstaatliche Grenzen durchquert und überschritten haben, genauso hat sich die säkulare Weltanschauung in ganz verschiedenen Regionen der Welt verankert. Damit besteht eine Parallele – aber auch eine Konkurrenz – zu den grossen Religionen, die lokal entstanden sind und sich später ausgebreitet haben, ebenso hat auch der Säkularismus ausgehend von Westeuropa längst alle Länder und Kontinente erreicht. Als zentrale Werte des Säkularismus gelten heute: innergesellschaftlicher Friede und Verhinderung von Barbarei, Schutz der Verletzlichkeit der Individuen, Religionsfreiheit und Anerkennung der Mitwirkung des Einzelnen in Staat und Gesellschaft in Form der Staatsbürgerschaft (vgl. Bhargava 2007:29ff.).

Der Säkularismus schliesst unter anderem Agnostizismus, Atheismus und verschiedene Formen des säkularen Humanismus ein (Hiorth 2009:124). Funktionell gesehen übernimmt der Säkularismus durchaus religiöse Aufgaben. Für Ericson (1988:1f.) ist ethischer (säkularer) Humanismus ein moralischer Glaube, der auf dem Respekt vor der Würde und dem Wert des menschlichen Lebens beruht. Er sei eine „praktische, funktionierende Religion, dem ethischen Leben gewidmet, ohne rituelle Verpflichtungen oder einen Glauben an das Übernatürliche vorzuschreiben“ (Hiorth 2009:129f.).

Für den Ansatz des Weltethosprojekts bedeutet das, dass dieses im Grunde nur funktionieren kann für Menschen, die sich zu einer säkularen Weltanschauung bekennen – oder anders gesagt: Wenn der Säkularismus als eine über den grossen religiösen Weltanschauung stehende und eigenständige Weltanschauung verstanden wird. Daraus entsteht aber die Frage, ob säkulare Weltanschauungen funktional-weltanschaulich den einzelnen Religionen übergeordnet sind oder als konkurrierende Weltanschauungen sozusagen auf gleicher Ebene neben den grossen Religionen anzusiedeln sind. Anders gesagt: ob der Säkularismus über den Religionen steht oder neben ihnen. Zweifellos gibt es für beide Sichtweisen Argumente. Doch es sollte aus den vorangehenden Ausführungen klar geworden sein, dass eine übergreifende Ethik sowohl säkulare als auch religiöse Sichtweisen und Anliegen aufnehmen muss – und es ist durchaus denkbar, dass auch nicht säkulare Staatsformen die Grundrechte garantieren und demokratische Selbstverwaltung garantieren können.

Wenn es stimmt, wie Peter Antes (2001:19) meint, dass Religionen „ethische Instanzen der Kritik und des schlechten Gewissens für die Gesellschaft im Zeitalter von Modernisierung und Globalisierung“ darstellen, dann bedeutet das, dass auf der einen Seite Religionen selbst einen transnationalen bzw. transkulturellen Charakter haben, um entsprechende Antworten zu generieren, und auf der anderen Seite die Religionen selbst der traditionellen konfessionellen Sicht abschwören müssen, weil sie sonst weder als glaubhafte Vermittler ethischer Antworten noch als Alternativen zu weltanschaulich enggeführten Akteuren auftreten können. Gleichzeitig darf aber eine entsprechende weltanschauliche Öffnung nicht auf Kosten der Verbindlichkeit religiöser Aussagen gehen – vielmehr muss die Verbindlichkeit wachsen.

Es stellt sich die Frage, ob der Weltethos-Ansatz tatsächlich eine genügend breite Basis darstellt, um eine gleichzeitig transsäkulare, interreligiöse und globale Ethik zu entwickeln. Barbara Lukoschek (2013:32ff.) hat die Einwände gegen den Weltethos-Ansatz wie folgt zusammengefasst:

Zu starke Ausrichtung auf eine christliche bzw. westlich-abendländische Sicht. Diese Kritik haben unter anderem Paul Hedges (2008:159ff.) und Sallie B. King (1995:213ff.) vorgebracht. Reinhard Hummel (1993:7) hat diesen Einwand wie folgt formuliert: „Den fundamentalistischen Gegnern wird es nicht verborgen bleiben, dass der Küngsche Text trotz aller Absprachen in seiner Substanz westlich-christlich konzipiert und an der zweiten Tafel der Zehn Gebote orientiert ist. Die anderen Religionen werden prüfen müssen, ob ihre eigene Tradition hergibt, was die Erklärung als gemeinsames Weltethos formuliert hat“.

Zu hoher Abstraktheitsgrad und zu starke Anbindung an eine makroperspektivische Sicht. Hans J. Münk hat diese (zu?) starke Ausrichtung auf „universale Grundmaximen“ als mögliches Problem bezeichnet, weil „ein gleich liegender Wortlaut vorschnell tiefer liegende Spannungen, Unterschiede und Gegensätze überspringt“ (Münk 2004:108). Dabei entstehe die Gefahr, nicht nur wesentliche Unterschiede zwischen den Religionen, sondern auch innerhalb der einzelnen religiösen Symbolsysteme – also „den jeweiligen Binnenpluralismus“ (Münk 2004:108) – zu unterschätzen.

Dazu kommt ein noch grundsätzlicherer Einwand, den ich an anderer Stelle ausführlich diskutiert habe (vgl. Jäggi 2016a:273).

Statische bzw. „substantialistische“ Ausrichtung des Ethoskonzepts und eine additive Aufzählung kulturspezifischer Teilethiken. Diese Kritik beinhaltet zwei Aspekte: Auf der einen Seite erscheint eine rein deskriptive Umschreibung und Aufzählung verschiedener kulturspezifischer (Minimal-)Ethiken als ungenügende Grundlage, um gestützt darauf eine universell gültige Ethik zu begründen. Auf der anderen Seite verändern sich die kulturspezifischen ethischen Vorstellungen und die darauf basierenden Normen laufend. Eine universelle Ethik muss deshalb als kommunikativer Prozess konzipiert werden, der nach vorne offen und nie abgeschlossen ist5 – sozusagen als Work in Progress.

Aus meiner Sicht sind die ersten beiden Kritikpunkte kaum zu vermeiden, aber sie sind auch nicht entscheidend: Erstens geschieht jede wissenschaftliche wie populäre Aussage vor dem Hintergrund eines weltanschaulich-semantischen Rahmens – letztlich ist keine ethisch-moralische Aussage ohne entsprechende anthropologisch-sprachlich-philosophische Einbettung möglich – ausser vielleicht für den lieben Gott. Wichtig ist, dass der eigene semantische Bezugsrahmen mitreflektiert wird und dass versucht wird, diesen Rahmen zu erweitern. Mehr kann man wohl aus einer interkulturellen Perspektive nicht erwarten. Zweitens sind wissenschaftliche Aussagen immer durch eine bestimmte Abstraktheit und Verallgemeinerung gekennzeichnet. Deshalb besteht bei wissenschaftlichen Erkenntnissen immer auch eine gewisse Gefahr des Reduktionismus. Aber auch hier gilt: Die Art der Reduktion und der Verallgemeinerung muss reflektiert, begründet und plausibel sein, und das inhaltliche Ergebnis darf nicht willkürlich oder beliebig sein. Entscheidend bleibt deshalb der dritte Kritikpunkt: Eine globale, universelle Ethik kann nur als permanenter Kommunikationsprozess, nach vorne offen, zugänglich für alle und mit entsprechender institutioneller Abstützung gelingen.

Aus dieser Sicht erscheint der Versuch von Lukoschek (2013:71ff.) richtig angelegt, zwei Religionsgemeinschaften – in diesem Fall den Buddhismus und das Christentum – aus einer dynamischen Perspektive, nämlich der Befreiungstheologie, zu vergleichen. Dabei geht es darum, einen religions- oder weltanschauungsübergreifenden Diskurs über zentrale Themen zu führen – etwa über die Bedeutung von Frieden, eine demokratische Weltregierung oder eine Weltverfassung mit für alle Menschen verbindlichen Grundrechten.

Theologie der Befreiung als Ansatz?

Gustavo Gutiérrez (1992:68ff.) hat drei Aufgaben der Theologie formuliert: Erstens Theologie als Weisheitslehre, zweitens Theologie als Wissensgebäude und drittens Theologie als kritische Reflexion geschichtlicher Praxis (vgl. auch Lukoschek 2013:127). Dabei zielte die Befreiungstheologie darauf ab, den dritten Punkt wieder stärker ins Bewusstsein zu rufen: „Gegenstand der kritischen Reflexion sind sowohl Theologie und Kirche selbst, einschliesslich ihrer Grundlagen, als auch die gesellschaftlichen, d.h. wirtschaftlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen des Lebens der christlichen Gemeinde“ (Lukoschek 2013:127). Entsprechend konzentrierte sich die Befreiungstheologie darauf, die Vorstellung der Erlösung auf die kirchliche und gesellschaftliche Praxis hin zu hinterfragen und zu konkretisieren. „Denn Heil ist nicht mehr etwas ‚Überirdisches‘, dem gegenüber das gegenwärtige Leben nur eine Prüfung wäre. Rettung als Gemeinschaft der Menschen mit Gott und Gemeinschaft der Menschen untereinander ist etwas, das schon jetzt real und konkret wirksam wird, die gesamte menschliche Seinsweise umgreift, verwandelt und in Christus zu ihrer Vollendung führt“ (Gutiérrez 1992:208; vgl. auch Lukoschek 2013:128). Entscheidend für die Befreiungstheologie ist der Zusammenhang der – sozialen, politischen und wirtschaftlichen – Befreiung und des Heilsanspruchs6: „Wer von Theologie der Befreiung spricht, hat eine Antwort auf die Frage zu suchen: ‚Welche Beziehung besteht zwischen der Erlösung und dem historischen Prozess der Befreiung des Menschen?‘“ (Gutiérrez 1992:109; vgl. auch Lukoschek 2013:128).

Dabei ist im Sinne von Gutiérrez (1992:242) „jeder Kampf gegen Ausbeutung und Entfremdung … im umfassenden Zusammenhang der einen Geschichte ein Versuch, den Egoismus als Negation der Liebe zu bannen. Deshalb wirkt jedes Bemühen um eine gerechte Gesellschaft befreiend … und ist schon Erlösungstat, wenn auch nicht Erlösung im umfassenden Sinn“.

Die von der Befreiungstheologie überarbeitete und erneuerte Erlösungslehre enthält – im Sinne von Gutiérrez (1992:241f.) – drei verschiedene Dimensionen von „Befreiung“: Erstens die Ebene wirtschaftlicher, sozialer und politischer Befreiung, zweitens die Schaffung eines neuen Menschen in solidarischer Gemeinschaft und drittens die Befreiung von der Sünde durch die Schaffung einer neuen Gemeinschaft mit Gott und anderen Menschen7 (vgl. Lukoschek 2013:142). Dabei ist die Idee der „Königsherrschaft Gottes“ und die Befreiung durch Jesus Christus von der Sünde sozusagen die Grundlage für die Schaffung eines neuen, solidarischen Menschen. In ihrer ersten Phase war in der Befreiungstheologie vor allem die Ebene der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Befreiung stark von der Dependencia-Theorie8 geprägt – und von den Erklärungen der Lateinamerikanischen Bischofskonferenz von Medellín 1968 und Puebla 1979 (vgl. Lukoschek 2013:130).

Theologisch gibt es nach Gutiérrez (1992:349ff., vgl. auch Lukoschek 2013:151) eine dreifache Begründung für die von der Befreiungstheologie vertretene „Option für die Armen“: Erstens widerspreche Armut dem Grundanliegen der mosaischen Religion, weil die jüdische Religion selbst aus dem von Mose angeführten Akt der Befreiung aus der Sklaverei entstanden sei (vgl. Ex 22,20; 23,9; Dtn 10,19 und Lev 19,34); zweitens stehe Armut im Gegensatz zum Auftrag der Genesis (Gen. 1,26 und 2,15), wonach der Mensch als Abbild Gottes aufgefordert sei, gestalterische Arbeit in der Natur zu leisten und in schöpferische Beziehung zu anderen Menschen zu treten; und drittens – als wichtigster Punkt – sei die Unterdrückung der Armen eine Verletzung von Gottes Gerechtigkeit und eine Schädigung des Menschen als Sakrament Gottes (vgl. Lukoschek 2013:151).

Von diesem Anspruch der Befreiung her steht die Befreiungstheologie selbstredend dem marxistischen Freiheitsansatz nahe, wie auch Gutiérrez (1992:75, vgl. auch Lukoschek 2013:131 ) selbst nicht verschweigt: „In der Tat befindet sich die zeitgenössische Theologie in einer unumgänglichen und fruchtbaren Konfrontation mit dem Marxismus. Ihm ist es auch zum grossen Teil zu verdanken, dass das theologische Denken im Rückgriff auf seine eigenen Quellen sich auf die Frage nach dem Sinn der Umgestaltung der Welt und der Tätigkeit des Menschen in der Geschichte besinnt“. Diese Nähe zum marxistischen Denken hat denn auch die Glaubenskongregation veranlasst, die Befreiungstheologie vehement zu verurteilen9 und ihr „totalisierenden Charakter“ (Kongregation für Glaubenslehre 1984:X,2) zuzuschreiben, mit dem gleichzeitigen Hinweis, dass ein Dialog mit der Befreiungstheologie nicht möglich sei (vgl. Kongregation für Glaubenslehre 1984:X,3). Ausserdem wurde der Befreiungstheologie vorgeworfen, anstelle der Volkskirche eine „Klassenkirche“ aufbauen zu wollen (vgl. Kongregation für Glaubenslehre 1984:IX,12) und die Eucharistie in eine „Feier des Klassenkampfs“ (Kongregation für Glaubenslehre 1984:IX,1) umwandeln zu wollen. Entweder ist das Ausdruck eines grundsätzlichen Missverständnisses oder eine böswillige Unterstellung an die Befreiungstheologie. Doch sind die beiden von der Römischen Glaubenskongregation an der Befreiungstheologie kritisierten Punkte, nämlich „unkritische Anleihen bei der marxistischen Ideologie und der Rückgriff auf die Thesen einer vom Rationalismus geprägten biblischen Hermeneutik“ (Kongregation für Glaubenslehre 1984:VI,10) tatsächlich Schwächen? Sind sie nicht vielmehr eine grosse Ressource für eine interreligiöse Auseinandersetzung mit Fragen der Armut und Existenzsicherung? Eine Stärke des Marxismus war immer seine Kritik der sozialen Ungleichheit. Und was die „Hermeneutik des Rationalismus“ anbetrifft, ist das im Grunde eher eine Stärke als eine Schwäche – es sei denn, man liest die Bibel aus dem Blickwinkel einer engen, normativen Glaubensethik.

Im Zusammenhang mit der Befreiungstheologie stellen sich zwei Fragen: Erstens: Inwieweit ist das theologische Befreiungskonzept geeignet, die Dichotomie zwischen Diesseits und Jenseits zu überwinden, welche nicht nur das christliche Denken, sondern auch andere religiöse Traditionen – wie etwa den Islam – über Jahrhunderte hinweg gelähmt und zu politischem Konservativismus geführt hat? Zweitens: Lässt sich das befreiungstheologische Konzept des Heils und der zu errichtenden Heilsordnung als historisch-sozial-politisch gedachte Befreiung interreligiös denken und transreligiös umsetzen?

In Bezug auf den ersten Punkt – der Trennung von Diesseits und Jenseits – ist zu sagen, dass alles davon abhängt, wie „Befreiung“ verstanden wird, und wer von wem (wovon), oder genauer zu wem (wozu) befreit werden soll. Wenn damit die Befreiung von Machtabhängigkeit, Diskriminierung, Ausbeutung und Armut in dieser Welt und Befreiung zu ganzheitlicher geistig-spiritueller Entwicklung sowohl der einzelnen Menschen als auch der Menschheit als Ganzes gemeint ist, kann