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Arthur Conan Doyles "Sämtliche Sherlock Holmes-Romane" versammelt die faszinierendsten Geschichten des berühmtesten Detektivs der Literatur. Durch seine meisterhafte Erzählweise entfaltet Doyle ein komplexes Netz aus Intrigen, Verbrechen und psychologischer Scharfsinnigkeit. Der literarische Stil ist geprägt von einer präzisen Sprache, die sowohl Spannung als auch eine tiefgehende Charakterentwicklung ermöglicht. Doyles Werke, entstanden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, sind nicht nur Schlüsseltexte der Kriminalliteratur, sondern reflektieren auch die gesellschaftlichen Umbrüche ihrer Zeit, wie die Industrialisierung und die Rolle der Wissenschaft im Viktorianischen Zeitalter. Arthur Conan Doyle, ein Schotte mit medizinischem Hintergrund, entwickelte die Figur des Sherlock Holmes inspiriert von seinem eigenen Lehrer, einem Pathologen. Doyles Interesse an Kriminalpsychologie und seinen Erfahrungen im medizinischen Bereich flossen in die Entwicklung von Holmes als rationalem und analytischem Denker ein. Diese Synthese aus Leidenschaft für Wissenschaft und literarischem Talent ermöglicht es Doyle, Leser in eine Welt voller Rätsel und scharfsinniger Analysen zu entführen. Liebhaber von Kriminalliteratur und allen, die den menschlichen Verstand der Herausforderungen gegenüberstehen sehen möchten, werden von denne Geschichten begeistert sein. Doyles "Sämtliche Sherlock Holmes-Romane" sind nicht nur fesselnde Lektüre, sondern auch ein bedeutendes kulturelles Erbe, das die zeitlose Faszination für Detektivgeschichten verkörpert. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Die Autorenbiografie hebt persönliche Meilensteine und literarische Einflüsse hervor, die das gesamte Schaffen prägen. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Diese Ausgabe versammelt unter dem Titel Sämtliche Sherlock Holmes-Romane die vier vollständig überlieferten Romane von Arthur Conan Doyle: Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot, Das Zeichen der Vier, Der Hund von Baskerville und Das Tal des Grauens. Sie verfolgt den Zweck, den Roman-Kosmos um den berühmten beratenden Detektiv in seiner geschlossenen Form zugänglich zu machen und in der Spannweite seiner Themen, Schauplätze und erzählerischen Verfahren erfahrbar zu machen. Damit wird ein Kernbereich des Holmes-Kanons zusammengeführt, der sich in Aufbau, Umfang und dramaturgischer Anlage deutlich von den zahlreichen kürzeren Erzählungen abhebt und eigene Lektüreimpulse setzt.
Die Romane entstanden im Umfeld des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts und sind in eine Welt rasanter technischer, gesellschaftlicher und städtischer Umbrüche eingebettet. Sie spiegeln eine Epoche, in der wissenschaftliche Verfahren, öffentliche Medien und urbane Anonymität neue Formen von Wahrnehmung und Aufklärung hervorbrachten. Die anhaltende Faszination erklärt sich nicht nur aus den Rätseln, sondern ebenso aus der poetischen Verdichtung dieser Zeitstimmung: aus Straßen, Clubs und Vorstädten, aus Reisen und Rückzugsorten, in denen Vernunft, Gewohnheit, Aberglaube und Interesse miteinander ringen. So verbinden die Romane den Reiz strenger Logik mit der Atmosphäre literarischer Weltgestaltung.
In dieser Sammlung stehen ausschließlich Romane – keine Erzählungen, Gedichte, Essays oder Briefe. Gerade diese Konzentration schärft den Blick dafür, wie Conan Doyle auf größerer Strecke Figuren, Motive und Settings entfaltet. Wo die kürzeren Holmes-Geschichten oft auf eine singuläre Konstellation zulaufen, entwickeln die Romane weit gespannte Handlungsbögen, verschachtelte Hintergründe und eine ausgeprägte dramaturgische Symmetrie. Sie zeigen, wie die Gattung des Detektivromans mit Elementen des Abenteuer-, Reise- und Schauerromans verknüpft werden kann, ohne die analytische Präzision preiszugeben, die Sherlock Holmes als literarische Figur auszeichnet.
Zentral ist die Partnerschaft zwischen Sherlock Holmes, dem beratenden Detektiv, und Dr. John H. Watson, dessen Stimme den Leserinnen und Lesern in den Romanen überwiegend den Zugang eröffnet. Der Kontrast von kühler Deduktion und geerdeter Beobachtung erzeugt Spannung, Maß und Menschlichkeit. Watson ordnet, protokolliert und reflektiert; Holmes demonstriert Methode, nimmt Spuren auf und setzt disparate Indizien zu einem sinnhaften Bild zusammen. Diese doppelperspektivische Anlage verleiht den Romanen Klarheit und Dynamik: Sie führt anhand von Indizien, Dialogen und Milieustudien zur Lösung, wahrt aber die narrative Distanz, die Staunen und Prüfung gleichermaßen zulässt.
Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot eröffnet die Romanfolge mit der Begegnung von Holmes und Watson und dem ersten gemeinsamen Fall. Aus einer rätselhaften Todesszene erwächst eine Untersuchung, die Londoner Schauplätze, polizeiliche Routinen und unkonventionelle Beobachtungsmethoden miteinander verschränkt. Der Roman etabliert Grundmuster des Holmes-Kosmos: die akribische Lektüre von Spuren, die methodische Befragung von Zeuginnen und Zeugen, das Spiel mit falschen Fährten und die Idee, dass im scheinbar Belanglosen das Entscheidende verborgen liegt. Zugleich markiert er den Ton einer Partnerschaft, die Intellekt und Erfahrung produktiv verbindet.
Das Zeichen der Vier verdichtet den Detektivroman zu einer Erzählung von Verpflichtungen, Geheimnissen und Loyalitäten. Aus dem Ersuchen einer jungen Frau entwickelt sich ein Geflecht aus Versprechen, Vermächtnissen und Bedrohungen. Der Fall verbindet intime Räume mit weiträumigen Verstrickungen und mischt nüchterne Ermittlungsschritte mit einem Hauch des Exotischen, der die globalen Verbindungen des Zeitalters spiegelt. Prägnant zeigt sich hier, wie Conan Doyle Atmosphäre und Logik austariert: Jede Beobachtung dient der Aufklärung, zugleich erweitert jedes Bild die Welt, in der die Personen handeln und erinnern, hoffen und irren.
Der Hund von Baskerville führt die Ermittler – und mit ihnen die Leserschaft – in eine Landschaft, die zu eigenständiger Figur wird. Ein altes Familiendossier, eine unheimliche Überlieferung und die Weite der Moore kontrastieren mit dem methodischen Zugriff der Aufklärungsarbeit. Das Spannungsfeld von Aberglaube und Rationalität strukturiert den Roman und lässt die Frage nach Ursache und Wirkung umso dringlicher werden. Indem ein großer Teil der Handlung fern der Londoner Gewohnheitsräume spielt, zeigt sich, wie flexibel Conan Doyle seine Mittel einsetzt, ohne das Prinzip der nachvollziehbaren, schrittweisen Erkenntnis preiszugeben.
Das Tal des Grauens beginnt mit einem Verbrechen in einem abgelegenen Herrenhaus und entfaltet daraus ein vielschichtiges Panorama von Identitäten, Rollen und Verhältnissen. Der Roman arbeitet mit Kontrasten zwischen unterschiedlichen Milieus und Erzählregistern und zeigt, wie Vergangenheit und Gegenwart in der Logik eines Falls ineinandergreifen können. Dabei bleibt die leitende Frage stets dieselbe: Welche Spur ist belastbar, welches Detail ist bedeutungstragend, und wie fügt sich beides zu einer stimmigen Erklärung? So wird aus der Einzelbeobachtung ein kohärentes Bild, das die Romankonstruktion trägt.
Stilistisch zeichnen sich die Romane durch präzise Szenenführung, ökonomische Dialoge und eine auffallende Ökonomie der Zeichen aus. Was benannt wird, hat Funktion; was wiederkehrt, gewinnt Gewicht. Conan Doyle dosiert Hinweise so, dass die Lesenden mitdenken können, ohne die Auflösung vorwegzunehmen. Beschreibungen dienen nicht bloß dem Kolorit, sondern sind Träger von Information und Stimmung. Dabei wechseln konzentrierte Ermittlungssequenzen mit ruhigen Passagen der Rekonstruktion, in denen Hypothesen geprüft, Varianten erwogen und Möglichkeiten verworfen werden. Diese dramaturgische Atmung macht die Romane zugleich klar, anregend und erinnerbar.
Verbindende Themen durchziehen alle vier Bücher: die Vorrangstellung von Beobachtung und Schlussfolgerung, die Frage nach Wahrheit inmitten von Täuschung, das Verhältnis von individueller Handlungsmacht zu sozialen Bedingungen. Moderne Verfahren – von Medizin bis Methodik – treffen auf alte Narrative von Schuld, Ehre und Angst. Der moralische Akzent bleibt dabei nüchtern: Aufklärung heißt nicht Sentimentalität, sondern das geduldige Ordnen des Gegebenen. In dieser Haltung wird der Raum eröffnet, in dem Mitgefühl und Gerechtigkeit nicht Gegensätze sind, sondern Folgen einer sorgfältigen, prüfenden und verantwortlichen Betrachtung.
Als Gesamtwerk haben die Romane weit über ihr Entstehungsumfeld hinaus gewirkt. Sie prägten Figurenmuster, Konstellationen und Erzählrhythmen des Detektivgenres und beförderten die Idee einer erkennbaren, durch Hinweise zugänglichen Welt. Zugleich ließen sie Raum für Ambivalenz: für die Überraschung, dass Motive vielschichtig sind und Gewissheiten sich als vorläufig erweisen. Adaptionen in unterschiedlichen Medien bezeugen die Vitalität dieser Stoffe. Doch ihre bleibende Stärke liegt im Text selbst: in der Kombination aus gedanklicher Klarheit, erzählerischer Disziplin und der Kunst, das Außerordentliche im Alltäglichen sichtbar zu machen.
Die vorliegende Zusammenstellung verfolgt keinen kommentierenden Überbau, sondern will eine verlässliche Lesefläche bieten, auf der Kontinuitäten und Unterschiede innerhalb der vier Romane für sich sprechen. Wer die Bücher in Entstehungs- oder in erzählerischer Reihenfolge liest, wird Entwicklungslinien und Variationen gleichermaßen erkennen. Ebenso sind sie einzeln zugänglich, ohne dass Verständnislücken entstehen. In jedem Fall entsteht ein Panorama von Fällen, Räumen und Stimmen, in dem sich Methode und Vorstellungskraft wechselseitig schärfen. So erweist sich die Sammlung als Einladung zur konzentrierten, genussvollen und wiederholten Lektüre.
Arthur Conan Doyle, 1859 in Edinburgh geboren und 1930 in Sussex verstorben, war Arzt, Romancier und einer der prägenden Architekten der modernen Detektiverzählung. Unvergänglichen Ruhm erlangte er mit der Figur Sherlock Holmes, deren literarisches Fundament in vier Romanen liegt: Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot, Das Zeichen der Vier, Der Hund von Baskerville und Das Tal des Grauens. Diese Werke verbanden empirische Beobachtung, urbane Moderne und psychologische Präzision zu einer Erzählform, die sich rasch über Zeitschriften und Buchausgaben verbreitete. In ihnen gewann die Idee des rationalen Ermittlers Maß und Gestalt und beeinflusste nachhaltig Kriminalliteratur, Forensik und populäre Kultur.
Die vier Romane markieren nicht nur Stationen einer Karriere, sondern auch Wegmarken einer Gattung. Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot führte Holmes und Watson ein und verknüpfte ein Londoner Verbrechen mit einer fernliegenden Vorgeschichte. Das Zeichen der Vier vertiefte Methode und Beziehung der Protagonisten vor imperialer Kulisse. Der Hund von Baskerville brachte die Reihe mit einer meisterhaften Synthese aus Rationalismus und Schauertradition auf einen Höhepunkt. Das Tal des Grauens zeigte schließlich strukturelle Kühnheit und gesellschaftliche Weite. Zusammengenommen bilden sie eine verdichtete Chronik spätviktorianischer und edwardianischer Erfahrungen, gefiltert durch die Linse deduktiver Vernunft.
Doyle besuchte eine strenge Jesuitenschule und studierte anschließend Medizin an der Universität Edinburgh. Dort prägte ihn besonders der Chirurg Joseph Bell, dessen demonstrative Schlussfolgerungen aus kleinsten Details später zum Modell für Holmes’ analytische Vorgehensweise wurden. Die medizinische Ausbildung vermittelte ihm eine auf Beobachtung, Evidenz und Methode gegründete Denkweise. Sie lieferte das intellektuelle Gerüst für die nüchterne, präzise Sprache seiner Romane und für die wiederkehrenden Motive von Spurensicherung, Laboranalyse und kontrolliertem Experiment, die in Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot und Das Zeichen der Vier bereits erkennbar sind und im gesamten Holmes-Kanon stilbildend wirken.
Prägende Erfahrungen sammelte Doyle auch außerhalb des Hörsaals. Reisen als Schiffsarzt und Jahre in der ärztlichen Praxis schärften seinen Blick für Milieus, Dialekte und soziale Spannungen, die in den Romanen als glaubwürdige Textur der Großstadt und des Landes erscheinen. Literarisch stand er im Dialog mit Vorläufern detektivischer Vernunft wie Edgar Allan Poe sowie mit erzählerischen Innovationen des viktorianischen Romans. Dieses Spannungsfeld aus Wissenschaftsoptimismus, Moraldiskurs und feuilletonistischer Serialität trug maßgeblich dazu bei, dass Der Hund von Baskerville die Schauertradition rational brach und Das Tal des Grauens gesellschaftliche Gewalt mit kriminalistischer Analyse verschränkte.
Doyles literarischer Durchbruch gelang 1887 mit Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot, dem ersten Roman um Sherlock Holmes und Dr. Watson. Das Werk führte die Doppelstruktur ein, die eine Londoner Ermittlung mit einer weit entfernten Vorgeschichte verbindet. Es etablierte zentrale Elemente der Methode: minutiöse Beobachtung, naturwissenschaftliche Indizien und eine Erzählperspektive, die das Analytische durch Watsons Augen vermittelt. Obwohl die Resonanz zunächst verhalten war, legte der Roman das Fundament für eine Figur, deren Popularität bald Zeitschriften, Bühnen und später Leinwände erobern sollte.
1890 erschien Das Zeichen der Vier. Der Roman verknüpft die Deduktion mit Themen von Loyalität, Geheimnissen und den Schatten der imperialen Vergangenheit. Neben einer kunstvollen Verbrechensarchitektur vertiefte er die Dynamik zwischen Holmes und Watson und erweiterte die Schauplätze auf ein London voller Nebel, Flüsse und Hinterhöfe. Die Erzählung demonstriert, wie forensische Logik, chemische Spuren und präzise Chronologie zu dramatischer Spannung verschmelzen. Damit befestigte Doyle den Ton seiner Reihe: nüchterne Rationalität, pointierte Milieuzeichnung und die elegante Enthüllung, die erst im Finale das Muster aller Indizien sichtbar macht.
Kurz darauf verankerten Serienerzählungen in einschlägigen Magazinen den Ruhm der Figur und schufen einen Erwartungshorizont, in dem die Romane besondere Akzente setzten. Doyle nutzte die größere Spannweite des Romans, um Konstruktionen zu bauen, die nicht nur einen Fall lösten, sondern auch moralische und soziale Kontexte ausloteten. So wurden die vier Romane zu Bezugspunkten innerhalb eines wachsenden Gesamtwerks, die die Entwicklung des Stils von straffer Kriminaltechnik hin zu atmosphärischer Breite nachvollziehbar machen.
Mit Der Hund von Baskerville kehrte Doyle 1901/02 zu Holmes in Romanlänge zurück. Der Text spielt virtuos mit Aberglauben und wissenschaftlicher Nüchternheit, indem er die Nebel und Moore einer abgeschiedenen Landschaft zum Resonanzraum rationaler Entzauberung macht. Die Komposition nutzt Perspektivwechsel, temporäre Distanzierung und das Changieren zwischen Bedrohung und Analyse, um die Figur des Detektivs als Gegenkraft zum Unheimlichen zu profilieren. Zugleich zeigt der Roman die Reife einer Erzählkunst, die Spannung nicht nur aus der Lösung, sondern aus der methodischen Demonstration des Lösungsweges gewinnt.
Das Tal des Grauens, 1914/15 veröffentlicht, bündelt Doyles strukturelle Experimentierlust. Eine englische Kriminalhandlung wird mit einer weitreichenden, transatlantisch inspirierten Vorgeschichte verschränkt, in der Macht, Loyalität und die Dynamik geheimer Zusammenschlüsse thematisiert werden. Die Schattenfigur einer verbrecherischen Intelligenz erweitert den Horizont der Ermittlung über das Einzelfallhafte hinaus. Der Roman wirkt wie eine Summe doppelter Verfahren: Spiegelung von Tat und Ursprung, Gesellschaftspanorama und analytischer Bericht. Leserinnen und Leser schätzten die erzählerische Kühnheit, während Kritiker die Verbindung von kriminalistischer Genauigkeit und sozialer Tiefenschärfe hervorhoben.
Doyle verband literarische Arbeit mit öffentlichem Engagement. Bekannt sind seine Recherchen zu Fehlurteilen, in denen er – unabhängig von der Fiktion – Verfahren, Indizien und Zeugenaussagen prüfte. In Fällen wie denen von George Edalji oder Oscar Slater setzte er sich mit Hartnäckigkeit für Korrekturen ein und nutzte sein Ansehen, um Missstände im Ermittlungs- und Justizsystem sichtbar zu machen. Diese Haltung spiegelt eine Ethik wider, die auch die Romane prägt: Der Detektiv steht nicht nur für Scharfsinn, sondern für Verantwortlichkeit gegenüber Fakten, für Fairness gegenüber Verdächtigen und für die Überzeugung, dass Wahrheit rekonstruierbar ist.
Nach schweren familiären Verlusten im Umfeld des Ersten Weltkriegs wandte sich Doyle zunehmend dem Spiritismus zu und trat öffentlich für diese Überzeugungen ein. Er sah darin keineswegs einen Gegensatz zu rationaler Prüfung, sondern hoffte, beides zu verbinden – Evidenzsuche und metaphysische Sinnfrage. Dieses Spannungsfeld erhellt rückblickend, warum seine Romane, insbesondere Der Hund von Baskerville, das Wechselspiel von Glauben und Skepsis so produktiv inszenieren, ohne dem Übernatürlichen das Feld zu überlassen. Doyles Auftritte, Schriften und Debatten zeugen von der Energie eines Autors, der gesellschaftliche Auseinandersetzung als Teil seiner intellektuellen Verantwortung verstand.
In seinen späten Jahren blieb Doyle publizistisch aktiv und nahm vielfältige Rollen im öffentlichen Leben wahr. Er starb 1930 in Sussex. Die vier Romane dieser Sammlung bilden bis heute das Herz seines literarischen Erbes: Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot als kühnes Debüt, Das Zeichen der Vier als Vertiefung von Methode und Partnerschaft, Der Hund von Baskerville als atmosphärischer Höhepunkt und Das Tal des Grauens als strukturell ambitionierter Spätling. Aus ihnen erwuchs eine globale Ikone, deren Verfahren Forensik popularisierte, Erzählweisen prägte und unzählige Adaptionen inspirierte. Doyles Name bleibt untrennbar mit der Idee deduktiver Aufklärung verbunden.
Arthur Conan Doyle (1859–1930) verfasste die vier in dieser Sammlung versammelten Romane zwischen 1887 und 1915, also vom späten Viktorianischen in das edwardianische und frühmoderne Großbritannien hinein. London war zu dieser Zeit Hauptstadt eines globalen Imperiums, zugleich Laboratorium urbaner Moderne. Sämtliche Sherlock-Holmes-Romane – von Eine Studie in Scharlachrot bis Das Tal des Grauens – bewegen sich vor diesem Hintergrund zwischen Metropole, Provinz und transatlantischen Schauplätzen. Sie spiegeln eine Gesellschaft, die rasant wuchs, neue Technologien aufnahm und zugleich mit Unsicherheit angesichts Verbrechen, Klassenkonflikten und imperialen Spannungen lebte. Doyle schreibt damit aus einer Epoche beschleunigter Veränderungen, deren Widersprüche die Erzählwelten maßgeblich formen.
Die Gattung des Detektivromans war bei Doyles Debüt bereits vorbereitet. Edgar Allan Poe hatte mit den Dupin-Erzählungen seit 1841 das Muster des analytischen Ermittlers geprägt; Wilkie Collins und Émile Gaboriau entwickelten Spannungs- und Polizeistrukturen weiter. Im späten 19. Jahrhundert professionalisierte sich in Großbritannien zugleich die Kriminalpolizei, während Massenpresse und Leihbibliotheken eine große Leserschaft für Kriminalliteratur schufen. A Study in Scarlet erschien 1887 in einem Weihnachtsheft, Das Zeichen der Vier 1890 in einem transatlantischen Magazin. Solche Publikationsformen machten die neue Figur des wissenschaftlich arbeitenden Privatermittlers populär und verankerten sie in der auflagenstarken Kultur serieller, illustrierter Unterhaltung.
Die Londoner Gegenwart der Romane ist die einer überfüllten Industriestadt mit extremen sozialen Gegensätzen. Migration aus dem Empire, Hafenumschlag und Fabriken ließen ganze Stadtviertel expandieren. Zeitgenössische Debatten über Kriminalität wurden durch spektakuläre Fälle wie die Whitechapel-Morde 1888 angeheizt und von einer sensationshungrigen Presse verbreitet. Die Metropolitan Police existierte seit 1829; nach einem Korruptionsskandal 1877 wurde die Criminal Investigation Department 1878 neu organisiert. In diesem Spannungsfeld aus wachsender Polizeiapparatur und öffentlicher Skepsis konnte der geniale Privatdetektiv als Korrektiv erscheinen – ein Experte, der mit Logik und Beobachtungslust dort klärte, wo Institutionen als schwerfällig wahrgenommen wurden.
Die Romane reagieren auf eine Epoche, die Wissen systematisierte. Fortschritte in Medizin, Chemie und Physik veränderten den Umgang mit Spuren. Die Anthropometrie wurde in den 1880er Jahren als Identifizierungstechnik diskutiert; Francis Galton publizierte 1892 über Fingerabdrücke, und bei Scotland Yard entstand 1901 ein Fingerprint-Büro. Telegraph und Telefon beschleunigten Kommunikation; Fotografie dokumentierte Personen und Tatorte. Solche Entwicklungen prägten die Imagination kriminalistischer Praxis: Der Detektiv als mikroskopierender, messender, experimentierender Fachmann entsprach dem Zeitgeist, der behauptete, das Soziale mittels naturwissenschaftlicher Methoden durchschaubar zu machen. Doyle nutzt diese Autoritätsverschiebung von Intuition hin zu geprüften Befunden als narrative Ressource.
Conan Doyle war Arzt; er studierte in Edinburgh und arbeitete als Schiffsarzt. Häufig wird auf seinen Lehrer Joseph Bell verwiesen, der durch scharfe Beobachtung diagnostizierte und damit als Vorbild für eine methodische Deduktion gelten kann. Diese medizinische Prägung schlägt sich in den Romanen in der Sprache des Experiments, in Fallnotizen und in der nüchternen Beschreibung von Symptomen, Räumen und Gegenständen nieder. Der literarische Ermittler wird in dieser Perspektive zum angewandten Naturforscher des Alltags, dessen Autorität nicht aus Amt, sondern aus Expertise erwächst. Damit korrespondiert die zeitgenössische Aufwertung spezialisierter Wissensberufe in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft.
Die britische Weltpolitik liefert biografische Hintergründe und Motive. Der Zweite Anglo-Afghanische Krieg 1878–1880 war Teil des Great Game zwischen Großbritannien und Russland. Zahlreiche Offiziere und Sanitäter kehrten verwundet nach London zurück; medizinische und militärische Erfahrungen prägten öffentliche Debatten. Die Romane nutzen diese Konstellation, indem sie einem Erzähler die Perspektive eines militärmedizinischen Veteranen geben, dessen Blick auf Körper, Waffen und Gelände geschärft ist. Zugleich öffnet der Verweis auf Zentralasien das Erzähluniversum über die Metropole hinaus und verknüpft lokale Verbrechen mit globalen Bewegungen von Menschen, Gütern und Gerüchten, die das Empire im späten 19. Jahrhundert durchzogen.
Das britische Indien ist ein weiterer Rahmen, gegen den Motive der Romane lesbar werden. Nach dem Aufstand von 1857 ging die Verwaltung der Ostindischen Kompanie 1858 auf die Krone über; die Andamanen wurden als Strafkolonie genutzt. Maritime Routen, Militärdienst und Handelsverbindungen verbanden London eng mit Südasien. In dieser Konstellation erscheinen in der Literatur Güter, Erinnerungen und Figuren, die über Kolonialräume zirkulieren und in der Metropole Spuren hinterlassen. Das Zeichen der Vier greift solche transimperialen Beziehungen auf, ohne als politischer Traktat zu fungieren: Es verweist auf die materiellen und moralischen Verflechtungen, die die imperiale Ordnung hervorgebracht hatte.
Transatlantische Bezüge prägen ebenfalls den kulturellen Horizont. Britische Leserinnen und Leser verfolgten im 19. Jahrhundert Berichte über den nordamerikanischen Westen, über Pioniergesellschaften, Minenstädte und neu entstandene Religionsgemeinschaften. Diese Themen wurden in Reisebeschreibungen und Journalismus häufig dramatisiert und lieferten Stoff für Romane, die zwischen Ethnographie, Abenteuer und Schauer changierten. Eine Studie in Scharlachrot knüpft an solche Diskurse an, indem sie neben dem Londoner Gegenwartsstrang eine Vergangenheitsschicht in amerikanischen Räumen eröffnet. Der Text spiegelt damit weniger einen neutralen Bericht als vielmehr britische Lektüre- und Vorstellungsgewohnheiten über das ferne, sich schnell wandelnde Nordamerika des 19. Jahrhunderts.
Das Tal des Grauens reagiert auf Diskussionen über Arbeit, Gewalt und Organisationsformen in der Industriegesellschaft. In den 1870er Jahren sorgten Konflikte in nordamerikanischen Kohlegebieten, Streiks und der Einsatz privater Sicherheitsagenturen für Schlagzeilen; gedruckte Enthüllungen zirkulierten auch in Großbritannien. Doyle griff diese Stoffe literarisch auf, indem er eine fiktive Geheimgesellschaft und eine Ermittlungsdynamik zwischen offizieller Justiz und privaten Kräften kontrastierte. Ohne den Plot vorwegzunehmen, lässt sich festhalten: Der Roman verhandelt Ängste vor geheimer Kollektivmacht und die Frage, wie Recht in unübersichtlichen, wirtschaftlich angespannten Räumen durchgesetzt werden kann. Er erweitert so das Holmes-Korpus um sozialhistorische Resonanzen jenseits Englands.
Der Hund von Baskerville verlegt das Geschehen in eine englische Moorlandschaft und spielt mit der Spannung zwischen Volksglauben und moderner Methode. Im späten 19. Jahrhundert florierte die Volkskunde; zugleich verbreiteten sich naturwissenschaftliche Erklärungsmodelle. Die Gegenüberstellung eines scheinbar übernatürlichen Rätsels und einer rationalen Auflösung kommentiert diese Wissensordnung. Das ländliche Setting ruft außerdem die Welt des Landadels und die Debatte über Verfall und Kontinuität traditioneller Ordnung auf. Damit wird ein anderer Aspekt der Moderne sichtbar: die Koexistenz modernisierter Infrastrukturen mit abgelegenen Räumen, die in der Imagination als Projektionsflächen für archaische Ängste und soziale Hierarchien dienen.
Die Rezeption der Romane ist ohne die Medienökologie ihrer Zeit kaum denkbar. Illustrierte Magazine und günstige Ausgaben erschlossen breite Leserschichten; serielle Publikation schuf Erwartungshaltungen, Debatten und Leserbriefe. Der Hund von Baskerville und Das Tal des Grauens erschienen zunächst als Fortsetzungsromane, wodurch die Spannung in Echtzeit mit dem öffentlichen Gespräch verschmolz. Illustrationen prägten das visuelle Gedächtnis der Figur ebenso wie spätere Bühnenadaptionen, die ikonische Requisiten verbreiteten. Diese mediale Vielstimmigkeit – Text, Bild, Theater – trug dazu bei, dass die rationalistische Erzählhaltung zugleich populär und vertraut wurde, ohne den Reiz des Geheimnisvollen preiszugeben.
Technische Netzwerke und Organisationsreformen veränderten Ermittlungsarbeit. Eisenbahnlinien, Dampfschiffe und später Motorfahrzeuge beschleunigten Mobilität; die Post, der Telegraph und frühe Telefone ermöglichten schnelle Koordination über große Distanzen. In den Romanwelten werden solche Infrastrukturen selbst zu Handlungsträgern, indem Fristen, Verfolgungen und Alibis von Fahrplänen und Leitungen bestimmt sind. Parallel professionalisierte die Polizei interne Abläufe, richtete Register ein und kooperierte mit Gerichtsmedizinern. Der literarische Detektiv steht an der Schnittstelle von privater Initiative und öffentlichen Ressourcen, nutzt Labortechniken, Bibliotheken und Netzwerke, um Wissensinseln zu verbinden – ein Modell, das dem organisatorischen Selbstverständnis der Zeit entspricht.
Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert waren von Debatten über Geschlechterrollen geprägt. Bildungsreformen, die Ausweitung weiblicher Erwerbstätigkeit und die entstehende Suffragettenbewegung stellten traditionelle Normen in Frage. In den Romanen erscheinen Frauen als Klientinnen, Zeuginnen oder Erbinnen, deren rechtliche Stellung und gesellschaftliche Erwartungen das Handlungstableau strukturieren. Ohne die Handlungsdetails vorwegzunehmen, lässt sich sagen: Konflikte um Vertrauen, Heirat, Eigentum und Selbstbestimmung spiegeln den juristischen und kulturellen Wandel. Der nüchterne Ermittlungsblick rahmt diese Situationen nicht moralisierend, sondern als Teil eines komplexen sozialen Gefüges, in dem individuelle Entscheidungen durch Institutionen und Konventionen gerahmt sind.
Zeitgenössische Diskussionen über Sucht und städtische Laster bilden einen weiteren Resonanzraum. In der Spätphase des 19. Jahrhunderts waren Substanzen wie Kokain und Morphin medizinisch genutzt und legal erhältlich; Opiumkonsum wurde in der Presse oft exotisiert und mit bestimmten Vierteln assoziiert. Medizinische und rechtspolitische Debatten über Gefährdungen und Regulierung gewannen an Fahrt. Die Romane greifen diese Atmosphären auf, indem sie Milieus, Orte und Praktiken schildern, die zwischen Genuss, Krankheit und Kriminalität changieren. Dabei wird keine Sozialanalyse geliefert; doch die Präsenz solcher Motive zeigt, wie eng Fragen individueller Moral mit globalen Handelsströmen und medizinischer Praxis verbunden waren.
Zur Publikationsgeschichte gehören präzise Wegmarken. Eine Studie in Scharlachrot erschien 1887 im Beeton's Christmas Annual, Das Zeichen der Vier 1890 nach einer Redaktionsbegegnung für Lippincott's Magazine in London. Der Hund von Baskerville wurde 1901–1902 in The Strand Magazine vorabgedruckt, Das Tal des Grauens 1914–1915 ebenfalls dort. Doyles Bekanntheit wuchs dadurch enorm; er trat als öffentlicher Intellektueller auf, engagierte sich journalistisch während des Burenkriegs und wurde 1902 geadelt. Diese Sichtbarkeit beeinflusste auch die Lektüre der Romane: Sie galten nicht nur als Unterhaltung, sondern als Beiträge zu einer Debatte über Vernunft, Professionalität und nationale Selbstbeschreibung.
Zeitgenössisch stießen die Romane auf breite Resonanz. Bühnenfassungen, Lesetourneen und Übersetzungen verbreiteten die Figuren international. Die visuellen Schemata des Detektivs – Mantel, Hut, Pfeife – verdichteten sich durch Illustration und Theater zu einer allgemein erkennbaren Chiffre. Nach dem Ersten Weltkrieg prägte die Figur die entstehende Goldene Ära der Detektivliteratur; spätere Autorinnen und Autoren nahmen das Versprechen logischer Aufklärung auf, modifizierten es aber durch Rätselspiele und geschlossene Gesellschaften. In der Rückschau erscheinen Doyles Romane als Scharnier: Sie verbinden die viktorianische Abenteuertradition mit der modernen, regelbewussten Kriminalerzählung, ohne deren soziale Offenheit vollständig zu schließen.
Spätere Deutungen lesen die Sammlung als Kommentar zur eigenen Zeit. Postkoloniale Analysen fragen nach Darstellung und Verdrängung imperialer Gewalt; Wissenschaftsgeschichte untersucht die literarische Dramaturgie von Experiment und Evidenz; Arbeits- und Mediengeschichte rekonstruiert die Verflechtung von Fakt, Fiktion und Öffentlichkeit. Die vier Romane zeigen unterschiedliche Koordinaten der Moderne – Metropole, Kolonie, Provinz, Industriegebiet – und setzen darauf eine einheitliche epistemische Geste: das methodische Ordnen des Chaotischen. Damit sind sie zugleich Produkt und Reflexion ihrer Epoche. Ihre anhaltende Wirkung verdankt sich dieser Doppelrolle, die fortgesetzte Neuinterpretationen erlaubt, ohne den geschichtlichen Ort der Texte zu verwischen.
Die frühen Romane führen Holmes und Watson zusammen und entwickeln aus einer Londoner Spurensuche Fälle, deren Linien in entfernte Zeiten und Räume reichen. In „Späte Rache – Eine Studie in Scharlachrot“ verschränkt ein rätselhafter Tatort eine nüchterne Ermittlung mit einer zweiten, anders gefärbten Erzählhälfte; „Das Zeichen der Vier“ verbindet verschlüsselte Hinweise, eine riskante nächtliche Verfolgung und ein verschüttetes Kolonialabenteuer. Der Ton ist forensisch und zugleich abenteuerlich, getragen von deduktiven Höhepunkten und der sich formierenden Partnerschaft des Erzählers mit dem exzentrischen Detektiv.
„Der Hund von Baskerville“ stellt die Legende eines verfluchten Adelsgeschlechts gegen Holmes’ Skepsis und nutzt das Moor als Bühne für Angst, Täuschung und Beobachtung aus der Distanz. „Das Tal des Grauens“ beginnt mit einem kryptischen Hinweis und einem Herrenhaus-Verbrechen und entfaltet dann in einer großen Rückblende die Wurzeln des Falls in einer brutalen Geheimgesellschaft. Beide Romane spielen mit Perspektiven und Struktur, sind dunkler im Ton und richten den Blick stärker auf Macht, Loyalität und die Grenzen rationaler Kontrolle.
Wiederkehrend sind der Kontrast von Aberglauben und nüchterner Analyse, die Partnerschaft zwischen Holmes und Watson sowie London als logistischer und intellektueller Knotenpunkt gegenüber peripheren Schauplätzen. Stilistisch prägen genaue Beobachtung, pointierte Dialoge und häufig geteilte Erzählarchitekturen die Texte, in denen eine verborgene Vergangenheit das Gegenwartsrätsel erhellt. Über die Sammlung hinweg verschiebt sich der Akzent vom neugierigen, urbanen Forscherdrang zu dunkleren, sozial aufgeladenen Konflikten, ohne den Kern der deduktiven Methode preiszugeben.
Im Jahre 1878 hatte ich mein Doktorexamen an der Londoner Universität bestanden und in Nelley den für Militärärzte vorgeschriebenen medizinischen Kursus durchgemacht. Bald darauf ward ich dem fünften Füsilierregiment Northumberland zugeteilt, welches damals in Indien stand. Bevor ich jedoch an den Ort meiner Bestimmung gelangte, brach der zweite afghanische Krieg aus, und bei meiner Landung in Bombay erfuhr ich, mein Regiment sei bereits durch die Gebirgspässe marschiert und weit in Feindesland vorgedrungen. In Gesellschaft mehrerer Offiziere, die sich in gleicher Lage befanden, folgte ich meinem Corps, erreichte dasselbe glücklich in Kandahar und trat in meine neue Stellung ein.
Der Feldzug, in welchem andere Ehre und Auszeichnungen fanden, brachte mir indessen nur Unglück und Mißerfolg. Gleich in der ersten Schlacht zerschmetterte mir eine Kugel das Schulterblatt und ich wäre sicherlich den grausamen Ghazia in die Hände gefallen, hätte mich nicht Murray, mein treuer Bursche, rasch auf ein Packpferd geworfen und mit eigener Lebensgefahr mit sich geführt, bis wir die britische Schlachtlinie erreichten.
Lange lag ich krank, und erst nachdem ich mit einer großen Anzahl verwundeter Offiziere in das Hospital von Peshawar geschafft worden war, erholte ich mich allmählich von den ausgestandenen Leiden; ich war bereits wieder so weit, daß ich in den Krankensälen umhergehen und auf der Veranda frische Luft schöpfen durfte. Da befiel mich unglücklicherweise ein Entzündungsfieber und zwar mit solcher Heftigkeit, daß man monatelang an meinem Wiederaufkommen zweifelte. Als endlich die Macht der Krankheit gebrochen war und mein Bewußtsein zurückkehrte, befand ich mich in solchem Zustand der Kraftlosigkeit, daß die Aerzte beschlossen, mich ohne Zeitverlust wieder nach England zu schicken. Einen Monat später landete ich mit dem Truppenschiff ›Orontes‹ in Portsmouth; meine Gesundheit war völlig zerrüttet, doch erlaubte mir eine fürsorgliche Regierung, während der nächsten neun Monate den Versuch zu machen, sie wiederherzustellen.
Verwandte besaß ich in England nicht; ich beschloß daher, mich in einem Privathotel einzuquartieren. Mein tägliches Einkommen belief sich auf elf und einen halben Schilling und da ich zuerst nicht sehr haushälterisch damit umging, machten mir meine Finanzen bald große Sorge. Ich sah ein, daß ich entweder aufs Land ziehen oder meine Lebensweise in der Hauptstadt völlig ändern müsse.
Da ich letzteres vorzog, sah ich mich genötigt, das Hotel zu verlassen und mir eine anspruchslosere und weniger kostspielige Wohnung zu suchen.
Während ich noch hiermit beschäftigt war, begegnete ich eines Tages auf der Straße einem mir bekannten Gesicht, ein höchst erfreulicher Anblick für einen einsamen Menschen wie mich in der Riesenstadt London. Ich hatte mit dem jungen Stamford während meiner Studienzeit verkehrt, ohne daß wir einander besonders nahe getreten waren, jetzt aber begrüßte ich ihn mit Entzücken, und auch er schien sich über das Wiedersehen zu freuen. Bald saßen wir in einer nahen Restauration zusammen bei einem Glase Wein und tauschten unsere Erlebnisse aus.
»Was in aller Welt ist denn mit dir geschehen, Watson?« fragte Stamford verwundert, »du siehst braun aus wie eine Nuß und bist so dürr wie eine Bohnenstange.«
Ich gab ihm einen kurzen Abriß meiner Abenteuer und er hörte mir teilnehmend zu.
»Armer Kerl,« sagte er mitleidig, »und was gedenkst du jetzt zu thun?«
»Ich bin auf der Wohnungssuche,« versetzte ich; »es gilt die Aufgabe zu lösen, mir um billigen Preis ein behagliches Quartier zu verschaffen.«
»Wie sonderbar,« rief Stamford; »du bist der zweite Mensch, der heute gegen mich diese Aeußerung thut.«
»Und wer war der erste?«
»Ein Bekannter von mir, der in dem chemischen Laboratorium des Hospitals arbeitet. Er klagte mir diesen Morgen sein Leid, daß er niemand finden könne, um mit ihm gemeinsam ein sehr preiswürdiges, hübsches Quartier zu mieten, das für seinen Beutel allein zu kostspielig sei.«
»Meiner Treu,« rief ich, »wenn er Lust hat, die Kosten der Wohnung zu teilen, so bin ich sein Mann. Ich würde weit lieber mit einem Gefährten zusammenziehen, statt ganz allein zu hausen.«
Stamford sah mich über sein Weinglas hinweg mit bedeutsamen Blicken an. »Wer weiß, ob du Sherlock Holmes zum Stubengenossen wählen würdest, wenn du ihn kenntest,« sagte er.
»Ist denn irgend etwas an ihm auszusetzen?«
»Das will ich nicht behaupten. Er hat in mancher Hinsicht eigentümliche Anschauungen und schwärmt für die Wissenschaft. Im übrigen ist er ein höchst anständiger Mensch, soviel ich weiß.«
»Ein Mediziner vermutlich?«
»Nein – ich habe keine Ahnung, was er eigentlich treibt. In der Anatomie ist er gut bewandert und ein vorzüglicher Chemiker. Aber meines Wissens hat er nie regelrecht Medizin studiert. Er ist überhaupt ziemlich überspannt und unmethodisch in seinen Studien, doch besitzt er auf verschiedenen Gebieten eine Menge ungewöhnlicher Kenntnisse, um die ihn mancher Professor beneiden könnte.«
»Hast du ihn nie nach seinem Beruf gefragt?«
»Nein – er ist kein Mensch, der sich leicht ausfragen läßt; doch kann er zuweilen sehr mitteilsam sein, wenn ihm gerade danach zu Mute ist.«
»Ich möchte ihn doch kennen lernen,« sagte ich; »ein Mensch, der sich mit Vorliebe in seine Studien vertieft, wäre für mich der angenehmste Gefährte. Bei meinem schwachen Gesundheitszustand kann ich weder Lärm noch Aufregung vertragen. Ich habe beides in Afghanistan so reichlich genossen, daß ich für meine Lebenszeit genug daran habe. Bitte, sage mir, wo ich deinen Freund treffen kann.«
»Vermutlich ist er jetzt noch im Laboratorium. Manchmal läßt er sich dort wochenlang nicht sehen und zu anderen Zeiten bleibt er wieder von früh bis spät bei der Arbeit. Wenn es dir recht ist, suchen wir ihn zusammen auf.«
Ich willigte mit Freuden ein und wir machten uns sogleich auf den Weg nach dem Hospital.
»Du darfst mir aber keine Vorwürfe machen, wenn ihr nicht miteinander auskommt,« sagte Stamford, als wir in die Droschke stiegen; »ich möchte dir weder zu-noch abraten.«
»Wenn wir nicht zu einander passen, können wir uns ja leicht wieder trennen. Deine Vorsicht scheint mir fast übertrieben, es muß noch etwas anderes dahinter stecken. Heraus mit der Sprache, was hast du gegen den Menschen einzuwenden?«
»Nichts, gar nichts; er ist nur nach meinem Geschmack seiner Wissenschaft allzusehr ergeben. – Das grenzt schon an Gefühllosigkeit. Ich halte es nicht für undenkbar, daß er einem guten Freunde eine Priese des neuesten vegetabilischen Alkaloids eingeben würde – nicht etwa aus Bosheit, nein, aus Forschungstrieb – um die Wirkung genau zu beobachten. Ebenso gern würde er freilich die Probe an sich selber machen, die Gerechtigkeit muß man ihm widerfahren lassen. Ueberhaupt ist Klarheit und Genauigkeit des Wissens seine größte Leidenschaft; aber zu welchem Zweck er alle seine Studien betreibt, weiß der liebe Himmel.«
Vor dem Hospital angekommen, stiegen wir aus, gingen ein Gäßchen hinunter und traten durch eine Thür in den Nebenflügel des weitläufigen Gebäudes. Hier war mir alles wohl bekannt und ich brauchte keinen Führer mehr. Es ging die kahle Steintreppe hinauf, durch den langen, weißgetünchten Korridor, mit den Thüren auf beiden Seiten, an den sich der niedrige Bogengang anschloß, welcher nach dem chemischen Laboratorium führte.
In dem großen Saal, den wir betraten, waren sämtliche Tische mit Retorten, Reagensgläsern und kleinen Weingeistlampen besetzt, während rings an den Wänden und überhaupt, wohin man blickte, Flaschen von allen Größen und Formen umherstanden. Wir dachten zuerst, der Raum sei leer, bis wir an dem andern Ende einen jungen Mann gewahrten, der, in seine Beobachtungen versunken, über einen Tisch gebeugt dasaß. Beim Schall unserer Fußtritte blickte er von seinem Experiment aus und sprang mit einem Freudenruf in die Höhe. »Viktoria, Viktoria,« jubelte er, und kam uns, mit der Retorte in der Hand, entgegen. »Ich habe das Reagens gefunden, das sich mit Hämoglobin zu einem Niederschlag verbindet und sonst mit keinem Stoff.«
Er sah so glückstrahlend aus, als hätte er eine Goldmine entdeckt.
»Mein Freund, Doktor Watson – Herr Sherlock Holmes,« sagte Stamford uns einander vorstellend.
»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen,« erwiderte Holmes in herzlichem Ton und mit kräftigem Händedruck. »Sie kommen aus Afghanistan, wie ich sehe[3q].«
Ich blickte ihn verwundert an. »Wieso wissen Sie denn das?«
»O, das thut nichts zur Sache,« rief er, sich vergnügt die Hände reibend; »ich denke jetzt nur an Hämoglobin. Sicherlich werden Sie die Tragweite meiner Erfindung begreifen.«
»Es mag wohl als chemisches Experiment sehr interessant sein, aber für die Praxis –«
»Gerade in der Praxis ist es von größter Wichtigkeit für die Gerichtschemie, weil es dazu dient, das etwaige Vorhandensein von Blutflecken zu beweisen. – Bitte, kommen Sie doch einmal her.« In seinem Eifer ergriff er meinen Rockärmel und zog mich nach dem Tische hin, an welchem er experimentiert hatte. »Wir müssen etwas frisches Blut haben,« sagte er und stach sich mit einer großen Stopfnadel in den Finger, worauf er das herabtropfende Blut in einem Saugröhrchen auffing. »Jetzt mische ich diese kleine Blutmenge mit einem Liter Wasser – das Verhältnis ist etwa wie eins zu einer Million – und die Flüssigkeit sieht ganz aus wie reines Wasser. Trotzdem wird sich, denke ich, die gewünschte Reaktion herstellen lassen.« Er hatte, während er sprach, einige weiße Kristalle in das Gefäß geworfen und goß jetzt noch mehrere Tropfen einer durchsichtigen Flüssigkeit hinzu. Sofort nahm das Wasser eine dunkle Färbung an und ein bräunlicher Niederschlag erschien auf dem Boden des Glases.
»Sehen Sie,« rief er und klatschte in die Hände, wie ein Kind vor Freude über ein neues Spielzeug. »Was sagen Sie dazu?«
»Es scheint mir ein sehr gelungenes Experiment.«
»Wundervoll, wundervoll! Die alte Methode, die Probe mit Guajacum anzustellen, war sehr umständlich und unsicher, die mikroskopische Untersuchung der Blutkügelchen aber ist wertlos, sobald die Flecken ein paar Stunden alt sind. Meine Erfindung wird sich dagegen ebenso gut bei altem wie bei frischem Blut bewähren. Wäre sie schon früher gemacht worden, so hätte man Hunderte von Verbrechern zur Rechenschaft ziehen können, die straflos davongekommen sind.«
»Meinen Sie wirklich?«
»Ohne Frage. Bei der Kriminaljustiz dreht sich ja meist alles um diesen einen Punkt. Vielleicht Monate, nachdem die Missethat begangen ist, fällt der Verdacht auf einen Menschen, man untersucht seine Kleider und findet braune Flecke am Rock oder in der Wäsche. Das können Blutspuren sein, aber auch Rostflecke, Obstflecke oder Schmutzflecke. Mancher Sachverständige hat sich darüber schon den Kopf zerbrochen und zwar bloß, weil es an einer zuverlässigen Beweismethode fehlte. Nun man aber das Sherlock Holmessche Mittel besitzt, ist jede Schwierigkeit beseitigt.«
Seine Augen funkelten, während er sprach, er legte die Hand aufs Herz und machte eine feierliche Verbeugung, als sähe er sich im Geist einer Beifall klatschenden Menge gegenüber.
»Da kann man Ihnen ja Glück wünschen,« sagte ich, verwundert über seinen Feuereifer.
»Hätte man die Probe schon letztes Jahr anstellen können,« fuhr er fort, »es wäre dem Mason aus Bradford sicherlich an den Hals gegangen; auch der berüchtigte Müller, sowie Lefevre aus Montpellier und Samson aus New-Orleans wären überführt worden. Ich könnte Ihnen Dutzende von Fällen nennen, bei denen meine Erfindung den Ausschlag gegeben hätte.«
»Sie scheinen ja ein wandelnder Verbrecheralmanach zu sein,« meinte Stamford lachend; »schreiben Sie doch ein Buch über Kriminalstatistik.«
»Das möchte wohl des Lesens wert sein,« erwiderte Holmes, der sich eben ein Pflaster auf den verwundeten Finger klebte. »Ich muß sehr vorsichtig sein,« fügte er erklärend hinzu, »denn ich mache mir viel mit Giften zu schaffen.« Als er die Hand in die Höhe hielt, sah ich, daß sie an vielen Stellen bepflastert war und von scharfen Säuren gefärbt.
»Wir kommen in Geschäften,« sagte Stamford, und schob mir einen dreibeinigen Schemel zum Sitzen hin, während er ebenfalls Platz nahm. »Mein Freund hier sucht eine Wohnung, und da Sie gern mit jemand zusammenziehen möchten, dachte ich, es wäre Ihnen vielleicht beiden geholfen.« Sherlock Holmes ging mit Freuden auf den Vorschlag ein. »Ich habe ein Auge des Wohlgefallens auf ein Quartier in der Baker-Straße geworfen, das vortrefflich für uns passen würde,« sagte er. »Sie haben doch nicht etwa eine Abneigung gegen Tabaksdampf?«
»O nein, ich bin selbst ein starker Raucher.«
»Das trifft sich gut. Ferner habe ich häufig Chemikalien bei mir herumstehen, die ich zu meinen Experimenten brauche. Würde Sie das belästigen?«
»Durchaus nicht.«
»Warten Sie – was habe ich sonst noch für Fehler? Manchmal bekomme ich Anfälle von Schwermut und thue dann tagelang den Mund nicht auf. Sie müssen mir das nicht übel nehmen. Kümmern Sie sich nur dann gar nicht um mich, und die Anwandlung wird bald vorüber sein. So – nun ist die Reihe an Ihnen, mir Bekenntnisse zu machen. Wenn zwei Menschen zusammen leben wollen, ist es gut, wenn sie im voraus wissen, was sie von einander zu erwarten haben.«
Ich mußte über diese Generalbeichte lachen. »Ich halte mir einen jungen Bullenbeißer,« gestand ich, »und kann keinen Lärm vertragen, weil meine Nerven angegriffen sind; auch schlafe ich oft in den Tag hinein und bin überhaupt sehr träge. In gesunden Zeiten fröhne ich noch Lastern anderer Art, aber für jetzt sind dies die hauptsächlichsten.«
»Würden Sie unter ›Lärm‹ auch das Spielen auf einer Violine verstehen?« fragte er besorgt.
»Das kommt auf den Musiker an. Gutes Violinspiel ist ein Genuß für Götter – aber schlechtes –«
»Freilich, freilich,« rief er vergnügt. »Nun, ich denke, die Sache ist abgemacht – das heißt, wenn Ihnen das Quartier gefällt.«
»Wann können wir es besichtigen?«
»Holen Sie mich morgen mittag hier ab, dann gehen wir zusammen hin und bringen gleich alles ins reine.«
»Sehr wohl, also Punkt zwölf Uhr,« sagte ich, ihm zum Abschied die Hand schüttelnd.
Wir ließen ihn dort bei seinen Chemikalien und gingen nach meinem Hotel zurück. »Erklären Sie mir nur,« wandte ich mich, plötzlich stehend bleibend, an Stamford, »was ihn auf die Idee gebracht haben kann, daß ich aus Afghanistan komme?«
Mein Gefährte lachte geheimnisvoll. »Schon mancher hat gern wissen wollen, wie Sherlock Holmes gewisse Dinge ausfindig macht. Er besitzt eben eine besondere Gabe.«
»Aha, es steckt ein Rätsel dahinter,« rief ich belustigt; »das ist ja höchst interessant. Ich bin dir sehr verbunden für die neue Bekanntschaft. Das beste Studium für den Menschen bleibt ja doch immer der Mensch.«
»Studiere ihn nur,« entgegnete Stamford. »Du wirst dabei manche Nuß zu knacken finden. Ich wette darauf, er kennt dich bald besser als du ihn.«
An der nächsten Straßenecke verabschiedeten wir uns und ich schlenderte allein nach Hause.
Unsere verabredete Besichtigung des Quartiers in der Bakerstraße Nr. 221b fand am nächsten Tage statt. Es gefiel mir außerordentlich; das große, luftige Wohnzimmer, welches sich an zwei behagliche Schlafstuben anschloß, war freundlich möbliert und sehr hell, da es sein Licht durch zwei große Fenster erhielt. Unter uns beide geteilt, erschien auch der Preis der Wohnung so gering, daß wir sie auf der Stelle mieteten und sogleich einzuziehen beschlossen. Noch am selben Abend ließ ich meine Besitztümer vom Hotel hinüberschaffen und Sherlock Holmes folgte bald darauf mit verschiedenen Koffern und Reisetaschen. In den ersten Tagen waren wir eifrig beschäftigt, auszupacken und unsere Sachen auf das vorteilhafteste unterzubringen. Als dann die Einrichtung fertig war, begannen wir uns in Ruhe an unsere neue Umgebung zu gewöhnen.
Holmes war ein Mensch, mit dem sich leicht leben ließ, von stillem Wesen und regelmäßig in seinen Gewohnheiten. Selten blieb er abends nach zehn Uhr auf, und wenn ich morgens zum Vorschein kam, hatte er immer schon gefrühstückt und war ausgegangen. Den Tag über war er meist im chemischen Laboratorium oder im Seziersaal, zuweilen machte er auch weite Ausflüge, welche ihn bis in die verrufensten Gegenden der Stadt zu führen schienen. Seine Thatkraft war unverwüstlich, so lange die Arbeitswut bei ihm dauerte; von Zeit zu Zeit trat jedoch ein Rückschlag ein, dann lag er den ganzen Tag im Wohnzimmer auf dem Sofa, fast ohne ein Glied zu rühren oder ein Wort zu reden. Dabei nahmen seine Augen einen so traumhaften, verschwommenen Ausdruck an, daß sicher der Verdacht in mir aufgestiegen wäre, er müsse irgend ein Betäubungsmittel gebrauchen, hätte nicht seine Mäßigkeit und Nüchternheit im gewöhnlichen Leben diese Annahme völlig ausgeschlossen.
Nach den ersten Wochen unseres Beisammenseins war mein Interesse für ihn und der Wunsch zu ergründen, welche Zwecke er eigentlich verfolgte, in hohem Maße gestiegen. Schon seine äußere Erscheinung fiel ungemein auf. Er war über sechs Fuß groß und sehr hager; sein scharfkantig vorstehendes Kinn drückte Festigkeit des Charakters aus, der Blick seiner Augen war lebhaft und durchdringend, außer in den schon erwähnten Zeiten völliger Erschlaffung, und eine spitze Habichtsnase gab seinem Gesicht etwas Aufgewecktes und Entschlossenes. Die Hände schonte er nicht, sie trugen fortwährend Spuren von Tinten und Chemikalien, auch hatte ich oft Gelegenheit, seine große Geschicklichkeit bei allen Handgriffen zu bewundern, wenn er mit seinen feinen physikalischen Instrumenten experimentierte.
Kein Wunder, daß meine Neugier in hohem Grade rege war und ich immer wieder versuchte, die strenge Zurückhaltung zu durchbrechen, die er in allem beobachtete, was ihn selbst betraf. Das Geheimnis, welches meinen Gefährten umgab, beschäftigte mich um so mehr, als mein eigenes Leben damals völlig zweck-und ziellos war und wenige Zerstreuungen bot. Mein Gesundheitszustand erlaubte mir nur bei besonders günstiger Witterung auszugehen, und Freunde, die mich hätten besuchen können, um etwas Abwechslung in mein einförmiges Dasein zu bringen, besaß ich nicht.
Daß Holmes nicht Medizin studiere, wußte ich aus seinem eigenen Munde. Auch schien er keinen bestimmten Kursus in irgend einer andern Wissenschaft durchgemacht zu haben, der ihm auf herkömmliche Weise die Eingangspforte in die Gelehrtenwelt geöffnet hätte. Trotzdem verfolgte er gewisse Studien mit wahrem Feuereifer und besaß innerhalb ihrer Grenzen ein so ausgedehntes und umfassendes Wissen, daß er mich oft höchlich dadurch überraschte. – War es denkbar, daß ein Mensch so angestrengt arbeitete, sich so genau zu unterrichten suchte, ohne einen bestimmten Zweck vor Augen zu haben? – Ein planloses Studium ist meist auch oberflächlich, und wer sich den Kopf mit hunderterlei Einzelheiten anfüllt, thut dies schwerlich ohne einen triftigen Grund.
Merkwürdigerweise war seine Unwissenheit auf manchen Gebieten ebenso erstaunlich, als seine Kenntnisse in anderen Fächern. Von Astronomie und Philosophie z.B. wußte er so viel wie gar nichts. Mußte es mir schon auffallen, als er sagte, er habe noch nie etwas von Thomas Carlyle gelesen, so erreichte meine Verwunderung doch den Gipfelpunkt, als sich zufällig herausstellte, daß er sich über unser Sonnensystem ganz falsche Vorstellungen machte. Wie in unserem neunzehnten Jahrhundert irgend ein zivilisiertes menschliches Wesen darüber im unklaren sein kann, daß die Erde sich um die Sonne dreht, war mir völlig unbegreiflich.
»Setzt Sie das in Erstaunen?« fragte er lächelnd. »Nun Sie es mir gesagt haben, werde ich suchen, es so schnell wie möglich wieder zu vergessen.«
»Es zu vergessen?!«
»Ja. – Sehen Sie, meiner Ansicht nach gleicht ein Menschenhirn ursprünglich einer leeren Dachkammer, die man nach eigener Wahl mit Möbeln und Geräten ausstatten kann. Nur ein Thor füllt sie mit allerlei Gerümpel an, wie es ihm gerade in den Weg kommt und versperrt sich damit den Raum, welchen er für die Dinge braucht, die ihm nützlich sind. Ein Verständiger giebt wohl acht, was er in seine Hirnkammer einschachtelt. Er beschränkt sich auf die Werkzeuge, deren er bei der Arbeit bedarf, aber von diesen schafft er sich eine große Auswahl an und hält sie in bester Ordnung. Es ist ein Irrtum, wenn man denkt, die kleine Kammer habe dehnbare Wände und könne sich nach Belieben ausweiten. Glauben Sie mir, es kommt eine Zeit, da wir für alles Neuhinzugelernte etwas von dem vergessen, was wir früher gewußt haben. Daher ist es von höchster Wichtigkeit, daß unsere nützlichen Kenntnisse nicht durch unnützen Ballast verdrängt werden.«
»Aber das Sonnensystem –« warf ich ein.
»Was zum Kuckuck kümmert mich das?« unterbrach er mich ungeduldig. »Sie sagen, die Erde dreht sich um die Sonne. Wenn sie sich um den Mond drehte, so würde das für meine Zwecke nicht den geringsten Unterschied machen.«
Mir schwebte schon die Frage auf der Zunge, was denn eigentlich seine Zwecke wären, doch behielt ich sie für mich, um ihn nicht zu verdrießen. Unser Gespräch gab mir indessen viel zu denken, und ich begann meine Schlüsse daraus zu ziehen. Wenn er sich nur Kenntnisse aneignete, die ihm für seine Arbeit Nutzen brachten, so mußte man ja aus den Zweigen des Wissens, mit denen er am vertrautesten war, auf den Beruf schließen können, dem er sich gewidmet hatte. Ich zählte mir nun alles auf, was er mit besonderer Gründlichkeit studierte, ja, ich machte mir ein Verzeichnis von den einzelnen Fächern. Lächelnd überlas ich, das Schriftstück noch einmal, es lautete:
Geistiger Horizont und Kenntnisse von Sherlock Holmes.
Literatur – Mit Unterschied.
Philosophie – Null.
Astronomie – Null.
Politik – Schwach.
Botanik – Mit Unterschied. Wohl bewandert in allen vegetabilischen Giften, Belladona, Opium u. drgl. Eigentliche Pflanzenkunde – Null.
Geologie – Viel praktische Erfahrung, aber nur auf beschränktem Gebiet. Er unterscheidet sämtliche Erdarten auf den ersten Blick. Von Ausgängen zurückgekehrt, weiß er nach Stoff und Farbe der Schmutzflecke auf seinen bespritzten Beinkleidern die Stadtgegend von London anzugeben, aus welcher die Flecken stammen.
Chemie – Sehr gründlich.
Anatomie – Genau, aber unmethodisch.
Kriminalstatistik – Erstaunlich umfassend. Er scheint alle Einzelheiten jeder Greuelthat, die in unserem Jahrhundert verübt worden ist, zu kennen.
Ist ein guter Violinspieler.
Ein gewandter Boxer und Fechter.
Ein gründlicher Kenner der britischen Gesetze.
Weiter las ich nicht; ich zerriß meine Liste und warf sie ärgerlich ins Feuer, »Wie kann der Mensch behaupten, daß es einen Beruf giebt, in dem sich alle diese verschiedenartigen Kenntnisse verwerten und unter einen Hut bringen lassen,« rief ich. »Es ist vergebliche Mühe, dies Rätsel lösen zu wollen.«
Holmes’ Fertigkeit auf der Violine war groß, aber ganz eigener Art, wie alles bei diesem ungewöhnlichen Menschen. Gelegentlich spielte er mir wohl des Abends von meinen Lieblingsstücken vor, was ich verlangte; war er aber sich selbst überlassen, so ließ er selten eine bekannte Melodie hören. Er lehnte sich dann in den Armstuhl zurück, schloß die Augen und fuhr mechanisch mit dem Bogen über das Instrument, welches auf seinen Knieen lag. Die Töne, die er dann den Saiten entlockte, waren stets der Ausdruck seiner augenblicklichen Empfindung, bald leise und klagend, bald heiter, bald schwärmerisch. Ob er dabei nur den wechselnden Launen seiner Einbildung folgte oder durch die Musik die Gedanken, welche ihn gerade beschäftigten, besser in Fluß bringen wollte, vermochte ich nicht zu sagen. Ich hätte sicherlich gegen seine herzzerreißenden Solovorträge Einspruch erhoben, allein, um mich einigermaßen für die Geduldsprobe zu entschädigen, die er mir auferlegte, endigte er gewöhnlich damit, daß er rasch hintereinander eine ganze Reihe meiner Lieblingsmelodien spielte und das versöhnte mich wieder.
In der ersten Woche bekamen wir keinen Besuch, und ich fing schon an zu glauben, mein Gefährte stehe ebenso allein in der Welt, wie ich selber. Bald stellte sich jedoch heraus, daß er viele Bekannte hatte und zwar in allen Schichten der Gesellschaft. Der kleine Mensch mit dem blaßgelben Gesicht, der einer Ratte ähnelte und mir als Herr Lestrade vorgestellt wurde, kam im Lauf von acht Tagen mindestens drei-oder viermal. Eines Morgens erschien ein elegant gekleidetes junges Mädchen, das über eine halbe Stunde dablieb. Am Nachmittag desselben Tages fand sich ein schäbiger Graubart ein, der wie ein jüdischer Hausierer aussah und hinter dem ein häßliches, altes Weib hereinschlürfte. Bei einer späteren Gelegenheit hatte ein ehrwürdiger Greis eine längere Unterredung mit Holmes und dann wieder ein Eisenbahnbeamter in Uniform. Jedesmal, wenn sich einer dieser merkwürdigen Besucher einstellte, bat mich Holmes, ihm das Wohnzimmer zu überlassen, und ich zog mich in meine Schlafstube zurück. Er entschuldigte sich vielmals, daß er mir diese Unbequemlichkeit auferlege. »Ich muß das Zimmer als Geschäftslokal benützen, die Leute sind meine Klienten.«
Auch diese Gelegenheit, mir Aufschluß über sein Thun zu verschaffen, ließ ich aus Zartgefühl ungenützt vorübergehen. Mir widerstand es, ein Vertrauen zu erzwingen, das er mir nicht von selbst entgegenbrachte, und schließlich bildete ich mir ein, er habe einen bestimmten Grund, mir sein Geschäft zu verheimlichen. Daß ich mich hierin getäuscht hatte, sollte ich indessen bald erfahren.
Am vierten März – der Tag ist mir im Gedächtnis geblieben – war ich früher als gewöhnlich aufgestanden und fand Sherlock Holmes beim Frühstück. Mein Kaffee war noch nicht fertig, und ärgerlich, daß ich warten mußte, nahm ich ein Journal vom Tisch, um mir die Zeit zu vertreiben, während mein Gefährte schweigend seine gerösteten Brotschnitten verzehrte.
Mein Blick fiel zuerst auf einen Artikel, der mit Blaustift angestrichen und ›Das Buch des Lebens‹ betitelt war. Der Verfasser versuchte darin auseinanderzusetzen, daß es für einen aufmerksamen Beobachter von Menschen und Dingen im alltäglichen Leben unendlich viel zu lernen gäbe, wenn er sich nur gewöhnen wollte, alles, was ihm in den Weg käme, genau und eingehend zu prüfen. Die Beweisführung war kurz und bündig, aber die Schlußfolgerungen schienen mir weit hergeholt und ungereimt, das Ganze eine Mischung von scharfsinnigen und abgeschmackten Behauptungen. Ein Mensch, der zu beobachten und zu analysieren verstand, mußte danach befähigt sein, die innersten Gedanken eines jeden zu lesen und zwar mit solcher Sicherheit, daß es dem Uneingeweihten förmlich wie Zauberei vorkam.
»Das Leben ist eine große, gegliederte Kette von Ursachen und Wirkungen[1q],« hieß es weiter; »an einem einzigen Gliede läßt sich das Wesen des Ganzen erkennen. Wie jede andere Wissenschaft, so fordert auch das Studium der Deduktion und Analyse viel Ausdauer und Geduld; ein kurzes Menschendasein genügt nicht, um es darin zur höchsten Vollkommenheit zu bringen. Der Anfänger wird immer gut thun, ehe er sich an die Lösung hoher geistiger und sittlicher Probleme wagt, welche die größten Schwierigkeiten bieten, sich auf einfachere Aufgaben zu beschränken. Zur Hebung möge er zum Beispiel bei der flüchtigen Begegnung mit einem Unbekannten den Versuch machen, auf den ersten Blick die Lebensgeschichte und Berufsart des Menschen zu bestimmen. Das schärft die Beobachtungsgabe und man lernt dabei richtig sehen und unterscheiden. An den Fingernägeln, dem Rockärmel, den Manschetten, den Stiefeln, den Hosenknieen, der Hornhaut an Daumen und Zeigefinger, dem Gesichtsausdruck und vielem andern, läßt sich die tägliche Beschäftigung eines Menschen deutlich erkennen. Daß ein urteilsfähiger Forscher, der die verschiedenen Anzeichen zu vereinigen weiß, nicht zu einem richtigen Schluß gelangen sollte, ist einfach undenkbar.«
»Was für ein thörichtes Gewäsch,« rief ich, und warf das Journal auf den Tisch; »meiner Lebtag ist mir dergleichen nicht vorgekommen.«
Sherlock Holmes sah mich fragend an.
»Sie haben den Artikel angestrichen,« fuhr ich fort, »und müssen ihn also gelesen haben. Daß er geschickt abgefaßt ist, will ich nicht bestreiten. Mich ärgern aber solche widersinnige Theorien, die daheim im Lehnstuhl aufgestellt werden und dann an der Wirklichkeit elend scheitern. Der Herr Verfasser sollte nur einmal in einem Eisenbahnwagen dritter Klasse fahren und probieren, das Geschäft eines jeden seiner Mitreisenden an den Fingern herzuzählen. Ich wette tausend gegen eins, er wäre dazu nicht imstande.«
»Sie würden Ihr Geld verlieren,« erwiderte Holmes ruhig. »Was übrigens den Artikel betrifft, so ist er von mir.«
»Von Ihnen?«
»Ja; ich habe ein besonderes Talent zur Beobachtung und Schlußfolgerung[2q]. Die Theorien, welche ich hier auseinandersetze und die Ihnen so ungereimt erscheinen, finden in der Praxis ihre volle Bestätigung, ja, was noch mehr ist – ich verdiene mir damit mein tägliches Brot.«
»Wie ist das möglich?« fragte ich unwillkürlich.
»Mein Handwerk beruht darauf. Ich bin beratender Geheimpolizist – wenn Sie verstehen, was das heißt – vielleicht bin ich der einzige meiner Art. Es giebt hier in London Detektivs die Menge, welche teils im Dienst der Regierung stehen, teils von Privatpersonen gebraucht werden. Wenn diese Herren nicht mehr aus noch ein wissen, kommen sie zu mir, und ich helfe ihnen auf die richtige Fährte. Sie bringen mir das ganze Beweismaterial, und ich bin meist imstande, ihnen mit Hilfe meiner Kenntnis der Geschichte des Verbrechens den rechten Weg zu weisen. Die Missethaten der Menschen haben im allgemeinen eine starke Familienähnlichkeit unter einander[4q] und wenn man alle Einzelheiten von tausend Verbrechen im Kopfe hat, so müßte es wunderbar zugehen, vermöchte man das tausend und erste nicht zu enträtseln. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Er hat sich kürzlich mit einer Falschmünzergeschichte herumgequält und mich deshalb so häufig aufgesucht.«
»Und die andern Leute?«
»Sie kamen meist auf Veranlassung von Privatleuten. Jeder von ihnen hat irgend eine Sorge auf dem Herzen und holt sich Rat bei mir. Sie erzählen mir ihre Geschichte und hören auf meine erklärenden Bemerkungen und dann streiche ich mein Honorar ein.«
»Können Sie wirklich, während Sie ruhig auf Ihrem Zimmer bleiben, die verwickelten Knoten lösen, welche die andern nicht zu entwirren vermögen, selbst, wenn sie mit eigenen Augen gesehen haben, wo sich alles zugetragen hat?«
»Das habe ich oft gethan; es ist bei mir eine Art innerer Eingebung. Liegt ein besonders schwieriger Fall vor, so besehe ich mir den Schauplatz der That wohl auch einmal selbst. Ich habe so mancherlei Kenntnisse, die mir die Arbeit wesentlich erleichtern. Meine große Uebung in der Schlußfolgerung, wie sie jener Artikel darlegt, ist für mich zum Beispiel von hohem praktischem Wert. Mir ist die Beobachtung zur zweiten Natur geworden. Als ich Ihnen bei unserer ersten Begegnung sagte, Sie kämen aus Afghanistan, schienen Sie sich darüber zu verwundern.«
»Irgend jemand muß es Ihnen gesagt haben.«
»Bewahre; ich wußte es ganz von selbst. Da mein Gedankengang meist sehr schnell ist, kommen mir die Schlüsse in ihrer Reihenfolge kaum zum Bewußtsein. Und doch steht alles in logischem Zusammenhang. Ich folgerte etwa so: Der Herr sieht aus wie ein Mediziner und hat dabei eine soldatische Haltung. Er muß Militärarzt sein. Die dunkle Gesichtsfarbe hat er nicht von Natur, denn am Handgelenk ist seine Haut weiß, also kommt er geradeswegs aus den Tropen. Daß er allerlei Beschwerden durchgemacht hat, zeigen seine abgezehrten Wangen; sein linker Arm muß verwundet gewesen sein, er hält ihn unnatürlich steif. In welcher Gegend der Tropen kann ein englischer Militärarzt sich Wunden und Krankheit geholt haben? – Versteht sich in Afghanistan. – In weniger als einer Sekunde war ich zu dem Schluß gelangt, der Sie in Erstaunen setzte.«
»Wie Sie die Sache erklären, scheint sie sehr einfach. In Büchern liest man wohl von solchen Dingen, aber daß sie in Wirklichkeit vorkämen, hätte ich nicht gedacht.«
»Wenn es nur noch Verbrechen gäbe, zu deren Entdeckung man besonderen Scharfsinn braucht,« fuhr Holmes mißmutig fort. »Ich weiß, es fehlt mir nicht an Begabung, um meinen Namen berühmt zu machen. Kein Mensch auf Erden hat jemals so viel natürliche Anlage für mein Fach besessen oder ein so tiefes Studium darauf verwendet. Aber was nützt mir das alles? Die Missethäter sind sämtlich solche Stümper und ihre Zwecke so durchsichtig, daß der gewöhnliche Polizeibeamte sie mit Leichtigkeit zu ergründen vermag.«
Es verdroß mich, ihn mit solcher Selbstüberschätzung reden zu hören. Um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben, trat ich ans Fenster.
»Was mag wohl der Mann da drüben suchen?« fragte ich, auf einen einfach gekleideten, stämmigen Menschen deutend, welcher sämtliche Häusernummern auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu mustern schien. Er hielt einen großen, blauen Umschlag in der Hand und hatte offenbar eine Botschaft auszurichten.
»Sie meinen den verabschiedeten Marinesergeanten?« fragte Sherlock Holmes.
Ich machte große Augen. »Er hat gut mit seiner Weisheit prahlen,« dachte ich bei mir; »wer will ihm denn beweisen, daß er falsch geraten hat?«
In dem Augenblick hatte der Mann, den wir beobachteten, unsere Nummer erblickt, und kam rasch quer über die Straße gegangen. Gleich darauf klopfte es laut an der Haustüre unten, man vernahm eine tiefe Stimme und dann schwere Schritte auf der Treppe.
Der Mann trat ein.
»Für Herrn Sherlock Holmes,« sagte er, meinem Gefährten den Brief einhändigend.
Ich ergriff die günstige Gelegenheit, um Holmes von seiner Einbildung zu heilen. An die Möglichkeit hatte er wohl nicht gedacht, als er den raschen Schuß ins Blaue that. »Darf ich Sie wohl fragen, was Sie für ein Geschäft betreiben?« redete ich den Boten freundlich an.
»Dienstmann,« lautete die kurze Antwort. »Uniform gerade beim Schneider zum Ausbessern.«
»Und früher waren Sie –« fuhr ich mit einem schlauen Blick auf Holmes fort.
»Sergeant bei der leichten Infanterie der königlichen Marine. – Keine Rückantwort? – Sehr wohl. Zu Befehl.«
Er schlug die Fersen aneinander, erhob die Hand zum militärischen Gruß und fort war er.
Dieses neue Beispiel von der praktischen Anwendbarkeit der Theorien meines Freundes überraschte mich höchlich und flößte mir großen Respekt vor seiner Beobachtungsgabe ein. Zwar wollte mich ein leiser Argwohn beschleichen, ob die Sache nicht doch am Ende ein zwischen den beiden abgekartetes Spiel sei, aber welchen möglichen Zweck hätte das haben können? – Als ich mich nach Holmes umwandte, hatte er eben den Brief durchgelesen und starrte mit ausdruckslosem Blick, wie geistesabwesend, vor sich hin.
»Wie in aller Welt haben Sie denn das wieder erraten?« fragte ich.
»Erraten – was?« rief er gereizt auffahrend.
»Nun, daß der Mann ein abgedankter Marinesergeant war.«
»Jetzt ist keine Zeit zu Spielereien,« stieß er in rauhem Ton hervor, fuhr aber gleich darauf lächelnd fort: »Entschuldigen Sie meine Grobheit, Sie haben meinen Gedankengang unterbrochen; doch, das schadet vielleicht nichts. – Also Sie haben wirklich nicht sehen können, daß der Mann Sergeant in der Marine gewesen ist?«
»Wie sollte ich?«
»Es scheint mir doch sehr einfach. Freilich ist es nicht leicht zu erklären, wie ich zur Kenntnis solcher Thatsachen komme. Daß zweimal zwei vier ist, leuchtet jedem ein, forderte man Sie aber auf, es zu beweisen, so würden Sie es schwierig finden. Schon über die Straße hatte ich den blauen tätowierten Anker auf der Hand des Mannes gesehen und die See gewittert; zudem bemerkte ich seine militärische Haltung und das verriet mir den Marinesoldaten. Er trug den Kopf hoch und schwang seinen Stock mit Selbstbewußtsein und einer gewissen Befehlshabermiene; dabei trat er fest und würdevoll auf und war ein Mann in mittleren Jahren – natürlich mußte er Sergeant gewesen sein.«
»Wunderbar!« rief ich.
»Höchst alltäglich,« versetzte Holmes, doch sah ich ihm am Gesicht an, daß er sich geschmeichelt fühlte. »Eben noch behauptete ich,« fuhr er fort, »es gäbe keine geheimnisvollen Verbrechen mehr zu enträtseln. Das scheint ein Irrtum gewesen zu sein – hiernach zu urteilen.« Er schob mir den Brief hin, welchen der Dienstmann gebracht hatte.
»Wie schrecklich,« rief ich, ihn überfliegend.
»Es klingt allerdings etwas ungewöhnlich; wären Sie so gut, mir den Brief noch einmal vorzulesen?«
Der Brief lautete wie folgt:
»Lieber Herr Holmes!
Heute nacht hat sich in der Brixtonstraße Nummer 3 ein schlimmer Fall zugetragen. Unser Posten sah dort auf seinem Rundgang gegen zwei Uhr einen Lichtschimmer, und da das Haus unbewohnt ist, schöpfte er Verdacht. Er fand die Thür offen und in dem unmöblierten Vorderzimmer den Leichnam eines gutgekleideten Herrn am Boden liegen. Enoch J. Drebber, Cleveland, Ohio U.+S.+A. stand auf den Visitenkarten, die er in seiner Brusttasche trug, Eine Beraubung ist nicht erfolgt und die Todesursache noch unermittelt, denn es finden sich zwar Blutspuren im Zimmer, aber keine Wunde an dem Toten. Wir wissen nicht, wie er in das leere Haus gekommen sein kann, und die ganze Angelegenheit ist uns ein Rätsel.
Wären Sie geneigt, vor zwölf Uhr den Schauplatz zu besichtigen, so finden Sie mich dort. Ich lasse alles in status quo bis zu Ihrer Ankunft. Sind Sie verhindert zu kommen, so werde ich Ihnen alle Einzelheiten berichten, und Sie thäten mir einen großen Gefallen, wenn Sie mir Ihre Ansicht mitteilen wollten.
Ihr ergebener Tobias Gregson.«
»Gregson ist der schlaueste Fuchs in der ganzen Polizeimannschaft,« bemerkte mein Freund. »Er und Lestrade sind rasch und tatkräftig, aber durch nichts aus dem einmal hergebrachten Geleise zu bringen; dabei sind sie einander fortwährend in den Haaren und sind eifersüchtig wie zwei gefeierte Ballschönheiten. Wenn sie etwa beide auf dieselbe Fährte kommen, giebt es einen Hauptspaß.«
Die behagliche Ruhe, mit der er sprach, schien mir unbegreiflich. »Es ist doch sicherlich kein Augenblick zu verlieren,« rief ich; »soll ich Ihnen eine Droschke holen?«
»Noch weiß ich gar nicht, ob ich hingehen werde. Ich habe gerade einen Anfall von Trägheit und dann bin ich der faulste Kerl unter der Sonne; ein andermal kann ich freilich flink genug bei der Hand sein.«
»Aber dies ist doch gerade ein Fall, wie Sie ihn sich gewünscht haben.«
