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Raumpilot Strohwein wird auf seine gefahrvollste Mission geschickt. Weit draußen im Universum soll er einen mysteriösen Planeten untersuchen. Er trifft auf eine mittelalterliche Zivilisation in der sich allerlei Sagen- und Märchenwesen tummeln. Wie hypnotisiert wird der Pilot in einen Strudel psychedelischer Ereignisse gezogen. Zudem sendet der Planet in Abständen eine unbekannte Kraft, Sancta Abraxas genannt, aus. Was ist die Natur dieser Geheimnisse? Kann sich Strohwein der Magie des Planeten entziehen oder wird er Teil der Mysterien, auf immer verloren für die Menschheit?
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Manch einer mag es gern, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt und eine Frau öffnet ihm die Türe. Nein, nein, nicht irgendeine Frau, sondern seine Frau, die Frau, die sich für ihn entschieden hat, die, um die sich alles dreht in seinem Leben. Wenig später ein romantisches Essen, allenfalls mit Kerzen, wie früher, als man noch bis über beide Ohren verliebt war.
Schlussendlich, wenn der Abend endgültig fortgeschritten ist, stellt so einer zufrieden fest, dass jedes Tagewerk erledigt ist. Behaglichkeit verbreitet sich. Die eben nicht irgendeine, sondern seine Frau, liegt schon im Bett, alle unnötigen Lichter sind ausgeschaltet, im Kamin prasselt das Feuer und die Katze schnurrt was das Zeug hält. Dann mag es ihm gut tun, eine Tasse beruhigenden Kräutertee zu trinken, denn für Schwarztee ist es zu spät. Mit Genuss atmet er das erlesene Aroma, welches der Porzellantasse entsteigt, tief in die Lunge ein ... mhm aahhh ... Im Einklang mit sich und den Göttern des Universums setzt sich der Mann auf das Sofa und wickelt die Füße in eine Schafwolldecke aus nachhaltiger Produktion ein. Streng genommen unnötig verströmt sie dennoch Behaglichkeit. Zwecks kultivierter Zerstreuung wird mit Andacht eines der zahlreichen Bücher aufgeschlagen, die er bei Gelegenheit schon immer lesen wollte. Vielleicht ist eines dabei, das er vor Jahren einmal angefangen hatte, und das bis heute geduldig darauf wartet, zu Ende gelesen zu werden.
Beharrlich und ohne jede Hast schickt die Wanduhr tickend eine Minute nach der anderen in den bodenlosen Schlund der Vergangenheit ... Der Mann vertieft sich in fremde Weisheiten, sorgsam aufbewahrt zwischen den Buchdeckeln, konserviert auf Papier. Die Zeit verrinnt heimlich und leise, sie schleicht sich davon wie eine Katze, die sich nächtens auf Mäusejagd begibt ... Und immer noch mehr vertieft er sich ... Allmählich verdunkelt sich der Sinn des Gelesenen ... Ups, er wird doch nicht ...! O ja, er ist eingenickt! ... Gähnend macht sich der Mann auf zu seiner geliebten Ehefrau, die mit ihrem Körper das Bett vorgewärmt hat ...
In der Tat, manch einer mag das gern, doch so einer war Herwig Strohwein keineswegs. Klassisch ausgedruckte Bücher versammelten sich schon lange in den spärlichen Bibliotheken snobistischer Gelehrter. Von gedruckten Werken las Strohwein gelegentlich in den historischen Dokumentationen in seinen E-Books. Stand ihm der Sinn nach Kräutertee, erteilte er dem Replikator den Befehl: „Eine Tasse Pfefferminztee, Stärke 2“ oder ähnlich. Dem Replikator war es gleichgültig, was er produzieren sollte: Lasagne, Wiener Schnitzel, Berner Würstchen, Kofta Curry, Pekingente oder Frühlingsrolle. Es war sowieso eine Zusammenstellung aus synthetischen Proteinen, Ballaststoffen und Geschmacksaromen, optisch ansprechend arrangiert. Wollte Strohwein eine Wanduhr besichtigen, begab er sich in eines der zahlreichen virtuellen Museen und konnte das Exponat dank Cyberbrille in 3D bequem von allen Seiten betrachten.
Desgleichen war die Schafwolldecke pure Romantik. Seit wann gab es noch Schafe? Ob sich eine echte Schafwolldecke anders anfühlte als die üblichen Kunststoffimitate? Und das prasselnde Kaminfeuer? Um das zu erleben gab Strohwein seinem Heimcomputer den Befehl, dieses als Wandtapete zu projizieren. Dann prasselte es wahlweise auf dieser oder jener Wand in naturbelassener Lautstärke; ohne Geruchsbelästigung. Allerdings – ob dies den Tatsachen entsprach, vermochte Strohwein nicht zu beurteilen. Wie auch? … Nein, nein, das alles war Schnee von gestern.
Und wie war das mit der Ehefrau, die schon mal das Bett vorwärmte? Der pure Kitsch, die typische Ausdünstung einer Männerfantasie. Um die Themen Ehe, Schwangerschaft und Geburt sollen sich früher ein Menge Mythen gerankt haben. Angeblich blieb man sogar bis zur Geburt in Unkenntnis über das Geschlecht des heranwachsenden Menschen! Und die Männer gingen im Gang der Klinik nervös auf und ab, Schweiß auf der Stirn, bis sich die Türe öffnete und eine Krankenschwester erleichtert verkündete: „Sie dürfen jetzt herein. Es ist ein Mädchen.“ Unvorstellbar …
Wie weit war man in jenen Tagen noch entfernt vom modernen Designerbaby gewesen! Diverse Erbkrankheiten per Eingriff in die Gene bereits im Mutterleib zu reparieren war schon seit einer gefühlten Ewigkeit Standard und wurde von der Krankenkasse bezahlt. Das wahre Geschäft lag in den Zusatzleistungen: Rehbraune Augen? Kein Problem, kostet blablabla, Körpergröße 188 cm, blonde Haarfarbe hätten wir in Aktion, athletische Statur macht soundso viel … Aber ein Ehevertrag und Kinder waren für den jungen Mann Herwig Strohwein Musik, die bestenfalls, wenn überhaupt, in ferner Zukunft erklingen würde.
Der Tatendrang, der schon seine Vorfahren ausgiebig in Schwierigkeiten gebracht hatte und sein nimmermüder Forschergeist hatten ihn schon in frühen Jahren auf die Akademie für Raumpiloten gebracht. Diese hatte er mit 25 Jahren mit Auszeichnung ein Jahr früher als vorgesehen abgeschlossen. Vier Jahre später wurde Strohwein der Flotte der Späher zugeteilt, auch weil er immer noch Junggeselle war. Späher waren Ein-Mann-Raumschiffe, schwach bewaffnet, stattdessen mit zahlreichen wissenschaftlichen Messgeräten ausgerüstet. Sie wurden von der Föderation zu den entlegensten Ecken des bekannten Universums geschickt, mit dem Auftrag, wissenschaftliche Daten zu erheben. Um zu vermeiden, dass Witwen und Waisen die staatliche Wohlfahrt via Hinterbliebenenrente strapazierten, bevorzugte man Junggesellen für diese Missionen.
Am 26. Februar 2817 brach Herwig Strohwein zu seiner sechsten selbständigen Mission auf. Nach den üblichen zwei Tassen schwarzen Kaffee am Morgen machte er sich auf den Weg zur Abdockstation. Als er die Tür hinter seiner Wohneinheit schloss, wurde ihm bewusst, wie sehr es möglich war, dass er diese nie mehr betreten würde. Nach der langjährigen Statistik … Diese wies nämlich aus, dass jeder 5,34. Pilot bei seiner Mission ums Leben kam oder wenigstens verschollen blieb. Ein merkwürdiges Gefühl stieg hoch. Wehmut? Ach was ...
Begleitet von einem kaum merklichen Brummen transportierte der Lift Strohwein in einem rasenden Tempo zur Abdockstation hinauf. Der Pilot sah zur kleiner werdenden Erde hinunter. Dort, 23.000 km entfernt, werkelten viele seiner Kollegen aus der Akademie in über 70 Stationen. Sie versuchten die Umwelt so zu beeinflussen, dass sie für Menschen wieder bewohnbar wurde. Die „Alten“, wie sie hießen, hatten ganze Arbeit geleistet. Zuerst hatten sie die Umwelt ruiniert, und um die wenigen bewohnbaren Areale dann die schrecklichsten Kriege in ihrer Geschichte geführt. Das hätte der Erde beinahe den Rest gegeben und der Menschheit ebenfalls. Letzten Endes wurde der Planet für menschliches Leben mit Ausnahme weniger ökologischer Inseln bis auf Weiteres unbewohnbar. Dank des Umstandes, dass sich die superreichen Menschen diskret und früh genug in die Weltraumstation zurückgezogen hatten, überlebte die Menschheit wenigstens grundsätzlich.
Von hier oben aus machte die Erde einen immer noch faszinierenden Eindruck: tiefblaue Ozeane, weiße Wolken zogen malerisch in fließenden Formationen über die Oberfläche. Kaum zu glauben, dass für Menschen keine Möglichkeit mehr bestand, sich dort aufzuhalten. Fatalerweise hatte sich herausgestellt, dass ausgerechnet die hauchdünne soziale Oberschicht Menschen, die durch ihren privilegierten Lebensstil die anfälligsten Gene hatten, gerettet worden waren. Alle anderen hätten aussichtsreichere Chancen gehabt, sich auch unter widrigen Umweltverhältnissen zu behaupten.
Seit vielen Jahren bemühte sich die Föderation nun um die Revitalisierung der Erde. Obwohl Pilot Strohwein über diesen Ausdruck den Kopf schütteln musste, denn vital war die Erde noch immer. Sie war bloß bevölkert von Kreaturen, die durch den atomaren Fallout mutiert waren. So ungeheuerlich sich manche dieser Schöpfungen der Evolution ausmachten (und viele waren noch unerforscht) – es gelang ihnen, unter den neuen Umweltbedingungen zu leben. Man arbeitete eher daran, die Erde für Menschen aufs Neue bewohnbar zu machen; zumindest in gewissen Enklaven mit erträglichem Klima. Und was dann? Würde sich die Lebensform Mensch die Erde erneut untertan machen wie dazumal, mit dem gleichen Ergebnis? Würde sich dasselbe Spiel wiederholen? Zum Glück war dies eine Frage, mit der sich Strohwein nicht beschäftigen musste.
Als Alternative sah sich die Föderation intensiver denn je nach besiedelbaren Exoplaneten um. Trotz diverser Kontakte zu außerirdischen Lebensformen war die Menschheit immer noch auf Weltraumtechnologie angewiesen, wollte sie schlicht und einfach überleben. Trotz zahlreicher Raumstationen und Schiffe, die sich zwischen Alpha Centauri, Epsilon Indie, Tau Ceti und Teegarden tummelten, war eine biologische Bleibe immer noch in weiter Ferne. Das war des Piloten Strohwein berufliches Kernthema.
„He, was ist los? Träumen können Sie gleich in der Tiefschlafkapsel“, rief der Stationskommandant Strohwein aus seinen Grübeleien. Dann drückte er ihm den Raumanzug in die Hand, ließ ihn die Quittung unterschreiben und öffnete die Schleuse zum Schiff.
Der Pilot betrat seinen Späher und nahm Platz. Zu allen Seiten Instrumente, Anzeigen, Monitore, Bedienungspanele … Das Wenigste davon musste ihn im Normalbetrieb interessieren, weil er meist ohnehin via Spracheingabe mit dem Bordcomputer kommunizierte. Wie oft und wie lange war er schon hier gesessen? Ein vertrautes Gefühl stellte sich ein.
Am Ende des vorschriftsgemäßen Generalchecks meldete der Bordcomputer, die technische Überprüfung habe ergeben, dass der ordnungsgemäße Betrieb gewährleistet sei. Weiters seien die Missionsparameter programmiert, kurzum, es könne losgehen. Strohwein begab sich zur Langstreckenkapsel im hinteren Teil und legte sich hinein. Hier würde er die allermeiste Zeit bis zum Erreichen seines Zieles schlafend verbringen.
Mit zweimal Drücken auf den roten Knopf der Steuerungskonsole in Stirnhöhe war das Tiefschlafprogramm initiiert. Die Abdeckung der Kapsel wurde von links und rechts hochgezogen. Auf der Innenseite erschienen im Kopfbereich Aufnahmen unberührter Wälder zu verschiedenen Jahreszeiten. Dazu plätscherte Wasser und künstliches Aromaöl täuschte die Nase mit Fichtenund Tannenduft. Das sollte klaustrophobischen Erscheinungen vorbeugen. Obwohl niemand ein solches Ambiente jemals erlebt hatte, ergaben die psychologischen Untersuchungen, dass es immer noch wirkte, das Gehirn mit derlei Informationen zu versorgen. Zusätzlich sorgte das Programm dafür, dass in periodischen Abständen gewisse Substanzen der Atemluft beigemengt wurden, die beim menschlichen Organismus einen leicht kontrollierbaren, komaähnlichen Zustand hervorriefen.
Auf zu Strohweins Mission! Sie könnte sich als entscheidend für die Menschheit erweisen, oder als nutzlos, wie etliche andere. Jedenfalls würde sie in die Nähe des Pferdekopfnebels etwa 1500 Lichtjahre entfernt führen. Das wäre weit am vordersten Stützpunkt der Menschheit vorbei, hinein in die unerforschten Tiefen das Weltraums, mit all seinen fremden Welten voller Überraschungen, Entdeckungen, und ... Gefahren.
Behutsam weckte der Bordcomputer Herwig Strohwein. Beginnend mit Koffein für den Kreislauf wurden der Reihe nach die wichtigsten Lebensfunktionen angekurbelt. Anschließend stimulierte das Programm die Muskeln mit Akupunkturnadeln. Zu guter Letzt saß Strohwein mit benommenem Schädel auf der Kante seiner Schlafkapsel. Dort rieb er sich gähnend die letzte Müdigkeit aus den Augen.
Kaum richtig bei Sinnen hörte er die fröhliche Stimme des Bordcomputers mit weiblichem Timbre, die gute Laune verbreiten sollte: „Schönen guten Morgen, Pilot Herwig Strohwein. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen und erquickend geträumt. Der Sprung durch den Hyperraum ist planmäßig verlaufen. Sie befinden sich 1,8 Millionen Kilometer vor dem Planeten Zora 17 Alpha. Haben Sie einen Wunsch bezüglich Ihres Wohlbefindens oder möchten Sie gleich Ihre Missionsinstruktionen hören?"
„Zur Sache Schätzchen", knurrte Strohwein mit belegter Stimme. Er hatte sich an die Bordcomputer der neuesten Generation, die man mit einem Emotionschip ausgestattet hatte, problemlos gewöhnt. Schon bald hatte sich ein ungezwungener Umgangston eingestellt.
„Darf ich Ihre Antwort in dem Sinne verstehen, dass Sie die Instruktionen ..."
„Ja, du darfst", unterbrach Strohwein.
„Ich möchte vorerst daran erinnern, dass ich auf Ihren eigenen Wunsch hin Mona Lisa, und nicht Schätzchen genannt werde", entgegnete Mona Lisa mit schmollendem Timbre in der Stimme. „Nun die Instruktionen laut Protokoll der Projektleitung.“ Der Dramaturgie zuliebe ließ Mona Lisa eine kleine Pause und räusperte sich bedeutungsschwanger: „Hmhmn ... Ihre Aufgabe, Pilot Herwig Strohwein, ist es, den Himmelskörper Zora 17 Alpha zu erkunden. Wir haben das Gestirn erst vor einem halben Jahr ausgemacht und die ersten Scans haben sehr viel Widersprüchliches ergeben. Dementsprechend groß waren die Spekulationen in der Projektleitung. Sie werden bemerkt haben, dass Sie mit Zahlen und Daten vor dem Abflug verschont worden sind. Das hatte den Sinn, dass Sie vorurteilslos an die Erforschung des geheimnisvollsten Gestirns gehen können, das die Menschheit je entdeckt hat.
Sammeln Sie naturwissenschaftliche Daten und übertragen Sie Ihren Bericht auf den drei üblichen Frequenzen an das Oberkommando der humanoiden Föderationsstreitkräfte auf Epsilon Indi. Seien Sie sich bitte bewusst, dass so weit wie Sie noch kein Mensch ins All vorgedrungen ist. Ihr Raumschiff bildet die Speerspitze der Menschheit. Im Falle eines Kontaktes mit intelligentem Leben repräsentieren Sie also die gesamte Menschheit. Deswegen müssen Sie sich unter allen Umständen im Einklang mit den höchsten moralischen Prinzipien, denen sich die Menschheit verpflichtet fühlt, verhalten.“
Genau, fromme Ermahnungen, das hatte er noch gebraucht! Überdies hörte er sie zum x-ten Male! Er kannte die Botschaft bereits auswendig. Trotzdem beharrte man in der Projektleitung darauf, den Text immer wieder in Erinnerung zu bringen. Weil er ungemein wichtig sei.
Indessen fuhr Mona Lisa fort: „Ihr Auftrag besteht darin, sämtliche Geschehnisse, egal welcher Art, empirisch zu erfassen und objektiv zu dokumentieren. Bleiben Sie unter allen Umständen unbeteiligt. In Anbetracht der Schwierigkeit Ihrer Mission haben wir Ihren Aufenthalt ausnahmsweise auf ein Jahr ausgeweitet. Sollten wir innerhalb dreier Jahre nichts von Ihnen hören, gehen wir davon aus, dass Ihre Mission gescheitert ist und werden ein Begräbnis der Klasse 2b sowie die Verlassenschaftsverhandlung einleiten.
Das ist Ihr Auftrag, wie er von Ihrer vorgesetzten Dienststelle am 12. Februar 2817 um 16.30 Uhr beschlossen worden ist. Und nun viel Erfolg. Wir freuen uns, von Ihnen zu hören. Gezeichnet Jindu Ainok, Projektleiterin."
2b! Strohwein überlegte kurz, wie viele Dienstjahre er noch bis Klasse 1 brauchen würde. In der Klasse 1 durfte man nämlich einen persönlichen Wunsch betreffend des Begräbniszeremoniells deponieren. Strohwein wollte bei seiner Beerdigung unbedingt ein paar tanzende Mädchen aus dem Nachtclub dabei haben. Damit es möglichst lustig zuging.
„Ist das alles? Auch jetzt keine Daten?"
„Nein", antwortete Mona Lisa, „aber im Anhang finde ich eine persönliche, inoffizielle Botschaft der Projektleiterin Jindu Ainok. Soll ich sie vorlesen?"
„Natürlich, der Tag ist sowieso schon verhaut." Was wollte ihm das alte Nilpferd, wie Jindu Ainok angesichts ihrer robusten Körperstatur unter den Piloten tituliert wurde, noch sagen?
Jindu Ainok sah sorgenvoll aus dem Monitor und sagte: „Schönen guten Tag, Major Strohwein. Wenn Sie diese Botschaft abgespielt erhalten, sind Sie Ihrem Ziel bereits recht nahe. Sie werden noch nie ein so interessantes Gestirn erlebt haben. Die spärlichen Daten, die uns bisher vorliegen, zeigen einerseits keine Spur von Leben und andererseits scheint es, als sei der ganze Planet ein einziger Organismus. Ich weiß, wie unglaubwürdig und widersprüchlich das klingt, aber Licht in diese Zusammenhänge zu bringen, ist eben der wahre Zweck Ihrer Mission.
Ich muss Ihnen gestehen, dass ich ein schlechtes Gewissen Ihnen gegenüber habe. Die meisten Mitarbeiter der Projektleitung gehen davon aus, dass wir Sie nie mehr sehen werden. Unsere beiden Langstreckensonden letztes Jahr sind vom Monitor schlicht und einfach verschwunden. Darauf wollte man in unserer Chefetage reagieren. Der Beschluss wurde gefasst, eine bemannte Mission solle die Sache endgültig klären.
Wenig überraschend haben diejenigen, denen Sie vor zwei Jahren als Rechnungsprüfer mit der Affäre Spesenabrechnung am meisten geschadet haben, am eifrigsten für Ihre Entsendung gestimmt. Sie zählen zu den fähigsten Piloten in der Flotte und für die besten Schüler hält das Leben bekanntlich immer die strengsten Prüfungen bereit. Persönlich kenne ich Sie als netten Kerl mit einem unverwüstlichen Humor. Über Ihren Hang zu politischer Unkorrektheit will ich mal augenzwinkernd hinwegsehen.
Was immer Sie entdecken werden, Major Strohwein, ist von enormer Bedeutung für uns Menschen. Bedeutet es mehr Gefahr oder Segen? Irgendetwas ist da draußen und wir müssen einfach wissen, was es ist. Es täte mir leid um Sie. Alles Gute."
Na, das konnte heiter werden. Wieso traf es immer ihn oder Seinesgleichen? Bloß weil niemand finanzielle Ansprüche geltend machen würde, bliebe er für immer fort. Er war auf dem besten Weg, sich ungerecht behandelt vorzukommen, als ihm die Stimme seiner Mutter in den Sinn kam. Sie hatte ihm seinerzeit eingeschärft: „Junge, nimm an, was das Leben dir vor die Füße wirft und mache das Beste draus.“ Eine blitzgescheite Frau, diese Mama. Außerdem – gefahrlos waren seine Missionen noch nie gewesen. Gab es noch bessere Gelegenheiten, der Dienststelle zu zeigen, wozu er imstande war? Das würde bestimmt eines Tages seiner beruflichen Laufbahn zum ausschlaggebenden Kick verhelfen. Wollte er als Raumpilot Karriere machen oder nicht? Und auf diese Weise so nebenbei Wissen und Weisheit der Menschheit vermehren. Seine Zeitgenossen hatten dieses wohl dringend nötig, oder? Der Gedanke, dass eines Tages in den Geschichtsdateien sein Name mit der Erforschung eines ausnahmsweise wichtigen Planeten verknüpft sein würde, wärmte zusätzlich. Na also, Schluss mit dem Lamentieren, ran an die Arbeit!
„Mache mir einen kompletten Bordcheck, Mona Lisa", befahl Strohwein, dem auffiel, zu welch persönlichem Verhältnis er gegenüber seinem Computer bereits gefunden hatte. Das war ja der Sinn des Emotionschips, nämlich den Piloten vorzugaukeln, sie seien in Gesellschaft. Strohweins Pilotenkollegin Stiebig war letztes Jahr völlig durchgeknallt von ihrer garantiert letzten Mission nach Hause gekommen. Die Ärzte hatten übereinstimmend eine Isolationspsychose diagnostiziert. Daraufhin wurde endlich auf die Idee mit dem Emotionschip zurückgegriffen und die erforderlichen Mittel freigegeben, zumindest die Späherschiffe damit nachzurüsten.
Rund eine halbe Minute lang hüllte sich Mona Lisa in Schweigen, unterbrochen von ihrer gelegentlich eingestreuten leisen Bitte: „Einen Moment, ich prüfe ...“ Am Ende ihres Checks meldete sie sich wie gewohnt wieder: „Alle Parameter oszillieren innerhalb der Toleranzgrenzen."
Du meine Güte! Welche Ausdrucksweise! Strohwein nahm sich vor, seine Kollegen von der technischen Entwicklung bei nächster Gelegenheit ordentlich ins Gebet zu nehmen. „Mir ist lieber, du sagst, alles sei in Ordnung."
„Also schön, alles ist in Ordnung“, seufzte Mona Lisa. „Ich bin ob Ihrer volksnahen Ausdrucksweise ein wenig konsterniert, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten.“
„Ach was! Reg dich ab.“
Um möglichst schnell körperlich fit zu werden, besann sich Strohwein der Sportübungen aus dem Ausbildungslehrgang. Zuerst die Liegestütze: ... 41 ... puhh ... 42 ... puhh ... 43. Und Schluss. Oje! Lag sein Rekord aus dem heurigen Winter doch bei stolzen 79! Der Tiefschlaf, das musste es sein. Bei den Kniebeugen ging es zwar etwas besser, zufrieden war Strohwein dennoch nicht. Eine Serie von zehn ausgesuchten isometrischen Übungen für die wichtigsten Muskelpartien beendete sein Trainingsprogramm für dieses Mal.
Danach stellte er Riesenhunger fest. Mit größtem Appetit verspeiste der Pilot im Cockpit sein Frühstück: Spiegelei, gebratener Speck mit Champignons, Würstchen, verschiedenes Vollkornbrot, dazu eine Tasse Kaffee nach traditioneller Wiener Art. Üppig, üppig, überlegte Strohwein, aber er wusste, in der Leitung des Projektes vertrat man die Ansicht, die meisten Kalorien sollte man morgens zu sich nehmen und abends nur mehr ganz leichte Kost. War es richtig oder falsch? Keine Ahnung, es war jedenfalls Vorschrift.
In der Zwischenzeit überflog der Späher einen Asteroidengürtel, wegen der Kollisionsgefahr mit verringerter Geschwindigkeit. Danach näherte sich das Schiff erneut mit vollem Tempo Zora 17 Alpha. Als das Schiff auf 120.000 km heran war, machte sich Strohwein bereit zur Landung. Er bremste ab und ließ Mona Lisa den Landekurs berechnen. Noch während er im Orbit in einer Höhe von 14.000 km über der Oberfläche kreiste, ließ Strohwein die Eckdaten des Planeten erheben: Es stellte sich heraus, dass er drei Monde besaß.
Mona Lisa wollte wissen: „Wie soll ich sie nennen?"
„Frag deinen Zufallsgenerator", gab Strohwein zur Antwort, dem es momentan zu lästig war, seine kreativen Hirnareale zu bemühen.
Mona Lisa, dienstbeflissen wie immer, waren solche Befindlichkeiten wesensfremd. Ihr Zufallsgenerator bestimmte die Namen: Tetrovodon, Hemistritis und Kayadaya. Weiter ging es mit den Daten des Planeten: Dichte: 1,04, Albedo: 0,37, Schwerkraft: 0,98% im Vergleich zur Erde, Temperatur am Äquator: 30 Grad Celsius, es würde frisch werden zu den Polen hin, Atmosphäre: atembar! Sensationell! Die sonstigen Eckdaten belegten ebenso unmissverständlich: ein Schwesterplanet der Erde! In vieler Hinsicht wenigstens.
Endlich! Strohwein jubelte, schließlich bedeutete das die besondere Prämie, im Offiziersjargon „Cordon bleu" genannt. Diese erhielt jemand, falls ihm die Entdeckung eines Gestirns gelang, das als Schwesterplanet der Erde zu qualifizieren war. Der Letzte, der die heiß begehrte Auszeichnung kassieren hatte dürfen, war Major Denkrei gewesen. Er hatte sich damit einen nagelneuen Spiderwolf 2.500 e gekauft, der unverbesserliche Snob. Okay, Denkrei hatte das Auto nach drei Wochen zu Schrott gefahren, aber bis dahin hatte der Kerl fürchterlich angegeben mit seiner Kiste! Das restliche Geld hatte er mit den flotten Frauen im „Paris at night“ durchgebracht; mit den teuren versteht sich.
Mag sein, der Planet Zora 17 Alpha würde sich gar als besiedelbar erweisen. Schwesterplanet hin oder her, das bedeutete noch lange nicht, dass die Umwelt des Gestirns wirklich menschenfreundlich war. Man hatte so viele Schwesterplaneten entdeckt, dass der Begriff schon lange als Klassifikation geführt wurde. Ein Planet, der die unmittelbare Rettung der Menschheit bedeutet hätte, war hingegen noch immer in weiter Ferne. Der wäre der Jackpot und dem Oberkommando eine stolze, zusätzliche Prämie wert. Hatte Strohwein das Ei des Kolumbus gefunden? Beim Gedanken, künftig würde alle Welt vom Ei des Strohwein reden, machte sich ein Grinsen breit. Vielleicht, wer weiß?
Strohwein schaltete gespannt auf Sichtkontakt. In Augenhöhe öffnete sich ein frontseitiges Fenster in seinem Cockpit, etwa zwei Meter lang und halb so breit. Zum ersten Mal sah der Pilot den Planeten in Natur. Wie ein Schlag vor den Kopf traf es ihn! Die Aussicht war ganz und gar ungewöhnlich. Eine einheitliche graue Oberfläche ohne signifikante Erhebungen oder Wasserflächen bot sich dem besorgten Blick dar.
„Mona Lisa", fragte Strohwein beunruhigt, denn das sah weit weniger nach Erde aus, „was soll das sein?"
„Die Oberfläche", erklang die Antwort. „Zu meinem Bedauern muss ich Ihnen mitteilen, sie ist aus einem Material, das ich in meiner Datenbank vergeblich suche. Ich möchte Ihnen ausdrücklich abraten, darauf zu landen, weil ich es als hochgradig toxisch einstufe.“
Au Mann, das hatte noch gefehlt! Im Geiste sah Strohwein das Cordon Bleu in unerreichbare Fernen entschwinden ... Was tun? Verlegenheitshalber flog Strohwein noch eine Weile in derselben Höhe über dem Planeten. Dabei überlegte er, nervös seine Daumen drehend, was die beste Strategie sei.
Plötzlich meldete sich Mona Lisa: „Ich stelle eine unbekannte Energieform fest, die eine ähnliche Signatur aufweist wie die Oberfläche. Sie schießt soeben ins All."
„Auf den Monitor", gab Strohwein Anweisung. Ein spezieller Filter ermöglichte es Mona Lisa, das Phänomen in einer hellgrauen Einfärbung auf dem Monitor darzustellen. Der Energieausstoß erinnerte Strohwein an die Protuberanzen der Sonne, nur dass er wesentlich schneller vonstattenging. Gleichwohl die Ausmaße rein von der Optik her schwerlich zu beurteilen waren, machte es einen mächtigen Eindruck. Zudem pulsierte es.
„Wie weit reicht das Phänomen ins All?“
„Rund 12.000 Kilometer“, antwortete Mona Lisa. „Es ließe sich in Töne übertragen“, ergänzte sie.
„Na los, ich höre!“
„Bumm-bumm ... bumm-bumm ...“
Die Töne korrelierten exakt mit dem Schwingungsmuster auf dem Monitor.
„Das klingt nach einem Herzschlag. Bist du sicher?“
„Welche Frage“, gab Mona Lisa zurück und ihre Stimme klang entrüstet. „Wie soll ich das Phänomen nennen? Mein Zufallsgenerator schlägt Sancta Abraxas vor."
„In Ordnung. Für den Fall, dass sich das wiederholt, setze die Stärke des ersten Ausstoßes auf eins."
In der Tat wiederholte sich das Phänomen während der nächsten vier Stunden noch zweimal, allerdings in unregelmäßigen Abständen und schwankender Heftigkeit.
Mona Lisa zählte fleißig mit: „... Sancta Abraxas 12 ... 49 ..." Zwischendurch sagte sie: „Bevor ich es vergesse: Das Phänomen wird von einer sozusagen taktilen Information begleitet. Bedauerlicherweise entzieht sich diese wiederum unseren bekannten naturwissenschaftlichen Begriffen. Wollte ich eine bildhafte Umschreibung bemühen, würde ich von einem Ruck, der durch diese Welt geht, reden.“
„Ich hoffe, du hast nicht noch mehr von solchem Unsinn auf Lager“, kommentierte Strohwein in seiner grundsätzlichen Abneigung gegenüber blumigen Umschreibungen. Mit einem Male löste sich das Phänomen in einem grauen Dunstschleier auf, der zuletzt innerhalb weniger Minuten verschwand. Trotzdem Strohwein die immense Bedeutung dieser Geschehnisse intuitiv registrierte, waren sie zwar erstaunlich, leider keineswegs aufschlussreich gewesen. Vielmehr hatten sie eine Menge Fragen aufgetürmt und ob er jemals Antworten erhalten würde, war ungewiss.
Er kaute immer noch am zentralen Problem, wie er sich verhalten sollte. Mona Lisa schlug vor, den Rückflug anzutreten. Immerhin hatten sie wichtige Daten erhoben und einen Ausstoß eines bislang unbekannten Energiephänomens dokumentiert. Damit solle sich Strohwein für diesmal zufrieden geben. Bescheidenheit jedoch kam dessen Temperament mitnichten entgegen. Der Pilot hatte vielmehr das Gefühl, ganz nah dran zu sein. Aber an was? Alleine der Gedanke, dem alten Nilpferd in die Augen zu sehen und sagen zu müssen: „Tut mir leid, mehr war unmöglich“ verursachte ihm Brechreiz. Nach Hause zu fliegen blieb immer noch als allerletzte Option, quasi als Joker im Hemdsärmel.
Über den Grübeleien vergaß der Pilot die Zeit. Da er meinte, jede Menge davon zu haben, hatte seine Entscheidung keine Eile. Die Gedanken schweiften ab, zu guter Letzt in seine Kindheit, soweit er sich ihrer entsann. Wie war das gewesen, damals, vor wie vielen Jahren ...? Als seine Welt noch mit Zwergen und Riesen, bösen Geistern, Hexen und Zauberern bevölkert gewesen war, die in fantastischen Geschehnissen lebten ...? Warum fiel ihm all das gerade jetzt ein? Wie auch immer, bei diesen Gedanken verbreitete sich ein wohliges Gefühl, das von zutiefst innen wärmte.
„Kommen Sie zu sich, Major Strohwein!“ Mona Lisas laute Stimme riss ihn aus den Träumereien. Oh! War er tatsächlich eingeschlafen? Oder eher in einer Art Trance dahingedämmert? Bevor er sich die Frage beantworten konnte, hörte er Mona Lisa aufgeregt: „Sehen Sie doch!“
Strohwein erblickte auf dem Hauptmonitor eine Art Insel in der Nähe des Äquators aus dem undefinierbaren Meer aus Grau und Silber aufragen. Bei näherer Betrachtung und höherem Zoomfaktor sah es ohne Zweifel nach Festland aus, nach Flüssen, Seen und Wäldern, von Gebirgen eingerahmt. Ha, Land in Sicht! Hoffentlich ein bewohnbarer Teil des Planeten. Das bereits verloren geglaubte Cordon Bleu rückte neuerlich in greifbare Nähe ...
Mona Lisa meldete sich: „Das scheint die Lösung zu sein. Ich orte auf dieser Insel eine massive Anhäufung unterschiedlichster Lebewesen, sowie menschenfreundliche Umweltverhältnisse. Ich empfehle, dort zu landen."
„Dann mach das."
„Allerdings ..."
„Was?"
„Ich suche nach Worten, wie ich es ausdrücken soll. Die Lebewesen sind zwar auf der einen Seite eindeutig biologisch, andererseits lässt sich diese biologische Materie mit nichts in meiner Datenbank identifizieren. Es ist eher eine Art Analogie ..."
„Haben wir eine andere Wahl, als dort unser Glück zu versuchen?", fragte Strohwein zurück, indem er auf die Insel deutete.
„Nein. Ich leite sogleich den Landevorgang ein, es sei denn, Sie geben andere Anweisungen."
Damit senkte das Raumschiff die Höhe und näherte sich, die Geschwindigkeit kontinuierlich abbremsend, im flachen Winkel der Insel. Augenblicklich erschütterten massive Turbulenzen das Schiff. Aha, der Eintritt in die Atmosphäre! Das Cockpitfenster schloss sich, die Schutzschilde wurden auf maximale Kraft geschaltet, Strohwein schnallte sich an.
Innerhalb weniger Minuten begannen die Hitzeschilde zu glühen, das ganze Schiff wurde durchgeschüttelt. Was nicht nietund nagelfest war, verselbständigte sich und flog unkontrolliert im Cockpit herum. Das war typisch für den Eintritt in eine Atmosphäre und würde sich Mona Lisas Berechnungen zufolge in ca. einer halben Minute legen … Besorgt sah der Pilot auf die Zeitanzeige rechts oben auf dem Hauptmonitor. Von einem zum anderen Mal war es beruhigend, wenn sich dies bestätigte ... Wieso hielt das Rütteln an? Es war sogar derart stark geworden, wie es Strohwein noch nie erlebt hatte.
„Mona Lisa. Was ist los? Sind deine Berechnungen korrekt?“
Keine Antwort … Nach bangen Momenten des Abwartens blinkte es in alarmierendem Rot auf: „Automatische Steuerung ausgefallen!“ Oje, manuell weitersteuern … Mit Mona Lisa stimmte ebenfalls etwas nicht, denn sie gab keinen Ton von sich. Strohwein bemächtigte sich mühsam des Steuerungshebels, obwohl dieser infolge der Erschütterungen eine Art Eigenleben zu führen schien, indem er unkontrolliert mal auf diese Seite, mal auf jene ruckte. Der Pilot versuchte mühsam, das Schiff unter Kontrolle zu bringen.
Strohwein wurde schlecht; die Eier, der Speck … Das musste doch rasch vorbei sein! O nein … Zack – der Helm des Reserveanzugs fiel ihm auf den Hinterkopf und hinterließ einen brummenden Schädel. Dadurch entriss sich der Steuerungshebel seinen Händen und der Pilot hatte alle Mühe, seiner wieder Herr zu werden. Bald fühlte sich sein Kopf an, als wolle er platzen. Die Anzeigen begannen vor seinen Augen zu verschwimmen; Bewusstlosigkeit drohte.
Als die Sensoren anzeigten, dass der Boden nur mehr wenige Kilometer heran war, riss sich der Pilot zusammen und gab den Befehl: „Initiiere Bruchlandungsprogramm!“ Umgehend blinkte die Bestätigung des Befehls auf dem Hauptmonitor auf. Wenigstens das war gelungen!
Im nächsten Augenblick setzte das Raumschiff auf und schlitterte sekundenlang unkontrolliert auf dem Boden vor sich hin. Ein letzter Ruck noch, dann war es vorbei. Herwig Strohwein hatte das Bewusstsein verloren.
Der Pilot schreckte hoch. Benommen schüttelte er den Kopf. Er fühlte sich mies, wie nach einer Narkose ... Der schale Geschmack im Mund und die pelzige Zunge passten bestens dazu. Die Notbeleuchtung des Cockpits tauchte die Umgebung in dämmriges Licht, das den Gegenständen ihre scharfen Konturen nahm. Kein Laut war zu vernehmen. Dreimaliges tiefes Durchatmen brachte den einigermaßen klaren Verstand zurück.
Was war geschehen? Ach ja – Bruchlandung ...! Dementsprechend unordentlich sah es im Cockpit aus. Er selbst hing leicht verrenkt in den Sicherheitsgurten. Unbedingt sofort den Status feststellen! Strohwein wandte sich an den Bordcomputer: „Mona Lisa, ich brauche eine kompletten Bordcheck. Gib dir ordentlich Mühe."
Keine Reaktion ...
„Mona Lisa!“
Der Pilot warf einen Blick auf das Datenarmband auf seinem linken Unterarm. Dank Batteriebetriebes funktionierte es noch. Es zeigte in roter Schrift die Meldung: „Kommunikation mit dem Bordcomputer ausgefallen. Fehlerdiagnose: Mona Lisa offline.“ Sämtliche Bedienungselemente der Elektronik, alle Bildschirme tot, keine Kontrollanzeigen mehr, nicht das kleinste Lämpchen, das ein Lebenszeichen von sich gegeben hätte. Kein Zweifel, Herwig Strohwein war gestrandet! Und das auf einem unbekannten Planeten, wo er auf keinerlei Erfahrungswerte geschweige denn gesicherte Erkenntnisse zurückgreifen konnte! Das kam ganz und gar ungelegen.
Das Schiff verfügte über diverse Scanner, die das Bordpersonal über die Umgebung am Laufenden hielten und gegebenenfalls warnten. Sogar eine Laserkanone für den unsympathischsten aller Fälle stand zur Verfügung. In der aktuellen Lage musste Strohwein auf all das verzichten. Dies war mehr als ungelegen, es war äußerst bedrohlich. Strohwein erinnerte sich an das mentale Training seiner Ausbildung und schärfte sich ein: Konzentriere dich auf das Positive, Junge! Immerhin war die Landung gerade noch einmal gut gegangen. Du lebst ja noch. Halte dich an das Protokoll und mach was draus!
Erneut atmete er tief ein und aus, schnallte sich ab und wankte mit jedem Schritt sicherer werdend zur Ausstiegsluke. Der Augenblick war gekommen – der krönende Moment jeder Mission, in dem ein Mensch seinen Fuß auf ein fremdes Gestirn setzt … Die Sache mit der Bruchlandung war im Vergleich dazu ein bloßer Schönheitsfehler. Strohwein hielt kurz inne.
Nach so vielen Besuchen auf Planeten, dass Strohwein schon aufgehört hatte, sie zu zählen, reihte er sich bei den Profis ein. Dennoch war es nach wie vor außergewöhnlich und würdevoll, einen Himmelskörper erstmalig zu betreten. Eine feierliche Stimmung überkam ihn. Mit einem schwungvollen Griff öffnete er die Luke und hielt seinen linken Arm mit dem Datenarmband nach oben. Die Anzeige bestätigte, was Mona Lisa vor der Landung analysiert hatte: atembare Luft, mit 26 Grad Celsius eine angenehme Temperatur, kurz, eine erstaunlich menschenfreundliche Umwelt.
Erleichtert und gespannt zugleich kletterte der Pilot hoch und sah sich um: Staub, nur Staub ... Den hatte er vermutlich mit seiner Landung hochgewirbelt. Nachdem sich dieser Augenblicke später verzogen hatte, kletterte Strohwein ins Freie und blickte sich gründlich um. Er befand sich in einer hügeligen Landschaft, die ihn entfernt an die alte Toskana in Italien erinnerte, als sie noch lichtdurchflutet und in satten Farben gestanden war. Zumindest wenn er seinen Geschichtsdateien trauen wollte. Jaja, hunderte von Jahren war es her, und heute ...? Halt – was schrieb das Protokoll vor? Unbedingte Konzentration auf das Hier und Jetzt. Was bot ihm die Umgebung noch? Etwa einen halben Kilometer nördlich erstreckte sich ein Waldrand, mit dunkelgrünem Gras bewachsene Hügel soweit das Auge reichte. Südlich in der Ferne reckte eine Gebirgskette bizarre Felsformationen in die Höhe, dazwischen Wiese. Am Himmel schienen zwei Sonnen.
Weit und breit war kein Lebewesen zu bemerken. Hinter sich blickend gewahrte der Pilot eine breite Schneise, die sein Raumschiff in den Boden und die Vegetation gerissen hatte. Augenscheinlich drohte keine Gefahr. Wie gravierend waren die Schäden am Schiff? Das war jetzt die entscheidende Frage.
Zurück im Cockpit begann Strohwein in aller Eile mit der Reparatur. Mit einem Mehrzweck-Schraubenschlüssel machte er sich am zentralen Sicherungskasten in der Nähe seines Sitzes zu schaffen. Bald war klar: Strom war grundsätzlich vorhanden, stand dem Schiff aber aus einem unbekannten Grunde nicht zur Verfügung. Der leidige Unterschied zwischen Theorie und Praxis!
Im Protokoll war für einen derartigen Fall vorgesehen, über eines der mobilen Module zur Restlichtverstärkung die Notfallprogramme zu initiieren. Irgendein Umgebungslicht gab es eigentlich immer in ausreichender Intensität. Glücklicherweise gelang dies nach geraumer Zeit. Das Wichtigste war nun das Programm zur selbsttätigen Reparatur. Weil die zentralen Teile des Spähers mit Nanotechnologie produziert worden waren, war das Schiff imstande, sich bis zu einem gewissen Grad selbst zu reparieren. Die knapp drei Stunden, die der Vorgang benötigte, verbrachte der Pilot außerhalb und sah sich weiter um. Im abgesicherten Betriebsmodus hätte das Schiff die Umgebung automatisch überwacht. Diesmal würde er den Wachhund wohl oder übel selbst spielen müssen.
Als Strohwein den Abschluss der Reparaturarbeiten überprüfte, hörte er zu seiner großen Erleichterung wieder Mona Lisas vertraute Stimme: „Zur endgültigen Wiederinbetriebnahme des Schiffes fehlt die externe Steuereinheit EMC 371. Bitte diese montieren und Notfallprogramm 1b starten. Davon abgesehen oszillieren die Para... äh, ist wieder alles in Ordnung."
„Schön, dich bei mir zu haben“, sagte Strohwein. „Selten habe ich die Stimme eines Menschen so gerne gehört wie dich jetzt.“
Mona Lisa stutzte. Sie war kein Mensch, ließ aber dem Piloten diese Illusion. Sie war ein quantenphysikalischer Computer und daher mit dem Gedanken vertraut, dass letztlich jede Wirklichkeit eine Illusion darstellte und umgekehrt jede Illusion eine Ausprägung von Wirklichkeit. Warum hätte sie sich kleinlich geben und Strohwein zurechtweisen sollen? Außerdem schmeichelte es ihrer Eitelkeit, wenn ihr Pilot sie als menschliches Wesen ansprach. Das war ein neuer Horizont, das eröffnete Perspektiven für eine spezielle Meditation … Mona Lisa lächelte geheimnisvoll, hintergründig, gleich dem Gemälde, das ein gewisser Leonardo da Vinci den Geschichtsdateien zufolge im 16. Jahrhundert gemalt hatte.
Strohwein machte sich auf den Weg, der Sache mit der Einheit EMC 371 nachzugehen. Die externe Steuereinheit war ein massiver, würfelförmiger Kasten aus poliertem Titan mit einer Kantenlänge von etwa 25 cm. Sämtliche übergeordneten Kontroll- und Backupprogramme waren darin zusammengefasst. Sollte die Bordelektronik ausfallen, konnten die wichtigsten Funktionen immer noch durch diese Steuereinheit initiiert werden. Fatalerweise war das Schiff ohne diese Einheit im Grunde außer Betrieb. Weil die Konstrukteure wollten, dass der Späher ebenso von außen in Betrieb genommen werden konnte, hatten sie die Andockstelle für die Einheit auf der hinteren Außenwand unter einem Staubschutzdeckel eingebaut.
Umgehend überzeugte sich Strohwein – tatsächlich, EMC 371 fehlte, den Deckel fand er zu seinen Füssen. Die Kontakte waren offensichtlich in Ordnung geblieben. Die Aufhängung war im Zuge des Reparaturvorganges soweit erneuert worden, dass es für den Notbetrieb reichte. Es ging also lediglich um die Einheit. Strohwein hielt es für notwendig, dass sein Späher wieder einsatzbereit war, bevor er sich an die Erforschung des Planeten machte. Deshalb galt es, zuerst das EMC 371 aufzutreiben. Es musste irgendwo in der Nähe des Weges liegen, den das Schiff bei seiner Landung genommen hatte. Unverzüglich schnallte Strohwein sein Datenarmband fester um den linken Unterarm, schaltete vom Diagnose- in den Aufzeichnungsmodus um. Dann machte er sich entlang der aufgerissenen Erde auf die Suche.
Nach Augenblicken, oder waren es doch Minuten?, fiel ihm auf, wie befremdlich sich sein Gang anfühlte. Hätte Strohwein nur auf den Boden vor seine Füße gesehen, würde er den Eindruck erhalten haben, kaum vom Fleck zu kommen. Ihm war fast, als liefe er gegen ein Förderband. Wäre es nicht blanker Unsinn gewesen, hätte er gesagt, er bewegte sich auf einem stehenden Gewässer, das ihn aus unerfindlichen Gründen auf der Oberfläche hielt. Eine blumige Umschreibung, rief er sich zur Ordnung.
Seinem diffusen Empfinden nach kam er keine hundert Meter weiter an einen kleinen Teich, kaum mehr als eine ausgedehnte Pfütze. Idyllisch umrandet von einigen dunkelgrünen Sträuchern glänzte sein Wasser klar und rein im Sonnenlicht. Vereinzelt kräuselte eine Welle zart die Oberfläche, da es fast windstill war. Das Gewässer war etwa eineinhalb Meter tief. Auf seinem Grund lagen eine Menge bunte Steine in unterschiedlicher Größe; wie Edelsteine. Manch einer davon leuchtete wie aus einem Märchenschatz. Fische ließen sich keine blicken. Fasziniert von der prächtigen Vielfalt blickte der Pilot eine Weile zum Grund des Gewässers. Als er sich abwenden wollte, kräuselte sich das Wasser auf der Oberfläche – etwas baute sich auf ... Binnen Sekunden bildete es einen überdimensionalen Mund, der in weiblicher Tonlage sagte: „Willkommen, mein Freund. Wer bist du?"
Noch ehe er staunt sein konnte, hörte er sich antworten: „Schönen guten Tag. Strohwein, Herwig Strohwein, Pilot der Konföderierten. Aber wer ich wirklich bin, weiß ich genauso wenig, wie jeder andere."
Das war eine seiner Standardpointen für den Fall, dass er einen geistreichen Eindruck schinden wollte. Mäßig intellektuell und allseits vertretbar, also bitte.
Der Teich fuhr fort: „Möchtest du baden, Strohwein? Du stinkst."
Ein Bad wäre durchaus angebracht, denn die Landung war aufregend, im wahrsten Sinne des Wortes schweißtreibend, gewesen. Strohwein überlegte keine Sekunde, ob er dem Gewässer trauen konnte, entledigte sich seiner Bekleidung und stieg ins Wasser. Es war kühl, erfrischte ausnehmend und fühlte sich irgendwie seidig an, wie es seine Haut bedeckte. Das machte gleich gute Laune. Strohwein konnte gar nicht genug kriegen, sich im Teich zu tummeln. So musste sich ein Baby im Mutterleib fühlen.
Ihm fiel ein, dass er vorhin allen Ernstes mit einem Teich geredet hatte! Wie kam es, dass ihm dies erst jetzt auffiel? Die Situation wurde ihm unheimlich und er beendete sein Bad. Als er wieder auf dem Ufer stand, sagte er zum Teich: „Danke, dein Wasser hat mich sehr erfrischt. Rieche ich jetzt besser?"
Würde ihm der Teich antworten? Nein, er blieb still ... Wahrscheinlich hatte Strohwein vorhin halluziniert, möglicherweise als Folge des langen Tiefschlafes. Solche Fälle waren verbürgt, obwohl ihm das in dieser Form bislang noch nicht passiert war. Die Begebenheit würde sein Datenarmband ohnedies mit wissenschaftlicher Präzision protokolliert haben. Das Gerät würde alles in Bild und Ton aufzeichnen, was ihm auf dem Planeten widerfahren würde.
Strohwein war bald trocken, bekleidete sich und schritt weiter. Nach kurzer Zeit tauchten zwei Hügel mit Weinfeldern vor ihm auf. Saftig und prall hingen die dunkelroten Trauben in Überfülle an den Stöcken. Bei genauerem Hinsehen erblickte er am anderen Ende der Felder verschiedene, mit der Ernte beschäftigte, Wesen. Mithilfe von Zangen sammelten diese die Trauben in hellbraunen Säcken, die zu einem Ochsenkarren getragen wurden. Eines der Wesen, die mit dem Tragen der Säcke beschäftigt waren, sah so aus, wie er sich einen Troll vorstellen würde. Zwei andere erinnerten ihn mit ihrer kleinwüchsigen Gestalt und befremdlichen Gesichtern an Kobolde. Ein Mann unbestimmten Alters und athletischer Statur, wallendes, schwarzes Haar bis zu den Schultern, vervollständigte die Mannschaft. Unweit von ihm stand der Ochsenkarren, zum Teil bereits beladen. Alle trugen mittelalterliches Outfit.
Kaum war Strohwein heran, redete ihn der Mann mit dem schwarzen Haar an: „Was blickst du verdutzt, Fremder? Hast du noch nie Leute bei der Weinernte gesehen?"
Der Pilot fiel aus allen Wolken. Man sprach seine eigene Sprache! Überdies hielt man ihn offenbar keineswegs für ein Wesen aus einer unglaublich weit entfernten Ecke des Weltraumes. Eine gemeinsame Wirklichkeit!? Wie das? Eine innere Stimme empfahl ihm dringend, die Lösung der Frage zu verschieben. Er sollte die gemeinsame Basis, so überraschend sie sein mochte, nicht vorschnell und vor allem unnötig in Frage stellen. Die Stimme riet ihm, vorerst auf die Leute einzugehen. Zum einen sollten diese keinen Verdacht schöpfen, zum anderen war er schließlich hier, um Informationen zu sammeln. Antworten würde es sicherlich geben, wenn es soweit war.
„Äh, jaja, gewiss, ich bin nur ... ein bisschen überrascht", entgegnete Strohwein, mühsam Herr der Lage werdend.
„Überrascht, dass andere arbeiten, während du zuschaust? Falls dir langweilig ist, steht es dir frei, bei uns mitzuarbeiten. Ich biete acht Silberlinge Bezahlung pro Woche, freie Kost und Unterkunft. Einen kräftigen Mann wie dich kann ich noch gut gebrauchen."
Der Pilot überlegte kurz und sagte zu. Mit einem kräftigen Handschlag wurde das Arbeitsverhältnis besiegelt. Man stellte sich einander vor:
„Strohwein, Herwig Strohwein.“
„Mathis.“
Der neue Arbeiter schnappte sich einen der leeren Stoffsäcke vom Ochsenkarren, stellte sich in die Nähe seines Arbeitgebers, und begann zu arbeiten. Strohwein tat es ausgesprochen gut, einmal etwas anderes zu machen, als mit seinen Fingern auf einem Display Eingaben zu tätigen oder mit elektronischen Schaltkreisen zu hantieren. Gänzlich neuartige Sinneseindrücke fluteten ihn: Pflanzen, also etwas Lebendes, in der Hand halten, abschätzen, ob sie reif genug waren, sorgsam, ja sogar pfleglich damit umgehen, ernten, was ein gesunder Boden zur Fülle brachte, die Erde riechen, die ihn trug, sich den Schweiß von der Stirne wischen, gelegentlich eine besonders saftige Traube im Mund verschwinden lassen, ihre Süße im Mund genießen, das Aroma in der Nase, der Geschmack am Gaumen … Woher er die Kenntnis nahm, wie Trauben zu ernten sind, fragte er sich nicht. Nachdem er sich anfänglich leicht unbeholfen angestellt hatte, ging die Arbeit sehr bald so flüssig vor sich, als hätte er niemals etwas anderes getan.
Ein summendes Insekt stellte sich vor Strohweins Augen ein. Gerade mal einen Zentimeter groß, mit gelbem Körper und schwarzen Querstreifen schwebte es mit unglaublich schnellem Flügelschlag eine Armlänge vor Strohweins Gesicht. Ihm war, als beobachtete ihn das Insekt. Strohwein hielt inne.
Der Kobold links neben ihm sagte spöttisch: „Du fürchtest dich allen Ernstes vor einer Schwebfliege? Die ist nur neugierig.“
Aha, da war also eine kleine, harmlose Lebensform, die ihn, Strohwein, durch noch kleinere Äuglein beobachtete, weil es an ihm interessiert war. Eine gänzlich ungewohnte Erfahrung ...
„Es ist nicht Furcht“, verteidigte sich Strohwein und griff sich die nächsten Trauben, zumal das Insekt – zu seinem Bedauern – weitergeflogen war.
Den Rest des Tages verbrachte er mit den anderen im Weinfeld bei der Ernte. Während der Tag voranschritt bemerkte Strohwein wie die zwei Sonnen auseinanderstrebten. Die eine näherte sich allmählich dem nördlichen, die andere im selben Tempo dem südlichen Horizont. Die Lichtverhältnisse blieben mehr oder weniger konstant. Als beide zur gleichen Zeit den Horizont erreicht hatten, stellte der Bauer seinen letzten Sack mit Trauben auf den Karren und rief: „Schluss für heute. Wir gehen nach Hause. Beeilt euch, bevor die Nacht anbricht.“
Eilends wurden alle Gerätschaften auf dem Ochsenkarren verstaut und schon trat man den Heimweg an. Dieser stellte sich als ausgetretener Fußpfad in der Breite ihres Ochsenkarrens heraus. Nach etwa einem Kilometer ging die kleine Schar an einer Wassermühle vorbei. Gänzlich aus schwarzem Holz erbaut und mit moosbewachsenen Dachschindeln träumte sie am Rande eines freundlich plätschernden Baches vor sich hin. Der Zahn der Zeit hatte sichtlich an der Mühle genagt und das Gebäude machte einen verwahrlosten, reparaturbedürftigen Eindruck. In gleichmäßigem Tempo drehte sich das mannshohe Mühlrad knarzend unter der treibenden Kraft des Wassers. Niemand war zu sehen.
Strohwein hörte den Bauern: „Dass mir keiner der Dämonenmühle zu nahe kommt.“ Ergänzend sagte er noch zu Strohwein: „Nachdem du fremd hier bist, nehme ich an, ist dir ihre Geschichte unbekannt. Möchtest du sie hören?“
Welche Frage?! Der Bauer sammelte sieh kurz und sprach weiter: „Vor vielen Jahren lebte hier ein geiziger Müller. Er arbeitete hart von früh bis spät und war seinen wenigen Lehrlingen und Gesellen ein unbarmherziger Meister. Eines Abends setzte er sich auf die Bank auf der Rückseite, steckte sich eine Pfeife an. Dann sagte er vor sich hin: ‚Ach, wenn ich doch mit weniger Mühe und vor allem ohne Arbeiter bezahlen zu müssen noch mehr Getreide mahlen könnte ...‛
‚Was würdest du dafür geben?‛, hörte er eine dünne, gleichwohl männliche Stimme. Ein kleines schwarzes Männchen, das just in diesem Moment aus dem umliegenden Gebüsch herangetreten war, hatte gesprochen. Listig lugten dessen Äuglein unter einem viel zu großen braunen Filzhut hervor. ‚Würdest du mir nach deinem Tod im Jenseits dienen?‛
‚Selbstverständlich‛, antwortete der Müller, der gar nicht an das Jenseits glaubte. Abgesehen davon, was sollte so ein kurioses Männlein schon für Bedürfnisse haben?
‚Dann schlag ein!‛
Als der Müller dies tat, war es ihm, als erhielte er einen Schlag in seinem Herzen. Kurz blitzte der Zweifel auf, ob recht daran getan hatte. Von einer Sekunde zur nächsten war das Männlein verschwunden.
Von da an wurde hier über Nacht wie von Zauberhand eine Unmenge Getreide gemahlen. Niemand wusste, wie dies geschah und der Müller gab das Geheimnis nie preis. Man spekulierte gar, ob er es selbst kannte. Der Müller entließ seine Arbeiter und er selbst kam mit viel weniger Zeit und Schweiß aus. Auf diese Weise machte ihn seine Mühle unglaublich reich. Mit der Zeit wurde der Müller faul. Den lieben langen Tag beschäftigte er sich damit, sein Geld zu zählen, das er im Keller eifersüchtig hortete. Manches Mal verlieh er welches und forderte es mit Wucherzins zurück.
Als er infolge seines Übergewichtes frühzeitig starb, fuhr seine Seele direkt in das finstere Reich der Dämonen in der Unterwelt, wo er seither dienen muss. Sein Schatz ist verschwunden, Die Mühle jedoch gilt als verflucht. Es heißt, Dämonen gingen dort um und keiner wage es, den Fuß hineinzusetzen. Da der Müller keine Erben hinterlassen hat, bleibt die Mühle unbewirtschaftet. Das Gebäude verfällt äußerlich, du hast es ja gesehen, aber es scheint, als sei das, was dem Müller zu Reichtum verholfen hat, nächtens immer noch am Werk. In der Finsternis rumort es nach wie vor. Unheimlich; niemand wagte es, das Geheimnis zu lüften.
Eines Tages tauchte ein großmäuliger Bursche auf und grölte herum, er sei ausgezogen, das Fürchten zu lernen. Man schickte ihn abends in die Dämonenmühle. Als er am darauffolgenden Tag abermals im Dorf erschien, hatte er graue Haare und den Verstand verloren. Er redete unverständliches Zeug. Seither lebt er als Dorftrottel unter uns."
Nach einer Viertelstunde Fußmarsches kam das Bauernhaus in Sicht. Nach Strohweins Einschätzung lag es etwa zwei Kilometer vom Weinfeld entfernt am Rande eines Dorfes, das aus vielleicht zwanzig oder fünfundzwanzig Häusern in aufgelocketer Anordnung bestand. Fachwerkbauweise, strohgedeckte Dächer und gemauerte Kamine, die einen Meter über den Dachfirsten den Rauch in den Himmel entließen. Die Gebäude des Bauernhofes waren quadratisch gruppiert und durch festes Mauerwerk verbunden. Die Anlage sollte offenkundig dem Schutz vor Angreifern dienen. Bauweise der Häuser und Ambiente der Ansiedlung erinnerten Strohwein an … ja, an was denn? Er hätte es beim besten Willen nicht sagen können.
Rechts vor dem Eingang stand eine etwa zwei Meter hohe Statue aus einem glatten, grauen Stein. Sie zeigte nach vorne eine verwachsene, hässliche Frauengestalt mit einer diabolischen Fratze, zum Glück notdürftig mit einem Schleier bedeckt. Nach rückwärts war sie als lächelnde, wunderschöne, nackte Frau gestaltet. Der Statue gegenüber, auf der linken Seite des Eingangs, stand ein Holzpflock der annähernd gleichen Länge in den Boden gestampft. Dieser war bis zwanzig Zentimeter über dem Boden mit eingeschnitzten, seltsamen Zeichen übersät.
Als der Bauer merkte, dass Strohwein davon ganz fasziniert war, erklärte er ihm: „Dir sind offensichtlich unsere Gebräuche und Sitten unbekannt, also lass mich dir erklären. Rechts siehst du unseren Schutzgeist, der unseren Feinden Hässliches androht. Wer aber das Haus verlässt, dem sollen freundliche und liebevolle Gefühle seinen Weg folgen.
„Wo ich herkomme, nennt man dergleichen Dinger Imagospurien“, warf Strohwein spontan ein. Woher wusste er das eigentlich?
„Mir ist es einerlei, wo du hergekommen bist, Fremder, oder welche Geschichte du hast. Du kannst bei mir arbeiten, solange du gut arbeitest und erhältst dafür Lohn, Unterkunft und Verpflegung, wie ich es dir versprochen habe. Sobald du faul oder schlampig wirst oder gar meiner Frau oder den Töchtern nachstellst, schmeiße ich dich raus. Mit den Mägden darfst du turteln, solange du ihnen nicht auf die Nerven gehst.
Jetzt zu unserem Ahnenpfahl. Du siehst ihn links. Für jede Generation, die das Haus überlebt, werden diese ringartigen Zeichen eingeritzt. Zum einen sind damit unsere Ahnen auf diesem Weg noch bei uns und zum anderen werden wir gelegentlich an sie erinnert.
Die Anzahl der Zeichen ist übrigens wichtig. Je mehr Ringe, desto mehr Gewicht hat das Wort unseres Vertreters oder Vertreterin bei den dörflichen Versammlungen. Und die Chancen auf das Bürgermeisteramt steigen ebenso.“
Im Gebäude begegneten ihm Tilda, die Bäuerin, ihre vier Kinder und drei Mägde. Mit dem Troll und den zwei Kobolden namens Finnigen und Winnigen als Knechte waren die Bewohner des Bauernhofes vollständig. Ohne Umschweife begab man sich in das Wohnhaus, in dem sich zu ebener Erde der Speiseraum befand, gefolgt von der Küche, aus der es nach Kräutern, Speck und Spiegeleiern duftete. Formlos nahmen alle an zwei grob zubehauenen Holztischen Platz. Am größeren aus hellerem Holz saß die Familie auf hölzernen Stühlen. Der kleinere, schon deutlich abgedunkelte Tisch, war dem Personal zugeteilt. Hier wies Bauer Mathis seinem Knecht Herwig Strohwein einen Platz auf den Holzbänken zu.
Eine der Mägde trug das Essen auf: Brot, Selchfleisch, Früchte und Schafsmilch. Strohwein wunderte sich ein bisschen, dass man über seine Anwesenheit keineswegs erstaunt schien und ihn mit Fragen betreffend seiner Herkunft usw. unbehelligt ließ. Darüber war er sehr erleichtert. Er gab sich alle Mühe, unauffällig zu bleiben und konzentrierte sich auf das Beobachten.
Als es endgültig dunkel wurde zündete eine der Mägde im ganzen Haus Kerzen an. Draußen zogen sich die Hühner in ihren Stall zurück. Aus den anderen Unterkünften für das Vieh drang bald desgleichen kein Laut mehr, allenfalls der scharrende Huf einer Kuh, die sich im Traum bewegte. Zwei Stunden später legten sich alle zu Bett in den Zimmern des oberen Stockwerks. Als Mathis Strohwein sein Zimmer zeigte, bat ihn dieser: „Entschuldige, hast du passende Kleidung für mich? Du siehst, ich bin etwas ... äh, naja, wie soll ich sagen ...“ Er deutete auf seinen Raumfahreranzug.
Bauer Mathis sah ihn kopfschüttelnd an und meinte nur: „Jaja, was immer du meinst, du kannst es laut sagen. Ich lasse dir etwas Bekleidung bringen. Wo trägt man eigentlich solches ... Zeug?“
Als Strohwein den Mund zu einer Antwort öffnen wollte, kam ihm Mathis zuvor: „Halt, nein, schweig lieber. Ich will es gar nicht wissen.“
Gute Frage, woher er diese fremdartige Kleidung hatte, war es doch Strohwein selbst ein Rätsel. Insofern kam es sehr gelegen, dass der Bauer auf keiner Erklärung bestanden hatte.
Keine zehn Minuten später hatte Strohwein ungefähr die gleiche bäurische Kleidung aus grobem Leinen an wie alle anderen. Seine alte Kluft legte er sorgsam zusammengelegt in eine Truhe, die neben seinem Bett stand. Diese hatte ihm Mathis zur Aufbewahrung der persönlichen Gegenstände zur Verfügung gestellt. Lediglich das eigenartige Armband an seinem linken Unterarm behielt er an, denn er meinte, es sehe recht schick aus und verleihe ihm die gewisse persönliche Note.
Dann legte sich der neue Knecht auf die Holzpritsche mit Stroh, welche als Bett diente. Auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers lag der Troll, der unglücklicherweise ausgeprägt schnarchte und furzte. Die unmittelbare Nähe Strohweins Lagerstatt zum geöffneten Fenster half einigermaßen. Zwei altersschwache Holzschränke dienten notdürftig als Raumtrennung. Vor dem Fenster schienen die drei Monde ...
Heute war ein wichtiger Tag gewesen; Strohwein fühlte es deutlich. Wieso eigentlich? Bevor er sich der Frage näher widmen konnte, fiel er in einen tiefen Schlaf ... Mitten in der Nacht schreckte er dermaßen hoch, dass er aus dem Bett fiel. Er hatte geträumt, er sei ein Raumpilot auf dem Weg durch die Tiefen des Alls und hätte mit seinem Schiff eine Bruchlandung auf dem Planeten gemacht …
Der Troll, durch den Lärm erwacht, fragte schlaftrunken: „Was ist los?“
„Ein Traum, nur ein Traum ...“
Die nächsten Tage verliefen ähnlich, außer dass der Kobold Finnigen zu Hause blieb, um die Weintrauben im Keller zu verarbeiten. Bauer Mathis wies Strohwein an, einen Tag im Weinkeller zu verbringen, um sich über die Herstellung des Weines ein Bild zu machen.
Fasziniert beobachte Strohwein, wie sorgfältig, fast liebevoll, die Trauben von den Ästen gelöst wurden. Dann kamen sie in die Weinpresse, anschließend wurde der Saft in Holzfässer abgefüllt. Dort sollte der Traubensaft gären und reifen. Gut Ding brauche Weile, kommentierte Finnigen den Arbeitsvorgang. Da ihn die Tiefe dieser Weisheit doch zu bescheiden dünkte, holte er weiter aus. Es gäbe ein mächtiges Geheimnis um die Zeit. Sie verwandle die gute Traube in einen edlen Tropfen, der mit Bedacht gewürdigt sein wollte, aus der schlechten mache sie einen sauren. Diesen schütte man besser weg, es sei denn, man veredelte ihn zu Essig. Und so wohne selbst dem Schlechten noch etwas Gutes in sich, das derjenige, der über die rechte Magie verfüge, zu manifestieren wisse. Bei diesem Gedanken verweilte der Kobold nachdenklich einen Moment.
Das Leben war ihm überhaupt wie ein einziger, großer Weinkeller, führte er seinen Monolog fort. Das Geheimnis der Zeit entfalte sich immer und überall, vorausgesetzt man lasse ihm den mentalen Raum. Ein Weinkeller sei der ideale Ort, in dem die Zeit genau das erhalte. Alles, was sie hier taten und was hier vor sich ging, diene nur dem einen Zweck – damit sich das Geheimnis entfalten kann.
Bereitwillig erklärte der Kobold Strohwein weiterhin, was sich im Weinkeller typischerweise abspielte. Tatkräftig half der Schüler mit, soweit er es vermochte. In einer der Arbeitspausen meinte Strohwein: „Bei so viel Werden und Vergehen in deiner Arbeit möchte man fast philosophisch werden. Ich verstehe, wenn du dich mit Liebe dem Weinkeller widmest.“
„Ja“, bestätigte Finnigen, indem er bedächtig mit seinem kleinen, verwachsenen Kopf nickte. „Es gibt einen weiteren Grund, der mit Philosophie nichts zu tun hat. Ich tue es aus einer Schuld heraus. Früher lebte ich in einer anderen Gegend, deren Mittelpunkt eine Burgruine auf einem weithin sichtbaren Felsen war. Es handelte sich um eine ehemalige Trutzburg, die nach ihrer Zerstörung durch die Barbaren im Laufe der Zeit verfiel. Irgendwann rankten sich allerlei seltsame Geschichten um das Gebäude wie der wilde Efeu, der die letzten Zinnen umgarnt.
Bei einer Familienfeier ging mir eines Tages gegen Abend der Wein aus. Arm wie eine Tempelmaus hatte ich kein Geld, um neuen zu kaufen. Wie peinlich! Ich drückte Aurelia, meinem ältesten Töchterchen, den leeren Krug in die Hand und sagte schweren Herzens: ‚Geh zur Ruine und hole uns Wein! Dort wird man dir selbst ohne Geld Wein geben; in den Kellern dort oben gibt's Wein zum Ertrinken!‛
Aurelia lief hurtig zum Schloss, hoch auf dem Felsen. Ich hoffte freilich, meine Gäste wären des Zechens müde, bis mein Mädchen wiederkäme, oder gar schon aufgebrochen. Dann wäre der leere Krug, den sie unweigerlich in der Hand halten würde, kein Problem.
Die Dunkelheit war schon hereingebrochen als sie zur Ruine kam. Alle Fenster waren hell erleuchtet, und drinnen ging es gar lustig zu: Musik drang heraus, Tanz, Gelächter. An der Zugbrücke stand eine edle, weißgekleidete