SARAH - SIE SIND ZAUBERHAFT - Anne Ashley - E-Book

SARAH - SIE SIND ZAUBERHAFT E-Book

Anne Ashley

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Beschreibung

Enttäuscht, weil ihr Vormund Marcus Ravenhurst sich in all den Jahren seit dem Tod ihrer Eltern nie um sie gekümmert hat, beschließt die entzückende Sarah, heimlich aufzubrechen und zu ihrer alten Erzieherin zu reisen. Doch das Schicksal will, dass just in dieser Zeit der äußerst vermögende Marcus sich auf den Weg macht, um sein Mündel in Bath zu besuchen. Als er Sarah dort nicht vorfindet, beschließt er, ihr nachzufahren. Durch einen aufkommenden Schneesturm muss er gezwungenermaßen in einem Landgasthaus übernachten. Eine ebenfalls dort wohnende junge Dame betört ihn sofort durch ihren ungewöhnlichen Liebreiz. Zufällig erfährt er, wer sie ist: seine verschwundene Sarah! Doch bevor Marcus sich zu erkennen gibt, geschieht im Gasthof ein Mord. Jetzt kann er beweisen, wie sehr ihr Wohl ihm am Herzen liegt…

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Anne Ashley

Sarah - Sie sind zauberhaft

IMPRESSUM

Historical erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Redaktion und Verlag:

Postfach 301161, 20304 Hamburg

Telefon: 040/60 09 09-361

Fax: 040/60 09 09-469

E-Mail: [email protected]

Geschäftsführung:

Thomas Beckmann

Redaktionsleitung:

Claudia Wuttke (v.l.S.d.P.)

Grafik:

Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

©

1997 by Anne Ashley Originaltitel: „The Neglectful Guardian“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: HISTORICAL ROMANCE Übersetzung: Dr. Ingrid Rothmann

Fotos: Harlequin Books S.A.

Veröffentlicht im ePub Format im 12/2012 - die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

eBook-Produktion: readbox, Dortmund

ISBN 978-3-95446-764-8

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

CORA Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Das perfekt aufeinander abgestimmte Grauschimmelgespann fuhr unter einem der schönsten elisabethanischen Torbögen der Grafschaft Wiltshire hindurch, um im Hof vor den Stallungen anzuhalten.

Marcus Ravenhurst, viel beneideter Besitzer der Grauen, wartete, bis sein Stallbursche von der eleganten Rennkarriole heruntergesprungen war und die Zügel übernommen hatte, ehe er mit der federnden Geschmeidigkeit des geübten Sportsmannes seinem Beispiel folgte.

Als Marcus zum Haus ging, fing sich der Februarwind in seinem Kutschermantel mit dem breiten Schulterkragen. Trockenes Laub wirbelte vor ihm über den Boden und wurde zu kleinen Häufchen zusammengeweht. Ehe er unter den schützenden Vorbau trat, fiel sein Blick auf die hohen Bäume, die den Bau verdunkelten. Missbilligend zog er die dunklen Brauen zusammen, sodass sein Gesicht den für ihn typischen finsteren Ausdruck annahm.

Er griff nach dem schimmernden Türklopfer und pochte einige Male energisch. Es dauerte eine Weile, bis die schwere Eichentür von einem grauhaarigen Butler geöffnet wurde.

„Ach, Master Marcus!“, rief der Alte erfreut und mit jener Vertraulichkeit aus, die nur treuen und langjährigen Dienern zustand, ehe er den unerwarteten Besucher eintreten ließ. „Ihre Ladyschaft ließ nichts von Ihrer Ankunft verlauten, Sir.“

„Sie erwartet mich nicht, Clegg. Auf dem Weg nach Somerset fiel mir ein, dass ich kurz vorbeischauen könnte. Ich bleibe nur eine Nacht.“

Nachdem er Handschuhe und Biberfilzhut auf den Hallentisch gelegt hatte, zog Marcus seinen Mantel aus, unter dem ein blauer Rock von erstklassigem Schnitt und ein blütenweißes Halstuch zum Vorschein kamen. Dazu trug er braungelbe Pantalons, die faltenlos seine muskulösen Beine umspannten. Seine schlichte, zweireihige Weste wies weder Uhrketten noch sonstigen Zierrat auf. Sein einziger Schmuck war ein goldener Siegelring, der seine kraftvollen, wohlgeformten Hände betonte.

Von der dezenten und eleganten Aufmachung wie immer beeindruckt, dachte der betagte Butler bei sich, dass es nicht viele Gentlemen gab, die so untadelig gekleidet waren und eine so gute Figur machten wie der älteste Enkel seiner Herrin.

„Ihre Ladyschaft befindet sich in ihrem Salon, Sir“, sagte er, als er ihm den Mantel abnahm. „Ich werde ihr melden, dass Sie eingetroffen sind.“

„Sparen Sie sich die Mühe, Clegg. Ich melde meine Ankunft selbst.“ Marcus ließ ein Lächeln sehen, das seine scharf geschnittenen Züge weicher wirken ließ. „Damit erspare ich Ihnen die Peinlichkeit, Ohrenzeuge der Strafpredigt zu werden, die mir droht, weil ich mich so lange nicht blicken ließ.“

„Wie Sie wünschen“, erwiderte der Butler ernst, aber mit einem verräterischen Zucken der Lippen. „Ich werde ein Zimmer für Sie vorbereiten lassen.“

„Danke, Clegg. Sorgen Sie dafür, dass mein Bursche alles Nötige hat.“

Am oberen Ende der Treppe angelangt, wandte Marcus sich nach rechts und ging den schmalen Gang zu den Privaträumen seiner Großmutter entlang um nach kurzem Anklopfen einzutreten. Die Dowager Countess saß in einem Sessel vor dem Feuer, eine Decke über den Knien, auf dem Schoß ein offenes Buch.

„Ist Besuch gekommen, Clegg?“, fragte sie ohne sich umzublicken.

„Wie schön, dass dein Gehör noch so gut ist, Großmama.“

„Ach, Marcus!“ Sie drehte sich um und sah ihrem Lieblingsenkel, der zielbewusst auf sie zuging, mit gerunzelter Stirn entgegen. „Ein ganzes Jahr habe ich dich nicht mehr gesehen. Ich dachte schon, du wärst tot!“, bemerkte sie trocken.

„Ein Vierteljahr um genau zu sein, Madam.“ In seinen dunklen Augen blitzte es spitzbübisch, als er ihr einen Kuss auf die rosige Wange hauchte. „Sicher bist du überglücklich mich so gesund und munter wiederzusehen.“

Sie reagierte mit einem spöttischen Auflachen. „Marcus, um Gesundheit und Munterkeit mache ich mir bei dir keine Sorgen, da du das bei Weitem am besten geratene männliche Exemplar unserer Familie bist. Zwar ist es mit deinem Aussehen nicht weit her“, fuhr sie mit ungeschminkter Offenheit fort, „aber es fliegen ja nicht alle Frauen auf ein hübsches Gesicht.“

Er stellte sich ans Feuer und wärmte sich den Rücken, während er sie liebevoll betrachtete. Nur ihr Ebenholzstock und ihr weißes Haar, das unter dem Spitzenhäubchen hervorlugte, verrieten ihre fünfundsiebzig Jahre. Sie hatte sich ihre glatte Haut bewahrt und ihre grauen Augen waren wach und aufmerksam wie eh und je. Ihr klarer Verstand und ihre scharfe Zunge bereiteten ihrem ältesten Sohn oft genug Unbehagen und brachten seine Gemahlin immer wieder in Verlegenheit. Da sie stets offen ihre Meinung sagte und mit spöttischen Kommentaren nicht sparte, wirkte sie auf ihre Umgebung ziemlich einschüchternd – nicht aber auf Marcus. Seine Großmutter gehörte zu den wenigen Menschen, denen er Bewunderung und Respekt zollte.

„Mir liegt nichts daran, als Adonis zu gelten.“

„Sehr vernünftig, zumal das Aussehen eines Mannes für eine kluge Frau nur eine untergeordnete Rolle spielt, wenn er reich ist wie Krösus.“

„So reich auch wieder nicht“, konterte er.

„Schwindel mich nicht an! Du gehörst zu den reichsten Männern Englands.“ Sie sah ihn mürrisch an, ehe sie gereizt fragte: „Wie lange willst du noch herumstehen und dich an meinem Feuer wärmen, mein Junge? Hol dir ein Glas Madeira. Er stammt aus Henrys Keller. Dass er etwas von Wein versteht, ist das einzige Zeichen von Intelligenz, das ich an meinem Ältesten entdecken konnte. Und wenn du schon dabei bist, kannst du mir auch eines einschenken.“

Gehorsam kam Marcus der Aufforderung nach und füllte zwei Gläser, von denen er eines seiner Großmutter reichte, ehe er sich in dem Sessel ihr gegenüber niederließ. Nachdem er den edlen Tropfen gekostet hatte, erkundigte er sich höflich, ob der Earl of Styne anwesend sei.

„Nein“, gab die alte Dame befriedigt zurück. „Er weilt mit seiner bleichsüchtigen Frau bei ihrer Mutter in Kent. Ich erwarte sie erst in einer Woche zurück, mit etwas Glück sogar später. Wolltest du ihn sehen?“

„Ich kann mich nicht erinnern jemals den Wunsch verspürt zu haben meinen hochgeschätzten Onkel Henry zu sehen“, gab er zur Belustigung seiner Großmutter offen zurück. „Aber ich finde, dass er ein paar Bäume fällen lassen sollte, da sie zu viel Schatten werfen. Der Garten ist eine wahre Schande.“

„Marcus, ich wäre dir dankbar, wenn du das mir überlassen würdest!“, antwortete sie nicht ohne Schärfe. „Zu meinen Lebzeiten wird kein einziger Baum gefällt. Das dichte Laub schützt mich vor neugierigen Blicken vom Herrenhaus her. Wilkins wird den Garten in Ordnung bringen, sobald sein Rheuma sich gebessert hat.“

Das Herrenhaus des Earl of Styne lag inmitten eines ausgedehnten Parks eine gute Viertelmeile vom Witwensitz entfernt, sodass es wahrer Argusaugen bedurft hätte, um von dort aus die Dowager Countess zu beobachten. Marcus, der wusste, dass eine Debatte zwecklos war, wechselte das Thema und erkundigte sich höflich, wenn auch mit mäßigem Interesse, nach dem Befinden der übrigen Familienmitglieder.

Da die Dowager Countess of Styne dem verstorbenen Earl sechs Sprösslinge geschenkt hatte, dauerte es eine Weile, bis sie ihm alles über ihre fünf noch lebenden Kinder und deren zahlreiche Nachkommenschaft berichtet hatte.

„Dass deine Mutter Agnes, meine Älteste, mein Liebling war, habe ich nie verhehlt. Sie war bei Weitem die Beste“, schloss sie.

„Vielleicht bin ich voreingenommen, aber das war auch immer meine Meinung“, erwiderte er mit einem für ihn untypischen Anflug von Zärtlichkeit.

„Nie hätte ich gedacht, ich würde eines meiner Kinder überleben.“ Sie schüttelte betrübt den Kopf. „Und dass mir ausgerechnet meine Agnes genommen wurde … Sie hat den Tod deines Vaters wohl nie verwunden. Die beiden waren ein Paar, wie es nur wenige gibt, und führten eine richtige Liebesehe.“

Als er darauf nichts erwiderte, schüttelte sie ihre Trauer, die auch nach sechs Jahren nicht nachgelassen hatte, ab und fragte den einzigen Sohn ihrer Lieblingstochter mit strengem Blick nach dem Grund seines überraschenden Besuches.

„Ich kann doch auf dem Weg nach Somerset nicht einfach vorbeifahren, ohne meine Aufwartung zu machen.“

„Ach?“ Sie schaute ihn fragend an. „Hast du zufällig die Absicht, dein Mündel in Bath zu besuchen? Komisch, erst gestern dachte ich an das Mädchen. Agnes war mit Sarahs Mutter eng befreundet.“

Er wollte sein Glas an die Lippen führen und hielt in der Bewegung inne. „Nein, das wollte ich nicht.“

Sein spröder Ton entging ihr keineswegs. Sie musterte ihn eine Weile versonnen, ehe sie mahnend fragte: „Besuchst du das Kind denn niemals, Marcus?“

Er stellte sein Glas auf das Tischchen neben seinem Sessel und stand unvermittelt auf, um wieder vors Feuer zu treten. „Für das Mädchen wird großzügig gesorgt“, erklärte er beinahe brüsk. „Ich habe sie zunächst in einer Schule in Bath untergebracht und dann Cousine Harriet in Mamas altes Haus am Upper Camden Place geholt, damit sie sich um die Kleine kümmert. Vierteljährlich überweise ich eine Apanage und mein Sekretär kümmert sich außerdem darum, dass es meinem Mündel an nichts fehlt.“ Der vorwurfsvolle Blick wich nicht aus den Augen seiner Großmutter, sodass ihm die Zornader schwoll. „Was willst du eigentlich? Was hätte ich sonst noch tun sollen? Woher soll ich wissen, wie man mit Schulmädchen umgeht?“

„Mit Schulmädchen?“, wiederholte sie verblüfft. „Marcus, wo bleibt dein Verstand? Sarah Pennington muss mindestens neunzehn sein. Ihre Mutter kam keine vier Monate nach dem Tod deiner Mama bei einem Kutschunfall ums Leben.“

„Na und?“

Sie sah ihn entrüstet an. „Marcus, sie ist das Patenkind deiner Mutter. Es wäre wirklich nicht zu viel verlangt, wenn du dir über die Zukunft deines Mündels Gedanken machen würdest. Was hältst du von einer Saison in London? Bath mag ja schön und gut sein, aber Sarah wird in London viel leichter einen passenden Ehemann finden. Wenn sie ihrer Mutter nach geraten ist, muss sie sehr hübsch sein. Hat sie eigenes Vermögen?“

„Nun, reich ist sie nicht, ihr Erbteil kann sich trotzdem sehen lassen.“

„Na bitte! Am besten, ich bespreche alles mit deiner Tante Henrietta, wenn sie aus Kent zurückkommt. Da sie im Frühjahr deine Cousine Sophia in die Gesellschaft einführen möchte, könnte sie auch Sarah unter ihre Fittiche nehmen. Aber ebenso gut könnte ich das auch selbst machen.“

„Die Mühe kannst du dir sparen“, gab er gleichmütig zurück. „Falls ich mich entschließen sollte, Sarah Pennington eine Saison in London zu ermöglichen, kann Harriet die Anstandsdame spielen. Sie wird schließlich dafür bezahlt.“

„Ach was! Diese Gans!“, tat seine Großmutter den Vorschlag geringschätzig ab. „Wenn du dich nicht vorsiehst, wirst du diese Frau nie wieder los. Mit ihrer Spielleidenschaft brachte sie schon ihren Mann an den Rand des Ruins.“ Sie starrte nachdenklich ins Feuer. „Aber im Moment bleibt dir nichts übrig, als dich auf deine Cousine zu verlassen. Ich wünschte, ich hätte mehr tun können, aber das alles kam so rasch nach Agnes’ Tod, dass ich für das Kind nur eine armselige Gesellschaft abgegeben hätte.“

Sein Ärger wich einem liebevollen Lächeln. „Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Sarah fehlt es an nichts. Im Laufe der Jahre habe ich zahllose ausführliche und überaus langweilige Briefe von Cousine Harriet bekommen, die mir dies bestätigten. Und was die Saison in London betrifft …“ Er zögerte kurz. „Nun, ich bin nicht zwar nicht grundsätzlich dagegen, aber es hängt viel von den Umständen ab.“

„Ach?“ Die Dowager Countess hob neugierig den Kopf. „Von welchen Umständen?“

„Es wird dich sicher freuen zu hören, dass ich in nicht allzu ferner Zukunft in den Ehestand treten werde“, vertraute er ihr ein wenig verlegen an.

„Es wird auch Zeit, dass du Nachwuchs in die Welt setzt, Marcus Ravenhurst!“ Nur ein kurzes Aufblitzen ihrer grauen Augen verriet ihre Freude. „Und wer ist die Glückliche? Kenne ich sie?“

„Schon möglich. Es ist Bamfords älteste Tochter. Sie war mit meinem Freund Charles Templeton verlobt. Du weißt vielleicht noch, dass er vor einigen Jahren kurz vor der Hochzeit bei einem Reitunfall ums Leben kam.“

„Ja, ich weiß. Aber an das Mädchen kann ich mich nicht erinnern. Ist es hübsch?“

„Hübsch?“, wiederholte er und starrte mit gerunzelter Stirn auf einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand, als fiele es ihm schwer, sich ihr Bild ins Gedächtnis zu rufen. „Nein, hübsch würde ich sie nicht nennen. Aber sie sieht gut aus und verfügt über Selbstsicherheit und Würde. Manche halten sie für hochmütig, aber das ist in meinen Augen kein Fehler.

Mit sechsundzwanzig ist sie nicht mehr in der ersten Blüte ihrer Jugend, aber ein Schulmädchen, das ständige Aufmerksamkeit von mir erwartet, wäre ohnehin nicht mein Fall. Wir kennen uns lange genug, um sicher sein zu können, dass wir gut miteinander auskommen. Ja“, fuhr er fort, als müsse er sich selbst erst überzeugen, „Celia Bamford ist für mich die ideale Frau. Sie weiß, was von ihr erwartet wird. Und wenn sie mir einen oder zwei Söhne geschenkt hat, besteht kein Grund mehr, viel Zeit miteinander zu verbringen.“ Das klang kalt und leidenschaftslos, fast so, als hätte er seine künftige Braut unter rein praktischen Gesichtspunkten ausgewählt.

Die alte Dame seufzte enttäuscht. Ihre Freude war von nur kurzer Dauer gewesen. „Aber liebst du sie auch, Marcus?“, fragte sie mit ungewohnter Sanftheit.

„Lieben?“ Sein schmaler Mund verzog sich zu einem zynischen Lächeln. „Übertriebene Gefühle sind nicht mein Fall. Im Laufe der Jahre musste ich erfahren, dass weibliche Liebe vom Grad meiner Großzügigkeit abhängt. Nein, gegenseitiger Respekt genügt vollauf.“

Anders als die Dowager Countess, die eine sehr unruhige Nacht verbrachte, war Marcus am nächsten Morgen sehr früh auf den Beinen und setzte seine Reise nach Somerset fort, nachdem er seiner Großmutter einen kurzen Abschiedsbrief geschrieben hatte.

Der Wind hatte sich gelegt, es war ein schöner, wenn auch kalter Tag. Wie ihr Herr waren auch die zwei Grauschimmel kräftig und von robuster Natur, sodass man die Abzweigung nach Trowbridge sehr zügig erreichte. Ravenhurst bog zur Verwunderung seines Stallburschen indes nicht ab, sondern fuhr in Richtung Bath weiter.

Da es seinem Herrn nicht ähnlich sah, sich in der Richtung zu irren, meinte der Reitknecht nach einigem Zögern: „Haben Sie den Wegweiser übersehen, Sir? Nach Trowbridge hätten Sie links abbiegen müssen.“

„Ich weiß, Sutton, aber ich habe mich zu einem kleinen Umweg entschlossen“, war die einzige Erklärung und Sutton, an die knappe Art seines Herrn gewohnt, gab sich damit zufrieden.

Marcus Ravenhurst war für seine scharfe Zunge und offene Ausdrucksweise bekannt, Eigenschaften, die zweifellos ein Erbteil seiner Großmutter waren. Wer ihn freilich gut kannte, wusste, dass er ein gerechter und ehrenhafter Mann war, solide und verlässlich, ein Mensch, den man in einer Krise um Hilfe bitten konnte.

Seine Dienerschaft war ihm treu ergeben, da er sich seit dem Tod seines Vaters als umsichtiger und fürsorglicher Dienstherr erwiesen hatte, der Fleiß und Treue belohnte. Dass seine Großmutter ihn wegen seiner Pflichtvergessenheit rügte, hatte ihn sehr verdrossen, später aber hatte er insgeheim eingestehen müssen, dass ihre Kritik nicht ganz unberechtigt war.

Als ihm mit knapp sechsundzwanzig die wenig beneidenswerte Position des Vormunds eines Schulmädchens zugefallen war, hatte er rasch eine ihm genehme Lösung gefunden, indem er seine verwitwete Cousine Harriet Fairchild in Bath im Haus seiner verstorbenen Mutter unterbrachte und ihr die Obhut über die verwaiste Sarah Pennington anvertraute. Danach hatte er die Existenz des Mädchens vermutlich vergessen, wären da nicht die langweiligen Briefe seiner Cousine gewesen, die er nicht gänzlich ignorieren konnte.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen, hielt er vom weiblichen Geschlecht nicht viel. Dank seiner guten Erziehung vor schlechtem Benehmen gefeit, wäre er zwar nie auf die Idee gekommen eine Dame vorsätzlich in Verlegenheit zu bringen, doch nahm er sich kein Blatt vor den Mund und hielt nichts von falscher Galanterie. Mit seinen scharfen Bemerkungen und abweisenden Blicken hatte er schon so manche hoffnungsvolle junge Debütantin eingeschüchtert. Für Migräne und andere Wehwehchen zeigte er wenig Verständnis und weibliche Tränen vermochten ihn selten zu rühren. Welche Rolle hätte er also bei der Erziehung eines jungen Mädchens spielen können?

Keine, sagte er sich. Es war daher im Interesse Sarah Penningtons gewesen, dass er Distanz gewahrt und sich nicht eingemischt hatte. Seine Miene erhellte sich ein wenig, obwohl ihm klar war, dass er sich wenigstens die Mühe hätte machen können, der Kleinen von Zeit zu Zeit zu schreiben. Auch hätte es nicht geschadet, sie hin und wieder zu besuchen.

Sein Gewissen regte sich, was bei ihm höchst selten vorkam und ihm gar nicht behagte. Folglich war seine Laune nicht die beste, als er sein Gespann vor einem Haus am Upper Camden Place zügelte.

Nachdem er Sutton befohlen hatte, die Pferde zu bewegen, klopfte er laut an die Haustür. Das junge Hausmädchen, das öffnete, tat nur einen Blick in seine finstere Miene und stotterte verlegen, dass seine Herrin heute keine Besucher mehr empfange.

„Ach?“, knurrte er in einem Ton, der so bedrohlich war wie sein Blick, und betrat unaufgefordert die Diele. „Nun, mich wird sie ganz sicher empfangen. Melde ihr, Ravenhurst sei gekommen.“

Nachdem es die Tür geschlossen hatte, verschwand das Mädchen in einem der Räume. Marcus, der voller Ungeduld wartete und dabei mit der Schuhspitze auf den Boden klopfte, vernahm Stimmengewirr, dann einen hohen schrillen Aufschrei.

Nun war es um seine Geduld geschehen. Er betrat den Raum, in dem die Bedienstete verschwunden war, und fand seine Cousine auf einer Chaiselongue liegend vor, während das junge Mädchen ihr Kühlung zufächelte. Eine Frau in mittleren Jahren, die zu ihrem dunkelblauen Tageskleid eine passende pelzverbrämte Pelisse trug, kniete neben der Liege und war bemüht, seine aufs Höchste erregte Cousine zu beruhigen, die bei seinem Eintreten in Tränen ausbrach.

„Du lieber Himmel, Harriet! Was fehlt dir denn?“

„Du …? Hier …? Ausgerechnet heute!“, tönte es erstickt hinter einem feinen Spitzentaschentuch hervor. „Sie ist fort! Durchgebrannt! Dieses schlimme, undankbare Kind! Wie kann sie mir das nur antun? Nach allem, was ich für sie getan habe?“

„Ich sagte Ihnen doch bereits, dass Sarah nicht durchgebrannt ist.“ Der Einwurf kam von der knienden Dame, die mit klugen grauen Augen zu dem hochgewachsenen Fremden aufblickte. Da sie merkte, dass er nur mit Mühe an sich hielt, erhob sie sich eilig. „Sie müssen Sarahs Vormund sein, Sir. Darf ich mich vorstellen? Ich bin Emily Stanton.“ Sie streckte ihm die Hand entgegen, die er in einem warmen, festen Händedruck festhielt. „Vielleicht ist es am besten, wenn wir uns zurückziehen und ungestört miteinander reden.“

Nach einem letzten ungeduldigen Blick auf die noch immer hysterisch schluchzende Harriet, folgte Marcus der Dame durch die Diele in einen kleinen Salon, der zur Straße hin lag.

„Darf ich der Äußerung meiner total verstörten Cousine entnehmen, dass mein Mündel durchgebrannt ist?“

Mrs Stanton musterte ihn prüfend. „Würde es Sie sehr beunruhigen, wenn es der Fall wäre?“

„Aber gewiss! Sie ist das Patenkind meiner Mutter. Es wäre eine grobe Pflichtverletzung meinerseits, wenn sie einem Mitgiftjäger in die Hände gefallen wäre.“

„Mitgiftjäger?“, wiederholte sie erstaunt. „Wollen Sie damit sagen, Sarah sei eine vermögende junge Dame?“

Er zog seine dunklen Brauen hoch, Zeichen dafür, dass er diese Frage für unverschämt hielt. „Warum zweifeln Sie daran, Madam?“

„Ja, warum eigentlich“, gab sie indigniert zurück.

„Vielleicht sind Sie so gut und erklären mir, was sich hier heute zugetragen hat und wo sich mein Mündel befindet?“, fragte er, nachdem er sie gebeten hatte, Platz zu nehmen.

„Nun, Mr Ravenhurst, nicht Sarah ist durchgebrannt, sondern meine eigene Tochter.“

Wieder zog er die Brauen hoch, diesmal vor Verwunderung. „Verzeihen Sie, Madam, aber das scheint Sie nicht sonderlich aus der Ruhe zu bringen.“

Sein trockener Tonfall entlockte ihr ein Lächeln. „Nein, ich bin nicht beunruhigt“, gestand sie offen. „Meine Tochter Clarissa und Captain James Fenshaw kennen einander von Kindesbeinen an, da seine Eltern unsere Nachbarn sind. Wir erfreuten uns überaus herzlicher Beziehungen, ehe mein Mann und Mr Fenshaw über ein Stückchen Land in Streit gerieten. Seit jener unglückseligen Episode hat mein Mann Clarissa jeden Kontakt zu James streng verboten.“ Sie spielte gedankenverloren mit den Bändern ihres Ridiküls. „Vor ein paar Wochen kehrte James von den Kämpfen in Spanien zurück. Kaum hatte er sich ein wenig erholt, da reiste er mit seiner Mutter nach Bath – angeblich zur Kur.“ Ihre Lippen zuckten verräterisch. „Ich ließ mich natürlich keinen Moment täuschen. Er freundete sich sofort mit Ihrem Mündel an und wurde in diesem Haus ein so häufiger Gast wie meine Tochter.“

„Wollen Sie damit andeuten, dass mein Mündel geheime Treffen zwischen Ihrer Tochter und diesem Mann förderte?“

Mrs Stanton hielt seinem Blick unbeirrt stand. „Ja. Sarah und meine Tochter sind seit ihrer Schulzeit eng befreundet. Ihr Mündel war oft bei uns in Devonshire. Sarah ist ein gescheites, liebes Mädchen, das ich sehr ins Herz geschlossen habe.“

„Da sie bei dieser Affäre ihre Hand im Spiel hat, ist es ein Zeichen von Großmut, wenn Sie noch immer so von ihr denken.“ Er warf einen Blick auf die Kaminuhr. „Soll ich die Verfolgung der Flüchtigen aufnehmen?“

Sie erhob sich stirnrunzelnd. „Würden Sie das tun, wenn ich Sie darum bäte?“

„Ich stehe zu Diensten. Es bedarf nur eines Wortes“, versicherte er, worauf ihr Stirnrunzeln sich vertiefte.

„Auch auf die Gefahr hin, dass Sie mich für eine schlechte Mutter halten, aber ich hoffe inständig, dass die jungen Leute es bis zur Grenze schaffen. Es war grausam und ungerecht von meinem Mann, die beiden zu trennen, da sie wie füreinander geschaffen sind. Leider musste ich mich den Anordnungen meines Gatten fügen, aber jetzt hat sich gottlob alles geändert.

Als Erstes muss ich Mrs Fenshaw besuchen und sie beruhigen. Anders als unsere Männer, sind wir noch immer Freundinnen. Ich weiß, dass sie mit mir einer Meinung sein wird. Natürlich muss ich meinem Mann schreiben und ihn von den Ereignissen in Kenntnis setzen, und wenn er dumm genug ist, den beiden nachzujagen … nun, dann kann man nichts machen!“ Sie seufzte. „Aber das alles ist für Sie von geringem Interesse, Mr Ravenhurst. Ihre Sorge gilt allein Sarah.“

„Sie mögen ja Sarahs Rolle bei dieser Geschichte auf die leichte Schulter nehmen, Madam, ich aber nicht! Ich werde mit der jungen Dame ein Wörtchen reden, wenn sie zurückkommt“, sagte er mit drohendem Unterton.

„Aber Sarah wird nicht zurückkommen!“ Ihre Miene verriet Überraschung. „Auch sie hat Bath verlassen.“

„Wie bitte?!“ Er war fassungslos. „Soll das heißen, dass sie das unselige Paar auf seiner Flucht begleitet?“

Zu seinem Ärger brach Mrs Stanton in Gelächter aus. „Verzeihen Sie“, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte. „Aber Sie kennen Ihr Mündel nicht. Nein, sie begleitet die beiden natürlich nicht.“

„Wo ist sie dann?“

„Ehe ich antworte, möchte ich Ihnen eine Frage stellen. Warum sind Sie nach sechs Jahren plötzlich auf den Gedanken gekommen, Sarah zu besuchen?“ Als sie darauf nur einen hochmütigen Blick erntete, fuhr sie lächelnd fort: „Sie finden meine Frage gewiss unangebracht, aber ich habe Sarah wie gesagt sehr lieb gewonnen und werde Ihnen nicht helfen, falls Sie die Suche nach ihr nur aufnehmen, um sie auszuschelten, weil sie in die Fluchtpläne meiner Tochter verwickelt war.“

Ein Geräusch, das einem leisen Knurren ähnlich war, kam aus seiner Richtung. „Seien Sie versichert, dass ich einzig und allein gekommen bin, um festzustellen, ob mein Mündel Wert auf eine Saison in London legt.“

„Ich verstehe.“ Mrs Stanton bedachte ihn mit einem langen, forschenden Blick. „Ich glaube, es gibt manches, was der Klärung bedarf“, bemerkte sie schließlich ein wenig rätselhaft. „Und ich werde Ihnen helfen.“

„Wissen Sie, wo mein Mündel stecken könnte, Madam? Und warum Sarah es nötig fand, dieses Haus zu verlassen, wenn nicht aus Angst vor Strafe?“

„Ich glaube, den Grund zu kennen. Ohne meine Tochter wäre es für Sarah hier sehr einsam geworden. Aber ich will nicht vorgreifen. Sie müssen die Wahrheit von Sarah selbst erfahren. Leider hat sie mir nichts über ihre Pläne anvertraut. Ich wünschte, ich könnte mehr für das Kind tun, aber …“ Sie seufzte bedauernd. „Sarah hinterließ Briefe für Ihre Cousine und für mich, aber in keinem verriet sie ihr Ziel. Sie bat mich nur um Verzeihung, weil sie Clarissa geholfen hat. Dummes Ding!“, fügte sie, den Tränen nahe, hinzu. „Als ob ich die Schuld bei ihr suchen würde!“ Sie hielt inne, als müsse sie sich erst fassen. „Ich konnte bereits in Erfahrung bringen, dass zwei Damen und ein Gentleman heute Morgen in einer Mietkutsche die Stadt verließen. Eine der Damen war meine Tochter, die zweite der Beschreibung nach Sarah. Ich glaube, sie wird bis zu der über Bristol nach London führenden Straße mitfahren und dann versuchen, nach Hertfordshire zu gelangen.“

„Was, zum Teuf… ich meine, was will sie dort?“, fragte er verdutzt.

Sie lächelte ein wenig spöttisch. „Vielleicht ist es Ihnen entfallen, aber ehe Sie Sarahs Vormundschaft übernahmen, befand sie sich in der Obhut einer gewissen Martha Trent, die als eine Art Gouvernante fungierte. Die beiden standen einander sehr nahe. Nachdem Sie Miss Trent entließen, wurde sie Erzieherin zweier mutterloser kleiner Mädchen in Hertfortshire, deren Vater sie nach einiger Zeit heiratete. Mrs Alcott, wie sie nun heißt, kam letztes Jahr zu Besuch nach Bath. Noch nie habe ich Sarah so glücklich erlebt wie damals und ich hörte Mrs Alcott wiederholt sagen, dass sie wünschte, ihr ehemaliger Zögling würde zu ihr ziehen. Deshalb glaube ich, dass Sarah sich genau dazu entschlossen hat.“

„Wissen Sie, wo Mr Alcott lebt?“

„Leider nein. Ich weiß nur, dass er in einem Dorf unweit St. Albans einen stattlichen Besitz hat und sehr angesehen ist. Sie dürften ihn mühelos ausfindig machen.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe, Mrs Stanton. Sie verzeihen mir gewiss, wenn ich Sie jetzt verlasse, aber die Zeit drängt.“

„Denken Sie nicht an mich. Ich bleibe noch eine Weile bei Ihrer Cousine.“ Sie legte ihm die Hand auf den Arm, als er zur Tür wollte. „Ich hielt Sie für einen pflichtvergessenen Vormund, Sir, aber nun scheint mir, dass ich mich getäuscht habe. Ihr Mündel ist zwar ein besonnenes junges Mädchen, aber beruhigt werde ich erst sein, wenn Sie sie gefunden haben.“

„Sie können sicher sein, dass ich sie aufspüren werde.“

„Da ich Sie nun kenne, zweifle ich nicht daran. Aber um eines bitte ich Sie: Bringen Sie Sarah nicht in dieses Haus zurück. Sollten Sie ihr kein anderes Heim bieten können, nehme ich Sarah gern auf.“

Ohne auf ihre Bitte einzugehen, sagte er: „Seien Sie versichert, dass ich meine Pflichten als Vormund in Zukunft nicht vernachlässigen werden. Irgendetwas hat mein Mündel bewogen, dieses Haus zu verlassen. Warum Sarah mir nicht mitgeteilt hat, dass sie hier unglücklich war, ist mir unbegreiflich. Aber ich gedenke den Grund herauszufinden.“

Mrs Stanton, die zusah, wie er Hut und Handschuhe vom Dielentisch nahm, war unendlich erleichtert, dass die Suche nach Sarah in den Händen eines so zielstrebigen und offenbar sehr besorgten Gentleman lag.

Ihre Erleichterung wäre indes von kurzer Dauer gewesen, hätte sie wenig später miterlebt, wie eben dieser Gentleman mit finsterer Miene ein bestimmtes Gasthaus aufsuchte.

Der Wirt hatte in jungen Jahren auf dem Landsitz der Ravenhursts gearbeitet und seinen Dienst nach dem Tod der geliebten Herrin gekündigt. Seinem Fleiß und seiner Redlichkeit war es zu verdanken, dass seine Herberge bald als eine der besten von Bath galt.

Er mühte sich eben mit einem Bierfass ab, als er eine laute, ungehaltene Stimme in der Schankstube hörte. Da er rüdes Benehmen in seinem Haus nicht duldete, ließ er sofort von seiner Arbeit ab, um nach dem Rechten zu sehen. In der Stube angelangt, blieb er wie angewurzelt stehen. Freudige Überraschung zeichnete sich auf seiner Miene ab.

„Master Marcus!“ Er umfasste Mr Ravenhursts Hand mit festem Griff. „Sie habe ich nicht mehr gesehen seit … nun, seit damals. Wie geht es, Sir?“

„Ganz gut, Jeb. Aber ich brauche deine Hilfe.“

„Jederzeit, Sir.“

„Ich wollte nach Wells fahren, musste aber meine Pläne ändern. Wärst du so gut, mir ein frisches Gespann zu geben und meine Grauen in deinem Stall unterzubringen, bis ich sie abholen lasse?“

„Aber gewiss, Sir! Ich überlasse Ihnen meine Füchse. Bei Ihnen weiß ich sie in guten Händen.“

Sie gingen hinaus auf den Hof, und während ein junger Stallknecht die Füchse einspannte, blickte Marcus die lange Reihe der Boxen entlang. Er wusste, dass viele Reiter hier ihre Pferde einstellten.

„Wo ist das Pferd meines Mündels?“, fragte er plötzlich, als sein Blick auf eine besonders hübsche Apfelschimmelstute fiel. Nachdem seine Cousine ihm geschrieben hatte, sein Mündel benötige ein Reitpferd, hatte er sich, anstatt die Sache seinem Sekretär zu überlassen, selbst darum gekümmert und in seiner Antwort Cousine Harriet gebeten, sich bei der Suche nach einem Pferd an Jeb zu wenden. „Ist es diese Stute?“

„Nein, Sir. Miss Pennington hat ihr Pferd nicht bei mir eingestellt. Hm …“, er kratzte sich am Kopf, „wenn ich es recht bedenke, habe ich sie nie ausreiten sehen.“

Marcus schaute Jeb nachdenklich an. „Kennst du mein Mündel?“

„Ja, Sir. Miss Sarah kommt natürlich nicht zu uns, aber ich sehe sie manchmal in der Stadt. Auch meine Frau kennt sie. Ein liebes Mädchen, sagt sie. Ist sich nicht zu schade für einen Schwatz, wenn sie einander auf dem Markt begegnen.“

„Auf dem Markt?“, wiederholte Marcus verblüfft. „Aber gewiss hat meine Cousine Dienstboten, die …“ Er sprach nicht weiter und folgte Jeb wieder auf den Hof hinaus.

„Mir will das Wetter nicht gefallen, Sir“, bemerkte Jeb mit einem Blick zum Himmel, an dem dunkle Wolken aufzogen. „Hoffentlich müssen Sie nicht zu weit fahren.“

„Das hoffe ich auch!“, erwiderte Marcus aus tiefstem Herzen, als er sich neben seinen Burschen in die Karriole schwang. „Deine Füchse schicke ich dir zurück, sobald es sich einrichten lässt. Nochmals vielen Dank.“ Damit trieb er die Pferde an.

Das fremde Gespann konnte sich mit seinen Grauen nicht messen, doch waren es kräftige Tiere und Marcus erreichte bald die Straße von London nach Bristol. Da er wusste, dass in Bath Klatsch rasch die Runde machte, hatte er dem Wirt den Grund seiner Fahrt verschwiegen, seinen Stallburschen aber hatte er eingeweiht.

Sutton warf seinem wortkargen Herrn einen besorgten Blick zu, als die ersten Schneeflocken wirbelten. „Hoffentlich finden wir die junge Dame bald. Es sieht mir nach viel Schnee aus!“

„Ich werde sie finden“, erklärte Ravenhurst grimmig. „Nicht einmal ein Schneesturm wird mich um das Vergnügen bringen meinem reizenden Mündel den Hals umzudrehen!“

2. KAPITEL

Sarah Pennington betrat den nur selten benutzten Privatsalon des Gasthauses und setzte sich auf die Holzbank vor dem Kamin. Die besorgte Wirtin hatte nichts davon wissen wollen, dass eine junge Frau sich im Schankraum unter den Einheimischen niederließ.

„Auf ihre Art sind es gute Menschen“, hatte sie gemeint, „aber zuweilen ein wenig derb.“

Sie war ganz Verständnis und Fürsorge für die Bedrängnis der armen jungen „Witwe“ gewesen. Sarah verzog spöttisch die Lippen. Wie sehr hatte sich der Empfang in diesem kleinen abgelegenen Gasthaus von jenem unterschieden, den man ihr zuvor in der belebten Poststation bereitet hatte. Dort war sie von der Wirtin unwirsch belehrt worden, dass die normale Postkutsche an ihrem respektablen Haus gar nicht anhielt. Nach einer nur widerwillig servierten Tasse Kaffee hatte Sarah sich zu Fuß weiter auf den Weg machen müssen.

Grässliches Frauenzimmer! dachte Sarah, noch immer verärgert über die unfreundliche Behandlung. Wie hätte sie ahnen sollen, wo die Postkutsche von London nach Bristol Pferde wechselte und Passagiere aufnahm, wenn sie noch nie im Leben auf diese Weise gereist war? Aber immerhin hätte sie wissen müssen, dass eine junge unverheiratete Dame ohne Begleitung auf Ablehnung stoßen würde.

Zum Glück aber hatte die Vorsehung Sarah Pennington nicht nur mit einem hübschen Gesicht und einer wohlgeformten Figur, sondern auch mit einem sonnigen Wesen und viel Humor, vor allem aber mit gesundem Menschenverstand ausgestattet, der sie veranlasste, ihr Versäumnis rasch zu korrigieren.

Kaum fühlte sie sich unbeobachtet, hatte sie aus ihrem Ridikül den Ehering ihrer Mutter hervorgesucht und ihn angesteckt. Eine verheiratete Frau konnte es sich erlauben, unbegleitet zu reisen. Und eine Witwe erst recht! hatte sie entschieden und ihren Fantasiegemahl prompt unter den Rasen befördert.

Schon bald hatte sich das Schicksal der jungen „Witwe“ gewogen gezeigt. Sarah war erst ein oder zwei Meilen gelaufen, als ein freundlicher Fuhrmann sie einholte, der ihr anbot, sie nach Chippenham mitzunehmen, wo sie auf die Postkutsche warten könne, oder gar bis Marlborough, wo er seine Fracht abliefern musste.

Eingedenk ihrer knapp bemessenen Mittel hatte Sarah nicht gezögert, das Angebot anzunehmen. Dann aber hatte sich ihr Glück wieder gewendet. Kaum lag Calne hinter ihnen, als Schneegestöber einsetzte.

Da der wetterkundige Fuhrmann schwere Niederschläge befürchtete, die es ihm unmöglich machen würden, Marlborough zu erreichen, gedachte er bei Freunden Quartier zu nehmen und riet ihr, in dem von der Straße aus deutlich sichtbaren Gasthaus Schutz zu suchen.

Sie war sehr froh, seinen vernünftigen Rat befolgt zu haben, da das Schneetreiben nun schon viel dichter war.

Sarah wurde aus ihren Gedanken gerissen, als der Wirt mit Brennholz eintrat. „Draußen wird es immer schlimmer, Mrs Armstrong“, sagte er, während er die Scheite vor dem riesigen Kamin stapelte. „Noch ehe der Tag um ist, werden hier etliche gestrandete Reisende Zuflucht suchen.“

„Das war vorauszusehen. Schon in Calne, wo mein Bruder mich hätte abholen sollen“, erwiderte sie und ließ erneut ihre Fantasie spielen, „sahen die Wolken bedrohlich aus. Eigentlich dumm von mir, dass ich nicht dort geblieben bin, aber die Poststation war so überfüllt und laut, dass ich Kopfschmerzen bekam und an die frische Luft wollte. Natürlich hatte ich auch erwartet, die Kutsche meines Bruders würde mir jeden Moment entgegenkommen.“

Dem mitleidigen Blick des Wirtes nach zu schließen, hatte die Erklärung, die sie für ihre missliche Lage geliefert hatte, sehr überzeugend geklungen.

„Ich bin ja so froh, dass ich von der Straße aus den Rauch aus Ihrem Kamin sah und so viel Verstand hatte, hier Unterschlupf zu suchen, anstatt nach Calne umzukehren.“

„Sehr vernünftig, Madam“, sagte der Wirt. „Um Ihren Bruder brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Vermutlich fährt er bei diesem Wetter nicht weit. Sobald es aufklart, bringe ich Sie nach Calne, wo er sicher schon auf Sie wartet.“

Sarah bedankte sich und sah ihm mit einem Anflug von Reue in ihren schönen blaugrünen Augen nach, als er hinausging. Wie sie es hasste, diese freundlichen Menschen zu belügen! Aber was blieb ihr denn anderes übrig?

Sie hätte es nicht ertragen, auch hier wie eine lästige Bürde behandelt zu werden. Sie hatte sich lange genug wie ein Mühlstein gefühlt, der anderen um den Hals hing. Nein, das stimmt nicht ganz, berichtigte sie sich. Man hatte ihr nicht das Gefühl vermittelt unerwünscht zu sein, zumindest hatte Mrs Fairchild es nicht getan. Und ihr Vormund hatte an sie überhaupt keinen Gedanken verschwendet.

Als sie sich abwandte und ins Feuer blickte, musste sie unwillkürlich an die Ereignisse denken, die sie in ihre gegenwärtige traurige Lage gebracht hatten.