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Henry hätte sich gern gegen einen Umzug in den berüchtigten Stadtteil geweigert. Doch dafür hatte er seiner Frau schon zu lange auf der Tasche gelegen. Also fügte er sich. Schon die Suche nach Menschen die seiner Sprache mächtig waren, gestaltete sich noch schwieriger als ohnehin erwartet. Während er langsam einen Weg findet, um sich mit den Gegebenheiten zu arrangieren, spielt sich in nächster Umgebung ein blutiges Drama ab, das auch durch intensive Gebete nicht verhindert werden kann.
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Seitenzahl: 326
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Impressum:
Umschlaggestaltung: K. Plüg
Alle Rechte by K. Plüg
Klaus Plüg
Satan betet nicht
Roman
Vorwort
Selbst ein ewig mies gelaunter Querulant wie Henry hätte mit seinem bisherigen Leben ganz zufrieden sein können. Aber einer wie er wollte und konnte nicht zufrieden sein.
Jetzt kam auch noch der, seiner Meinung nach, vollkommen überflüssige Ortswechsel hinzu. Was seine Frau Anita natürlich anders sah.
„Henry, wenn wir mit dem Geld auskommen wollen, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns von den noblen Herrschaften zu verabschieden.“
Mit einem nachsichtigen Lächeln fuhr sie fort: "dann heißen deine Nachbarn eben nicht mehr ›von und zu‹, sondern Hassan und Fatima."
Als wäre der Umzug an sich nicht schon schlimm genug, musste sie ihn auch noch mit seiner grundsätzlichen Abneigung gegen Ausländer hochnehmen. Und das jagte ihn immer wieder auf die eine oder andere Palme.
Im Süden einer, von der Politik schon viel zu lange vernachlässigten deutschen Großstadt, musste Henry nun mit den ungeliebten Tür an Tür wohnen.
Unter denkbar ungünstigen Vorzeichen bahnte sich eine Verbindung an, die kein harmonisches Verhältnis erwarten ließ.
Obwohl schon seit Jahren vom Kokain abhängig, würde wohl jeder Mann, Nadine eine bezaubernde Attraktivität bescheinigen. Als sie eines Tages Robert begegnet, einem jungen Mann, der als ebenso gewissenhaft wie scheu galt, schien ihre Rettung vor dem sozialen Absturz zum Greifen nahe.
Auf der verzweifelten Suche nach einem Weg aus der Drogenszene kam ihr Robert gerade recht. Sofort erkennt sie in ihm ihre vielleicht letzte Chance, für den Weg zurück, in ein normales Leben.
Doch die Sucht hat extrem scharfe Krallen und lässt ihre Opfer kaum entkommen.
Auf Konfrontation
Da konnte selbst Henry nicht meckern.
Wann gab es zuletzt so schönes Wetter? Ein strahlend blauer Himmel und behagliche Wärme kündigten endlich wieder einen verheißungsvollen Tag an. Zumindest in den letzten Wochen, wenn nicht sogar Monaten, war es ein eher seltenes Geschenk der Natur.
Auch Henry hätte dieses Ereignis gern als eine längst überfällige Geste der Wiedergutmachung, für einen komplett versauten Sommer begrüßt – würden da nicht diese kleinen, ständig krakeelenden Schreihälse auf dem Hinterhof ihr Unwesen treiben.
Wie gewöhnlich war er schon zu früher Stunde missgelaunt aus dem Bett gekrochen, um sich möglichst unbemerkt, dem Zugriff seiner Frau Andrea zu entziehen.
Seine Laune besserte sich ein wenig, als er das Fenster zum Hof öffnete und zum Erstaunen feststellte, dass sich das Wetter endlich von einer angenehmeren Seite zeigte.
Doch das gab sich schnell wieder. Er steckte den Kopf nur kurz aus dem Fenster und schlagartig verfinsterte sich seine Miene. Denn der unangenehme Lärmpegel, der präzise auf seine Ohren zu zielen schien, stieg weiter an und übernahm die Herrschaft über den zuvor so idyllisch ruhigen Hinterhof. Es kam ihm vor, als würde sich mit jedem neuen Sonnenstrahl, ein weiteres Kind auf dem Hof sehen und hören lassen.
Nicht, dass er etwas gegen Kinder hätte – nein, ganz und gar nicht, er hat sie sogar sehr gern. Wenn sie fröhlich sind und lachend, dann liebt er sie geradezu. Nur wenn sie sich zanken und zickig werden, und sich im Schreien gegenseitig übertreffen wollen, ja dann, dann schlägt seine Liebe schnell um, in Unverständnis und Abneigung.
Aber am heutigen Morgen trafen seine Befürchtungen noch früher und intensiver ein, als er befürchtet hatte.
Der grüne, lichtdurchflutete Hinterhof, den Henry mit einem guten Buch auf dem Bauch, in aller Ruhe genießen wollte, entpuppte sich ausgerechnet bei Sonnenschein, als ein fieser Störfaktor.
Nach einem kurzen Freudentanz brach zwischen den Kindern die übliche Zankerei aus. Sie schienen plötzlich an nichts mehr Freude zu haben; sie zankten und plärrten in einer Tour; sie schlugen und traten sich, als hätten sie untereinander einen Überlebenskampf auszutragen. Und jedem Gejammer, ob vor Wut, Schmerz oder Übermut, folgte immer wieder ein unerträglicher, lang gezogener, in die Stille schneidender Schrei: Aaaanee – Aaaanee! Und immer wieder, ertönte mit neuer Kraft die hinaus geschriene Forderung nach Anne. Wer auch immer diese vermaledeite Anne sein mochte, sie sollte sich endlich zeigen. Denn das Gekeife war nicht länger zu ertragen.
Henry war inzwischen außer sich vor Wut. Es kochte und brodelte in ihm. Zu lange hatte er diese Schreie schon zu ignorieren versucht. Wie sich allerdings heute Morgen wieder zeigte, ohne den geringsten Erfolg. Inzwischen war er schon so in Rage, dass er kaum noch kontrolliert atmen konnte.
Anne – Anne – immer wieder Anne.
Mittlerweile hatten sie sich mit ihrem Gekeife gegenseitig auf Orkanstärke hoch gepuscht.
Wenn es auch vereinzelt Menschen geben wird, die robust genug sind, um solch unaufhörliches, eintöniges Krakeele schadlos überstehen zu können, so gehörte Henry gewiss nicht dazu. Und was sollte eigentlich dieses dämliche Anne-Geschrei?
Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass diese Frauenzimmer, nach denen die Gören riefen, tatsächlich alle auf denselben Namen getauft waren. Ausgerechnet Anne. Wer, um alles in der Welt, heißt denn heute noch Anne?
Na ja - wenn sie wenigstens darauf hören würden und sich kümmerten, damit die Kinder wieder leichter zu ertragen wären.
Henry hatte in seinem Leben schon eine Menge aushalten müssen, aber was hier vor sich ging, passte nicht ins Bild seiner ohnehin zahlreichen Leidenswege.
„Lange halte ich das nicht mehr aus. Wenn sich diese Gören weiter so hysterisch aufführen, werde ich noch wahnsinnig. Irgendwann muss doch eins dieser Weiber ein Einsehen haben. Die können das Geschrei der kleinen Biester doch nicht einfach ignorieren. Wenn hier zur Abwechslung wieder Ruhe einkehren würde, könnte ich den Tag vielleicht noch so genießen, wie es mir zusteht“.
Stattdessen baute sich das Geschrei jedoch noch weiter auf, und reifte in seinen äußerst empfindlichen Gehörgängen zu einem unerträglich quälenden Schmerz heran.
Henry, der erstaunlich sensible Choleriker, verfluchte inzwischen jede verfluchte Anne auf diesem verfluchten Planeten. Er steigerte sich in eine Verzweiflung, die ihm langsam die Kontrolle zu entziehen drohte. Genau betrachtet, machte er den Kindern gar keinen Vorwurf, schließlich haben sie doch Eltern, die für ihre kleinen Lieblinge ein offenes Ohr haben sollten.
Weil sich nicht eines dieser Weibsbilder um die Kinder kümmerte, musste Henry sich nun den seit Langem herbeigesehnten, schönen Sommertag, durch ein nervtötendes Gebrüll vermiesen lassen.
„Der Name Anne scheint in dieser Gegend wohl ein Synonym für Taubheit zu sein. Denn sonst würde sich doch wenigstens eines dieser Weiber sehen lassen und sich endlich um die Probleme der kleinen Gören kümmern“, murmelte er verstört vor sich hin und glaubte schon nervöse Pickel zu bekommen.
Mittlerweile war Henry an jenem Punkt angelangt, der ihm keine andere Wahl mehr ließ, als selbst aktiv einzugreifen. Schon um seine Gesundheit nicht zu gefährden, wurde es höchste Zeit das Heft in die Hand zu nehmen. Wild entschlossen, mit dem Wut-Pegel am Anschlag, riss er vehement das Fenster auf, holte tief Luft und brüllte unbeherrscht, ohne sich gezielt einen der Schreihälse vorzuknöpfen, einfach das erstbeste Kind an:
„Verdammt noch mal, wenn ihr etwas von Anne wollt, dann geht doch endlich hin zu ihr, anstatt hier so herumzuschreien!“
Ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, war rein zufällig sein Opfer geworden, weil es dummerweise ausgerechnet jetzt, direkt unter seinem Fenster stand.
Die Unglückliche war wie vom Blitz getroffen und starrte zitternd vor Angst zu ihm hinauf.
Als er sah, wie die Kleine am ganzen Leib zitternd vor ihm stand, beschlichen selbst den hart gesottenen Henry schwere Schuldgefühle.
Sein Mitgefühl für das Mädchen milderte zwar nicht die Wut in ihm, lenkte sie nun aber wieder gegen all jene, die auf den kuriosen Namen Anne getauft worden waren, sich dennoch stur weigerten, auf die Rufe ihrer Kinder zu reagieren.
Er suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, um das Häufchen Elend zu trösten, musste aber schnell einsehen, dass er dazu keine Gelegenheit mehr bekam. Denn das, was die Kinder mit ihrem stundenlangen Gebrüll nicht erreicht hatten, war Henry mit einem einzigen Wutausbruch gelungen.
Anne hatte reagiert.
Zu seinem Unglück musste er feststellen, dass Anne auf seinen kurzen, aber selbst für Henrys Verhältnisse, durchaus heftigen Anfall, auf der Bildfläche erschienen war. Und zwar schneller als er es sich gewünscht hatte.
Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich eine schwarz verschleierte Gestalt vor seinem Fenster auf, und stellte sich keifend zwischen Henry und das kleine zitternde Mädchen.
„So eine verdammte Scheiße“, fluchte Henry in einem Anfall von Panik, „wenn das die Mutter der Kleinen ist, werde ich hier bis ans Ende meiner Tage nichts mehr zu lachen haben.“
Nicht genug damit, dass die vermeintliche Mutter des Mädchens über den konsternierten Henry herfiel, zu allem Überfluss mobilisierte sie mit ihrem Gekeife auch noch weitere Frauen. Sie alle verbündeten sich in Windeseile unter seinem Fenster zu einer wild schimpfenden Horde.
Zwar war nicht jede von ihnen von Kopf bis Fuß vermummt, doch trugen sie mindestens ein Kopftuch in so üppigen Ausmaßen, dass es für eine Totalverschleierung gereicht hätte. Einig waren sie sich im schmutzig blauen Farbton, welches immerhin noch den größten Teil ihrer vor Wut verzerrten Gesichter verschwinden ließ.
„Wenigstens das, tröstet ein wenig über die furchtbaren Klamotten hinweg", befand Henry, obwohl ihm eine eng anliegende Strumpfhose, wie sie jetzt gerade unübersehbar in Mode waren, wesentlich lieber gewesen wäre.
Henry verstand die Welt nicht mehr. Offensichtlich hießen tatsächlich alle Frauen Anne, denn jedes der Kinder rannte mit einem schrillen, ätzenden Anne-Geschrei auf eine der Frauen zu und schlang seine Arme um die, bis über die Schuhe in schwarzes Tuch gehüllten Beine.
Die den schwarzen Gespenstern gleichenden Erscheinungen, hatten nun jede, mindestens ein Kind an ihren finsteren Gewändern hängen und begannen nahezu gleichzeitig mit einem ohrenbetäubenden Geschrei. Es hätte schon weit weniger genügt, um Henry in Panik zu versetzen. Als wäre ihr wirres Geschrei nicht schon beunruhigend genug, fuchtelten sie auch noch wild drohend mit den Armen in der Luft herum.
Trotz seiner Verzweiflung hätte Henry ihnen gern die Situation erklärt und sie um ein wenig Verständnis gebeten. Dann wurde ihm jedoch schnell klar, dass weder die Frauen ihn, noch er die Frauen verstehen würde. Seine kläglichen Versuche zu ihnen durchzudringen, schienen die Furien noch anzustacheln. Jedes seiner Worte löste ein ohrenbetäubendes Echo aus.
In der festen Überzeugung, jedem weiteren Ärger dadurch aus dem Wege zu gehen, gab er dem ersten Impuls nach und schloss mit lautem Knall das Fenster.
„Das ist doch unglaublich. Ich bin hier geboren, hier ist meine Heimat, und dann verstehen mich meine Nachbarn nicht mehr. Nicht ein Weib aus dieser Horde wild gewordener Drachen kann mich verstehen.“ Henry war fassungslos.
„Natürlich sind die nicht von hier. Das ist doch nicht zu übersehen, aber die sind doch nicht alle nur auf einen Besuch vorbeigekommen.“
Für Henry war ganz klar ersichtlich, dass sie alle schon seit Längerem hier sind, dass sie hier wohnen und leben.
„Wenn die hier fremd wären, würden sie sich bestimmt nicht so aggressiv aufführen. Denn dazu muss man sich schon sehr sicher, wenn nicht sogar überlegen fühlen".
Henry war mit seiner Frau Andrea selbst viele Jahre im Ausland gewesen. Beide hielten es dort nicht nur für selbstverständlich, sondern sogar für lebensnotwendig, schnellstens die Landessprache zu lernen. Wer in einem fremden Land von den dort lebenden Menschen akzeptiert und geachtet werden will, muss sich natürlich zunächst einmal mit ihnen verständigen können.
Nun ist er, nach all den Jahren wieder in seiner Heimat und kann sich plötzlich nicht mehr mit seinen Nachbarn unterhalten. Schon gar nicht in einem gesitteten und manierlichen Umgangston. Da ist es doch kein Wunder, dass ihm die ganze Situation, in atemberaubendem Tempo über den Kopf gewachsen war.
Er wollte noch einen zaghaften Versuch starten, sich ihnen zu erklären und öffnete das Fenster wieder einen Spaltbreit, was er sofort bereute.
Die keifenden Weiber steigerten ihre Wut sofort zu einer Perfektion, der Henry nichts, aber auch rein gar nichts, entgegenzusetzen hatte. Ihm blieb also tatsächlich nichts anderes übrig, als möglichst schnell das Fenster wieder zu schließen und sich somit aus der Gefahrenzone zu bringen. Gewissermaßen aus reinem Selbsterhaltungstrieb. Diesen Schrecken musste er erst einmal verarbeiten. Bei dem vielstimmigen Gekeife, welches seine Ohren immer noch malträtierte, war das natürlich nicht so ohne Weiteres möglich. Also beschloss er, nachdem er die Schotten erst einmal dicht gemacht hatte, sich langsam wieder zu beruhigen.
Gleich neben dem geschlossenen Fenster lehnte er sich eingeschüchtert mit dem Rücken gegen die Wand, sackte langsam daran hinab und endete als hilfloses, menschliches Knäuel am Boden. Außer Sichtweite der Frauen hockte er dort zusammengekauert unter dem Fenster und kämpfte mutlos darum, seine Gedanken wieder geordnet unter Kontrolle zu bekommen.
„Was ist denn bloß da draußen los?“, fragte er sich hilflos. Deprimiert suchte er nach einer vernünftigen Erklärung für das, was sich da vor seinem Fenster abspielte.
„Natürlich kommen die aus islamischen Ländern“ schloss er messerscharf.
"Seit es Haarsprays gibt, trägt hier keine Frau mehr dieses überflüssige Tuch um den Kopf. Denn damals wollten sie nur ihre Frisur schonen – und nicht um ihre Haarpracht, auf die jede normale Frau stolz sein sollte, vor anderen zu verstecken. Ganz im Gegenteil – jeder sollte sehen, dass sie beim Friseur war. Aber ganz besonders gefährdet war die Frisur natürlich draußen, bei Wind und Wetter. Auf alten Fotos sieht man Trümmerfrauen die sich mit Kopftüchern gegen Staub und Dreck schützten."
Henry hielt sich selbst zwar für ausgesprochen tolerant, doch was ihm hier geboten wurde, übertraf bei Weitem alles, was seiner Meinung nach, zur Entfaltung der persönlichen Freiheit gehörte.
„Was soll ich denn verbrochen haben? Ich habe doch nichts anderes mit ihren Kindern getan, als das, was diese Kampfhennen jetzt mit mir machen. Mir ist doch nur etwas, vielleicht ein wenig zu heftig herausgerutscht und dafür wollen die mich nun am liebsten umbringen. Was für einen Grund haben die Weiber denn, so aggressiv zu sein? Wieso glauben die hier so ein Geschrei veranstalten zu dürfen, wenn ich mich nicht einmal gegen deren Kinder zur Wehr setzen darf? Ich bin laut geworden, richtig, aber doch nur, weil ich dringend meine Ruhe haben muss. Ich habe doch schließlich auch ein Recht auf Ruhe. Wo steht denn geschrieben, ich müsste mir von Kindern alles gefallen lassen? Nein, das muss ich nicht – ich darf mich dagegen wehren.“
Die wild keifende Horde vor seinem Fenster rief Erinnerungen an die bizarre Beerdigung des Ayatollah Khomeini in ihm wach. Damals führten sich die Klageweiber, die den Ober-Mufti zu Grabe tragen wollten, dermaßen hysterisch auf, dass der Verstorbene, mitsamt seinem Sarg, zu Boden gerissen wurde.
„Was hier auf dem Hof noch fehlt, ist lediglich die Beerdigung. Im Verhalten dieser Furien sehe ich kaum einen Unterschied, zum damaligen Spektakel im Iran.“
Henry brachte momentan nicht einmal den Mut auf, sich zu erheben, um seinen halbwegs sicheren Platz unter dem Fenster zu verlassen. Obwohl er nichts lieber täte, als aus dem scharfen, schneidenden Lamento der unverständlichen Beschimpfungen, schnellstens zu entkommen. Als er den Kopf hob, um vorsichtig über die Fensterbank zu spähen, sah er mit Entsetzen die, wie wild fuchtelnden Hände und tauchte sofort wieder ab. In dem kurzen Moment war ihm jedoch nicht entgangen, dass einige, relativ ruhig im Hintergrund stehende Frauen, zu all den schwarzen Klamotten auch noch schwarze Handschuhe trugen.
„Das ist doch hochgradig abartig“, flüsterte er glasig ins Leere blickend.
„Die tragen doch keine Handschuhe, weil sie so modebewusst sind, das kann man doch nur mit religiösem Wahn erklären. Ich vermute, ihre Männer sind so streng gläubig, dass sie jedes sichtbare Fleckchen Haut, als hemmungslose Schamlosigkeit verurteilen, die dann mit irgendeiner göttlichen Strafe belegt werden könnte.“
Henry konnte wegen der ziemlich lautstarken Feindseligkeiten, die weiter ungehindert seine Ohren folterten, keinem zusammenhängenden Gedanken mehr nachgehen.
„Kann auch sein, dass es gar nichts mit ihrem angeblich alles verzeihenden Gott zu tun hat. Vielleicht gibt es nur diesen einen Grund: Ihr Mann will es so und nicht anders.“
Er versuchte sich von dem Getöse vor seinem Fenster nicht weiter beeinflussen zu lassen, doch unter diesen Umständen fiel es ihm verdammt schwer.
Was muss im Kopf eines Mannes vor sich gehen, der befürchtet, andere Männer hätten nichts Besseres zu tun, als seine Frau zu bespringen, nur weil sie ihre Haare oder die nackte Haut ihrer Hände zeigt? Was mag dieses vollkommen überzogene Misstrauen gegen die eigene Frau und fremde Männer ausgelöst haben?
„Ich sehe nur eine Möglichkeit“, dachte Henry, „sie reflektieren ihre eigene verkorkste Moral auf andere. Versetzt die Herren der Schöpfung denn wirklich schon das kleinste Fleckchen nackter Haut in zügellose Ekstase, die ihnen dann jede Kontrolle über ihren Sexualtrieb entzieht? Und wenn sie wirklich so triebgesteuert sind, dann glauben sie natürlich, dass alle anderen Männer ebenso veranlagt sind, und bringen ihren Frauen, oder wohl eher sich selbst, ein Mindestmaß an Sicherheit, indem sie ihre Angetraute, für jeden anderen Mann, praktisch unsichtbar machen.
„Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass diese Männer wirklich versuchen, ihren Trieb zu kontrollieren. Sie sind keine mitleiderregenden Opfer ihrer übernatürlich stark ausgeprägten Männlichkeit, denn sonst würde sie nichts davon abhalten, rücksichtslos über jede westlich gekleidete Frau herzufallen; denn die gehen wahrlich nicht in Sack und Asche, um ihre Reize zu verbergen.“
Henry hielt seine Kenntnisse über den Islam, für absolut ausreichend und glaubte, sein Urteil über die islamische Religion würde auf unerschütterlich sicheren Füßen stehen, obwohl sich sein Wissen tatsächlich aber in übersichtlichen Grenzen bewegte.
„Sollte es tatsächlich so sein, dass sie nicht den geringsten Respekt vor den, ihrem Verständnis nach, Ungläubigen haben, warum können unsere Frauen dann trotzdem, zumindest überwiegend, von ihnen unbehelligt durch die Straßen gehen? Müssten nicht an jeder Straßenecke und in jedem Hausflur, vor Geilheit geifernde Männer lauern, um lechzend über die, nach ihrer Auffassung, unsittlich gekleideten Frauen herzufallen? Schließlich lustwandelt eine moderne junge Frau nicht nur halb nackt, sondern, was vielleicht in ihren Augen noch verwerflicher ist, mit unanständig entblößter Haarpracht, unzüchtig vor ihren triebgesteuerten Blicken umher“.
Henry kramte automatisch einige Bilder aus seiner Erinnerung hervor, was seinen objektiven Blick ein wenig verklärte.
„Appetitlich ist das schon. Na ja, nicht immer, aber zumindest in den meisten Fällen. Doch welcher normale Mann möchte das schon wegen einiger geschmackloser Auftritte komplett verbieten?“
Ich frage mich wie es wohl bei ihnen Zuhause abläuft? Wenn sie unter sich sind und unbeobachtet von der Außenwelt, tun und machen können, was sie wollen?
Trägt sie dann auch ihre absolut unerotische Kleidung und das dazugehörige Kopftuch, so wie wir sie von der Straße her kennen? Dann müsste sie Daheim für ihn ebenso unsichtbar sein, wie für uns. Und das würde bedeuten, sein Trieb bleibt auch dort ausgeschaltet.
Wenn er aber einen kleinen Mohammed zeugen will, nimmt er ihr die Kopfbedeckung ab und kommt durch den liederlichen Anblick ihres unbedeckten Haares so richtig in Fahrt.
Oder ist es doch eher so, dass sie es sich selbst vom Kopf nimmt, wenn sie Lust hat? Ich kann mir nicht vorstellen, wie beim Anblick dieser Kopftücher, die nicht nur überflüssig, sondern meistens auch noch in finsteren, deprimierenden Farben gehalten sind, überhaupt noch Lust aufkommen kann?“
Henry konnte sich keinen Reim auf diese Lebensweise machen, verspürte aber auch nicht die geringste Lust, sich die Frauen ohne irgendeines ihrer Kleidungsstücke vorzustellen.
„Vor mir müssen die absolut keine Angst haben, meinetwegen brauchen sie sich nicht einmal unter ihren Klamotten zu verstecken. Mir würde schon vollkommen genügen, wenn mich diese Kampfhennen einfach nur in Ruhe ließen.“
Mit fest geschlossenen Augen versuchte er, durch leichtes Kopfschütteln, die erschreckenden Bilder der Frauen wieder loszuwerden. Was jedoch keinen Erfolg haben konnte, solange er sie noch vor seinem Fenster keifen hörte.
„Ist mir doch egal“, dachte er, „mit ihren häuslichen Regeln müssen sie schon selbst klarkommen. Nach ihrem selbstbewussten, hemmungslosen Auftreten zu urteilen, fühlen sich diese Xanthippen jedenfalls bei uns Zuhause. Aber warum sprechen sie, wenn sie hier schon bei und mit uns leben wollen, nicht auch unsere Sprache? Sie können doch nicht bis in alle Ewigkeit nur unter sich bleiben. Sie müssen Einkaufen, zum Arzt oder zur Bank gehen. Und vor allen Dingen sollten sie lernen ihren deutschen Nachbarn in einer Sprache zu beschimpfen, die er auch versteht“.
Während seiner Überlegungen wurde es draußen vor seinem Fenster, wider Erwarten, endlich ein wenig ruhiger.
„Wenn ich davon ausgehe, dass deren Ehemänner hier zur Arbeit gehen“ dachte Henry, „müssen doch wenigstens die, unsere Sprache sprechen. Von irgendetwas müssen sie ja leben. Und letzten Endes können sie ja nicht alle erst gestern hier angekommen sein“.
Henry und seine Frau hatten im Ausland nie Probleme. In jedem Land, in dem sie Urlaub machten, konnten sie sich mit den Menschen verständigen, und zwar in deren Landessprache.
„Andrea, das gehört sich einfach so“ hatte er seiner in solchen Dingen oft widerspenstigen Frau damals gesagt.
Henry vertrat die Meinung, man müsste sich wenigstens die im Alltag gebräuchlichen Worte schon zu Hause, noch vor Antritt der Reise einprägen. Selbst im Urlaubsort befasst man sich dann noch täglich mit der fremden Sprache, und spürt dafür die Dankbarkeit der Menschen, als würden sie beschenkt. Wenn es besonders gut läuft, kann man sich mit den Einheimischen sogar ein wenig gedanklich austauschen. Nur so kommt auf beiden Seiten Freude und Verständnis für einander auf. Von denen, die nach Deutschland kommen, um hier zu leben und zu arbeiten, sieht aber anscheinend kaum jemand die Notwendigkeit, sich mit uns zu unterhalten, obwohl sie hier leben wollen.
„In der Türkei wurde den Kurden ihre Muttersprache verboten. Sollten wir dann in unserem Land von den Zuwanderern nicht wenigstens erwarten dürfen, dass sie nach und nach unsere Sprache erlernen? Es muss bestimmt nicht gleich perfekt sein. Aber nein, stattdessen verlangen sie, dass wir uns integrieren.“
Henry grummelte noch eine Weile vor sich hin, bis er bemerkte, dass sich die Frauen auf dem Hof langsam zu beruhigen schienen. Vereinzelt hörte er nur noch hier und da eine vor sich hin schimpfen.
Er fühlte sich ein wenig an Vögel erinnert, die zur Brutzeit um jeden Preis ihren Nachwuchs verteidigen wollten. Wenn jemand ihrem Nest näherkam, als ihnen lieb war, stimmten sie in angriffslustigen Tiefflügen eine schrille, drohende Schimpferei an, die erst wieder nachließ, wenn sich die Bedrohung weit genug von ihrer Brut entfernt hatte.
Auch in seiner Situation war der schnelle Rückzug das einzig Sinnvolle, was ihm im Augenblick dazu einfiel. Er musste erst mal aus der Schusslinie verschwinden, dann würden sie ihn schon bald wieder vergessen haben.
Seit Henry bereits im zarten Alter von neununddreißig Jahren, großzügig von Vater Staat in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde, hätte er eigentlich ein ruhiges Leben führen können.
In Zeiten gut gefüllter Renten- und Pensionskassen schickten unsere Politiker, ziemlich leichtfertig und kurzsichtig, zahlreiche Arbeitnehmer, vorzugsweise aber die allseits beliebten Staatsdiener, schon beim kleinsten körperlichen oder auch psychischen Knacks, frühzeitig in den Ruhestand. Am Besten packen sie noch eine große Abfindung als Entschädigung oben drauf. Vermutlich, weil sie gegebenenfalls selbst darauf zurückgreifen können.
Henry sah damals keine Veranlassung, sich mit allen Kräften gegen die Entscheidung seiner Vorgesetzten zur Wehr zu setzen, obwohl er sonst doch nur allzu gern, bei jeder Gelegenheit gegen alles anging. Die Abfindung blieb ihm allerdings versagt.
Da der Umgang mit seinen Kollegen von Tag zu Tag schwieriger wurde, nicht nur für ihn, auch für seine Kollegen, belastete er das Betriebsklima dermaßen, dass er mit der Zeit zum Problem für den gesamten Arbeitsablauf wurde.
Nach all den Jahren des Kleinkrieges, konnte er schon keine minimale Unhöflichkeit mehr ertragen. Der mittlerweile jedoch ziemlich rüde Umgangston hatte deshalb immer häufiger einen Arztbesuch mit anschließender Krankmeldung zur Folge. Selbst wenn mehrere Menschen gleichzeitig redeten, wurde für Henry schon ein echtes Problem daraus. Bei der kleinsten Belastung breitete sich langsam eine höllisch unangenehme Migräne in seinem Schädel aus, was jedes Mal zur Folge hatte, dass er zu absolut nichts mehr zu gebrauchen war.
Außerdem hatte er, als Bockbeiniger, sturer Gerechtigkeitsfanatiker, im Gegensatz zu den meisten anderen Mitarbeitern, schon immer große Probleme, sich der allgemein üblichen Hackordnung in den Betrieben anzupassen, oder gar zu unterwerfen.
Recht muss, um jeden Preis, Recht bleiben, das war sein unumstößliches Gesetz; daran durfte niemand rütteln.
Für Henry gab es keine Farbnuancen, keine feinen Zwischentöne. Für ihn war alles ausschließlich Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse. Und genau deshalb wurde der Umgang mit ihm, für seine sonst so entspannten Mitarbeiter, zur unüberwindlichen Barriere. Sie klebten immer öfter in kleinen Gruppen beieinander, zerrissen sich die Mäuler, tuschelten bei jeder Gelegenheit, um endlich zu einem Resultat zu kommen: so ging es nicht weiter, er musste weg.
Also bekam der starrköpfige, sture Bock, mit dem man nicht reden konnte, eine Abfindung und der Frieden war wiederhergestellt.
Jedoch nicht für Henry; Henry kannte keinen Frieden. Er kannte nur seine Meinung und die ließ keinen Frieden zu. Besonders extrem reagierte Henry auf Lärm, oder genauer gesagt, auf das, was er als Lärm empfand. Wobei nicht unbedingt die Lautstärke entscheidend war, viel wichtiger war, dass jedes Geräusch in seiner näheren Umgebung, ein gewisses Mindestmaß an Harmonie mit seinem Innenleben einging. War das nicht der Fall, wurde für ihn jeder noch so harmlose Ton, zwangsläufig zu einer schier unerträglichen Marter, die früher oder später, seinen Schädel zu sprengen drohte.
Im Laufe der Zeit steigerten sich seine Wutausbrüche und führten immer öfter zu geistigen und körperlichen Ausfällen, die schließlich dazu führten, dass niemand, wirklich niemand mehr etwas mit ihm anfangen konnte.
Inzwischen, so sagt man, haben sich die ehemaligen Kollegen und auch die Vorgesetzten langsam wieder von ihm erholt. Und selbst Henry ging es seither um einiges besser. Zum großen Teil lag es wohl daran, dass er jetzt jedem Ärger hätte aus dem Wege gehen können, wenn er denn nur gewollt hätte. Immerhin fühlte er sich bis vor wenigen Minuten als eigener Herr seines Zornes.
„Dieser Mist geht natürlich wieder auf Andreas Rechnung, die ich bezahlen muss“, schimpfte Henry einmal mehr auf seine Frau, „schließlich war sie es, die ja unbedingt in diese Gegend ziehen wollte. Und wer ist wieder nicht hier, wenn es brenzlig wird?“
Da sein Einkommen durch die Frührente um einiges geschmälert wurde und die Abfindung nicht ewig halten würde, ließ er sich, nach langem Gezeter, dann doch von seiner Frau davon überzeugen, dass es besser wäre, sich eine preiswertere Wohnung zu suchen.
Natürlich hätten sie gleich misstrauisch werden müssen, als ihnen mehrere Wohnungen gleichzeitig zur Auswahl angeboten wurden. In einer guten, oder wenigstens normalen Wohngegend, die so einer Bezeichnung gerecht wird, ist so etwas kaum zu erwarten.
Die Wohnung gefiel ihnen ja recht gut, was man von der Umgebung schon weniger sagen konnte. Es gab zwar sehr viel Grün in diesem Viertel, aber leider waren die Gebäude und Straßen, und deshalb vielleicht auch die Gesichter der Menschen, sehr düster.
„Wenn man nicht viel bezahlen kann, oder will, wie wir“, sagte Andrea nur, „muss man eben einige Abstriche in Kauf nehmen“. Damit war die Sache für sie vom Tisch.
Für seine Frau schien nach den ersten Tagen festzustehen, dass er in dieser neuen Umgebung wohl nie seinen Frieden finden würde und Freunde schon gar nicht – denn die hatte er schließlich noch nirgends gefunden. Sollten die Nachbarn hier bisher in Frieden gelebt haben, so wird es, wie sie ihren Henry kennt, damit wohl auch bald vorbei sein.
Den ersten Kontakt zu den Anwohnern hatte selbst er sich nicht so miserabel vorgestellt. Nun wohnten sie gerade seit ein paar Tagen hier und schon wollten ihm diese verdammten Weiber an den Kragen.
„Erst einmal muss ich hier verschwinden, damit die mich möglichst schnell wieder vergessen“. Schon glaubte er den erlösenden Gedanken gefunden zu haben.
„Ich benutze einfach die Haustür zur Straßenseite, dann bin ich, noch bevor die sich alle wieder beruhigt haben, längst über alle Berge.“
Damit die streitbaren Krähen vor seinem Fenster den Fluchtplan nicht durchschauen konnten, kroch er vorsichtig über den Boden in Richtung Wohnungstür. Wenn er sie in dem Glauben ließ, er würde hier weiterhin verängstigt auf dem Fußboden hocken, würde das nur zu seiner eigenen Sicherheit beitragen. Über Maßnahmen, die sich eignen würden, ihnen diese bösen Attacken heimzuzahlen, wollte er dann später in aller Ruhe nachdenken. So billig wollte er sie jedenfalls nicht davonkommen lassen.
Im Augenblick musste er sich aber damit zufriedengeben, unbemerkt aus dem Blickfeld dieser Horde wild gewordener Weiber zu entkommen. Wenn er dann endlich irgendwo seinen geliebten Kaffee trinken und die Zeitung nach den üblichen haarsträubenden Geschichten durchstöbern konnte, würde auch er sich wieder beruhigen.
Was er dann, nachdem er durch die Haustür auf die Straße getreten war, sah, ließ ihn im ersten Moment zusammenzucken und trieb ihn beinahe zurück in die Wohnung.
Kopftücher! Wo er auch hinsah – überall Kopftücher.
Nach der ersten Schrecksekunde bemerkte er, dass es nicht etwa die streitbaren Hyänen vom Hinterhof waren, die, die seinen Plan durchschaut hatten, und Henry nun auf der Straßenseite gebührend in Empfang nehmen wollten.
Denn, nachdem sich sein Magen wieder entspannt hatte, bemerkte er, dass ihn diese Frauen überhaupt nicht zur Kenntnis nahmen. Warum sollten sie auch? Sie wussten nicht einmal, dass er überhaupt existierte. Für sie war er Luft. Sie schauten einfach durch ihn durch. Erst jetzt begriff Henry, dass Kopftuch, nicht gleich Kopftuch ist. Wenn er die Gesichter auch nicht voneinander unterscheiden konnte, so erkannte er doch immerhin die unterschiedlich bunten Farben mit denen diese Frauen ihre Haare verbargen. Die keifenden Weiber auf dem Hinterhof dagegen, trugen ausnahmslos dunkles, farb- und schmuckloses Gewebe um den Kopf gebunden. Die Frauen und Mädchen, die er jetzt vor sich hatte, schienen ausnahmslos jünger zu sein und verhüllten ihre Haarpracht unendlich farbenfroher.
Nachdem er diese Entdeckung gemacht hatte, fühlte er sich prompt ein wenig sicherer, fragte sich aber dennoch, wo sich all diese Frauen aufgehalten hatten, als der Hausverwalter sie zum ersten Mal in die Wohnung führte.
Schlagartig fiel ihm ein, warum der Besichtigungstermin schon so früh am Morgen stattfand. Weil die, die noch einen Job haben, zu der Zeit schon außer Haus waren, während sich aber deren Frauen und Kinder noch genüsslich im Bett herumwälzten.
Und den Umzug hatten sie dann am späten Abend bewältigt, mithilfe ihrer vorherigen Nachbarn, die, vermutlich um sicherzugehen, dass er sie wirklich und endgültig verlassen würde, gern mit anpackten. Zu so später Stunde waren, außer einigen Nachtschatten, kaum noch Gestalten auf der Straße wahrzunehmen. Zumal es auch noch in Strömen regnete.
Auch wenn die akute Gefahr, allem Anschein nach, fürs Erste gebannt zu sein schien, war ihm noch immer ein wenig flau in der Magengegend. Das bedeutete jedoch nicht, dass Henry sich die Umgebung seiner neuen Heimat in aller Ruhe hätte ansehen können. Denn von nun an musste er sehr genau auf jeden seiner Schritte achten. Manche Mitbürger spuckten derart fleißig auf die Gehwege, das man glauben könnte, sie würden dafür bezahlt werden, und zwar mit Akkordlohn. Und zu allem Überfluss erledigten die Hunde ihr Geschäft mit dem gleichen Eifer, an gleicher Stelle, was natürlich ebenfalls ein kostenloser Service war. Wobei nicht zu übersehen war, dass nach den widerlichen Hinterlassenschaften zu urteilen, beide Gattungen sehr zahlreich vertreten waren.
Die Zweibeiner, die ein unübersehbares Problem mit der Überproduktion ihres Speichels hatten, fanden augenscheinlich, ebenso wie die Vierbeiner, kein geeigneteres Plätzchen für ihre Ausscheidungen, als ausgerechnet den Gehweg.
Mit ebenso regem, wie überflüssigem Eifer, schienen andere Fußgänger zur gleichmäßigen Verteilung der stinkenden Produkte ihren Beitrag zu leisten - oder waren sie nur Opfer ihrer geistigen Abwesenheit. Erst durch dieses Breittreten waren die sauberen, trittsicheren Flächen der Fußwege, immer kleiner und seltener geworden. Um ebendiese Stellen sicher und genau treffen zu können, musste er die ganze Konzentration seinen Füßen widmen. Da kann man doch nicht einfach drauf losrennen. Sich oben die Umgebung ansehen, um unten in den Dreck zu latschen, das ist seine Sache nicht. Das überlässt er dann doch lieber den geistig Abwesenden.
Und am Abend, wenn die engen Gassen nur noch in kraftloses, aschgraues Licht getaucht sind, sollte man besser gleich im Hause bleiben. Die holprigen, mit Hundekot, Speichel und sonstigem Unrat verdreckten Fußwege, liegen in nahezu totaler Finsternis, wogegen die sorgfältig asphaltierten, ebenen Straßen erfreulich gut beleuchtet sind, obwohl doch jedes Auto mit seinem eigenen, opulenten Licht ausgestattet ist.
„Sollte es dafür tatsächlich eine logische Erklärung geben?“, überlegte Henry, während er seinen Fuß gerade noch rechtzeitig, über eine hervorstehende Gehwegplatte hob und so ein Stolpern vermeiden konnte. „Mir verschließt sich allerdings jeder tiefere Sinn für diese einseitige Regelung.“
Obwohl im herrlich milden Sonnenlicht nahezu jeder erdenkliche Dreck vor seinen Füßen gut zu erkennen war, kam er durch seine übertriebene Vorsicht nur recht schleppend voran. Gelegentlich warf er auch noch sicherheitshalber einen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass sich hinter seinem Rücken nicht doch noch Gefahr zusammenbraute. Denn mit den vermummten Gestalten vom Hinterhof, wollte er jetzt nichts mehr zu tun haben. Oder besser gesagt, weder jetzt noch sonst irgendwann.
Wegen, wenn auch kleiner, so aber doch recht zahlreicher Hindernisse, schaffte er die kurze Strecke bis an die Hauptstraße, nur sehr zäh fließend aber ohne wirklich erwähnenswerte Zwischenfälle.
An der Kreuzung blieb er kurz stehen, um sich zu orientieren. Er sah erst links in die Hauptstraße, um seine Erfolgsaussichten abzuschätzen. Er hoffte dort ein ordentliches Café zu finden, entschied sich dann aber doch rechts in den belebteren Teil der Straße einzubiegen.
Hier erwarteten ihn eine Vielzahl kleiner Geschäfte, Stände und Imbissbuden, die sich auf beiden Seiten der Straße aneinander-reihten. Sie waren nur ab und zu durch einen Hauseingang unterbrochen, weshalb man sie erst bei genauerem Hinsehen voneinander unterscheiden konnte.
„Das ist hier ja wie vor fünfzig Jahren“, dachte Henry, „hier leben sogar noch die guten, alten Tante-Emma-Läden. Da werde ich schon irgendwo einen richtigen Kaffee trinken können“.
In meinen Becher Kaffee trinken, ein paar Zigaretten rauchen, sofern man da auch noch rauchen darf, und nebenbei die Zeitung lesen. Mehr wollte er doch gar nicht.
Auf den ersten Blick machte die Szene einen angenehm vertrauten Eindruck. Leider war der zweite Blick dann schon ziemlich ernüchternd. Irgendwie fügte sich die Ladenzeile in das schreckliche Bild, welches sich eben, vor gerade ein paar Minuten, unauslöschlich in sein Hirn gebrannt hatte.
Zunächst kam er an einem, vermutlich türkischen, Gemüseladen vorbei, gefolgt von einem Kiosk, dessen einziges Schaufenster mit unzähligen Zetteln zu gekleistert war, deren Beschriftung für Henry nur den Rückschluss auf einen ebenfalls türkischen Inhaber zuließ. Der Kiosk wurde von Männern belagert, die alle in einer Hand eine Zigarette, in der anderen eine Bierdose hielten und dennoch wild gestikulierend aufeinander ein plapperten. Obwohl Henry nicht ein Wort verstand, machte ihm der Zustand der Leute unmissverständlich klar, dass sie so etwas wie eine Lebensversicherung für den Inhaber waren. Er war sicher glücklich über das niedrige Einkommen seiner Kunden, als sie selbst, weil deren Geld offensichtlich für eine Kneipe nicht ausreichte.
Der bunt bestückten Auslage nach, ließ die nächste Gemüsehandlung, ebenso wie die vorherige, wieder nur unschwer dieselbe Herkunft des Betreibers erkennen. Auch dort lag die Angebotspalette aus, die hauptsächlich aus verschiedenen Melonen, roten und grünen Peperoni, Porree und vor allem Paprika in allen Größen, Farben und Formen bestand.
Anschließend wurde er von einer echten Abwechslung überrascht: Es gab hier weder Grünzeug noch Alkohol oder Zigaretten – hier wurde Fleisch angeboten.
Der Schlachterei brachte Henry etwas mehr Aufmerksamkeit entgegen, als den anderen Läden. Er blieb sogar einen Moment stehen und ließ seinen Blick so lange über die Angebote schweifen, bis ihm plötzlich klar wurde, dass etwas, für ihn ganz selbstverständliches, in der Auslage fehlte. Schweinefleisch. Genau das ist es. Es gibt in diesem Laden kein Schweinefleisch.
Was ist das denn für ein Schlachter, der ohne Karbonaden und Schnitzel auskommt?
Er hob ein wenig den Kopf und sah angestrengt durch das Schaufenster, in dem sich die Läden der anderen Straßenseite spiegelten. Nach einem Moment erkannte er den kleinen, blassen Mann hinter der Theke, dessen Gesichtsfarbe, der des toten Lamms, verblüffend ähnlich war. Er schlug mit heftigen, gut gezielten Hieben auf das Lamm ein. Mit feurigem Eifer ließ er sein Hackebeil immer und immer wieder auf die Fleischbrocken hinab sausen.
„Auch der Metzger wird vermutlich ein Türke sein, oder zumindest einer von den Muslimen, die hier, aus einem dieser vielen islamischen Länder, so massenhaft vertreten sind“.
Na prima, dachte Henry, wenn ich eines Tages über die Dörfer fahren muss, um mir eine Karbonade zu kaufen, dann haben sie ja endlich geschafft, was sie sich vorgenommen haben. Dann haben sie sich nämlich so ausgebreitet, dass für die Ungläubigen, die wir ihren Augen sind, kein Platz mehr sein wird.
Er trat zwei Schritte zurück, um die Schrift über dem Geschäft lesen zu können. Dort stand in großen, roten Buchstaben, wenn auch ziemlich verwittert, aber dennoch gut zu erkennen als „Fleischerei“.
„Wenn der man überhaupt weiß, was das Wort bedeutet?“, fragte er sich, vielleicht nicht einmal zu Unrecht.
Selbst der folgende Bäcker mit Kaffee-Ausschank war allem Anschein nach in ausländischer Hand.
Henry überlegte kurz, ob er trotzdem einkehren sollte, schließlich wollte er nur einen Kaffee trinken und nicht lange rumquatschen.
Die jüngsten Ereignisse hatten jedoch zu tiefe Spuren bei ihm hinterlassen, als dass er sich auf ein unnötiges Risiko einlassen wollte. Dafür kannte er sich selbst zu genau. Er könnte sich nicht ausgerechnet jetzt von Ausländern in ein Gespräch verwickeln lassen, ohne großen Ärger zu bekommen. Letztlich musste er davon ausgehen, dass es selbst in dieser Straße einen ausländischen Geschäftsinhaber gab, der die deutsche Sprache beherrschte, oder sie doch zumindest verstehen konnte. Da hätte es leicht passieren können, dass Henry im falschen Moment das Richtige sagen würde. Einem unnötigen Risiko aus dem Wege zu gehen, hatte seiner Meinung nach nichts mit Feigheit zu tun, sondern war eher eine Frage der Intelligenz.
Also suchte er hartnäckig weiter nach einem gemütlichen Kaffeestübchen, mit heimatlicher Sprache und Atmosphäre.
Stattdessen … „Pizzeria Roma“.
Über die Jahre war das allerdings schon ebenso zum vertrauten Anblick geworden, wie das Chinarestaurant etwa, das ja inzwischen auch zum gewohnten Stadtbild gehört.
Wie, um den Eindruck abzurunden, befand sich nur wenige Meter entfernt ein griechisches Restaurant.
„Das ist fast langweilig, ein Grieche; den gibt es auch schon mindestens hundert Jahre in Deutschland. Und – benötigt den wirklich jemand? In Griechenland, okay, aber hier, bei uns?“
Ein afrikanischer Hüne füllte nahezu vollständig den Eingang des nächsten Geschäftes aus. Der Laden hinter ihm, war bis unter die Decke, mit einer unüberschaubaren Ansammlung aus afrikanischen Ländern vollgestopft. Durch zwei Fenster waren im hell erleuchteten Geschäft geschnitzte Masken, menschenähnliche Figuren und Tiere, geformt aus verschiedenen Holzarten, Ton und Elfenbein, zu sehen.
Erst einige Meter hinter dem afrikanischen Kunterbunt, gelangte er wieder an einen Händler, der mit nahezu identischen Angeboten seiner vorherigen Konkurrenten, versuchte, die Passanten vom Kauf seiner Ware zu überzeugen.
Mittlerweile gewann Henry den Eindruck, dass sich nahezu jede Abwechslung in diesem Viertel, auf unterschiedliche Nationalitäten der Geschäftsinhaber bezog.
Langsam bekam er den Eindruck, zwischen dem rasanten Absturz seines seelischen Gleichgewichts, und dem, was ihm hier als fremde Kultur präsentiert wurde, bestehe ein unmittelbarer Zusammenhang. Aber auch diese Erkenntnis machte ihn keineswegs glücklicher. Erst wenn er das für ihn Wichtige unter all den Angeboten ausmachen konnte, würde er sich wieder etwas wohler fühlen.
Die mancherorts umjubelte Vielfalt der Nationen konnte ihm gestohlen bleiben; letztlich suchte er nach seinem eigenen Kulturkreis, einem vertrauten Kreis, in dem er sich so richtig wohlfühlen konnte.
„Das war einmal meine Heimat“, brummelte Henry, „jetzt haben es diese vielen Einwanderer tatsächlich geschafft, meine Heimat, zu ihrer zu machen.“
Nun war es schon so weit, dass es ihn verwirrte, als er plötzlich hinter seinem Rücken Menschen hörte, die er problemlos verstehen konnte. Seit er seine Wohnung verlassen hatte, war es das erste Mal, dass er diesen vertrauten Wortschatz hörte. Dadurch wurde ihm erst richtig bewusst, welchem Irrtum er unterlag, als er glaubte, die Sprache der Dichter und Denker würde ihn sein Leben lang in der Heimat begleiten.
Als er sich spontan und neugierig nach den vertrauten Worten umdrehte, sah er in die, durch ein offenbar beschwerliches Leben geprägten Gesichter, eines außerordentlich betagten Ehepaares.