Nicht ohne meine Götter - Klaus Plüg - E-Book

Nicht ohne meine Götter E-Book

Klaus Plüg

0,0

Beschreibung

Mit Gottfried heften wir uns an die Fersen eines alten Mannes, der nicht bedauert, dass er im Begriff ist, sich aus dem irdischen Dasein zu verabschieden. Seine Hoffnung beruht auf ein endgültiges Ende; nichts mehr hören, sehen und vor allem nichts mehr fühlen. Doch dann kommt alles anders als erhofft. Der Engel Michaela beschert ihm einen wohlig warmen Empfang im wolkigen Himmelreich. Nach intensiver Aufklärung über ein recht sonderbares Dasein im Himmel erklärt sie ihm, warum alle erdenklichen Götter an einem Tisch sitzen und gemeinsam ein seltsames Ziel verfolgen. Die Umsetzung ihrer Pläne ist ohne die Hilfe der Ungläubigen jedoch nicht realisierbar.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 254

Veröffentlichungsjahr: 2023

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Wohin des Weges, alter Mann

Ein neues Glücksgefühl

Hoch oben in den Wolken

Wunderbare Erinnerung

Wieder ein junger Gottfried

Himmlische Antworten

Leuchtende Augen

Außerhalb göttlicher Kontrolle

Die neue Unterkunft

Auskunft und Anmeldung

Was erwartet mich hinter dieser Tür

Treffen im Gemeinschaftsbad

Heimliche Annäherungen

Dann ende ich am Galgen

Die Glaubensarmee

Sorgfältige Auswahl der Kandidaten

Ein Ende auf dem Scheiterhaufen

Wenn alle an denselben Gott glauben würden

Als würden mir Flügel wachsen

Engel treffen die Vorbereitung

Aus heiterem Himmel

Ich bewundere euren Mut

Engel ohne Flügel

Hoffentlich wird es uns allen eines Tages

genau so,

oder wenigstens so ähnlich widerfahren.

Beginnen wir mit Gottfrieds Ende,

seinem irdischen Ende.

Wohin des Weges, alter Mann?

„Selbst, wenn ich meine Augen noch öffnen könnte, würde mich niemand mehr dazu überreden können, nicht für eine Sekunde“.

Gottfried hatte sich bereits, unerreichbar für die Außenwelt, hinter seinen schlaffen Augenlidern zurückgezogen.

„Wozu sollte ich mir denn die Mühe machen? Für mich gibt es hier nichts mehr, worauf sich ein lohnender Blick werfen ließe. Schade nur, dass ich meine Ohren nicht auch noch vor dem verschließen kann, was mir die lieben Verwandten mit ihrem Geschwätz anbieten. Sollen sie doch schwatzen und tuscheln, worüber und so viel sie wollen, mich interessiert es schon lange nicht mehr.

Nun haben meine Kinder ihre Kinder mitgebracht und die hatten wiederum ihre Kinder im Schlepptau. Zweifellos ergibt das, alles in allem, eine imposante Herde menschlichen Erbguts, doch sie haben sich im Laufe der Zeit, bis auf wenige Ausnahmen, immer weiter von mir entfernt.“

Selbst in diesem Moment schien Gottfried seinem Sarkasmus, der ihm schon oft in seinem Leben, über so manche psychische Krise hinweggeholfen hatte, treu zu bleiben. Jetzt glaubte er sich bereits vor den Toren in eine andere, sorgenfreie Welt zu befinden. Nach Gottfrieds Auffassung ist das eine Welt des absoluten Nichts. Dort gibt es weder Freude noch Hass, oder religiöse Fanatiker, die für die meisten Kriege verantwortlich sind, haben dort einen Platz. Nicht einmal Missgunst und falsche Trauer sind dort anzutreffen.

So wünschte Gottfried sich sein zukünftiges Dasein, besser gesagt sein Wegsein. Dort benötigte er keinen seiner fünf Sinne mehr, denn sie hätten sofort ihren Sinn verfehlt.

»Meine heuchlerische Verwandtschaft werde ich ebenso vermissen, wie Nachtfrost oder Mückenstiche. Wie lange schon, hatten sich meine, ebenso wie deren Kinder, nicht mehr bei mir sehen lassen? Meine Geschwister kennen ihr Smartphone besser als mich. Was soll ich mit denen anfangen? Was wollen die hier bei mir? Jetzt werde ich zur Abwechslung einmal nur an mich denken und mich wortlos verabschieden. Den Kleinen möchte ich am liebsten noch einmal mit der Hand über den Kopf streichen, aber sie würden wohl eher entsetzt vor mir zurückschrecken, als mir freudig um den Hals zu fallen. Da ich jedoch keinen Finger mehr krümmen kann, bleibt ihnen wenigstens dieser Schock erspart und ich muss wieder einmal auf die Nähe der Kinder verzichten, nach der ich mich schon so lange sehnte. Auch diese kleinen Perlen unter meinen Nachkommen werden sicher ihren Weg gehen. Wenn sie sich eines fernen Tages in derselben Situation wiederfinden, in der ich heute bin, blicken sie hoffentlich auf ein schönes, erfülltes Leben zurück und haben dennoch so wenig Angst vor ihrer Zukunft, wie ich heute, während meiner letzten Atemzüge.«

Das Dämmerlicht in seinem Schlafzimmer verursachte eine ausgesprochen trübe Stimmung. Doch die, um sein Bett versammelte Trauergemeinde war dafür nicht verantwortlich. Im Glauben, der ohnehin schon miesen Atmosphäre einen Dienst zu erweisen, hatte Gottfrieds älteste Tochter die schweren Vorhänge bedächtig zugezogen. Jedoch war keiner von ihnen bereit, sich in die dunkle Tiefe seelischer Pein fallen zu lassen. Aber Gottfried war ohnehin der Letzte, der von dieser Umgebung noch etwas wissen wollte. Er hoffte nur noch, sich endlich, mit aller Würde, die ein Sterbender aufzubringen vermag, aus seinem vermeintlich endlosen Leben verabschieden zu können. Denn seit zu vielen schmerzlichen Jahren plätscherte es nur noch sinnlos dahin.

Vermutlich war er in diesem, von Missmut geprägten Zimmer, nicht einmal der Einzige, der bereits seit einiger Zeit auf die Erlösung des ältesten ihrer weitläufigen Sippschaft wartete.

„Früher haben wir gemeinsam auf den Weihnachtsmann oder die Geburt eines neuen Familienmitglieds gewartet. Heute ist vielleicht wieder nur ein gemeinsamer Tag, ein Tag, an dem sich niemand traut sein Smartphone aus der Tasche zu ziehen, zumindest so lange der Alte noch atmet. Ich will nicht zu streng über sie urteilen“, dachte Gottfried, „aber ich denke, dass ich sie schon richtig einordne. Ich will aber auch nicht vergessen, dass sie alle für ihre kleinen Familien kämpfen müssen. Dass sie dennoch gekommen sind, um ein letztes Mal bei mir zu sein, gibt mir ein wenig Stolz mit auf den Weg. Es nimmt diesem freudlosen Schauspiel etwas von seiner Bitternis und macht es viel erträglicher“.

Mittlerweile schien Gottfrieds Körper nur noch aus einem Behälter runzliger Haut zu bestehen, der die Sehnen, Knochen und ausgedienten Organe, gerade noch notdürftig zusammenhält.

Obwohl alte Menschen bekanntermaßen ein wenig zusammenschrumpfen, reichte dieses Bündel deprimierenden Lebens, auch nach dreiundneunzig Jahren noch, vom Kopfkissen bis zum Fußende seines recht großen Bettes. Es gab einen einfachen Grund dafür, warum sich dieser riesenhafte und einst ansehnliche Mann, nicht so sehr an sein Leben klammert, wie die meisten anderen Menschen, die sich auf ihre letzte Reise begeben. Auch Gottfried hatte natürlich viele schöne Stunden erlebt; leider wurden es immer weniger, bis er an dem Punkt angekommen war, ab dem es nur wieder besser werden konnte.

Dennoch bleibt ein ungutes Gefühl vor dem Abschied aus einer vertrauten Welt, wenn man keine Ahnung hat, wie die neue wirklich aussieht.

„Niemand ist glaubhaft aus dem Jenseits zurückgekehrt. Deshalb wird es immer die vollkommen unbekannte Welt bleiben, bis ich meine eigene Erfahrung gemacht habe. Da ich nicht der Erste sein werde, der aus dem Jenseits zurückkommt, bleibt es hier auf Erden weiterhin die große unbekannte Welt“.

Seine zunehmende Hilflosigkeit, die ihm, gemeinsam mit den Schmerzen, keine Ruhe gönnte, war hilfreich dabei, die Angst vor dem Unbekannten abzulegen.

Keiner der in Trauer Anwesenden, kam auf die hilfreiche Idee, ihn behutsam auf die Seite zu drehen, damit sich sein Rücken von den Druckstellen hätte erholen können. Aber wie sollten sie von seinem quälenden Übel erfahren, wenn er schon seit Stunden kein Wort mehr mit ihnen gesprochen hatte?

„Schickt eure Kinder nach Hause“, dachte er, denn er sorgte sich um ihr Seelenheil, „hier gibt es nichts Erfreuliches zu sehen, bringt die Kleinen weg von diesem unerquicklichen Trauerspiel. Sie werden noch früh genug auf das betrübliche Ende stoßen, ein Ende, das untrennbar mit jedem Leben verbunden ist.

„Ein kleiner Junge, den Gottfried als Dennis in Erinnerung hatte, begann zu quengeln; ein nur wenig älteres Mädchen, dessen Zugehörigkeit er beim besten Willen nicht mehr genau einordnen konnte, flehte schon verzweifelt seine Mutter an: ‚Mama, wann gehen wir endlich nach Hause?‘

Er verurteilte natürlich nicht die Kinder für ihr Verhalten, schließlich ist es eine logische Folge des unüberlegten Handelns ihrer Eltern.

„Außerdem ist es ein weiteres Zeichen dafür, dass ich auf dieser Welt nichts mehr verloren habe.“

Gottfried hatte absolut kein Verständnis dafür, dass Erwachsene so gleichgültig mit den kleinen, empfindlichen Kinderseelen umgingen.

Um all den Mist nicht mehr ertragen zu müssen, benötigte er die wohltätige Erlösung; sich bis in alle Ewigkeit im unendlichen Nichts zu verlieren. Worte wie Liebe und Genuss; Lachen und Scherzen; Glück und Zufriedenheit; Schmerz, Bedürftigkeit und Trauer, Begriffe, die alle zusammengenommen das Leben ausmachen, wären dort nichts als leere Worthülsen. Die wenigen, wirklich glücklichen Momente in seinem langen Leben, waren zwar nicht komplett aus seiner Erinnerung verschwunden, entbehrten aber nicht die Kraft, die er gebraucht hätte, um den Wunsch, aus seinem Leben zu scheiden, zu dementieren. Jetzt blieb ihm nur noch der Trost, dass seine Hoffnung, auf die er schon lange baute, endlich zur festen Gewissheit werden würde: Wenn sich ein Mensch nur lange genug gequält hat, wird ihm, gewissermaßen als Wiedergutmachung für sein beschwerliches Leben, nicht nur die Angst vor dem Tod genommen, er wird zu guter Letzt sogar sehnlichst darauf warten.

Wie schon so oft in seinem Leben, fand er auch jetzt Trost in der Vorstellung, dass sich Menschen, die mit ihrem unermesslichen Reichtum im Luxus baden, verzweifelt an ihr irdisches Leben klammern. Denn sie sind diejenigen, die allen Grund haben, das Ende ihres wunderbaren Daseins, so lange wie möglich hinauszuzögern. Sie möchten es weiterhin in vollen Zügen genießen.

Doch auch die Geldsäcke dieser Welt müssen letztlich ihre von der Natur gesetzten Grenzen akzeptieren. Ob sie nun wollen oder nicht.

Anders, als so ein armer Wicht wie Gottfried, der es wahrlich schwer genug im Leben hatte. Da ist es doch nur fair, wenn ihm wenigstens der Abschied von seinem beschwerlichen Leben leichter gemacht wird, als den reichen Pfeffersäcken, die sich ihr Leben lang, im oft ergaunerten Geld wälzten. Die, die sich ohnehin schon am Überfluss berauschen, können sich auch noch die besten Ärzte leisten, von denen sie dann, mit allen möglichen medizinischen Künsten, solange am Leben gehalten werden, bis absolut nichts mehr geht.

Klammheimlich wünschte Gottfried ihnen, dass sie wenigstens im Angesicht des Todes, mit Angst für ihr ausschweifendes Leben bezahlen müssen. Dann würden auch sie begreifen, dass ihnen ihr Reichtum nicht mehr helfen kann. Aus diesem Grund, wird es den Vermögenden ungleich schwerer fallen, wenn sie zum Schluss aus ihrem selbsterschaffenen Paradies vertrieben werden. Sie wissen ebenso wenig, wie alle anderen Menschen, was im sogenannten Jenseits auf sie wartet.

Kein Mensch, egal ob er einer Religion angehört oder nicht, kann wirklich wissen, ob es nicht doch so etwas wie Himmel und Hölle gibt.

Viele Geldfürsten werden begründete Angst vor einer himmlischen Gerechtigkeit haben. Sie lassen sich viel zu spät durch den Kopf gehen, mit welcher Verschlagenheit sie oftmals zu ihrem Reichtum gekommen sind.

Habe ich mein Geld redlich verdient oder habe ich andere benachteiligt, vielleicht sogar betrogen?

Was hilft es, in der Stunde des Abschieds auf ein schönes Leben zurückzublicken, wenn der Blick in die Zukunft von furchtbarer Angst und Entsetzen geprägt ist?

Gottfried hingegen, dem es im Leben nur selten wirklich gut ergangen war, begrüßte den bevorstehenden Tod nach all den Jahren des Leidens. Insofern sah er sich endlich, zumindest in der Stunde des Todes, am sehr viel besseren Ende, als die reichen Pfeffersäcke mit ihrer großartigen Vergangenheit.

Wenn mir mein Leben nichts Besseres mehr bieten kann, als die ewigen Kümmernisse, dann möchte ich meinen Mitmenschen nicht länger zur Last fallen, indem ich mich unnötig daran festhalte.“

Die Trauergemeinde hatte es tatsächlich geschafft, auch die kleinen Kinder zur Ruhe anzuhalten, somit konnte Gottfried ungestört seinen Gedanken nachgehen.

„Was denken die jungen Leute, wer wir Alten sind? Halten sie uns für eine andere Spezies? Sie sind jung, fit und an manchen Tagen machen sie sogar einen aufgeweckten Eindruck. Da könnten sie eigentlich auf die Idee kommen, dass wir Alten nichts anderes als ihre Zukunft sind. Besser nicht, sonst hätten sie vielleicht keinen fröhlichen Moment mehr in ihrem Leben. Schließlich habe ich auch nicht daran gedacht, dass ich hier eines Tages mit derartigen Gebrechen liege und nicht weiß, wo es hingeht.

Einige der lieben Verwandten werden eine Weile trauern, andere sind froh, wenn sie endlich wieder verschwinden können.

Selbst Ruth wird sich gewiss nicht lange grämen; dafür war unsere Ehe zu oberflächlich; im Grunde war sie doch nur von wirtschaftlichem Interesse geprägt.

Seiner zweiten Frau, die immerhin neunzehn Jahre jünger ist als Gottfried, wird er mit seinem Ableben vermutlich sogar entgegenkommen. Denn er konnte sich beileibe nicht vorstellen, sie mit seinem Tod in tiefe Trauer zu stürzen. Wenigstens hatte sie sich nicht nehmen lassen, ihm bis zum letzten Herzschlag beizustehen und so lange an seiner Seite durchzuhalten, bis es endgültig vorbei sein wird.

„Es ist möglich, dass sie meinen Kindern einfach zeigen will, welch gute Frau sie ihrem Vater, Groß- und Urgroßvater gewesen ist. Dazu hätte es allerdings etwas mehr bedurft, als nur am Totenbett zu sitzen und zur Beerdigung zu gehen“.

Fünf Jahre nach dem Tod seiner geliebten Hilde hatte er Ruth auf der Feier zu seinem sechsundsechzigsten Geburtstag kennengelernt. Sie war damals mit Bekannten, an die er sich beim besten Willen nicht mehr erinnerte, zur Feier erschienen. Alles, woran er sich noch heute zu erinnern glaubte, ist, dass sie Ruth schon in der Absicht mitbrachten, sie mit ihm zu verkuppeln. Als er bemerkte, dass die noch recht junge und überaus attraktive Frau, nicht abgeneigt war, sich auf ein intimes Verhältnis mit ihm einzulassen, wollte er sie um keinen Preis wieder ziehen lassen. Schon nach wenigen Monaten hatte sie ihm alle Zweifel ausgetrieben und eine schnelle Heirat schmackhaft gemacht.

In dieser neuen Verbindung blühte er auf und fand zurück zu einem glücklichen Dasein, an das er schon lange nicht mehr geglaubt hatte.

Doch dann trübten, ausgerechnet seine Kinder das neue Glück. Und zwar auf sehr empfindliche Weise. Sie wussten nicht, wie sie ihm ihre Bedenken möglichst schonend beibringen sollten. Natürlich trauten sie sich nicht zu sagen: „Papa, meinst du nicht auch, dass sie zu schön und zu jung für dich ist. Du bist dagegen eine graue Maus, die sich mit einem strahlenden Juwel schmücken möchte.“

Stattdessen versuchten sie nur auf den Altersunterschied und die ungewöhnlich kurze Bekanntschaft anzuspielen.

„Kinder, ich bin nicht von gestern“, sagte er daraufhin und ignorierte die Einwände seiner Kinder.

„Nein, Papa, du bist von vorgestern“, sagte die jüngste dann lachend, und das Thema war damit erst einmal wieder vom Tisch. Doch schon kurz nach der Hochzeit fiel er aus allen Wolken, denn ihm wurde schnell bewusst, dass ihn seine Kinder nicht zu Unrecht vor ihr gewarnt hatten.

Als er sie kennenlernte, war er, wie es bei solchen Gelegenheiten seine Art war, ein wenig zu großzügig gewesen. Und zu seinem Unglück war sie genau die Art Frau, die nach einem wohlhabenden Mann Ausschau hielt. Bis er sie kennenlernte, lebte er in einer recht bescheidenen Lebensweise, weshalb es ihm ja, rein materiell betrachtet, auch wirklich nicht schlecht ging. Aber deshalb konnte man seine mühsam zusammengekratzte Rücklage doch nicht als Reichtum bezeichnen.

Nachdem sie ihre Fehleinschätzung erkannt hatte, zog sie sich in sich selbst zurück, ohne dass ihr bewusst wurde, wie sehr sie Gottfried damit strafte. Aus der romantischen, lebhaften Gemeinsamkeit wurde nun allerdings eine eher platonische Verbindung, in der weder Leidenschaft noch Streit einen bedeutenden Platz einnahmen. Da sie Gottfried aber inzwischen schon einen großen Teil ihres Lebens geopfert hatte, wollte sie die letzten Tage ihrer Ehe jetzt auch noch mit Anstand überstehen. Und für eine Erbschaft, wenn sie auch bescheiden ausfallen dürfte, wollte sie sich noch ein wenig zusammenreißen.

„Ich denke, sie wird mich nicht sonderlich vermissen“, dachte Gottfried, „wir hatten doch ohnehin kaum noch etwas gemeinsam.“

Seine fahrigen Gedanken wanderten wieder zu seinen ältesten, geliebten Töchtern, Julia und Ines, die er gerade jetzt so schmerzlich vermisste. Sie waren gemeinsam bei einem furchtbaren Unfall ums Leben gekommen.

„Obwohl schon so viel Zeit vergangen war, schmerzte es dennoch fast so furchtbar wie damals.“

Trotz des frühen Todes der beiden war Hilde das schlimme Erlebnis nicht erspart geblieben.

„Gottfried, was für Hirngespinste predigt die Kirche von ihrem lieben Gott, der allen anständigen Menschen Gnade erweist?“, fragte Hilde mit gebrochener Stimme, als sie sich

von der Beerdigung auf den Rückweg machten.

„Waren unsere beiden Kleinen nicht die reinen Engel?“ Dann brach sie wieder in Tränen aus.

Es war eine schlimme Erinnerung, die seither schwer wie Blei auf seiner Seele lag und ausgerechnet auf den letzten Metern seines bisherigen Lebenswegs, hatte die Belastung an Gewicht noch erheblich zugenommen. Seine Enkelkinder waren ihm schon verhältnismäßig fremd geworden. Aber die Urenkel, die hätte er auf der Straße unter all den anderen Kindern wohl nicht mehr ausfindig machen können, denn sie hatte er kaum noch zu Gesicht bekommen. Für ihn, den Urgroßvater, waren sie praktisch zu fremden Wesen geworden. Umso mehr überraschten sie ihn, als sich jetzt doch einige von ihnen, zu seiner vermutlich letzten Stunde an seinem Bett eingefunden hatten.

„Ich denke, sie werden ihren Eltern aus einem besonderen Anlass eine Freude machen wollen, oder müssen, denn ich habe sie so selten gesehen, dass ich sie nicht auseinanderhalten könnte. Woher sollten die kleinen Würmchen schon wissen, warum sie überhaupt hier sind?

Denken Eltern nicht darüber nach, welche Narben der Anblick eines Sterbenden auf der Seele ihres Kindes hinterlässt?“

Die kurze Ablenkung von dem, was ihm unmittelbar bevorstand, hatte ihn also auch nicht versöhnlicher gestimmt. An dieser Stelle fielen die Gedanken wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Doch sie sammelten sich wieder, um dann für ein vermutlich unangenehmes Finale gewappnet zu sein. Gottfried hatte nie zu den Menschen gehört, die an überirdische Wesen glaubten. Stattdessen hielt er den Himmel mit all seinen Engeln, Harfen und Hallelujas, nach wie vor, für eine besonders einträgliche Erfindung der Religionsstifter. Schon nach wenigen Generationen profitierten ihre predigenden Anhänger recht gut davon, denn der Grundstein zur Ausbeutung der Gläubigen war gelegt. Sie mussten nur noch ihre jeweilige Position festigen, das Heer der Schafe vermehren und es sich ansonsten gut gehen lassen. Dennoch hingen seine letzten Gedanken der Hoffnung nach, Hilde, seine erste Frau und große Liebe, vielleicht doch an einem unbekannten Ort da draußen wiederzusehen.

„Wenn ich, statt einfach nur tot zu sein, wider Erwarten doch in so etwas wie Himmel oder Hölle kommen sollte, dann hoffe ich inständig, dort wenigstens wieder mit meiner Hilde vereint zu sein. Damit das eintrifft, müsste ich mir allerdings auf eine Weise verdient haben, tatsächlich in den Himmel zu kommen. Denn, für einen so durch und durch anständigen und aufrechten Menschen wie Hilde, käme die Hölle wohl kaum infrage.“

Als er an sie dachte, breitete sich behagliche Wärme in ihm aus, die er mit einem seligen Lächeln quittierte.

„Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ihr in ihrer Tugend immer ebenbürtig gewesen zu sein, aber vielleicht hat jemand da oben Erbarmen und reserviert mir wenigstens eine dunkle, regenschwere Gewitterwolke. Die Hauptsache ist doch nur, dass Hilde gleich neben mir auf ihrer sonnendurchfluteten Wolke schwebt, und mir gut gelaunt zuwinkt.“

Auf ermüdende dreiundneunzig Jahre hatte er es nun gebracht. Den größten Teil dieses erstaunlich langen Lebens hatte er sich allerdings mit Entbehrungen, Schinderei und Sorgen herumschlagen müssen.

Die verblassende Erinnerung an verhältnismäßig kurze Glücksmomente, in seinem scheinbar immerwährenden Leben, reichte bei Weitem nicht aus, um seinem morschen Leib ein Weiterleben schmackhaft zu machen. Es war einfach zu wenig Erfolg, Gesundheit oder gar Vergnügen, um den Zeiger der Waagschale seiner Erinnerungen, auch nur annähernd, ein noch längeres Leben schmackhaft zu machen. In den letzten Jahren kamen dann auch noch die schwer zu ertragenden Schmerzen hinzu, die ihn immer öfter verzweifeln ließen. Die meisten Menschen, die ihr Leben in Gottesfurcht, mit Gebeten und Ängsten verbrachten, glaubten an ein unvergängliches Dasein im Himmel, oder sie fürchteten, wenn es wider Erwarten doch schlechter für sie ausgehen sollte, eine grässliche Unendlichkeit in der Hölle.

Gottfried wollte keinen weiteren Gedanken mehr an Himmel und Hölle verschwendeten. Stattdessen befasste er sich lieber mit einer ganz anderen Richtung. Wenn er sicher wüsste, er würde schlicht und einfach sterben, aufhören zu existieren, würde ihn das schon ausreichend beruhigen. Er wollte von all dem Elend auf der Welt, nichts mehr hören und sehen, und vor allem nichts mehr fühlen.

Da er in seinem gegenwärtigen Leben nicht das Geringste ausmachen konnte, wofür es sich gelohnt hätte, die lästigen Schmerzen weiterhin zu ertragen, so wollte er doch wenigstens durch den Tod von ihnen erlöst werden. Das wäre in seinen Augen ein wirklich faires Ende.

Nach einem letzten tiefen und ausgesprochen ruhigen Atemzug schien ihm zumindest dieser Wunsch in Erfüllung zu gehen.

Ein neues Glücksgefühl

Um den Zustand der schmerzfreien Leichtigkeit, die ihn plötzlich durchflutete, nicht durch deplatzierte Aktivitäten zu gefährden, behielt Gottfried die Augen erst einmal geschlossen.

Er will dieses Hochgefühl, das ihn so unerwartet überkam, um nichts auf der Welt wieder hergeben, sondern es so lange und intensiv wie möglich auskosten.

Von einem erhebenden Glücksgefühl überschüttet, kehrte unverhofft der Wunsch zu leben, in seinen uralten Körper zurück.

Zuerst wurde sein Gehirn mit neuem Leben erfüllt. Dann begann es heftig zu arbeiten und seinen Körper, ebenso eifrig wie ängstlich, nach jedem noch so kleinen Zipperlein abzusuchen. Doch es musste sich damit abfinden, nicht den geringsten Grund zur Beschwerde entdeckt zu haben.

„Wenn das der Tod sein soll“, sprudelte es nur so aus ihm heraus“, dann heiße ich ihn herzlich willkommen.“

In flauschige, anschmiegsame Wärme gebettet, sog er das nie für möglich gehaltene Wohlbefinden in sich auf. Er konnte seine Leichtigkeit und die neu gewonnene Lebenskraft kaum begreifen.

Gerade als er sein neues Glücksgefühl zu akzeptieren begann, arbeitete sich ein seltsamer Gedanke aus den tiefsten Tiefen seiner geschundenen Seele hinauf, bis er die Oberfläche seines Geistes erreicht hatte.

„Etwas stimmt hier nicht. Wenn ich wider Erwarten noch leben sollte, dann müsste ich doch noch das Geflüster an meinem Bett hören. Und wo ist dann meine, ach so traurige, Familie geblieben? Andererseits könnte ich, wenn ich tatsächlich tot wäre, wohl kaum noch darüber nachdenken.“

Langsam und vorsichtig öffnete er seine Augen. Gerade so, als müsse er sich vor allem fürchten, was er zu sehen bekommen würde.

Aber da war eigentlich nichts.

Jedenfalls nichts Fürchterliches, genauer gesagt, war da weder etwas Fürchterliches noch Wünschenswertes zu sehen oder zu hören.

Nichts – außer wohlig warmem und erfreulichem Licht.

„Aber“, sagte sich Gottfried, „das ist doch schon viel besser als die finsteren Mienen, die ich zuletzt an meinem Bett sehen musste“.

Für einen Moment schloss er die Augen wieder und hoffte, es würde sich nichts geändert haben, wenn er sie wieder öffnete.

Bedächtig und ängstlich, erst ein wenig blinzelnd, doch dann immer mutiger werdend, blickte er neugierig in die fremde Umgebung. Er richtete seinen Kopf auf und konnte ihn völlig überraschend, ohne jeden Schmerz, in alle Richtungen bewegen.

Doch wohin er auch sah, alles blieb tatsächlich so wunderbar ruhig und einzigartig angenehm; wie ein warmes Bad in der Sonne. In ihm breitete sich ein sonderbares, überwältigendes Gefühl aus, als wären Glück und Zufriedenheit in seinem Innersten ein unzertrennliches Bündnis eingegangen.

Doch schon nach wenigen Augenblicken musste er feststellen, dass die neue Umgebung im Grunde nicht mehr so ganz und gar unverändert war. Auf eine rätselhafte Art hatte sich das Licht ein wenig verbessert, nein, nicht verbessert, es war nur nicht mehr dasselbe wie vorher; es schien jetzt auf unbekannte Weise transparenter, nicht mehr so undurchdringlich.

Außerdem gab ihm ein weicher, kaum spürbarer Druck unter den Füßen das Gefühl, nicht mehr, wie noch vor wenigen Atemzügen, zu liegen, sondern nahezu schwerelos und in aufrechter Haltung, durch den sich langsam lichtenden Nebel zu gleiten.

Gespannt und mit wachsender Aufmerksamkeit, beobachtete Gottfried, wie sich langsam durch diesen märchenhaft leuchtenden Nebelschleier, einige diffuse Konturen abzeichneten. Neugierig, wie ein kleines, übereifriges Kind unter dem Weihnachtsbaum, versuchte er schon im Voraus zu erraten, was sich hinter diesen schemenhaften Linien verbergen könnte.

Erst als sich der Nebel in wenige Fragmente aufgelöst hatte, bemerkte er, dass er sich in Wolken befand, die vollkommen lautlos und gemächlich um ihn herum waberten.

Doch diese Wolken waren die schönsten, die er je gesehen hatte. Sie waren die reinste Liebkosung und nicht so störend, als würden sie den freien Sonntag am Strand vermiesen; oder gar bedrohlich, wie Gottfried sie auch schon oft genug wahrgenommen hatte.

Nach einer Weile erinnerte er sich seiner Füße, um etwas verwirrt festzustellen, dass er sich mit dem unbekannten Untergrund durch die Wolken bewegte, obwohl er durch keinerlei Anstrengung etwas dazu beigetragen hätte; er stand still auf einem Fleck.

„Aber natürlich“, stellte er nach einem Moment verblüfft fest, „das scheint tatsächlich so etwas wie ein Laufband zu sein, ähnlich wie in den Kaufhäusern und Bahnhöfen. Allerdings ist es hier wesentlich angenehmer, weil es nicht durch die lärmenden Etagen eines Warenhauses, mit den vielen hektisch, nach überflüssigem Zeug suchenden Kunden führt. Hier gleite ich vollkommen lautlos durch diese behaglich warmen Wolken. Wie kann ein Mensch, mit so verschwindend wenig Beiwerk, so unglaublich glücklich sein, wie ich in diesem Moment?“

Gottfried hatte tatsächlich schon vergessen, dass er sich noch vor wenigen Augenblicken sehnlichst gewünscht hatte, aus seinem qualvollen Leben zu verschwinden.

Das Empfinden für die schweren Leiden der letzten Jahre war beinahe schon ausgelöscht, es tauchte im Hintergrund unter und verschwand immer mehr in einer blassen, bedeutungslosen Erinnerung, die keinerlei Einfluss mehr auf ihn zu haben schien.

Jetzt gab es sowieso weitaus wichtigeres, als über die Vergangenheit nachzudenken; etwas, dem er seine ungeteilte Aufmerksamkeit widmen wollte – und wohl auch musste. Denn er war gezwungen, sich unbedingt mehr damit zu beschäftigen, wo er sich jetzt befand, als darüber nachzudenken, welchem Elend er anscheinend gerade entkommen war.

„Ist das nun wirklich der Himmel, den mir die Priester jedes Mal wieder schmackhaft machen wollten, wenn wir uns über den Weg liefen?“, fragte er sich immer noch ungläubig

„Sieht ja fast so aus. Oder ist es der ganz normale Gang in den Tod, von dem all die vielen Menschen berichtet hatten, die dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen waren? Sollte es aber doch nur ein Traum sein, so möchte ich bitte erst wieder aufwachen, wenn es mir hier jemals langweilig werden sollte.“

Seine Ankunft im schmerzfreien Hier, in dem er so behaglich gestrandet war, beschäftigte all seine Sinne. Ungeduldig suchte er nach neuen Eindrücken, tastete sich mit Augen und Ohren in die Umgebung, um auf unliebsame Überraschungen vorbereitet zu sein; was würde als Nächstes kommen, welche Traumbilder – oder Realitäten – würden noch auf ihn warten.

Die letzten Jahre hatte er überwiegend damit verbracht, wehmütig zurückzudenken. Denn eine Zukunft, in die er voller Hoffnung hätte blicken können, gab es natürlich für einen Mann in seinem Alter schon lange nicht mehr.

Doch das schien sich, vorausgesetzt er nicht träumte, nun schlagartig geändert zu haben. Er glaubte, wenigstens kurzfristig, wieder nach vorn schauen zu können, ohne vor dem, was ihn noch erwarten könnte, Angst zu haben. Nichts bereitete ihm Sorgen, im Gegenteil, er genoss sein Wohlbefinden mit jedem Herzschlag mehr und fühlte sich wie ein frisch verliebter Jüngling

Bedächtig legte er seine Hände links und rechts auf eine Art Begrenzung oder besser gesagt Geländer, das sich parallel zu ihm bewegte.

Dann sah er sich wieder langsam und erwartungsvoll um. Doch viel zu sehen, bekam er leider noch immer nicht. Gottfried fragte sich schon, ob es hier tatsächlich nichts anderes gab, oder ob die restlichen Wolken nur weiterhin alles Sehenswerte verhüllten. Doch da kamen völlig unerwartet, nur wenige Meter von ihm entfernt, eine Reihe dicht gedrängter Menschen aus den Nebelschwaden ans Licht

Ein wahrer Schwall finsterer Gestalten tauchte buchstäblich aus dem Nichts auf. Sie befanden sich alle unter einer Art Tunnel aus massiven Gitterstäben. Und doch schienen sie der gleichen Quelle zu entspringen, wie er selbst. Gottfried vermutete, dass sie allesamt am selben Ausgangspunkt eintrafen und anschließend nach einem bestimmten Muster getrennt wurden.

„Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen“, dachte er, „doch leider bin ich mir nicht so ganz sicher, wer von uns im Töpfchen landet.“

Er sah sich noch einmal um, konnte aber hinter sich niemanden entdecken.

„Entweder sind die Massen da drüben die Guten oder befinden sie sich etwa hier, auf meinem Weg? Ausgerechnet ich, der sich hier allein auf weiter Flur befindet, soll der Gute sein? Wenn ich mir diese düsteren Mienen ansehe, möchte ich jedenfalls nicht zu denen da drüben gehören. Und welches Ziel, auf wen wartet, werde ich schon noch früh genug erfahren.“

Die durchgehend finster dreinschauenden Gestalten, die Gottfried aufgrund seiner beachtlichen Erfahrungen für die Schlechten halten musste, strömten viel schneller dahin, als er selbst; willenlose Menschenmassen, die sich in dem langen Käfig stumm ihrem Schicksal fügten. Offenkundig durfte sich niemand von seinem vorgeschriebenen Weg entfernen. Einem Weg, der sie zwar parallel zu Gottfried in dieselbe Richtung zu führen schien, doch verloren sie nach nur wenigen Hundert Metern rasant an Höhe, um daraufhin in tiefschwarzen Wolken zu verschwinden.

Dieser merkwürdig lange Käfig, der mit so unglaublich vielen, düsteren und völlig apathisch wirkenden Menschen vollgestopft war, wirkte auf ihn furchterregend dämonisch

Bisher hatte Gottfried auf dem für ihn vorgegebenen Weg, noch keinen weiteren Menschen gesehen.

Doch jetzt drehte er sich noch einmal um. Hoffnungsvoll kniff er die Augen zusammen und erkannte nach einer Weile, dass sich hinter ihm, wenn auch zunächst nur schemenhaft, eine vermutlich männliche Gestalt abzeichnete, die sich ebenfalls auf seinem Weg befand.

Als die Konturen nach und nach immer deutlicher hervortraten, wurde klar, dass es sich um einen jungen Mann handelte. Obwohl es ein Mensch in weiter Entfernung war, den er nie zuvor gesehen hatte, fühlte er sich nicht mehr so einsam. Ihm war, als hätte er soeben einen Verbündeten gefunden.

Als er wieder nach vorn schaute, bemerkte er gerade noch rechtzeitig, wie ein Hinweis aus dem Nebel auftauchte, der zweifellos ihm galt.

Eine liebliche Stimme, begleitet von einem in grellen Farben flammenden Licht, teilte ihm mit, dass er sich doch bitte nach links orientieren möchte. Außerordentlich sanft und doch mit überzeugendem Nachdruck, bat sie darum, er möge der vorgegebenen Richtung folgen. Es war eine Aufforderung, der er sich beim besten Willen nicht widersetzen konnte.

Der Menschenkäfig zu seiner Rechten dagegen, ließ über den Köpfen der Menschenmenge einen, unter bedrohlichen Geräuschen hektisch blinkender Pfeil, auf den unausweichlichen Weg nach unten hinweisen. Was vollkommen überflüssig war, da es ohnehin kein Entkommen gab. Und schon nach wenigen Metern wurde die Pfeilrichtung durch eine steile Sturzfahrt in ein stockfinsteres Loch, bestätigt.

Ohne erkennbare Regung fügten sich die grauen Gestalten, mit gleichgültig erstarrten Gesichtern in ihr ungewisses, dunkles Schicksal, so als ginge sie ihr eigenes Trauerspiel nichts an.

Gottfried war wie vom Donner gerührt, als er sah, wie sie in der Tiefe verschwanden. Von Kopf bis Fuß mit eisiger Gänsehaut überzogen, sah er ihnen einen kurzen Moment hinterher, erinnerte sich dann aber an die Richtung, die ihm sein Hinweis vorgab.

Durch und durch beeindruckt von dem entsetzlichen Schauspiel auf der anderen Seite, wollte er dem Hinweis lieber nachkommen und den beschriebenen Weg beibehalten.

„Nur kein unnötiges Risiko eingehen, wer weiß, ob ich sonst noch auf den anderen Weg gebracht werde.“

Traum oder Realität, um nichts auf der Welt wollte er auf die Abfahrt in die Finsternis umgeleitet werden.

Als er nach dem kleinen Richtungswechsel seinen bisherigen Pfad verlassen hatte, spürte er nach und nach, wieder etwas mehr Druck unter den Fußsohlen. Es war nicht etwa störend, denn er glitt, wie in seinen besten Zeiten, mit federleichtem Gang, ohne den geringsten Kraftaufwand, dahin.

„Wenn der Tod wirklich so daherkommt, begreife ich nicht, weshalb den Menschen damit Angst eingeflößt werden kann. Allerdings müssen die, die sich da drüben in die Tiefe stürzen, in ihrem Leben etwas anders gemacht haben als ich.“