Satellit über Tiananmen - Wei Zhang - E-Book

Satellit über Tiananmen E-Book

Wei Zhang

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Beschreibung

Während Mao gerade den »Großen Sprung nach vorn« propagiert, darf »Großmutter« Guo mit ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter in die Neubergstraße im sogenannten Harmoniedorf ziehen, einer neuen und einigermaßen komfortablen Siedlung auf einem Hügel, zu dessen Füßen die gigantische Dongshan-Stahlfabrik liegt. »Großmutter« wird sie vom Polizisten aus Respekt genannt, und zur Parteisekretärin der Neubergstraße wird sie, weil kein anderes Parteimitglied dort lebt. Guos Quartierinitiative wird durch den »Großen Sprung nach vorn«, mit der die Stahlproduktion in die Höhe getrieben werden soll, komplett in den Schatten gestellt. Plötzlich bauen sogar die bisher untätigen Hausfrauen des Quartiers einen Hochofen und beginnen Stahl zu schmelzen. Dabei treten sie in einen Wettstreit mit ihren Männern, den Arbeitern des Stahlwerks, darum, einen neuen Produktionsrekord aufzustellen, was damit verglichen wird, einen Satelliten ins All zu schießen. Die Stahlschmelze schlägt derweil Funken der Liebe, entfacht das Feuer der politischen Gesinnung und lässt die Flammen des Schicksals in den Himmel lodern. Wei Zhangs neuer Roman ist bunt und vielschichtig wie ein Kaleidoskop, dabei präzise beobachtet und mitreißend erzählt.

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Wei Zhang

Satellit über Tiananmen

Roman

Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einemFörderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

 

Wei Zhang

 

Satellit über Tiananmen

 

Roman

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich

 

[email protected]

 

www.elstersalis.com

Lektorat

Kristina Wengorz und André Gstettenhofer

Korrektorat

Gertrud Germann

Umschlagbild undIllustration innenUmschlaggestaltung

Laurence AltenburgerAndré Gstettenhofer

Zitatnachweis

Fjodor M. Dostojewski, »Die Dämonen«,

 

i.d.Übs. von E.K. Rahsin, 1908.

Gesamtrealisation

www.torat.ch

 

1. Auflage 2022

 

© 2022, Elster & Salis AG, Zürich

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN E-Pub 978-3-03930-027-3

 

ISBN Print 978-3-03930-026-6

This book is dedicated to my American mother,the photographer Ann Parker,who has brought me closer to the light!

Für Roland, Sebastian und Laurence.

Für Prof. em. Günther Klotz, Virologe und Physiker.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

ZUR AUTORIN

DANKSAGUNG

Mong Dsi sprach: Die Sinne des Gehörs und Gesichts werden ohne das Denken von dem Sinnlichen umnachtet. Wenn Sinnliches außer ihm auf Sinnliches in ihm trifft, so wird der Mensch einfach mitgerissen. Das Gemüt ist der Sitz des Denkens. Wenn es denkt, so erfüllt es seine Aufgabe, wenn es nicht denkt, so erfüllt es sie nicht.

Beides zusammen ist uns vom Himmel verliehen. Wenn wir zuerst das Höhere in uns festigen, so kann es uns durch das Niedrigere nicht geraubt werden. Die das tun, das eben sind die großen Menschen.

Menzius (372–289 v. Chr)

Der Mensch fürchtet den Tod, weil er das Leben liebt… und so hat es die Natur gewollt.

Das Leben ist Schmerz, das Leben ist Angst, und der Mensch ist unglücklich. Jetzt ist alles Schmerz und Angst. Jetzt liebt der Mensch das Leben, weil er Schmerz und Angst liebt. Und so hat man´s gemacht. Das Leben wird einem jetzt für Angst und Schmerz gegeben, und hierin liegt der ganze Betrug. Jetzt ist der Mensch noch nicht jener Mensch. Aber es wird einen neuen Mensch geben, einen glücklichen und stolzen. Wem es ganz einerlei sein wird, zu leben oder nicht zu leben, der wird der neue Mensch sein.

Die Dämonen, Fjodor M. Dostojewski

1

Dicht an der Außenmauer des Werksgeländes der Dongshan-Stahlfabrik wand sich eine Straße entlang, die wie eine Nabelschnur das untere Dongshan umschloss. Wenn man aus dem Haupttor der Fabrik auf diese Ringstraße trat, nach links abbog und an einer Müllkippe vorbeiging, erblickte man zwei Straßen, die sich über den Hang erstreckten. Die Neubergstraße war die obere und kürzere Straße. Von Weitem glich sie einer tiefen Messerkerbe, die auf halber Höhe den Bergabhang durchschnitt.

An ihrem Umzugstag stieg Großmutter Guo, den Arm auf Guo Min gestützt, beim Haupttor der Fabrik aus dem Bus.

»Es ist nur ein Katzensprung vom Stahlwerk bis nach Hause«, sagte Guo Min.

Großmutter Guos Vollmondgesicht strahlte vor unverhohlenem Mutterstolz wie eine Leuchtreklame. Mutter und Sohn überquerten die Ringstraße, und Guo Min wies auf zwei Häuser gegenüber der Müllkippe, die nicht gerade eine Augenweide waren. »Hier fängt die Altbergstraße an. Es sind nur noch wenige Schritte«, erläuterte er.

Großmutter Guo schlug ein flotteres Tempo an.

»Siehst du, das ist unsere Siedlung!«, rief Guo Min und zeigte auf eine Reihe von vier Wohnblöcken.

Großmutter Guo trat einen Schritt zurück, streckte die Brust heraus und richtete den Blick hinauf, als wenn sie zu einem hohen Berg aufschauen müsste.

Die vier zweistöckigen Wohnblöcke galten schon damals, in den späten Fünfzigerjahren, als nicht besonders hoch, aber es hieß dennoch, die Siedlung ziehe sich in einer geraden Reihe in die Höhe wie vier Kraniche, die sich über einer Schar Hühner in die Lüfte erhöben. Hinter der Neubergsiedlung zog sich der Dongshan-Bergzug steil zum Gipfel empor und wies im Gegensatz zur Altbergstraße eine markante Steigung auf. Ringsum konnte Großmutter Guo kein einziges Gebäude entdecken, das ihre Siedlung überragte.

»Findest du nicht auch«, fragte die Mutter den Sohn, »dass unsere neue Siedlung ein apartes hellgelbes Kleid anhat? Wer nicht blind ist, wird über ihre Schönheit staunen.«

Sie konnte sich nicht erinnern, dass an dem Haus, in dem ihre alte Wohnung war, ein Verputz auch nur zu erkennen gewesen wäre. In der jungen Volksrepublik herrschte Materialmangel. 1957 steckte der sozialistische Aufbau mitten im zweiten Fünfjahresplan. Allenthalben musste am Baumaterial gespart werden, um nach dem Sozialismus den Kommunismus errichten zu können.

Behutsam legte sie ihre Hand auf die Mauer neben dem Hauseingang. »Schau dir nur diese Farbe an«, sagte sie. Zärtlich strich sie mit ihren Fingern über das Mauerwerk, als wenn es der Flaum frisch geschlüpfter Küken wäre.

»In den vier Wohnblocks leben insgesamt zweiunddreißig Familien. Jeder Block ist in zwei übereinanderliegende Wohneinheiten mit je vier Familien aufgeteilt. Jede von ihnen ist gleichberechtigt, und alle Wohnungen sind gleich groß, lauter Einzimmerwohnungen mit je fünfzehn Quadratmetern und hohen Decken«, erläuterte Guo Min, der, als er erfahren hatte, dass ihm eine Fabrikwohnung an der Neubergstraße zugeteilt werde, die Wohnung und die Straße mehrere Male nach der Arbeit ausgekundschaftet hatte.

Mutter und Sohn gingen die dreistufige massive Sandsteintreppe zur Haustür empor. Aus dem gemeinsamen Eingangsbereich führte eine breite Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich auf dem offenen Treppenabsatz zwei geräumige Küchenbereiche für die oben wohnenden Familien befanden. Beim Kochen oder Essen konnte man sich bequem mit den Nachbarn im Erdgeschoß unterhalten.

Oben stellte Großmutter Guo fest, dass die Wohnungen direkt neben dem Treppenhaus jeweils noch ein abgeschrägtes Zimmer unter der Treppe zugeteilt bekommen hatten. Sie zeigte auf den langen Gang, der von jeweils zwei Familien genutzt wurde. »Wir stellen einfach unseren Esstisch in den Gang hinaus«, schlug sie vor. »Wenn die Nachbarn gegenüber ein Treppenzimmer mehr haben, dann nutzen wir den Gang als Esszimmer, damit wieder Gerechtigkeit herrscht.«

Guo Min war voll des Lobes über die neue Küche. In ihrer alten Wohnung hatten sie sich einen Kochherd im Gang mit zwei weiteren Familien teilen müssen. »Wenn ich koche, kannst du ungestört im Zimmer Mittagsschlaf machen, und wenn du und Lili in der Wohnung mit Gästen plaudert, kann ich in der Küche in Ruhe das Essen zubereiten.«

Die Mutter nickte eifrig bei allem, was der Sohn ihr zu erzählen hatte. Bisher hatte Guo Min noch nie so viel Anerkennung von seiner Mutter bekommen. Welch ein berauschender Moment war das für die beiden!

Vor dem Abendessen winkte Großmutter Guo ihre Nachbarin Li Yun zu sich. Die beiden Frauen setzten sich in den langen Flur.

Unaufgefordert erklärte Großmutter Guo der Nachbarin, dass ihr Sohn dadurch, dass sie noch bei ihm wohne, sogar Anspruch auf eine Wohnung mit zwei Zimmern hätte erheben können. Zumal sie sich seit langer Zeit einen Enkelsohn wünsche. Für den Kleinen habe sie sich sogar schon einen Namen ausgedacht! Er solle Fu, »Glück«, heißen, weil er anders als seine Großmutter und seine Eltern in der neuen Gesellschaft das Licht der Welt erblicken und unter der roten Flagge mit den fünf Sternen aufwachsen würde. Wenn also bald drei Generationen unter einem Dach wohnten, benötigten sie auf alle Fälle den langen Flur …

Bevor Li Yun etwas erwidern konnte, fuhr Großmutter Guo unbeirrt fort: Ihr gefielen die hohen Decken der Wohnung besonders. In ihrer früheren Wohnung sei es immer sehr stickig geworden, es habe ihr stets an frischer Luft, an Qi, gefehlt. Am liebsten hätte sie im Sommer und auch im Winter bei offenen Fenstern und Türen geschlafen, wäre sie nicht wegen der Gedanken an Diebe davor zurückgeschreckt.

Jetzt, nach ihrer Pensionierung, würde sie ihren Sohn unterstützen, denn ihre Schwiegertochter Lili – der »faule Knochen«, wie sie sie nannte – sei sich zu gut dafür, auch nur den Wok in die Hand zu nehmen. Guo Min bleibe also nichts anderes übrig, als nach Feierabend für alle eine Mahlzeit zuzubereiten. Schon als Kind habe er lernen müssen, für seine Mutter und sich selbst Nudelsuppe zu kochen, da sie selbst als Weberin in der Textilfabrik in drei Schichten habe arbeiten müssen. Er sei bis heute ein begeisterter Koch geblieben.

Wie gerufen stand in diesem Augenblick Guo Min mit zwei dampfenden Schalen in den Händen vor ihnen.

Beim Abendessen fragte er Lili und die Mutter: »Sind wir nicht wunschlos glücklich angekommen?« Der Blick seiner Froschaugen strahlte wie zwei Wunderkerzen.

Er konnte gar nicht aufhören, von der Küche und der Wohnung zu schwärmen. Am Ende rühmten sich Mutter und Sohn des großen Privilegs, dass ihre Siedlung zu Dongshan-Stahl gehörte. Diese besondere Wohnung hatte Guo Min nur zugeteilt bekommen, weil er Angestellter der Stahlfabrik war. Jetzt gehörten sie zum exklusiven Kreis der Bewohner der Neubergsiedlung.

Wie es kam, dass Großmutter Guo zur Parteisekretärin befördert wurde, darüber wurde allerlei gemunkelt. Sie habe sich bei der Kontrolle der Familienbücher durch den Polizisten Zhang lediglich danach erkundigt, wo sie denn nun ihren Beitrag für die Parteimitgliedschaft bezahlen müsse, hieß es. Da bislang nie einer der Bewohner der Neubergstraße eine solche Frage gestellt habe, offensichtlich also kein Parteimitglied in dem Arbeiterquartier lebe, habe der junge Mann erst einmal große Augen gemacht. Zum Ausdruck seines Respekts nannte er die alte Frau von da an »Großmutter Guo«, und alle im Quartier taten es ihm nach. Bald darauf wurde offiziell verkündet, dass Großmutter Guo zur ersten Parteisekretärin der Neubergstraße ernannt worden sei.

Großmutter Guo war es aber nicht genug gewesen, Parteisekretärin für lediglich eine einzige Straße mit zweiunddreißig Familien zu sein. Und obwohl sie von einigen Alteingesessenen aus dem Quartier gewarnt worden war, die Altbergstraße sei »politisch hochkomplex«, sie fasse da eine heiße Kartoffel an, ließ sie die Neuberg- mit der Altbergstraße zu einer Einheit verschmelzen. Diese taufte sie dann »Harmoniedorf«. Seither amtierte Großmutter Guo als Parteisekretärin des gesamten unteren Dongshan-Berghangs.

In den Augen der Neuberger hatte sich Großmutter Guo damit alles selbst eingebrockt. Dongshan-Stahl sei ein tiefes Wasser, hieß es, und an der Altbergstraße lebten allerlei bunte Vögel.

Von Guo Min hatte die neue Parteisekretärin sich über die Geschichte des Harmoniedorfs aufklären lassen. 1938, während des Antijapanischen Krieges, war das Zhongyuan-Stahlwerk aus dem Zentrum des Landes ins bergige südwestliche Dongshan evakuiert und der Betrieb in einem Bunker bis zur japanischen Kapitulation 1945 fortgeführt worden. Nachdem dann der nationalistische Anführer Chiang Kai-shek nach seiner Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten mit seinen Anhängern nach Taiwan geflohen war, hatte am 1. Oktober 1949 vom Tor des Himmlischen Friedens aus der Große Vorsitzende Mao Zedong die Gründung der Volksrepublik China verkündet. Die Siedlung an der Neubergstraße, die in der neuen Gesellschaft vom Dongshan-Stahlwerk für seine Arbeiter erbaut wurde, stand damit im Zeichen des Neuen. Vor der Errichtung der Siedlung an der Neubergstraße hatte es gar keine Altbergstraße gegeben – die historischen Villen am Bergabhang waren seit je lediglich mit ihren eigenen Namen bezeichnet worden. Erst nachdem die Neubergstraße so getauft worden war, nannte man die untere Straße in Anlehnung daran eben Altbergstraße. Die Villen und Einfamilienhäuser dort mochten dreißig bis fünfzig Jahre vor der Neubergsiedlung gebaut worden sein. Damit trennte vor allem die politische Gesinnung die beiden Straßen: der Gegensatz zwischen der neuen und der alten Gesellschaft.

Die Neubergstraße sei also ganz klar und eindeutig die einzige echte Straße im Quartier, stellte Großmutter Guo fest.

Am Morgen nach der Gründung des Harmoniedorfs unternahm die Gründerin ihre erste Inspektion der Altbergstraße. Sie trug eine kurzärmelige Bluse, eine halblange Hose aus changierender dunkelbrauner Seide, und in der Hand schwenkte sie energisch einen runden Palmfächer. Am Ende ihres Wohnblocks nahm sie eine Abkürzung und stieg über den schmalen, steilen Pfad direkt zur Altbergstraße hinab. Lange war noch zu vernehmen, wie ihre stampfenden Schritte auf den Steinplatten verhallten.

Am Abend saß die neue Parteisekretärin dann auf einem Bambushocker vor dem Hauseingang, den Rücken gegen die Mauer gestemmt, und zeterte wie eine gestrenge Türgöttin herum. Währenddessen wedelte sie sich mit dem Palmfächer kräftig Luft zu, wie wenn sie ein Feuer belüftete. Die Altbergstraße sei bloß ein Teller voll losen Sandes. Die abbröckelnden Wände und die Dachziegel, auf denen schon Moos und Gras wüchsen, seien verrutscht und geborsten. Die verfallenen Villen schienen wie vom Himmel gefallen und dabei so zerquetscht wie verrutschte Tortenstücke. Sei vor der Beschlagnahmung jede Villa von einer Familie bewohnt worden, stehe inzwischen jeder Familie nur noch ein Zimmer zu, sodass in einer Villa bis zu sechs oder sieben Familien untergebracht seien. Die Leute seien so eng zusammengepfercht, alle würden sich gegenseitig auf die Füße treten, es sei der reinste Schweinestall!

Guo Min bemühte sich, seine Mutter zu trösten. Zwischen Neubergstraße und Altbergstraße bestehe eben dieser unübersehbare Unterschied: Während Dongshan-Stahl ein eigenes Universum darstelle, verrichteten die Altberger ihre Arbeit in einer Reihe von privaten und halbprivaten Betrieben; die Straße sei ein Sammelbecken für Menschen, die kein Universum besäßen.

Großmutter Guo wusste, worauf Guo Min damit hinauswollte. An der Neubergstraße wohnte die befreite Arbeiterklasse, die neue gesellschaftliche Elite. Die Altberger hingegen waren ehemalige Land- und Villenbesitzer oder deren Nachkommen, die neuen Klassenfeinde, die allesamt von der Wolke Nummer sieben geradewegs hinab ins Fegefeuer gestürzt waren. Sie würden es niemals schaffen, eine Anstellung bei Dongshan-Stahl zu finden, und würden somit nie »echte Dongshaner« werden, wie man die Fabrikarbeiter nannte.

Die Parteisekretärin ließ den Blick bis zum Horizont schweifen, wo sich der breite Dongshan-Fluss dahinwand. Das Ufer erstreckte sich über Dutzende Kilometer, und der Großteil des verschlungenen Mäanderlaufs gehörte zum Fabrikareal. Das Dongshan-Werk-Universum, hatte Guo Min ihr vorgeschwärmt, lasse sich von keinem Aussichtspunkt aus ganz überblicken.

»Wie groß ist Dongshan-Stahl eigentlich?«, fragte sie. »Stimmt es, dass die Fabrik eine eigene Bahnlinie, einen Flugplatz und einen Flussschiffhafen besitzt?«

Guo Min lachte auf. »Alles, was du da vorne siehst, gehört zu Dongshan-Stahl.« Mit dem Zeigfinger deutete er zunächst auf die Fabrikmauer, dann auf die dahinterliegende Fabrik, auf die Wohnungen der Fabrikangestellten darum herum. »Außerdem gibt es drei große fabrikeigene Krankenhäuser. Wenn du krank wirst, kannst du dort zum Arzt gehen.«

»Darf ich das wirklich?«

»Warum nicht?«

»Ich bin doch keine Angestellte von Dongshan-Stahl.«

»Die Kinos und Theater von Dongshan-Stahl in der Stadt sind doch auch für alle zugänglich. Ich glaube sogar, dass für Familienangehörige der Arztbesuch kostenlos ist.«

Großmutter Guo nickte zufrieden.

»Verstreut über die Hügel von Dongshan gibt es zudem zehn Schulen und auf dem Fabrikgelände eine Reihe fabrikeigener Badehäuser«, fügte Guo Min an. »Vielleicht bringe ich dich einmal dorthin zum Duschen, wenn der Pförtner es uns erlaubt.« Er hob den Arm und deutete über seine Schulter. »Außerdem ist da noch das obere Dongshan – zuoberst am Berg wohnen unsere Kader, die politisch absolut Makellosen.«

Großmutter Guo verdrehte die Augen. »Die solltest du nicht beneiden. Meide sie lieber.«

Guo Min pflichtete der Mutter bei: »Du hast wahrscheinlich recht. Im Vergleich zu den Altbergern können wir große Genugtuung empfinden, aber gegenüber den großen Haien kommt man sich doch unbedeutend vor wie Krebse in einem Walfischmaul. Aber glücklich ist, wer weiß, wann es genug ist.«

»Dennoch sollten wir uns Gedanken darüber machen, wie wir früher oder später unsere Wohnung vergrößern können. Irgendwann schlafen bei uns plötzlich drei Generationen in einem Zimmer. Das empfinde ich auch ohne den Vergleich mit euren Kadern als Zumutung. Zum Glück wohnen wir in der Nähe der Fabrik, da musst du einfach nur den Arm ausstrecken, um dir notfalls etwas unter den Nagel zu reißen. Die Werkstatt ist für uns eine wahre Schatztruhe. Für einen Ausbau braucht man eine Menge Materialien. Aber ich erinnere mich an die launischen Pförtner aus der Weberei, die alle mehr oder minder bissige Hunde waren. Wurde jemand auch nur mit einer Handvoll Nägel am Eingang erwischt, konnte er noch so viele Kotaus machen oder Geschenke bringen, es gab stets ein Affentheater. Am Ende rannte der Pförtner sogar ins Büro des Parteisekretärs. Wenn jedoch das Materiallager derart in der Nähe ist wie bei uns, kann man darauf hoffen, sich jedes Mal ein wenig bedienen zu können. Vergiss nicht, der Zugang zu allerlei Werkzeug und Baumaterial ist ein Vorrecht, auf das man als Arbeiter stolz sein kann. Jedenfalls sollten wir uns von bissigen Pförtnern nicht vom Ausbau der Wohnung abhalten lassen!«

Eine Weile saßen sie schweigend da, als Guo Min seine Mutter vor sich hinmurmeln hörte: »Wer nimmt am frühen Morgen oder in der Abenddämmerung die Fabrik in Augenschein? Es sind die Arbeiter, die in unmittelbarer Nähe zum Werksgelände wohnen. Sobald alle Lichter auf dem Werksgelände angeschaltet sind wie jetzt, rollt sich vor dem Harmoniedorf ein leuchtender Teppich aus, der aus vielzähligen Rohren und Fabrikgebäuden gewoben ist. Darüber ragen die Schornsteine Hunderte von Metern hoch in den Himmel empor, als könnten sie eine Verbindung zum Jadekaiser im Himmel oben schaffen.«

2

»Die Frau hat bestimmt eine Bärentatze verzehrt«, flüsterten sich die Neuberger über ihre Parteisekretärin zu. So wie Großmutter Guo marschierte niemand sonst durch die Straßen – wie ein gereizter Panther im Käfig, gefährlich mit dem runden Palmfächer wedelnd.

»Wir bauen zwei große sozialistische Straßen durch das Harmoniedorf!«, verkündete sie gerade lauthals, obwohl niemand sonst zu sehen war. Die Dongshan-Arbeiter waren um diese Uhrzeit längst in den Fabriken, und die Hausfrauen standen noch in der Küche und räumten nach dem Frühstück die Wohnungen auf. Nur Ningning und Mei spielten vor dem Hauseingang der Parteisekretärin.

Ningning stieß der Freundin den Ellenbogen in die Rippen. Sie fand Großmutter Guo beeindruckend, wie diese mit ihrem Palmfächer wie mit einem Schwert in der Luft herumfuchtelte. »Hast du auch schon einmal Bärentatze gegessen?«, fragte sie.

Mei schüttelte den Kopf. »Vom Bärentatzen-Essen fängt einem angeblich das Herz an zu brennen.« Ningning staunte mit halb offenem Mund, während ihre Freundin altklug sagte: »Mit einer Bärentatze im Bauch muss man durch den Regen gehen, um das Feuer im Herzen zu löschen.«

»Warum isst dann Großmutter Guo Bärentatze?«

»Bärentatze enthält viel Protein. Aber man kriegt sie nicht auf dem Markt, sondern nur in der Apotheke.«

»Vielleicht teilt Großmutter Guo das nächste Mal ihre Bärentatze mit Longlong. Sein Fieber will einfach nicht sinken.«

»Dein Bruder würde davon stark werden wie ein Balken.«

Longlong war Ningnings Zwillingsbruder, doch die beiden Geschwister ähnelten sich nicht im Geringsten. Longlong und sie seien nur deshalb so unterschiedlich, weil sie eine halbe Stunde früher als Longlong geboren worden sei, erzählte Ningning stets. Deshalb sei sie bis heute einen halben Kopf größer als er. Sie habe einfach früher als er begonnen zu trinken und als Erste mit dem Wachsen angefangen. Außerdem esse sie auch das, was Longlong nicht möge. Für Ningning war das eine einleuchtende Erklärung dafür, dass er immer so blass aussah und so oft krank war.

Longlongs hohes Fieber und der Durchfall erfüllten die Mama mit Sorge, und wenn sie sich unter solchen Druck gesetzt fühlte, erinnerte sie Ningning daran, dass diese sich schon immer alles weggegrapscht habe. Dadurch habe ihr Bruder schon im Bauch zu wenig Nährstoffe bekommen.

Ningning fand das ungerecht. Außerdem war es falsch von ihrer Mama gewesen, ihren Bruder Longlong, »Drache«, zu nennen. Mit seinen schmalen Mäusebacken würde er wirklich nie ein furchterregender Drache sein. Sie selbst würde auch lieber anders heißen als Ningning, »stilles Mädchen«. Der falsche Name, davon war sie überzeugt, hatte Longlongs Krankheit überhaupt erst ausgelöst.

»Ich habe Mama gesagt, was du mir erzählt hast: dass Zwillinge eigentlich eine einzige Person sind«, vertraute Ningning ihrer Freundin an. »Und dass, wenn Longlong stirbt, auch ich nicht mehr weiterleben kann. Sie war total sauer, am liebsten hätte sie mir eins auf den Po gegeben.«

Dabei hatte Ningning ihre Mama überhaupt nicht ärgern wollen, das lohnte sich nämlich überhaupt nicht.

Ningnings Mutter, Li Yun, war Laborantin bei Dongshan-Stahl. Damit war sie die einzige echte Dongshan-Frau an der ganzen Neubergstraße.

»Zwar besetzt deine Mama keine richtige Kaderstelle in der Fabrik, aber als Laborantin steht sie weit über den gewöhnlichen Fabrikarbeiterinnen, da sie keine körperliche Arbeit verrichtet«, erläuterte Mei ihrer Freundin.

Immer wieder aufs Neue staunte diese darüber, was Mei alles wusste. So viele ihrer Ausdrucksweisen bekam sie zum ersten Mal zu Ohren. Mei kannte sich wirklich gut aus, und was Mei nicht wusste, das wusste bestimmt ihre Mutter. Die war zwar keine echte Dongshanerin und las auch keine Bücher, aber sie konnte Hände und Gesichter lesen.

Meis Mutter war nicht ihre richtige Mutter. Frau Jiang war die Schwester ihres leiblichen Vaters, also eine Tante von Mei. Jiang Minhui und ihr Mann, Wu Mianzi, der ebenfalls bei Dongshan-Stahl arbeitete, waren bereits mehrere Jahre verheiratet, aber lange Zeit kinderlos geblieben. Nun hatte Frau Jiang ein kleines Mädchen geboren und Mei so eine kleine Schwester namens Schneeweiß bekommen.

Als ihre Mutter das Neugeborene zum ersten Mal in ihren Armen gehalten hatte, hatte sie ihrem Mann zugerufen: »Die ist ja weiß wie Schnee.«

»Dann soll sie Schneeweiß heißen«, hatte der Vater erwidert.

Und wirklich war Meis Schwester weiß wie Schnee, wohingegen Mei und Frau Jiang eher dunkelhäutig waren wie nach einem rotglühenden Sommer. In der Sonne glänzten die Gesichter der beiden wie blankes Kupfer.

Ningning kam es seltsam vor, dass Mei ihre leiblichen Eltern nicht vermisste. Aber Mei meinte, die an der Neubergstraße seien ihre Eltern. Ihr Vater war ebenfalls ein echter Dongshaner.

Indessen kam Großmutter Guo wieder zurückmarschiert. Ihr gefielen eigentlich weder die Altberg- noch die Neubergstraße. Wütend schimpfte sie vor sich hin: »Die mit ihren Stolperpfaden, so dünn und verwickelt wie ein Schafsdarm, sollen die sich doch zum Teufel scheren! Die schmalen, holprigen Wege sind es nicht würdig, Straßen genannt zu werden.« Sie brüllte die Straße hinunter: »Wenn ich gerade bis in die Altbergstraße hinuntergerollt wäre, wäre ich direkt in den Himmel aufgestiegen.«

Die Parteisekretärin war zwar etwas rundlich, aber es war doch schwer vorstellbar, dass sie den engen Weg hinabgerollt wäre. Die zwei kleinen Mädchen, ihre einzigen Zuhörerinnen, kicherten bei der Vorstellung von der rollenden Großmutter Guo.

Ningning fragte ihre Freundin: »Woher will Großmutter Guo denn wissen, dass sie nach dem Tod in den Himmel aufsteigt? Es kommt doch auch vor, dass man in die Hölle hinabstürzt, oder?«

»Ich glaube, als unsere Parteisekretärin hat Großmutter Guo ein besonderes Karma. Sie ist anders als die übrigen Leute hier im Harmoniedorf. Wahrscheinlich würde sie wirklich in den Himmel aufsteigen«, antwortete Mei. »Aber ich glaube, niemand trägt so viel böses Qi in sich wie Großmutter Guo. Ist dir nicht auch aufgefallen, wie das böse Qi sich in ihrem wabbeligen Bauch aufstaut? Wenn sich der Bauch noch weiter aufbläht, dann zerplatzt er eines Tages wie ein Ballon.«

Andächtig hörte Ningning ihrer Freundin zu. Mei konnte genauso beeindruckend reden wie ihre Mutter.

Plötzlich hielt Mei inne und blickte mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne. »Siehst du dort die Rauchfahne, die Großmutter Guo von der Stirn aufsteigt?«, flüsterte sie.

Ningning drückte ihre Augenlieder zusammen wie Mei, um schärfer zu sehen, konnte aber beim besten Willen keinen Rauch über Großmutter Guo erkennen. »Hm. Wahrscheinlich hast du recht«, sagte sie schließlich. »Komm, wir spielen ›Großmutter Guo schimpft‹. Wer ihre Worte am besten wiederholen kann, hat gewonnen. Einverstanden?«

Schnell merkten die beiden Mädchen, wie schwierig es war, Großmutter Guos Schimpftiraden nachzuahmen.

Als Guo Min nach seiner Nachtschicht nach Hause kam, fand er seine Mutter an der Mauer beim Hauseingang, wo sie reglos wie stilles Wasser auf einem Bambushocker saß.

Sie litt gerade darunter, dass sie als neue Parteisekretärin gar nicht so richtig berühmt geworden war. Polizist Zhang, der Grünschnabel, war schuld daran! Seit er sie »Großmutter Guo« nannte, taten es ihm alle im Harmoniedorf gleich, niemand redete sie mit ihrem Titel als »Parteisekretärin« an. Auch fragte sie sich, warum er damals nicht durch die beiden Straßen im Harmoniedorf marschiert war und allen Bewohnern ihre Ernennung lauthals verkündet hatte. Ihre Berufung zur Parteisekretärin war doch wohl kein Geheimnis! Und jetzt zeigte sich der Grünschnabel hier nicht einmal mehr.

Guo Min hatte aus der Fabrik gedämpften Reis mitgebracht, dazu noch zwei dicke weiße Rettiche und etwas Sellerie. »Wenn die Rettiche auf den Markt kommen, können die Ärzte ihre Praxen schließen«, zitierte er grinsend seine Mutter, bevor er direkt in die Küche ging.

Seine Mutter folgte ihm. »Du brauchst nicht zu kochen, niemand ist hungrig. Du hast gestern Abend so viel gekocht, die Reste habe ich in die Anrichte gestellt.«

Guo Min warf einen Blick auf die plumpe Figur der Mutter. Ihre festen Pausbacken, die zwei Polstern glichen, zeugten von ihrem gesunden Appetit. Zwischen ihren weitläufigen Wangen und den mondsichelartig geschwungenen Augenbrauen, die entfernt an reife Ähren erinnerten, waren ihre schmalen Augen leicht nach oben gebogen. Früher hätte es gewiss viele Schmeichler gegeben, die von ihrem Gesicht geschwärmt hätten, sie gleiche der Kaiserin von Japan. Doch wer wusste in den revolutionären Zeiten noch, wie die Kaiserin von Japan aussah? Gewiss hatte auch keine Kaiserin von Japan jemals so viel böses Qi in sich getragen wie die Parteisekretärin vom Harmoniedorf.

Im Vergleich zur Mutter war Guo Min hingegen dünn wie ein in der Luft wehendes Schilfrohr. Sein schmales Gesicht hatte die Form eines Sonnenblumenkerns, seine vorstehenden Froschaugen erinnerten an ein vorzeitig gealtertes Kindergesicht aus einem Hungergebiet. Sein Lächeln, das irgendwo zwischen einem breiten Lachen und einem scheuen Grinsen lag, hatte etwas Rätselhaftes, doch es galt weder der Mutter noch den Nachbarn, sondern einzig und allein Lili.

In einem Punkt waren sich Großmutter Guo und Guo Min aber ähnlich: Sie hatten beide pechschwarzes und teerglänzendes Haar wie Gockelfedern. Großmutter Guo trug die Haare bis auf Ohrhöhe, während Guo Min eine Frisur wie der Große Vorsitzende trug, mit nach hinten gekämmten Haaren. Das verlieh ihm einen Anflug von Überheblichkeit und Großmut. Doch trotz seiner kühnen Frisur hatte Guo Min nichts von einem Anführer an sich, weil er stets guckte wie ein scheues Reh. Ningning fragte sich eher, ob es mit seinem Grinsen zu tun hatte. Ihre Mama ließ sich bei jeder Gelegenheit anmerken, dass sie für dieses aufsässige Grinsen nichts übrig hatte. Das habe etwas Rüpelhaftes, etwas Grimassenhaftes an sich, fand sie.

»Wir werden zwei kommunistische Straßen bauen«, weihte die Parteisekretärin ihren Sohn in ihre Pläne ein, während der das Gemüse neben dem Herd ablegte. »Wir wärmen zum Mittagessen einfach die Reste auf. Ich möchte mich von dir über die kommunistischen Straßen beraten lassen.«

Guo Min blickte im schwachen Schein der nackten Glühbirne an der Zimmerdecke auf seine klein gewachsene Mutter hinab.

»Weißt du, den Kommunismus erreichen wir erst nach dem Sozialismus.«

Guo Min widersprach nicht, sondern grinste lediglich wie zur Antwort auf den ständig beleidigt wirkenden Ausdruck auf dem Vollmondgesicht seiner Mutter.

Für den Bau der sozialistischen oder kommunistischen Straßen hätte Großmutter Guo sogar ihr Mittagessen geopfert. Ihre Aufgabe als Parteisekretärin bestand schließlich im Dienst am Volk! In den vielen Jahren als Parteimitglied in der Weberei hatte sie gelernt, mit Verantwortung umzugehen.

»Nun sag schon. Was denkst du?«, drängte sie ihren Sohn.

»Bevor man eine solche Aufgabe angeht, muss man planen. Wir leben schließlich in einer Planwirtschaft«, sagte Guo Min.

»Na, dann planen wir beide gemeinsam, im Harmoniedorf zwei sozialistische Straßen zu bauen, die zu zwei kommunistischen Straßen weiterentwickelt werden«, antwortete die Mutter. »Glaubst du, wir können den Zement, den Sand und alles andere für den Bau der Straße von Dongshan-Stahl beziehen?«

»Es wird schwierig, das Material, das für den Bau von zwei Straßen benötigt wird, in der Fabrik abzuzweigen.« Es war Guo Min ein Rätsel, wie er solche Mengen aus der Fabrik schmuggeln sollte.

Den Einwand ließ Großmutter Guo nicht gelten. Guo Min musste ihr nun zu der hinter dem Haus gelegenen Felswand folgen.

»Was würdest du sagen, wenn wir den Sandstein hier abbauen würden, um daraus unsere Straßen zu bauen?«, fragte sie.

»Vielleicht wäre das eine Idee. Hast du schon mit Herrn und Frau Xu darüber gesprochen? Zwischen ihrem und unserem Wohnblock gibt es einen Felsabschnitt, an dem offenbar schon einmal mit dem Abbau des Sandsteins angefangen wurde. Dort entstünde dann Raum für einen Dorfplatz, auf den im Sommer die Sonne nicht schiene. Ein kühler, schattiger Platz für alle während der drückenden Hitze. Das wäre doch schön, nicht?«

Großmutter Guo nickte glückselig.

Am Abend erzählte Ningning ihrer Freundin: »Zuerst bauen sie noch das Himmelbett fertig, dann aber fangen die Bauarbeiten an den Straßen an. Weißt du eigentlich, warum es Himmelbett heißt?«

»Auch die Parteisekretärin muss zuerst himmlisch gut schlafen, bevor sie mit der Arbeit beginnen kann«, erklärte Mei.

3

Nach dem Essen, als ihr Mann und die Kinder einen Mittagsschlaf machten, schlich Frau Jiang allein zu Großmutter Guo hinüber. Sie lehnte sich mit gestrecktem Arm gegen den Türrahmen und richtete sich vor der Parteisekretärin auf.

»Der Straßenbau wird uns nur böses Feng-Shui verursachen. Damit schneiden wir uns ins eigene Fleisch«, sagte sie mit großer Überzeugung und riss damit die Parteisekretärin aus ihrem Mittagsschlaf.

Großmutter Guo richtete ihren Blick starr auf die Nachbarin, rührte sich aber nicht vom Fleck.

Frau Jiang redete eifrig weiter: »Wir dürfen auf gar keinen Fall mit den Bauarbeiten beginnen.« Mit dem Zeigefinger deutete sie auf ihren noch wabbeligen Bauch. »Bei der Geburt meiner Tochter hat mein Körper viel Qi verloren. Ich brauche die Ruhe meines Monatsbettes, um mich gut zu erholen.« Sie stockte kurz, um nach Luft zu schnappen. »Niemand würde sich freiwillig unter ein Messer legen. Aber wenn wir so leichtsinnig tief in die Erde graben, begehen wir denselben Fehler, als wenn wir aufs Geratewohl einen menschlichen Körper bei jeder Kleinigkeit operieren würden. Die Erde verliert ihre Energie, wofür wir sehr lang mit schlechtem Feng-Shui werden büßen müssen. Und das zeigt sich schon. Heute Morgen hat mein Mann völlig unerwartet eine eigenartig grünliche Hautfarbe bekommen. Es ist, als würde grünes Moos auf seiner Haut wachsen.«

In der neuen Gesellschaft wurde Feng-Shui als Aberglaube verurteilt und nicht mehr geduldet. Die alten Feng-Shui-Meister wie Frau Jiangs Vater waren lange tot oder lagen im Sterben. Die Zeiten waren vorbei, als man auf den Dörfern noch bei jedem Anliegen zum Feng-Shui-Meister gegangen war, um für ein Vorhaben ein Glücksdatum zu erfragen – für das Haareschneiden ebenso wie für die Eheschließung oder die Zeugung von Kindern. Früher hatten die Menschen weite Wege zu ihrem Feng-Shui-Meister in Kauf genommen. Sie brachten ihm eine geräucherte Schweinshaxe, einen Sack feinen Reis, eine Flasche selbst gebrannten Schnaps, zwei Meter Wollstoff, eine neue Bettdecke oder einen neuen glänzenden Kochtopf mit, dazu noch einen Zehn-Yuan-Schein. Feng-Shui bedeutete wörtlich Wind und Wasser, und beide Elemente waren unbestimmt und schwer zu lesen und zu deuten. Jiang Minhuis Vater, ein alter, sehr bekannter Meister, hatte daher stets seinen Kompass bei sich gehabt, um seine Ausführungen wissenschaftlich zu untermauern. Sie erinnerte sich, wie großzügig ihr Vater gegenüber seinen Klienten war. Zeigte jemand am Schluss der Beratung statt Geschenken nur seine leeren Hosentaschen vor, pflegte er schmunzelnd zu sagen, er werde dafür im nächsten Leben sicher ein gutes Karma erfahren. Er hatte sie in die Geheimnisse der Elemente eingeweiht, und sie war überzeugt, den von den Menschen herbeigeführten Niedergang mithilfe des Feng-Shui vorhersehen zu können.

»Wir fügen uns selbst schweres Unheil zu. Am Ende werden wir von schlimmen Krankheiten und einem traurigen Schicksal heimgesucht. Jegliche Harmonie wird zerrüttet sein«, warnte Frau Jiang die Parteisekretärin. »Wenn wir uns heute weigern, der Feng-Shui-Lehre unsere Ehrfurcht zu erweisen, wird es bald auch mit dem Harmoniedorf bergab gehen.«

Um die möglichen Auswirkungen der Missachtung des Feng-Shui zu illustrieren, erzählte die heimliche Feng-Shui-Meisterin Großmutter Guo die Geschichte ihrer Hochzeit. Als ihr Mann Wu Mianzi im Jahr 1950 mit seinem Bruder für das Vaterland in den Krieg gezogen sei, sei er ein unverwüstlicher Kerl gewesen, groß und stämmig. In ihrem Dorf habe die neue Gesellschaft damals gerade angefangen, den Feudalismus der alten Gesellschaft zu Grabe zu tragen. Auch die Feng-Shui-Lehre sei infrage gestellt worden. Ihrem Vater sei das Wissen darum von einem Tag auf den anderen genommen worden, abgestellt wie beim Zudrehen eines Wasserhahns. Als Wu Mianzi aus dem Krieg wieder in sein Dorf heimgekehrt sei, habe die Lehre vom Feng-Shui ihren Platz vollständig eingebüßt gehabt. Ihr Vater habe als Feng-Shui-Meister nichts mehr zu sagen gehabt – nicht einmal, was das Hochzeitsdatum der eigenen Tochter betroffen habe. Und dann sei er genau auf dieser Hochzeit gestorben. Dabei habe er vielsagend mit dem Zeigefinger auf ihre Wange gedeutet.

Frau Jiang stockte, um sich zu räuspern.

Als sie heute vor dem Spiegel gestanden habe, sei ihr aufgefallen, wie deutlich ihre hohen Wangenknochen inzwischen zu erkennen seien. Sie frage sich, weswegen ihr Mann von diesen Killerwangenknochen, so wurden sie vom Volksmund genannt, bestraft werde.

Sie stieß einen langen Seufzer aus.

Es habe so viele Jahre gedauert, bis sie schwanger geworden sei, und nun sei ihr Mann nach der Geburt ihrer schönen Tochter Schneeweiß, noch bevor ihr Monatsbett vorüber sei, im Gesicht grün angelaufen. Sie sei sich sicher: Ihre prominenten, Unheil verkündenden Wangenknochen würden Wu Mianzi ebenso ins Grab bringen. Frau Jiang flehte laut: »Das ist die durch Menschen verursachte Strafe. Gnädiger Himmel, lass meinen Mann am Leben!«

Aber mit dem Schicksal konnte man ja feilschen. Man musste nur wissen, wie man sein Feng-Shui vervollkommnen konnte. Wegen der Missachtung der Lehre würde es den Menschen niemals gelingen, Unheil abzuwenden. Man sagte, zwischen dem Himmel und der Erde herrsche das Gesetz, das nur ein erfahrener Meister auszulegen vermöge. Die Dorfbewohner hätten sich das verdient. Ihr Vater sei schließlich an gebrochenem Herzen gestorben, weil seine Stimme verboten worden und sein Rat ungehört geblieben seien. Doch von nun an werde sie für ihren Vater die Stimme sein. Sie werde im Untergrund dafür kämpfen, dass die Feng-Shui-Lehre wieder Gültigkeit erhalte.

Großmutter Guo fehlten sowohl die Zeit als auch die Geduld, um Frau Jiang weiter zuzuhören. »Hör zu!«, unterbrach sie sie. »Ich bin deine Parteisekretärin und glaube an den Kommunismus – nicht an Feng-Shui. Was du da erzählst, ist das reinste feudalistische Gift. Feng-Shui ist Aberglaube, und Aberglaube ist dasselbe wie Religion. Und von der hat Marx gesagt hat, sie sei wie Opium für das Volk.«

Die Parteisekretärin zog ihre Mundwinkel in die Breite und dachte zurück an die vergangenen Zeiten. Sie hatte ihren Sohn Guo Min allein großgezogen, da waren viele Momente gewesen, in denen sie weder aus noch ein gewusst hatte. In solchen Situationen war sie stets zu einem Blinden in ihrem Bezirkszentrum gegangen, der aus der Hand hatte lesen können. In ihrer Verzweiflung hatte sie erfahren wollen, was als Nächstes auf Guo Min und sie zukommen würde. Dafür war sie sogar bereit gewesen, tief in die Tasche zu greifen. Hätte sie damals doch nur gewusst, dass sie einst mit Guo Min in der Neubergstraße wohnen würde!

Ihre Entscheidung stand felsenfest: Am nächsten Sonntag würde sie die Neu- und die Altberger mit Hämmern und Steinmeißeln vor ihrer Tür versammeln. Pünktlich um acht Uhr würden die Bauarbeiten der zwei sozialistischen Straßen im Harmoniedorf beginnen, die letztlich zu den ersten kommunistischen Straßen der Stadt Dongshan werden würden.

»Unter der Führung des Großen Vorsitzenden und der Partei haben wir die Befreiung erlangt«, sagte die Parteisekretärin. »Im Sozialismus leben wir als Herren und Herrinnen der Gesellschaft. Wovor fürchtest du dich also noch?«

»Wollen Sie denn nicht auch Großmutter werden?«, schleuderte Frau Jiang der Parteisekretärin jetzt unverhohlen ins Gesicht. »Ihre Schwiegertochter möchte Ihnen doch bestimmt bald einen Enkel schenken.« Die Untergrund-Feng-Shui-Meisterin stemmte sich vehement wie ein Stier dagegen, dass die Erde unter ihren Füßen am darauffolgenden Sonntag ihr Qi verlor. »Man kann nicht die Erde ihr Qi ausströmen lassen und sich zugleich wünschen, dass die Welt und das Volk heil und gesund bleiben. Ihre Schwiegertochter und die anderen jungen Frauen aus dem Harmoniedorf werden nicht mehr gebären können.«

Frau Jiang sah, wie sich das strenge Antlitz der Parteisekretärin verdunkelte, gleich einer Regenwolke, die über dem Horizont aufzog. Wieder wurde sie sich ihrer hohen Wangenknochen bewusst. Sie war heute zu ihrer Parteisekretärin gekommen, weil sie nicht wusste, wie lange der grüne Moosbefall auf der Haut ihres Mannes noch weiterwuchern und ob er nicht sogar sein Leben verlieren würde. Sie wollte ihm so schnell wie möglich einen Sohn schenken, damit der Ahnendienst in der Familie Wu nicht mit ihm erlosch.

Großmutter Guo hatte ihre großen Schicksalsschläge schon lange hinter sich: die Frühgeburt ihres Sohns und den frühen Tod ihres Mannes – im Alter von zweiundzwanzig Jahren war sie bereits verwitwet. Hätte sie bei einer dieser Fügungen des Himmels durch verbessertes Feng-Shui um ihr Schicksal feilschen können? Doch wenn ihr das gelungen wäre, hätten sie und die Partei sich nicht gefunden.

Die Partei und das Feng-Shui standen sich wie Feuer und Wasser gegenüber. Auf den Versammlungen wurde den Parteimitgliedern stets vor Augen geführt, wie das Feng-Shui die Menschen abstumpfe. Feng-Shui sei ein Zaubertrank und wirke auf den gesunden Körper wie Schnaps. Der Mensch werde angefressen, die Leber und die Haut würden korrodieren, dann werde der Verstand zersetzt. Zum Schluss werde nicht mehr als ein erlöschendes Streichholz in einem Abwasserkanal übrig bleiben. So wie bei ihrem Mann, der sich in die Hölle gesoffen hatte. In der neuen Gesellschaft jedoch werde die Menschheit von den zerstörerischen Kräften von Feudalismus und Kapitalismus erlöst werden. Im Harmoniedorf würde sie alles unternehmen, damit das feudalistische Gedankengut von allein erlosch.

Frau Jiang fuhr sich mit den Fingern über ihre spitzen Wangenknochen, die noch immer weiterzuwachsen schienen. Nach der Adoption der kleine Mei hätten Wu Mianzi und sie den Wegrand vor ihrem Hauseingang aufgeräumt und zu Ehren des Feng-Shui einen Maulbeerbaum gepflanzt, erzählte sie. Dank der Adoption, aber auch dank des Baumes sei sie dann bald schwanger geworden.

Die Parteisekretärin staunte darüber, in welchen Redeschwall sich Frau Jiang hineingesteigert hatte.

Solle sich jetzt von dem Glück verheißenden Feng-Shui verabschieden und dabei zusehen, wie Wu Mianzi vor ihren Augen grün anlaufe und langsam zerfressen werde? Die Familie werde ihren Maulbeerbaum auf gar keinen Fall für den Straßenbau entfernen lassen. Schneeweiß liege noch in den Windeln, aber ihr Mann werde bei günstigem Feng-Shui bestimmt wieder mehr Farbe in sein Gesicht bekommen und sie würden gemeinsam durchhalten, bis ihre Tochter eines Tages heiratete und ihnen einen Enkel schenkte.

Nachdem sie sich geräuspert hatte, fragte Frau Jiang die Parteisekretärin: »Ist Ihnen denn nicht aufgefallen, dass ich hohe Wangenknochen habe, die meinem Mann nach dem Leben trachten?« Sie hielt kurz inne und betonte dann noch einmal, ihr Maulbeerbaum müsse bleiben, damit das Qi der Erde nicht wegfließe.

Nach dieser Auseinandersetzung konnte die Parteisekretärin bei ihrem Mittagsschlaf keine Ruhe mehr finden. Was Jiang Minhui über den Zusammenhang zwischen dem Gebären und dem Qi der Erde gesagt hatte, wirbelte in ihrem Kopf durcheinander. Diese Frau hatte sie gerade schmerzhaft daran erinnert, dass sie im wahrsten Sinn des Wortes eine Großmutter ohne Enkel war. Warum war ausgerechnet sie von diesem Schicksal betroffen? In diesem Leben hatte niemand so viel geschuftet wie sie. Es gab im Harmoniedorf keine zweite Familie wie die ihre: Guo Min und sie hatten beide ein eigenes Einkommen, kein Kind konnte sich eine bessere Familie wünschen.

Sie wälzte sich auf ihrem Himmelbett hin und her und war von brennender Scham erfüllt. Frau Jiang hatte sie in die Enge getrieben. Welches Verdienst hatte ihr denn in ihrem letzten Leben gefehlt? Wessen hatte sie sich schuldig gemacht? Die giftige Scham wand sich um ihr Herz wie eine Schlange. Es war alles vorbestimmt.

Das Bild des neugeborenen Guo Min schwebte ihr erneut vor Augen: Er wog gerade einmal zweieinhalb Kilo, lag auf ihrer Brust, winzig und schwach wie ein zu früh geborenes Kätzchen. Ihm fehlte sogar die Kraft, um an ihrer Brust zu trinken. Ihr Mann, vom Schnaps abhängig, soff sich kurz nach der Geburt des Sohnes ins Grab. War das nicht schon Bestrafung genug? Nach dreißig Jahren Witwendasein konnte nicht alles umsonst gewesen sein! Wozu hatte sie eigentlich all die Jahre hindurch gelitten? Nur um ihre Schwiegertochter, den »faulen Knochen«, zu versorgen? Damit diese ihr Leben bei ihr und ihrem Sohn in vollen Zügen genießen konnte? Leicht konnte die ganze Gesellschaft der dekadenten Untugend des bourgeoisen Lebensstils verfallen – wie eine Epidemie würde sie das Volk zersetzen.

Bewusst blieb die Parteisekretärin auf ihrem Himmelbett liegen. Sie wollte mit voller Absicht auch einmal faulenzen, nachdem sie ihr ganzes Leben hindurch so schwer geschuftet hatte.

Eine Tür weiter lag auch Wu Mianzi niedergeschlagen im Bett und grübelte.

1950, mit neunzehn Jahren, war er schon einen halben Kopf größer als sein dreieinhalb Jahre älterer Bruder gewesen. Zusammen waren sie in den antiamerikanischen Widerstandskrieg zur Unterstützung von Korea gezogen. Sein Bruder war bei einem Napalm-Angriff ums Leben gekommen, während Wu Mianzi heimgekehrt war. Er hatte die Frau geheiratet, die vor dem Krieg mit seinem älteren Bruder verlobt gewesen war, war aus dem Militärdienst entlassen und der Firma Dongshan-Stahl als Elektriker zugeteilt worden.

»Unser Leben ist wie die Blüte des Sesams, die Schritt für Schritt erblüht«, hatte Wu Mianzi seiner Frau bei ihrer Hochzeit gesagt.

Als sie ihn bei der Beerdigung ihres Vaters auf ihre hohen Wangenknochen hinwies, hatte er sich darüber lustig gemacht: »Wenn nicht mal der Krieg mich ins Nirwana befördern konnte, sollten deine hohen Wangenknochen es lieber aufgeben, mich umbringen zu wollen.«

Er habe schon immer Schwein gehabt im Leben. Was ihn nicht umgebracht habe, habe ihn nur noch stärker gemacht.

Wu Mianzi konnte seiner Frau eigentlich gut nachfühlen, dass sie mit großer Entschlossenheit gegen den Eingriff in die Erde kämpfte, und als Jiang Minhui von der Parteisekretärin zurückkam und sich neben ihn auf den Bettrand setzte, stellte er fest: »Es gibt für eine so vollschlanke Rentnerin doch überhaupt keinen Grund, sich selbst zu bemitleiden. Hätte ihr Mann sich nicht ins Grab gesoffen, hätte sie mit ihrem Kind den ganzen Tag zu Hause bleiben können, wäre nur um den Herd herumgetanzt und nicht Parteisekretärin des Harmoniedorfs geworden.«

Frau Jiang forderte ihren Mann daraufhin auf, weniger zu sprechen. »Das Reden kostet dich jedes Mal Qi.«

Ihr wäre es lieber gewesen, wenn Wu Mianzi seine Gesundheit geschont hätte. Der Körper eines Menschen war schließlich keine Maschine, die man nötigenfalls durch eine neue ersetzen konnte.

Als der Sonntag kam, schlüpfte Mei bereits früh am Morgen zu Ningning hinüber und erzählte ihrer Freundin, dass ihre Familie an jenem Tag kein Gift einatmen wolle und deshalb nicht an den Bauarbeiten der kommunistischen Straßen teilnehmen werde.

»Nein, hör mir zu! Zuerst werden die sozialistischen Straßen errichtet!«, stellte Ningning richtig. Warum konnte Mei eine sozialistische Straße nicht von einer kommunistischen Straße unterscheiden?

Mei ließ sich nicht beirren. »Gute Luft ist für meinen Vater lebenswichtig. Sein Bruder ist im Krieg an Gift gestorben.«

Ningning guckte die Freundin mit aufgerissenen Augen an. Sie hatte wirklich keine Lust, sich von Mei den sozialistischen Straßenbau im Harmoniedorf madig machen zu lassen. Lieber wollte sie auf die Straße hinaus, wo bald Trubel herrschen würde. Doch bevor sie etwas sagen konnte, war Mei wieder nach Hause zurückgeflitzt, um auf gar keinen Fall das Gift beim Straßenbau einzuatmen. Sie war Ningning einfach zur Tür hinaus entwischt.

Als sie auf den Gang trat, stand Lili allein dort und gähnte. »Was machst du denn hier so früh, Mädchen?«, fragte sie verwundert.

»Wir beginnen doch pünktlich um acht Uhr mit dem Bau unserer sozialistischen Straße!«, erwiderte Ningning und eilte an ihrer Nachbarin vorbei.

Im Haus ging Großmutter Guo von Tür zu Tür und klopfte mit ihrem Palmfächer dagegen. In einer halben Stunde sollten alle im Harmoniedorf mit Hämmern und Steinmeißeln bereit sein, damit es losgehen konnte. Dann zog sie weiter, um auch die Altberger zu wecken. Die Parteisekretärin wollte im entscheidenden Moment auf Nummer sicher gehen.

Um Punkt acht Uhr waren fast alle Bewohner des Harmoniedorfs versammelt, und die Parteisekretärin verkündete feierlich den Beginn des Straßenbaus.

Keine Stunde später verließ sie die Baustelle und klopfte an die Tür von Jiang Minhui. Ihre Aufregung war ihr deutlich anzumerken, sie kam schon an der Türschwelle direkt auf ihr Anliegen zu sprechen.

»Die ganze Nation beteiligt sich am Aufbau der neuen Gesellschaft. Alle Bewohner im Harmoniedorf arbeiten heute unter Einsatz ihrer gesammelten Kräfte für die sozialistischen Straßen, jeder nach seinen Fähigkeiten!« Sie räusperte sich heftig.

Frau Jiang erkundigte sich, ob sie der Parteisekretärin ein Glas Wasser bringen dürfe.

»Nein, nicht nötig«, lehnte diese dankend ab. Sie deutete mit dem Palmfächer auf Frau Jiangs Stirn und schwenkte ihn heftig, bevor sie fortfuhr: »Wir sind unserem Großen Vorsitzenden und der Partei aus ganzem Herzen dankbar. Ohne sie könnten wir von dem neuen Leben nur träumen. In deinem Fall aber …«

Großmutter Guo stockte mitten im Satz und streichelte Frau Jiang über die Schulter, als wolle sie die Nachbarin beschwichtigen. Dann holte sie tief Luft und sagte: »Wenn ihr euch nicht am Bau der sozialistischen Straßen beteiligen wollt, solltet ihr euch überlegen, ob ihr dem Vaterland nicht anders noch besser dienen könntet. Du solltest der neuen Gesellschaft Söhne gebären, so schnell du kannst! Du hast ja von Natur aus ein breites Becken. Mit acht Söhnen wird dir dann der Titel einer Ehrenmutter verliehen!«

Jiang Minhui blieb stumm wie ein Fisch und fing an, Schneeweiß zu stillen. Beim Anblick des fleißigen kleinen Saugmauls verdunkelte sich das Gesicht der Parteisekretärin.

»Hör mir doch noch einmal zu! Bei mir bekommst du den Titel einer Ehrenmutter schon mit acht Söhnen. Auf dem Steinplatz-Areal müssen die Frauen zehn Söhne gebären für diesen Ehrentitel.«

Die Parteisekretärin atmete wie ein Blasebalg. Ihr schmaler Blick verriet, dass sie sich durch das Schweigen ihrer Nachbarin beleidigt fühlte.

»Ich wiederhole, ich mache für dich eine Ausnahme. Als Ehrenmutter wirst du an jedem Feiertag mit Reis, Zucker oder Erdnüssen für deinen besonderen Beitrag zum Kommunismus entlohnt.« Sie hielt kurz inne. »Ich will dem Großen Vorsitzenden im Harmoniedorf mehr Ehrenmütter schenken als das Steinplatz-Areal.«

Frau Jiang schüttelte heftig den Kopf wie eine Glühbirne an ihrem Kabel im Sturm. »Nein, acht Söhne werde ich niemals haben, niemals!«

»Und warum nicht?« Die Parteisekretärin fuchtelte mit dem Palmfächer in der Luft herum, als wenn sie auf der Kommandobrücke eines Schiffs einen neuen Kurs zu geben hätte. »Hör zu! Unsere Nation braucht Söhne, um die Heimat zu verteidigen. Du kannst deinen Mann fragen, wie viele seiner Genossen im Koreakrieg gegen die amerikanischen Imperialisten gefallen sind, sogar sein eigener Bruder! Unsere neue Republik braucht viele Soldaten. Du solltest wissen, dass es eine ehrenvolle Aufgabe ist, für die Heimat starke Söhne zu gebären.«

In diesem Augenblick hätte Großmutter Guo am liebsten auch Lili zusammengestaucht – der faule Knochen war sogar zu faul zum Gebären! Die Schwiegertochter der Parteisekretärin hätte ein Vorbild für die Frauen im Harmoniedorf sein müssen. Stattdessen stand sie selbst jetzt hier und flehte Jiang Minhui an, sich einen Ehrenmuttertitel zu verdienen. Alle Frauen im Harmoniedorf sollten dem Großen Vorsitzenden und der Partei ihre Dankbarkeit mit Söhnen beweisen!

Die Parteisekretärin konnte nicht mehr, es war ihr alles zu viel. Sie hatte bereits beim sozialistischen Straßenbau die Menschen mit dem Griff ihres Palmfächers auf beiden Straßen gleichzeitig antreiben müssen. Niemand durfte faulenzen! Sie wedelte sich noch heftiger Luft zu.

Mittlerweile war Schneeweiß nach dem Stillen eingeschlafen. Sanft legte Jiang Minhui ihre Tochter ab und führte Großmutter Guo an der Schulter in ihre Wohnung zurück.

»Legen Sie sich hin«, sagte sie leise zu ihrer Parteisekretärin, die nicht widersprach und sich rücklings auf ihr Himmelbett fallen ließ.

Frau Jiang breitete ihre Handflächen auf dem runden Bauch der Nachbarin aus. Mit rhythmischen Kreisbewegungen arbeitete sie sich vom Bauch an aufwärts bis zum Hals, als wenn sie den letzten Rest Zahnpaste aus einer Tube auspressen wollte.

Als sie einen hellen Rülpser vernahm, hörte Jiang Minhui auf. Das böse Qi war gewichen.

Die Parteisekretärin musterte die Frau mit dem fremden Einschlag vor sich. Ihre Gesichtshaut war dünn wie Seidenpapier, braun wie geräuchert, glänzend und duftend nach reifem Sommer. Jiang Minhui war eine kleine, magere, aber zähe Frau. Großmutter Guos Gesicht erblühte wie eine selige Sonnenblume.

»Nicht viele Frauen haben von Natur aus ein gebärfreudiges Becken, in dem mehr als ein kräftiger Knabe Platz finden kann«, nahm sie ihren Gedanken von vorhin wieder auf. Nach der Massage und dem Rülpser klang die Stimme der Parteisekretärin wieder so laut wie eine Glocke. »Aller Anfang ist schwer. Aber nach der ersten Geburt werden alle weiteren Söhne reibungslos hervorschlüpfen, einer noch schneller als der andere.«

Jiang Minhui lächelte ziemlich verlegen. Sie musste an ihren grüngesichtigen Mann denken. »Und wer wird mir helfen, so viele Söhne großzuziehen? Mein Mann ist krank.«

»Du hast den Großen Vorsitzenden und die Partei, die dich dabei unterstützen werden.«

Für Großmutter Guo gab es da keine Zweifel: Frau Jiang konnte sich doch nicht weigern, am sozialistischen Straßenbau teilzunehmen und dann keine Ehrenmutter werden wollen! Die Parteisekretärin war fest dazu entschlossen, die Verpflichtungen des Volkes gegenüber dem Großen Vorsitzenden und der Partei zu erfüllen.

4

Zwei Tiger sind zu viel für einen Berg, und bis zum Einzug der Parteisekretärin war Frau Xu die einzige Tigerin im Quartier gewesen.

Nach dem zweiten langen Arbeitstag auf der Straßenbaustelle versammelten sich mehrere Frauen in der Dämmerung unter deren Phönixbaum. Brauchten sie überhaupt eine Parteisekretärin, wenn nur ein einziges Parteimitglied im Harmoniedorf lebte?

Frau Xu und ihre Unterstützerinnen dachten laut darüber nach, dass es im Grunde egal war, ob sie nun sozialistische oder kommunistische Straßen bauten – in jedem Fall brauchten sie dafür zuerst einmal genügend Baumaterial. Wo sollten sie das herbekommen?

Auch Frau Jiang stand bei den Frauen unter dem Baum. Sie und Frau Xu waren nicht gerade Busenfreundinnen, aber das spielte augenblicklich keine große Rolle. Frau Jiang suchte dringend eine kluge Gesprächspartnerin, mit der sie über ihre Besorgnis sprechen konnte, und da war die gescheiteste in der Neubergstraße, Frau Xu, gerade die richtige. Man merkte Jiang Minhui an, wie wichtig ihr ein Gespräch mit Frau Xu war. Das war fast so wie beim Anstehen vor der Toilette, wenn es wirklich dringend war.

Als die anderen Frauen sich verabschiedet hatten, kam sie ohne Umschweife zur Sache: Schließlich gehe es um das Leben ihres Mannes. Sie deutete mit den Fingern auf ihre hohen Wangenknochen, die so hoch wie Stalagmiten wuchsen.

»Dafür kannst du doch nichts«, erwiderte Frau Xu.