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Save me from the Night E-Book

Kira Mohn

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Beschreibung

Herzzerreißend und authentisch – für alle Fans von Mona Kasten, Laura Kneidl und Colleen Hoover Seanna liebt das Meer. Nein, sie braucht es sogar. Nur wenn sie tief die salzige Luft einatmet, nur wenn sie sich ganz vom Geräusch der Wellen erfüllen lässt, kommen ihre Gedanken zur Ruhe. Dann kann sie für kurze Zeit vergessen, was vor einem Jahr passiert ist. Daher geht sie jede Nacht, sobald ihre Schicht im einzigen Pub des kleinen irischen Dorfes Castledunns vorbei ist, hinunter zum Strand – bis sie dort Niall Kennan begegnet, ihrem neuen Chef. Gegen ihren Willen fühlt sie sich von dem ruhigen Mann mit den faszinierenden Tattoos angezogen, und im Licht des Mondes beginnt etwas, das Seannas sorgsam errichtete Mauern einzureißen droht … «Save me from the Night» ist der zweite Roman der Leuchtturm-Trilogie über drei junge Frauen in einem kleinen Ort an der irischen Westküste

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Kira Mohn

Save me from the Night

Roman

Über dieses Buch

Eine Liebe, so tief wie das Meer

 

Seanna liebt das Meer. Nein, sie braucht es sogar. Nur wenn sie tief die salzige Luft einatmet, nur wenn sie sich ganz vom Geräusch der Wellen erfüllen lässt, kommen ihre Gedanken zur Ruhe. Dann kann sie für kurze Zeit vergessen, was vor einem Jahr passiert ist. Daher geht sie jede Nacht, sobald ihre Schicht im einzigen Pub des kleinen irischen Dorfes Castledunns vorbei ist, hinunter zum Strand – bis sie dort Niall Kennan begegnet, ihrem neuen Chef. Gegen ihren Willen fühlt sie sich von dem ruhigen Mann mit den faszinierenden Tattoos angezogen, und im Licht des Mondes beginnt etwas, das Seannas sorgsam errichtete Mauern einzureißen droht …

 

«Save me from the Night» ist der zweite Roman der Leuchtturm-Trilogie über drei junge Frauen in einem kleinen Ort an der irischen Westküste

Vita

Kira Mohn hat schon die unterschiedlichsten Dinge in ihrem Leben getan. Sie gründete eine Musikfachzeitschrift, studierte Pädagogik, lebte eine Zeitlang in New York, veröffentlichte Bücher in Eigenregie unter dem Namen Kira Minttu und hob zusammen mit vier Freundinnen das Autorenlabel Ink Rebels aus der Taufe. Heute wohnt sie mit ihrer Familie in München. Die Romantik darf in ihren Geschichten nicht zu kurz kommen, aber vor allem ist es ihr wichtig, Figuren zu erschaffen, die sich echt anfühlen. «Show me the Stars» ist der Auftakt zu ihrer Leuchtturm-Trilogie. Kira ist auf Facebook und Instagram aktiv und tauscht sich dort gern mit Lesern aus.

Never

Never

Never

Give up

1

«Hey, Seanna! Hast du uns hier vergessen?»

«Würde ich ja gern, aber dafür brüllst du zu laut. Bin gleich bei euch.»

Theo lacht, und ich lächle ihm im Vorübereilen entschuldigend zu. Er und sein Kumpel Rory hoffen seit bestimmt fünfzehn Minuten auf ihr Guinness. Es hat seine Nachteile, wenn man die Bedienung im Pub näher kennt: Sie lässt dich auf dem Trockenen sitzen, weil sie weiß, dass du Verständnis für sie hast, wenn sie sich mal wieder klonen müsste, um alle durstigen Gäste mit Getränken zu versorgen, bevor die zur Selbstbedienung übergehen.

Als ich Theo und Rory endlich ihre Gläser bringe, stelle ich beiden jeweils ein Schnapsglas dazu. Es hat auch seine Vorteile, die Bedienung im Pub näher zu kennen. «Tut mir leid, dass es so lang gedauert hat.»

«Kein Problem. Sag Dean endlich, dass du eine Kollegin brauchst. Rory hier wünscht sich das schon lange, wo er doch weiß, dass du nur auf mich stehst.»

Ich muss lachen, während Rory gutmütig den Kopf schüttelt und brummend sein Bier an die Lippen hebt. Sowohl er als auch Theo sind weit über sechzig, zwei dicke, bärtige Seebären, ehemalige Fischer, die sich mittlerweile nur noch um die Stangenbohnen in ihren Gärten kümmern und mit ihren Frauen darüber streiten, wie lang sie im Brady’s versumpfen dürfen.

«Hey, Seanna!»

Ganz kurz tätschele ich noch Theos Unterarmbehaarung, dann schnappe ich mir mein Tablett und haste weiter, um die nächste Bestellung aufzunehmen.

Theo hat recht, ich könnte Hilfe gebrauchen. Aber das muss er mal Dean erklären, der stur die Ansicht vertritt, das Brady’s sei schon immer mit nur einer Kellnerin ausgekommen. Bei meiner Einstellung vor knapp einem Jahr hat das noch ganz gut funktioniert, mittlerweile jedoch finden sich hier nicht nur halb Castledunns Abend für Abend ein, sondern zusätzlich jede Menge Leute aus den umliegenden Dörfern. Ich schätze, der Laden ist so beliebt geworden, weil Nelly vor sechs Monaten begonnen hat, hier zu kochen – im Gegensatz zu Yorick, dem früheren Küchenchef, kann sie das nämlich.

«Seanna, können wir bei dir noch was bestellen?»

«Klar.» Ich bremse neben dem Tisch von Airin und ihrer besten Freundin Liv ab. Beide sind fast jeden Donnerstag hier, denn an diesem Abend sorgt Livs Freund Kjer für Livemusik. Der größte Trubel wird sich nachher entsprechend von der Bar zur kleinen Bühne im hinteren Teil des Brady’s verlagern. Es ist schade, dass Kjer nach dem Sommer zumindest phasenweise in Dublin wohnen wird, um dort sein Tiermedizinstudium zu beenden, allerdings wird es die Donnerstage für mich sehr viel leichter machen. So voll wie an diesen Tagen ist es im Brady’s nicht mal an den Wochenenden.

«Ein großes Wasser, und kannst du Nelly fragen, ob sie zweimal Spezial-Stew für uns hat?»

«Mach ich.»

Gerade habe ich die Bar erreicht, da rufen schon wieder Leute nach mir.

«Dean, hörst du das?» Ich stelle das Tablett mit den leeren Gläsern neben dem Spülbecken ab und nicke in den gutbesetzten Pub hinein.

«Sie lieben dich.» Dean ist immer die Ruhe selbst. Mit wenigen Handgriffen hat er das Tablett geleert und beginnt, meine vorherige Bestellung aufzuladen. «Die beiden Ales hier sind für Tisch zwölf.»

Na toll. Wieder mal haben welche direkt an der Bar bestellt. Es ist nicht nur die Tatsache, dass es eigentlich mein Job wäre, genau das zu verhindern, damit es dort nicht noch voller wird, als es ohnehin ist – es schadet auch empfindlich meinem Trinkgeld.

«Einer von denen kam wohl gerade auf dem Rückweg vom Klo vorbei», fügt Dean hinzu.

«Natürlich.» Mit einem Ruck hieve ich das Tablett hoch. Als ob er das bei dem Gedrängel vor der Theke mitbekommen haben könnte. «Wir brauchen eine zweite Bedienung, Dean.»

«Oder du musst einfach schneller arbeiten.» Er grinst mich frech an und scheucht mich mit einem Handwedeln davon.

Ich verdrehe die Augen. Dean kann sich glücklich schätzen, dass ich ihn so gernhabe, sonst würde ich jetzt irgendetwas nach ihm werfen. Er könnte sich problemlos eine zweite Kellnerin leisten, es ist nur noch nicht in seinem Dickschädel angekommen, dass es mittlerweile wirklich notwendig ist. Irgendwann werden die Leute einfach wegbleiben, weil sie keine Lust haben, auf ihr Bier länger warten zu müssen als auf einen Facharzttermin.

Während ich meine Fracht vorsichtig zwischen den dicht nebeneinanderstehenden Leuten herausbalanciere, fällt mein Blick auf eine dunkelhaarige Frau, die Dean gerade genauer ins Visier nimmt. Kein Wunder, er ist ein gutaussehender Typ mit Undercut, Man-Bun und einem gepflegten, dichten Bart, und dass er eine Freundin in Kilkenny hat, weiß ja nicht jede.

Erst als ich die Biergläser für Tisch elf verteile, fällt mir ein, dass ich vergessen habe, Nelly nach dem Spezial-Stew zu fragen. Seufzend fahre ich mit meiner Runde fort. Die Nachteile, die Bedienung näher zu kennen, überwiegen an einem Tag wie heute eindeutig gegenüber den Vorteilen.

❖ ❖ ❖

Gegen halb zwei sitze ich endlich an einem Tisch und bin mit der Abrechnung beschäftigt. Meine Rippen schmerzen von der Umarmung, mit der Theo sich vor wenigen Minuten verabschiedet hat, während Rory, die Hände über seinem mächtigen Bauch verschränkt, geduldig danebenstand.

«Hätten wir uns doch früher kennengelernt.»

Das sagt Theo zum Abschied jedes Mal.

«Nimm jetzt deine Finger von der hübschen Lady, du dicker Casanova, und lass uns gehen.»

Und das ist Rorys Teil unseres kleinen Rituals. Ich liebe sie beide.

«Füllst du noch den Handtuchspender im Damenklo auf, oder willst du das morgen machen?», ruft Dean von der Theke aus herüber. «Da gibt’s anscheinend kein Papier mehr, vorhin hat jemand Bescheid gesagt.»

«Mach ich sofort.» Beim Aufstehen schiebe ich die Quittungen zusammen.

Es sitzen nur noch wenige Leute an den Tischen, die meisten von ihnen kommen aus Castledunns, und ihre Gesichter sind mir mittlerweile vertraut. Airin und Liv haben sich gleichzeitig mit mir erhoben, Liv steht dicht neben Kjer, der ihr in diesem Moment die Locken aus dem Gesicht streicht, um sie zu küssen.

Unwillkürlich wandert mein Blick zu Abigail, die mit zwei Freundinnen noch an Tisch vierzehn sitzt. Abigail hat langes, glattes, hellblondes Haar, ein herzförmiges Gesicht, eine perfekte Figur und es im Übrigen noch immer nicht völlig verdaut, dass Kjer sich seit einigen Monaten in einer ernsthaften Beziehung befindet, und zwar nicht mit ihr.

Als Kellnerin bekommt man einiges mit. Es ist, als würdest du mit der Inneneinrichtung verschmelzen, sobald du ein Tablett mit Gläsern vor dir herträgst. Die wenigsten warten mit dem Ausbreiten ihres Innenlebens, bis du dich wieder außerhalb ihrer Hörweite befindest.

Abigail mochte Kjer, mag ihn noch immer, schätze ich. Vermutlich mochte sie ihn sogar mehr, als irgendjemand es ihr zugetraut hätte. Abby ist beliebt, und viele Männer wären froh, würden sie von ihr beachtet werden. Wenn die Typen unter sich sind, tun einige von ihnen sogar so, als wären sie mehr als nur beachtet worden – hätte Abigail mit jedem Mann geschlafen, den ich das schon habe behaupten hören, hätte sie eine bewegte Vergangenheit vorzuweisen. Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sie die meisten dieser Kerle links liegen gelassen hat. Ihr Herz hing nun mal an Kjer. Seit der allerdings nur noch Augen für Liv hat, treibt Abby sich tatsächlich häufiger mal mit irgendwelchen Typen herum.

In der Damentoilette fülle ich den Papierspender auf und fahre mir anschließend vor dem Spiegel erst durch die kurzen Haare am Hinterkopf, bevor ich mir den Pony aus der Stirn streiche, der mir aktuell bis über die Augen fällt. Bis zu meinem fünfzehnten Geburtstag waren meine dunkelbraunen Haare noch beinahe hüftlang. Mein fünfzehnter Geburtstag war der Tag, an dem mein Vater mich an den Haaren hinter sich her in mein Zimmer geschleift hat, weil ich es morgens im Bad gewagt hatte, beim Föhnen zu überhören, dass er mich rief. Er erklärte mir, er werde Pearl, meine Wellensittichdame, zerquetschen, sollte ich es wagen, mein Zimmer zu verlassen. An diesem Tag ging ich nicht zur Schule, und die Geburtstagsfeier fand nicht statt. Ich durfte meinen Freundinnen nicht mal absagen, es hat ihnen einfach niemand auf ihr Klingeln hin geöffnet.

Meine Zimmertür stand erst am Abend wieder einen Spaltbreit auf, und direkt am nächsten Tag sorgte ich dafür, dass mein Vater sich meine Haare nie wieder um die Faust wickeln konnte. Meine Mutter hat geweint, als ich mit der neuen Frisur nach Hause kam, doch ich habe seitdem kein einziges Mal das Bedürfnis verspürt, die Haare wieder wachsen zu lassen.

Seit ich in Castledunns lebe, schneide ich meine Haare mangels Friseur selbst. Hazel, Deans Mutter, hat mir zwar eine ihrer Freundinnen empfohlen, doch nach meinem ersten und einzigen Besuch bei dieser durchaus netten älteren Dame sah ich eine Weile aus wie der junge Justin Bieber. Dean, der miese Kerl, hat sich kaputtgelacht und meinte, das hätte er mir vorher sagen können. Wenigstens hat er mir später gezeigt, wie er den Rasierer bei seinen eigenen Haaren handhabt, und mittlerweile kann ich ganz gut mit dem Ding umgehen.

Ich schließe die Augen und gebe mir Mühe, meine Gesichtsmuskulatur zu entspannen. Ich weiß, dass die hauchzarte Falte zwischen meinen Augenbrauen auch jetzt nicht verschwindet. Sie verschwindet nicht mal, wenn ich lache. Dean hat mich irgendwann darauf aufmerksam gemacht und mit seinem Daumen darübergestrichen, als könne er sie dadurch glätten. Wir waren spätnachts noch im Brady’s, ich war an der Bar mit meiner Abrechnung beschäftigt und hatte gar nicht bemerkt, dass Deans Blick auf mich gefallen war. «Wieso möchte ich dich eigentlich immer fragen, was bei dir nicht stimmt?», hat er gesagt und mir mehr als offensichtlich kein einziges Wort der blöden Floskel abgenommen, die ich daraufhin von mir gegeben habe. Ich glaube, ich habe sogar noch übertrieben gelacht, weil mich Deans unerwartete Berührung einigermaßen aus der Fassung gebracht hatte.

Dean ist … ein Freund. Oder zumindest so etwas Ähnliches. Er weiß einiges über mich, als Einziger hier in Castledunns, und was er nicht weiß, ahnt er vermutlich, obwohl ich nicht über meine Vergangenheit spreche. Stattdessen gebe ich mir jeden Tag aufs Neue Mühe, nicht ständig daran zu denken, und das Letzte, was ich gebrauchen kann, sind Menschen, die mich an all den Scheiß in meinem Leben erinnern, durch unsichere Pausen, durch Mitleid in ihren Augen. Es hat schon seinen Grund, warum ich aus Tullamore abgehauen bin. Ganz abgesehen davon, dass es mir besser geht, seit sich zwischen meinem Vater und mir knapp hundertsiebzig Meilen befinden.

In Castledunns habe ich die Möglichkeit, mir etwas Neues aufzubauen, und auch wenn ich mich manchmal einsam fühle, bin ich noch nicht bereit für zu enge neue Freundschaften.

Freunde stellen zu viele Fragen.

❖ ❖ ❖

Als ich von der Toilette zurückkehre, sind auch die letzten Gäste verschwunden. Ich mache die Abrechnung fertig und wische im Anschluss ein letztes Mal über die Tische.

«Brauchst du mich heute noch?», frage ich, während ich an der Bar den Lappen auswringe.

«Nein, geh ruhig. Bis morgen.»

«Okay, bis morgen.» Wir werden uns höchstwahrscheinlich schon vor meiner Schicht wiedersehen, mein winziges Ein-Zimmer-Apartment befindet sich nämlich direkt über dem Pub neben Deans Wohnung.

Es ist frisch draußen, doch schon seit einigen Wochen nicht mehr wirklich kalt. Jetzt, Anfang Mai, merkt man, dass der Sommer sich langsam anschleicht. Ich vergrabe die Hände in den Jackentaschen und atme tief die feuchte, salzig schmeckende Nachtluft ein. Das Brady’s liegt direkt an der langen Küstenstraße, die Castledunns vom Meer trennt. An das stetige Rauschen der Brandung habe ich mich mittlerweile so sehr gewöhnt, dass ich es nur dann noch wahrnehme, wenn ich darauf achte. In meinem Zimmer lasse ich jede Nacht das Fenster auf, weil die heranrollenden Wellen zuverlässiger als jeder Dreamcatcher die Finsternis in mir auf ein handliches Format zusammenpressen, mit dem ich bis zum nächsten Morgen klarkomme. Eher schlafe ich mit dicken Socken unter zwei Decken, bevor ich nachts das Fenster geschlossen halten würde.

Eine breite, hüfthohe Mauer läuft an der anderen Straßenseite entlang. Einige hundert Meter weiter öffnet sie sich, und mehrere sandverwehte Betonstufen führen hinunter zum Meer, doch ich setze mich einfach auf den rissigen Stein und schwinge die Beine darüber. Das habe ich bereits nach meinem allerersten Abend im Brady’s getan, und es ist mir mittlerweile zur Gewohnheit geworden. Über struppiges Gras und Felsen schlendere ich im Licht der hohen Straßenlaternen bis zu dem schmalen Streifen Sand, bis fast zum Wasser. In der Dunkelheit spiegelt es manchmal das Mondlicht wider, und manchmal, wenn so wie heute dichte Wolken den Himmel beherrschen, scheint es einfach nur tintenschwarz träge aus der Ewigkeit heranzuschwappen.

Ich liebe das Meer. So sehr, dass es mitunter schmerzt. Alles fühlt sich leichter an, wenn ich hier stehe, gerade so weit von der Brandungslinie entfernt, dass meine Stiefel nicht nass werden – und manchmal auch einen Schritt näher. Scheiß doch auf nasse Schuhe. Das saugende Gefühl, wenn das Wasser zurückweicht und den Sand unter meinen Füßen mit sich zu nehmen versucht, ist es wert. Allein deshalb würde ich auf keinen Fall wieder nach Tullamore zurückkehren.

Ich war noch nie in meinem Leben so weit, dass ich ernsthaft daran gedacht hätte, mich auszulöschen, nicht einmal in meinen schwärzesten Stunden. Ich kann gut hassen, und diesen Sieg würde ich meinem Vater nie zugestehen. Doch wenn ich es jemals in Erwägung ziehen sollte, würde ich eines Nachts einfach immer weiter und weiter den Wellen hinterhergehen, mit Steinen in den Taschen.

Ich denke an meine Schwester.

An meine Mutter.

Irgendwann finden wir wieder zusammen, daran glaube ich. Und dann werden die Risse verschwinden, die Nacht in mir wird sich auflösen, ich werde heilen und wieder ein ganzer Mensch sein.

❖ ❖ ❖

Wenig später stehe ich in der schmalen Seitenstraße neben dem Brady’s und lasse den Schlüssel in die Haustür gleiten. Die Lampe im Treppenhaus wirft ihr gelbes Licht auf die ausgetretenen Holzstufen. Früher kam man vom Pub aus ohne den Umweg über die Straße in diesen Flur, doch Dean hat die Tür mangels Schlüssel einfach mit einem schweren, abgewetzten Buffet verbarrikadiert, weil zu oft irgendwelche Idioten ihren Rausch vor seiner Wohnungstür ausschliefen. Und ihm auf die Fußmatte kotzten. Die Freuden jedes Pubbesitzers.

Langsam steige ich die Stufen hinauf, versuche bei jeder einzelnen den Punkt zu finden, an dem sie nicht knarzt. Es ist mein nächtliches Spiel; zartes Knarren lasse ich durchgehen, aber es ist fast ein Ding der Unmöglichkeit, von der zwölften Stufe die lautlose Stelle der vierzehnten Stufe zu erreichen, ohne dass ich das Spiel verliere. Die dreizehnte Stufe knarzt überall, das verräterische Ding.

Meine dunklen Gedanken hat das Meer in sich aufgenommen, und ich bin einfach nur noch hundemüde, als ich jetzt die Wohnungstür aufschließe. Mein Apartment ist winzig, doch es ist in Ordnung. Ich streife mir die Stiefel von den Füßen und die Jacke von den Schultern und gehe in die Küche, um noch ein Stückchen von dem Butterkuchen zu essen, den ich heute Vormittag gebacken habe. Ich liebe es fast so sehr, Kuchen zu essen, wie ihn zu backen. Hin und wieder frühstücken Dean und ich am späten Vormittag gemeinsam in seiner Wohnung, und als ich dafür zum ersten Mal einen Kuchen mitgebracht habe, war er sehr überrascht. Er fand, so etwas würde nicht zu mir passen. «Wenn du jetzt gesagt hättest, du reparierst in deiner Freizeit Motorräder», hat er gemeint und sich ein zweites Stück vom Teller genommen. «Aber ausgerechnet Kuchen …»

Ab da habe ich fast jedes Mal irgendetwas Selbstgebackenes mitgebracht. Nicht nur, um Dean seine Vorurteile unter die Nase zu reiben, sondern weil es nicht sehr viel Spaß macht, einen Kuchen tagelang allein zu essen. Früher wurden meine Backwerke immer schnell vernichtet. Meine Schwester Pippa, meine Mutter, Freunde – selbst mein Vater hat sich gelegentlich ein Stück genommen, wenn es irgendeinen Obstkuchen gab. Und mein Schokoladenkuchen erlebte normalerweise das Untergehen der Sonne nicht.

In Castledunns dagegen muss ich meine Backleidenschaft zurückschrauben, wenn ich nicht ständig trockene Reste in den Mülleimer werfen will.

Ich streife mir die Krümel von den Händen und zupfe das Tuch über dem Butterkuchen wieder zurecht.

In die Küche hat gerade noch so ein schmaler Caféhaustisch mit abblätterndem weißem Lack hineingepasst. Wäre er auch nur fünf Zentimeter breiter, ließe sich die Backofentür nicht mehr öffnen. Es gibt Leute, die sagen, sie hätten eine kleine Küche, und meinen damit gemütlich. Meine Küche ist klein. Und gemütlich, finde ich zumindest. Das Fenster neben dem Vorratsschrank geht zum Hinterhof hinaus, davor stehen in bunten Töpfen jede Menge Kräuter: Basilikum, Minze, Thymian, Majoran und Rosmarin.

Das Bad ist ebenfalls winzig, aber leider nicht gemütlich. Ein Raum, in den nur eine Toilette, eine Dusche und ein Waschbecken hineinpassen – das so klein ausfällt, dass man den Hahn nicht voll aufdrehen darf, weil das Wasser sonst auf den Boden schießt –, hat einfach keinerlei Anlagen, sich gemütlich gestalten zu lassen. Ich bin schon froh, dass noch genug Platz für meine Zahnbürste ist.

In den ersten Wochen habe ich nachts immer noch geduscht, egal wie spät es geworden war. Aber mittlerweile muss eine Katzenwäsche ausreichen. Um halb drei ist mir nur noch danach, möglichst rasch ins Bett zu kommen.

Mein Schlafzimmer, das der Küche gegenüberliegt und links von der handtuchgroßen Diele abgeht, ist das schönste Zimmer, das ich in meinem Leben je bewohnt habe. Im vergangenen Jahr habe ich viel Zeit darauf verwendet, es einzurichten, und mittlerweile macht es mich glücklich, wenn ich mich nur darin umsehe.

Das breite Bett verschwindet tagsüber unter einer hellgrauen Steppdecke mit weißen Spitzenornamenten, außerdem habe ich in jede Menge unterschiedlicher Kissen investiert. Auf dem Holzboden direkt davor, der wie auch der Boden im Brady’s die Farbe von sehr dunklem Waldhonig hat, liegt der kuscheligste, dickste Teppich, den ich habe auftreiben können, und ich habe die meisten der selbstgezeichneten Bilder, die Pippa mir in den letzten Monaten geschickt hat, eingerahmt und aufgehängt. Sie zeichnet Vögel und Pferde und Elfen, alles, was ihr so in den Sinn kommt. An ihrer Stelle würde ich nach der Schule Kunst studieren, sie ist so gut.

Neben dem Kleiderschrank ist gerade noch genug Platz für ein schmales Bücherregal. Hätte ich all meine Bücher hier, würde es niemals ausreichen, doch dort stehen nur die, die ich im letzten Jahr gekauft habe. Die anderen liegen in Tullamore. Vielleicht hat mein Vater sie auch weggeschmissen. Er hat mein ehemaliges Zimmer mittlerweile umfunktioniert und seine Schallplattensammlung und die Musikanlage hineingetragen. Niemand außer ihm darf es noch betreten. Pippa weiß nicht, was mit meinen Sachen geschehen ist.

Aber letzten Endes ist mir mein altes Zeug auch egal. Alles, was wichtig war, habe ich in dieser einen Nacht in meine Sporttasche geworfen: meinen Rechner samt Ladekabel, das Handy, genug Klamotten für mehrere Tage und Wooly. Wooly ist ein fadenscheiniger Elefant aus mittlerweile sehr dünnem Plüschstoff. Ich musste bereits zweimal den Rüssel neu annähen, der Schwanz ging ihm schon vor Jahren verloren. Ich weiß nicht einmal mehr, woher ich Wooly habe, vielleicht hat meine Mutter ihn mir mal gekauft. Er war einfach schon immer da, und er muss in meinem Bett liegen, fertig.

Hallo, ich heiße Seanna, bin vor vier Wochen zwanzig Jahre alt geworden und schlafe mit einem Plüschelefanten im Bett. Na und?

Ich schlüpfe in mein Schlafzeug, nachdem ich die Vorhänge des einzigen Fensters im Raum zugezogen habe. Es zeigt glücklicherweise aufs Meer hinaus. In T-Shirt und weichen Jogginghosen stelle ich es auf Kipp, dann husche ich ins Bett und ziehe mir die Decke bis unters Kinn.

Bleierne Müdigkeit umfängt mich, trotzdem kann ich nicht gleich einschlafen. Draußen höre ich das Brandungsrauschen, und ich schließe die Augen.

Meine Mutter behauptet immer, alles sei gut, doch von Pippa erfahre ich die Wahrheit. Meine kleine Schwester weint manchmal, wenn sie sie erzählt.

Und ich bin jetzt so weit weg, zu weit, um sie noch beschützen zu können.

Am Strand wirft sich das Meer gegen Felsen und Sand, das stetig wiederkehrende Geräusch sich brechender Wellen erfüllt das Zimmer.

Eigentlich wollte ich immer warten. Warten, bis Pippa alt genug wäre, um mit mir zu kommen. Dass dann plötzlich alles so überstürzt geschehen ist … ich denke oft darüber nach, ob es einen anderen Weg gegeben hätte. Ob ich hätte bleiben können. Die Antwort ist immer dieselbe.

Und nun ist Pippa allein. Allein mit einer schwachen Mutter und einem Monster.

Vielleicht hätte ich es doch noch eine Weile aushalten können. Aushalten müssen. Pippa ist so ganz anders als ich. Obwohl sie mich mit ihren sechzehn Jahren mittlerweile sogar um ein paar Zentimeter überragt, ist sie noch immer so … weich. Kindlich. Während ich schon mit vierzehn die meisten Dinge ausprobiert hatte, die man von seinen Eltern im Allgemeinen verboten bekommt, hatte Pippa bisher nicht einmal einen Freund. Sie wirkt so hilflos. Irgendwie jünger, als sie eigentlich ist, als würde sie ein Kind bleiben wollen, um allem zu entgehen.

Doch jetzt, wo ich nicht mehr da bin, nicht mehr zwischen ihr und dem Mann stehe, der dafür gesorgt hat, dass wir überhaupt existieren, verändert sie sich. Es bleibt ihr gar nichts anderes übrig.

Ich drehe mich auf die Seite und öffne die Augen, starre durch das Dunkel zum Fenster, vor dem der Vorhang sich sachte bewegt.

Meeresrauschen. Immer und immer und immer, es hört nie auf. Langsam senken sich meine Lider.

Ich habe Pippa im Stich gelassen.

Ich kann gut hassen, auch mich selbst.

2

Eine knappe Woche später schubst Dean mich mit einem einzigen Satz aus meiner sorgfältig aufrechterhaltenen Routine.

«Ich zieh zu Alannah nach Kilkenny.»

«Was?» Gerade habe ich noch den Kühlschrank im Brady’s auf seinen Inhalt hin kontrolliert, jetzt halte ich mich unwillkürlich an dessen Griff fest. Mit plötzlich zitternden Fingern schließe ich die Kühlschranktür. Dean will nach Kilkenny? Einfach so? Das kann er doch nicht machen!

«Wann denn?»

«Zum ersten Juni.»

«So schnell?» Verdammt. Das sind nicht einmal mehr vier Wochen. In den ersten Schock hinein, mit Dean meinen einzigen Freund in Castledunns zu verlieren, mischt sich eine zweite Sorge. «Und was passiert mit dem Brady’s? Willst du den Pub verkaufen?»

«Nein, aktuell nicht», erwidert Dean beruhigend. Er lehnt am Tresen und beugt sich jetzt ein wenig zu mir. «Ein Freund von mir, er heißt Niall, übernimmt fürs Erste. Er kommt Ende Mai und wird bei Airin wohnen, bis ich meine Wohnung geräumt habe. Alannah und ich wollen erst mal abwarten, wie es läuft, bevor wir etwas Endgültiges entscheiden. Zusammenzuziehen ist ja immer so’n Ding.» An dieser Stelle wirkt er so, als müsse er sich selbst gut zureden, bevor er hinzufügt: «Ich will in Kilkenny einen alten Schuppen aufmöbeln, eine Bar, in die keine Sau jemals einen Fuß hineinzusetzen scheint. Ich glaube, die spielen dort einfach nur die falsche Musik.»

«Kjer kannst du aber nicht mitnehmen.» Ich lächle tapfer, und Dean lacht.

Das ist alles kein Weltuntergang, sage ich mir. Solange Dean das Brady’s nicht verkauft, kann dieser Niall ja kaum allzu viel verändern. Es sei denn, er bringt jemanden mit, der Interesse an meinem Job hat, seine Freundin vielleicht. «Weißt du, ob …» Ich muss mich erst räuspern, bevor ich weitersprechen kann. «Weißt du, ob ich mir Sorgen um meinen Job machen muss? Nur, damit ich weiß, ob ich mich besser schon mal nach etwas anderem umhören sollte.»

«Machst du Witze?» Überrascht starrt Dean mich an. «Ich trete Niall in den Arsch, wenn er dich feuert. Groß ändern wird er hier vorerst nichts. Er macht aus dem Brady’s jetzt kein Vier-Sterne-Restaurant oder so. Es ist nicht mal klar, ob er den Laden weiterführen wird, sollte ich tatsächlich in Kilkenny bleiben, dein Job ist dir also sicher.»

«Gut.» Ich verberge meine Erleichterung hinter einem unbekümmerten Tonfall.

«Und du wirst Niall mögen, er ist cool.»

«Okay.»

Überraschenderweise legt Dean einen Arm um meine Schultern und drückt mir einen Kuss auf den Kopf. Eine Sekunde lang fühle ich mich wie ein Hundebaby, dann lässt er mich los, um die Tür aufzuschließen.

«Ich könnte übrigens auch hervorragend in einem Vier-Sterne-Restaurant arbeiten», rufe ich ihm hinterher.

«In solchen Läden lassen sie garantiert keine tätowierten Kellnerinnen rumlaufen.» Er zieht den schweren Vorhang beiseite, der das Innere des Brady’s vor der Zugluft schützen soll.

«Eine einzige Tätowierung!»

«Aber am Handgelenk, wo’s jeder sieht.»

«Eine kleine!»

«Am Handgelenk.»

«Auf der Innenseite!»

«Handgelenk.»

Hinter Dean betreten die ersten Gäste den Pub, und damit ist unser Geplänkel beendet. Sollte Dean in Kilkenny bleiben und Deans Freund tatsächlich auf die Idee kommen, aus dem Brady’s einen Vier-Sterne-Laden zu machen, hätte er im Übrigen ganz andere Probleme als eine tätowierte Kellnerin. Als ob Leute wie Theo und Rory ihre kümmerliche Rente für ein paar Austern mit Petersilie verprassen würden – so was haben sie früher im Dutzend nebenbei gesnackt. Das Brady’s passt sehr viel besser zu ihnen und auch zu allen anderen hier in Castledunns, einschließlich mir selbst. Kurz blicke ich auf mein Handgelenk, während ich mir die Geldtasche um die Hüften gurte.

Never

Never

Never

Give up

In vier untereinanderstehenden Zeilen zieren die feinen Buchstaben meine blasse Haut. Das Tattoo war mein Abschiedsgeschenk an mich selbst. Mein Abschiedsversprechen.

In den ersten Wochen habe ich täglich hundertmal die Faust geschlossen und auf mein linkes Handgelenk gesehen, um mir wieder und wieder klarzumachen, dass ich es schaffen kann. Schaffen muss. Und es hat funktioniert.

Abigail gehört zu den ersten Gästen. Sie sitzt – bisher noch allein – an Tisch vierzehn und holt gerade einen Spiegel aus ihrer Handtasche, um ihren Lippenstift zu überprüfen. Mit dem Block in der Hand gehe ich zuerst zu ihr und nehme gleich eine Speisekarte mit. Wenn sie so früh im Brady’s auftaucht, isst sie in der Regel auch etwas. «Hi, Abby. Weißt du schon, was du trinken willst?»

«Bring mir ein Ginger Ale, ja?», erwidert sie, ohne auch nur aufzusehen.

«Kommt sofort.»

So beliebt Abby bei den Männern ist, so unbeliebt ist sie bei vielen Frauen, und das hat weniger mit Neid auf ihr gutes Aussehen zu tun als damit, dass Abby sich oft wie eine arrogante Zicke verhält. Ich allerdings mag sie irgendwie trotzdem. Sie trägt eine Maske vor sich her, genau wie ich – dass Abigail ist, wie sie ist, hat vermutlich einen guten Grund, auch wenn ich ihn nicht kenne.

Theo und Rory sitzen bereits an ihrem Lieblingstisch, und an Tisch sieben lässt sich gerade Airin nieder, bei der ich nur kurz stehen bleibe. «Ein Wasser und Nelly nach dem Spezial-Stew fragen?»

Airin lächelt strahlend und schiebt sich eine rote Locke hinters Ohr. «Genau, danke.»

«Kein Problem.» Direkt nachdem ich Dean die Getränkebestellungen gegeben habe, stecke ich den Kopf in die Küche. «Nelly? Airin ist da. Gibt’s noch Veggie-Stew?»

Nelly ist gerade damit beschäftigt, Beilagensalate vorzubereiten. Sie kommt schon um sechs, eine Stunde früher als ich, und hat um elf Feierabend. Ab zehn müssen sich hungrige Pubbesucher mit Erdnüssen und Chips über Wasser halten.

«Ist noch genug da. Wie viele Portionen brauchst du? Eine oder zwei?» Nelly trocknet ihre Hände ab und wendet sich dem Kühlschrank zu.

«Eine, aber gut zu wissen, dass es auch für Liv reicht, falls sie noch auftaucht.»

Airin und Liv sind die beiden einzigen Vegetarierinnen in ganz Castledunns, und Nelly, die gute Seele, bewahrt immer einen Vorrat an fleischfreiem Stew für sie auf. Die meiste Zeit über hat sie gute Laune, wenn Nelly allerdings gestresst ist, lässt man sie besser in Ruhe. Schon häufiger hat sie mit mir oder sogar mit Dean kurzen Prozess gemacht, wenn wir ihr in der Küche im Weg gestanden haben – zu Dean muss sie zwar aufschauen, das hindert sie jedoch nicht daran, ihn aus der Küche zu scheuchen, als sei er einer ihrer beiden mittlerweile erwachsenen Söhne.

In den nächsten drei Stunden wird es immer voller, und gegen zehn komme ich hin und wieder nur noch durch das Gedränge, wenn ich aus vollem Hals «Entschuldigung» brülle, um nicht nur die Musik zu übertönen, die aus den Boxen dringt, sondern auch noch das fröhliche Gegröle. Meistens allerdings mühen sich die Leute bereitwillig, mir ein Durchkommen zu verschaffen. Zum einen bin schließlich ich diejenige, die alles mit Brennstoff am Laufen hält, zum anderen ist das Publikum im Brady’s in der Regel ein freundliches. Kein Vergleich zu den Pubs, die ich aus Tullamore kenne. Damals habe ich noch nicht gekellnert und war nur selten aus, aber bei den wenigen Gelegenheiten kam es immer wieder vor, dass irgendein Idiot mir seine Hand auf den Hintern legte. Im Brady’s ist das bisher so selten passiert, dass ich mittlerweile fast geneigt bin, zuweilen vorkommende Zusammenstöße in dieser Richtung als Versehen abzutun.

Was gelegentliche Handgemenge betrifft, steht das Brady’s allerdings den Pubs in meinem Heimatort in nichts nach, und dass ich so etwas hasse wie die Pest, ändert daran leider überhaupt nichts. Irgendwann nach Mitternacht bricht vor dem Tresen plötzlich Gebrüll aus. Die Mischung aus Alkohol und dem sich daraus ergebenden Größenwahn hat mal wieder zu Streit geführt, und ich beiße die Zähne zusammen und wünsche die Krawallmacher spontan auf den Mond. Und zwar auf dessen erdabgewandte Seite. Warum haut es Typen eigentlich so oft in die Steinzeit zurück, wenn sie zu viel getrunken haben? Wüsste ich nicht von den meisten, dass es ganz umgängliche Kerle sind, solange ihnen das Bier nicht gerade die Sicherungen durchbrennen lässt, hätte ich mich wohl schon lange nach einem anderen Job umgesehen. Bescheuertes Gorilla-Getue.

Dean überlässt es Fearghas, solche Idioten auseinanderzubringen, dafür trinkt und isst er im Brady’s umsonst. Fearghas ist ein riesiger Typ mit rotem Bart, immer im Holzfällerhemd, und die dazugehörende Axt denkt man sich automatisch hinzu, sobald er sich in voller Größe vor einem aufbaut. Tagsüber kümmert er sich um Castledunns’ einzigen Souvenirshop, abends jedoch ist er der inoffizielle Rausschmeißer des Brady’s. Oft reicht es bereits, wenn er sich beiläufig zwischen zwei Streithähne schiebt.

Heute allerdings nicht.

Colm, ein hitzköpfiger Kerl, versucht gerade, sich an Fearghas vorbeizudrängen, um einem hageren Typen mit spitzen Schultern, den ich noch nie im Brady’s gesehen habe, ordentlich einen einzuschenken.

«Verpiss dich, Fearghas!», schnaubt er und versucht, Fearghas’ Hand von seinem Arm zu schütteln. Dass das nicht funktioniert, sollte Colm eigentlich wissen. Statt sich zu beruhigen, fährt er jetzt allerdings erst richtig hoch. Kaum zu glauben, dass dieses rotgesichtige Rumpelstilzchen in Cahersiveen als Zahntechniker arbeitet. Ich hätte ja gedacht, für einen solchen Job müsse man sehr viel ruhiger sein.

«Du verdammter Arsch!», röhrt Colm, und es ist nicht ganz klar, ob er damit Fearghas oder diesen hageren Typen meint. Der hat sich mittlerweile mit einem provokanten Grinsen gegen den Tresen gelehnt und lässt dabei ein paar schiefe Schneidezähne sehen, während er sein Glas in Colms Richtung hebt. Was für ein Blödmann.

Colm holt aus, und ich zucke zusammen, als Fearghas den Schwinger mit einer seiner riesigen Pranken abfängt. Es klatscht, und Colms Aufheulen bekommen selbst die Leute an Tisch drei noch mit. Die meisten Gäste recken jetzt die Hälse in Richtung Bar, während ich mit meinem Tablett voll leerer Gläser den Rückzug antrete. Ich will so etwas nicht sehen. Mir wird schlecht davon.

Stattdessen drehe ich lieber noch eine Runde, auch wenn ich dabei das schwere Tablett die ganze Zeit mit mir rumschleppen muss.

«Seanna! Du kommst wie gerufen. Wir brauchen noch zwei letzte Guinness.» Theo schiebt mir hilfsbereit seinen leeren Guinnesskrug entgegen, während ich noch versuche, Rorys Glas einen Platz auf meinem übervollen Tablett zu verschaffen.

Meine Hände zittern. «Alles klar», murmele ich.

«Macht jemand Ärger?» Theo kennt mich gut genug, um meinen Gesichtsausdruck richtig einzuschätzen. «Fearghas bringt das schon in Ordnung.» Beruhigend legt er mir für einen Moment die Hand auf den Arm, und ich lächle ihm zu. Warum können nicht alle Männer so tiefenentspannt wie Theo sein? Er und Rory gehören zu den gemütlichsten und liebenswertesten Männern, die ich kenne, und obwohl wir nie darüber geredet haben, weiß ich, dass er Prügeleien ähnlich verabscheut wie ich. Es sollte auf der Welt sehr viel mehr Theos und Rorys geben und dafür weniger aufbrausende Colms oder hagere Öl-ins-Feuer-Kipper.

An Tisch vierzehn bleibe ich ebenfalls hängen. Abigail sitzt dort mittlerweile neben Owen Plum, einem Typen, mit dem sie vermutlich nicht dort sitzen würde, wüsste sie, was er schon alles über sie losgelassen hat.

«Bringst du uns noch zwei Lager?» Owen hat seinen Arm so weit über Abbys Schultern gelegt, dass seine herabhängende Hand ihre Brust berührt. Ich bemühe mich, nicht allzu genau hinzusehen, was seine Finger dort veranstalten.

«Geht klar.»

«Und einen Bailey’s.» Abigail scheint Owens Gefummel nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie legt ihren Kopf an Owens Schulter und kichert. Am liebsten würde ich ihr raten, nach Hause zu gehen, und zwar allein.

Mit einem Klirren stelle ich das Tablett auf dem Tisch ab, um unnötigerweise die Bestellung zu notieren, und als ich es wieder aufnehme, lasse ich die Gläser darauf in Owens Richtung rutschen. Erschrocken reißt er beide Arme hoch.

«Ups!», rufe ich, bevor ich das Tablett im letzten Moment ausbalanciere. Entschuldigend lächle ich ihn an. «Sorry. Zum Glück ist nichts passiert.»

Abigail ist ein Stück zur Seite gerutscht, und auch wenn mir klar ist, dass sich durch meine Aktion nichts am weiteren Verlauf des Abends ändern dürfte, ziehe ich zufrieden ab.

Als ich zum Tresen zurückkehre, ist Colm verschwunden, und der hagere Typ unterhält sich mit Dean. Ich ignoriere sein schiefzahniges Lächeln, während ich mich an Dean vorbeiquetsche, um ihm die Zettel mit den Bestellungen hinzulegen und die leeren Gläser abzuladen.

«Hübsche Kellnerinnen habt ihr hier», höre ich, und damit ist Schiefzahn endgültig in meiner Idioten-Schublade gelandet. «Geht die mit nach Kilkenny?»

«Nope.» Deans Tonfall höre ich an, dass er sich aus purer Höflichkeit mit dem Kerl unterhält. «Die bleibt dem Brady’s erhalten.»

«Dann schau ich bestimmt mal wieder vorbei. Machst du mir noch ein Ale, Kleine?»

Dean legt mir kurz eine Hand auf die Schulter, und ich verstehe den Hinweis dahinter: Ich soll den Kerl ignorieren, er macht das schon.

«An der Bar kriegst du dein Bier von mir», sagt Dean kühl.

Jetzt weiß ich endgültig, dass er mit dem Kerl auch nichts anfangen kann. Was das betrifft, harmonieren wir wunderbar miteinander, und ich weiß, er würde einen solchen Typen ohne viel Federlesens von Fearghas aus der Bar werfen lassen, sollte der Idiot zu aufdringlich werden. Einen Augenblick lang frage ich mich, wie das wohl mit Deans Freund werden wird, dann schiebe ich diesen Gedanken wieder beiseite. Das werde ich ja noch früh genug mitbekommen.

❖ ❖ ❖

Später jedoch, als sich meine Füße in den feuchten Sand graben und ich dem nächtlichen Meer zuhöre, denke ich noch einmal darüber nach. Bevor ich nach Castledunns kam, hätte ich mir nie vorstellen können, als Kellnerin in einem Pub zu arbeiten. Genau genommen war ich nicht einmal eine besonders begeisterte Pubgängerin. Sobald Alkohol im Spiel ist, werden die Menschen immer etwas zu laut, etwas zu überdreht, etwas zu aufgekratzt. Ich mag das Unberechenbare nicht, das oft damit einhergeht. Caden, mein Exfreund aus Tullamore, war auch so jemand, der sich unter Alkoholeinfluss nicht wirklich im Griff hatte. Das war nicht sein einziger Fehler, aber das habe ich erst zu spät festgestellt.

Hoffentlich tickt dieser Niall ähnlich wie Dean und achtet darauf, betrunkene Gäste rechtzeitig wieder auf den Boden zurückzuholen oder sie gleich mit ein paar freundlichen Worten nach Hause zu schicken. Dean beherrscht das perfekt.

Ich werde Dean wirklich vermissen, stelle ich fest. Er war der Erste, den ich in Castledunns kennengelernt habe, er hat nie mehr Fragen gestellt, als ich ertragen konnte, und er hat mir geholfen, obwohl er keinen Schimmer hatte, wer ich überhaupt bin.

Wer weiß, wie sich alles entwickelt hätte, wäre meine Freundin Eve nicht gewesen. Nachdem ich zu ihr geflüchtet bin, hat sie mich nicht nur bei sich schlafen lassen, sondern kurzerhand auch noch meine Zukunft in die Hand genommen, indem sie Dean, ihren Cousin, anrief.

«Du brauchst eine Pause von allem, Seanna», hat sie gesagt und Dean erklärt, dass sie die perfekte Lösung für sein Problem hätte. Deans bisherige Kellnerin Rosie hatte sich da gerade Hals über Kopf in einen Typen aus Dublin verliebt und war am Ende von dessen Urlaub einfach mit ihm gegangen. Das Brady’s lief elf Tage lang auf Sparflamme, dann kam ich. Perfektes Timing, könnte man sagen.

Eve hatte Dean erzählt, ich besäße Erfahrung, was nicht stimmte. Sie hatte außerdem behauptet, ich sei ein resoluter Typ, der gut austeilen und sich auch in größeren Gruppen behaupten könne. Das hätte immerhin stimmen können, wenn sie dazugesagt hätte, dass ich sofort weiche Knie bekomme, sobald die Stimmung aggressiv wird. Und unter ‹aggressiv› verstehe ich auch diese angeblich freundschaftlichen Rangeleien, mit denen Typen sich offenbar bisweilen abreagieren müssen.

Dean erwartete daher eine große, energische Frau, eine, wie sie wohl Rosie gewesen sein muss, und war einigermaßen überrascht, als er schließlich mich sah. Einseinundsechzig, dünn, blass und mit noch immer lila verfärbter Gesichtshälfte – ein Umstand, den Eve Dean gegenüber ganz eindeutig nicht erwähnt hatte, mal davon ausgehend, wie entsetzt er meine Wange anstarrte.

«Okay», sagte er nach einigen Sekunden und griff nach meinem Rucksack. «Ich zeig dir deine Wohnung. Du hast wirklich schon mal in einem Pub gearbeitet, oder?»

«Klar.»

Dean hat mich netterweise nie auf diese fette Lüge angesprochen, nicht einmal nach meinem allerersten Abend im Brady’s, an dem er den Laden fast alleine schmeißen musste und hinterher nicht eine Bemerkung über die Beschwerden verlor, weil einige Gäste die falschen Getränke erhalten hatten. Oder gar keine. Oder das Bier nicht auf dem Tisch, sondern auf der Hose landete. Bei der Erinnerung daran bohre ich die Schuhspitze in den feuchten Sand.

Gestern schluckten undurchdringliche Wolken jeden Lichtstrahl, doch heute steht der Mond am Himmel, eine silbrighelle Scheibe, die das unendliche Meer mit einem glitzernden Netz überzieht. Die Wellen plätschern friedlich an den Strand, es weht kaum ein Wind.

Dean war der Erste in Castledunns, den ich irgendwie als Freund betrachtet habe, und er ist bisher auch der einzige geblieben. Ganz am Anfang habe ich noch hin und wieder mit Eve telefoniert, doch … Ich würde es gern auf die Entfernung schieben, man entfremdet sich eben, wenn man sich nicht mehr so oft sieht, doch wenn ich ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich damals auf Distanz gegangen bin. In den ersten Wochen war ich nicht in der Lage, mich um mehr zu kümmern als um das Notwendigste. Das schloss einzig noch Pippa ein. Viel zu spät habe ich es Eve zu erklären versucht, und das Gefühl, nicht wirklich zu ihr durchgedrungen zu sein, schmerzt noch immer. Sie sagte, es sei okay und dass ich schließlich nicht verpflichtet sei, sie regelmäßig auf dem Laufenden zu halten. Nicht dass es irgendetwas gegeben hätte, das ich Eve hätte erzählen können – ein Statusbericht in Richtung Bin heute tatsächlich aufgestanden und habe mit meinem Leben weitergemacht klingt letzten Endes nicht wirklich beeindruckend.

Obwohl ich es wollte, obwohl wir es vermutlich beide wollten, haben wir es nicht geschafft, den Abstand zwischen uns wieder zu überwinden. Ich habe etwas zerbrochen, und manche Dinge lassen sich nicht so ohne weiteres reparieren. Irgendwann können Eve und ich vielleicht wieder Freundinnen sein. Und bis dahin bin ich ihr einfach dankbar, dass sie mir ohne zu zögern geholfen hat.

Wenn Dean jetzt allerdings nach Kilkenny zieht, werde ich niemanden mehr haben, mit dem ich reden kann. Sicher, im Brady’s unterhalte ich mich mit vielen Leuten, aber das ist ja nur Smalltalk. Ich muss das endlich ändern. Airin hat mich sogar schon einmal zu sich nach Hause eingeladen, und vor einiger Zeit haben sie und ihre Freundin Liv gefragt, ob ich nicht Lust hätte, zu einem Filmabend vorbeizukommen. Bisher habe ich mich immer herausgeredet, wie immer, wenn es persönlicher zu werden drohte. Ich will einfach keine Fragen beantworten, und ich kann nicht gut lügen. Vielleicht, wenn ich einfach von Anfang an klarstelle, dass ich nicht über meine Vergangenheit reden will?

Ich gehe in die Hocke und lasse den grobkörnigen, kalkdurchsetzten Sand durch meine Finger rieseln, ohne den Blick vom Meer abzuwenden.

Pippa hat irgendwann in den letzten Stunden angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Gleich morgen Vormittag werde ich mich bei ihr melden, jetzt schläft sie garantiert schon. Wenn sie nicht auf die Mobilbox spricht, will sie normalerweise einfach etwas aus der Schule erzählen oder mir sagen, dass sie mich vermisst.

Nur wenn es schlimm ist, bittet sie um einen Rückruf, und dann rufe ich zurück, egal, wie spät es ist. Ich weiß, sie wäre so lange wach, bis sie zumindest meine Stimme hören könnte, wenn sich meine großgewachsene kleine Schwester schon nicht mehr in meine Arme kuscheln kann.

Ach, Pippa.

Zum tausendsten Mal überlege ich, ob sie nicht irgendwo hier in einem der Nachbardörfer zur Schule gehen, ob sie nicht bei mir in meinem Apartment wohnen könnte. Einmal, während unserer Telefongespräche, habe ich diese Möglichkeit vorsichtig angesprochen, doch Pippas Angst um unsere Mutter ist noch immer größer als die Angst vor unserem Vater.

Was treibt Kinder dazu, menschliche Schutzschilde sein zu wollen?

Müsste ich diese Frage nicht eigentlich beantworten können?

Die scharfe Kante einer Muschelschale bohrt sich in meine Haut, und ohne nachzudenken schließe ich die Finger zur Faust. Im nächsten Moment lasse ich den Sand samt Muschelbruchstück fallen und reibe mir die Hände an der Jeans ab, bevor ich mich aufrichte und tief durchatme. Ein letztes Mal heute Nacht öffne ich mich, so weit es eben geht, für den Anblick des Meeres, konzentriere mich auf den Geruch nach Salz und Algen und auf das gleichmäßige Wellenwispern, dann stapfe ich über Sand, Felsen und Gestrüpp hinweg zurück zur Straße.

3

«Ach, Seanna – wir haben gerade von dir gesprochen.»

Überrascht halte ich bei Deans ungewöhnlicher Begrüßung inne, den Schlüssel noch in der Hand, mit dem ich die Tür des Brady’s soeben wieder hinter mir zugeschlossen habe.

Dean hinter dem Tresen habe ich erwartet, doch der Mann neben ihm ist mir völlig unbekannt. «Perfekt, da kann ich euch ja gleich vorstellen: Das hier ist Niall. Niall Kennan. Niall – Seanna Sullivan.»

Das ist …?

Verdammt, Dean!

Es ist so typisch von ihm, mich nicht vorzuwarnen. Hat er schon mal was von einem ersten Eindruck gehört? Den man bei seinem neuen Chef vielleicht nicht direkt versauen will? Zum Glück habe ich mir vorhin wenigstens die Haare gewaschen.

Beim Reinkommen habe ich Stimmen gehört, dachte jedoch, Dean unterhält sich mit Nelly. Die sitzt in diesem Moment kerzengerade auf einem der Barhocker und lächelt mir kurz zu, bevor sie ein ganz anderes, sehr viel strahlenderes Lächeln dem Mann schenkt, den Dean mir gerade vorgestellt hat. Ich strecke den Rücken durch.

Okay. Das also ist Niall Kennan.

«Er ist ganz überraschend vorbeigekommen.» Dean deutet meinen Gesichtsausdruck halbwegs richtig und hebt entschuldigend die Hände.

«Es hat gerade gepasst», meldet sich Niall erstmals zu Wort und lächelt entwaffnend. Er hat kurze, im Dämmerlicht des Brady’s beinahe schwarze Haare, ein leichter Bartschatten betont ausgeprägte Wangenknochen, und er steht da in dieser entspannten Haltung, die Menschen zu eigen ist, die einen Scheiß auf die Meinung anderer geben. Mein neuer Chef ist ziemlich attraktiv – da wird es an der Bar heute garantiert voll werden.

Ich kuschele noch immer mit dem Türvorhang, als Niall jetzt mit ausgestreckter Hand hinter dem Tresen hervorkommt. Er ist groß, größer als Dean, das locker fallende Shirt sitzt nur über der Brust ein wenig eng. Seine Arme sind muskulös und bis zu den Handgelenken hin tätowiert. Ganz kurz nehme ich noch wahr, dass er kein Sammelsurium undefinierbarer Gelegenheitstätowierungen auf seiner Haut spazierenträgt – die feinen Linien und fließenden Übergänge deuten eher auf ein durchdachtes Gesamtkunstwerk hin –, dann schließen sich seine warmen Finger mit festem Druck um meine. Ich starre in dunkle Augen unter dichten Brauen, auf einen Mund, der sich jetzt zu einem leichten Grinsen verzieht. «Hi», sagt er, und seine Stimme schickt ein Kribbeln meine Wirbelsäule hinunter. «Schön, dich kennenzulernen.»

«Freut mich ebenfalls», erwidere ich automatisch.

«Niall will sich schon mal alles ansehen», informiert Dean mich über die Theke hinweg.

Niall lässt meine Hand los, und mein Arm schwebt ein paar Sekunden zu lang in der Luft, bevor ich ihn hastig sinken lasse. Noch immer kann ich meinen Blick nicht von diesen Augen abwenden. Dean hätte mich nicht nur vorwarnen, er hätte auch hinzufügen sollen, dass mein neuer Chef ein Typ ist, bei dem sogar Nelly anders lacht als gewöhnlich, und Nelly ist Mitte fünfzig. Hätte ich das nämlich gewusst, würde ich mich jetzt vielleicht nicht so dämlich verhalten. Ich blinzele und senke endlich den Kopf. Hoffentlich hat Niall nichts bemerkt.

«Okay, dann … leg ich mal los.» Entschlossen, völlig unbeeindruckt zu wirken, marschiere ich erst an Niall und dann an Dean und Nelly vorbei nach hinten ins Lager, wo ich ein paar Sekunden herumstehe und mich zum einen darüber ärgere, nicht wenigstens ein paar höfliche Sätze Smalltalk herausgebracht zu haben, und zum anderen überlege, was ich jetzt sinnvollerweise mitnehmen könnte, um meinen Gang ins Lager zu rechtfertigen. Muss ja niemand wissen, dass ich kurz allein sein wollte, um meine Mimik wieder in den Griff zu kriegen. Seinen neuen Boss derart offensichtlich anzustarren, ist so ungefähr das Ungeschickteste, was man tun kann, da bin ich mir ziemlich sicher. Entweder er setzt mich gedanklich auf seine ‹Schnelle-Nummer›-Liste, oder er hält sich sicherheitshalber fern von mir – beides würde unserem zukünftigen Arbeitsverhältnis mit Sicherheit eher schaden als nutzen.

Schließlich greife ich nach einem Karton mit Kerzen und straffe die Schultern, bevor ich das Lager wieder verlasse. Dean und Nelly sind nicht mehr zu sehen, vermutlich sind sie in der Küche. Niall dagegen sitzt mittlerweile an der Bar, ein Smartphone am Ohr, und hebt kurz den Kopf, als er mich hört. Sein Lächeln, bevor er sich wieder abwendet, führt dazu, dass ich beinahe in den Tresen hineinlaufe.

Hallo? Realität an Seanna? Konzentrier dich vielleicht mal auf deinen Job.

Eilig schnappe ich mir noch einen Lappen und starte meine Kontrollrunde. Es kostet mich einige Mühe, nicht gelegentlich zur Bar zu schielen, während ich Tische abwische und hier und da Kerzen austausche. Als ich bei Tisch acht angekommen bin, lacht er über irgendetwas. Ein sehr nettes Lachen. Freundlich. Und auf einmal fühle ich mich nicht mehr ganz so nervös bei dem Gedanken, ab Juni jeden einzelnen Abend mit diesem Mann zusammenzuarbeiten. Er ist mein zukünftiger Chef, klar, aber das ist Dean ebenfalls, und wir sind trotzdem Freunde geworden. Warum sollte das mit Niall nicht auch funktionieren?

❖ ❖ ❖

Im Laufe des Abends wird klar, dass ich mit meiner Prognose recht hatte: Das halbe Brady’s bemüht sich heute höchstselbst an der Bar um einen Drink. Die weibliche Hälfte, um genau zu sein. Die meisten würden sich vermutlich nicht mal von der Bar loseisen, stünde Kjer heute auf der Bühne. Liv dürfte das gefallen – garantiert hat sie schon mehr als einmal mit dem Gedanken gespielt, Kjer ein Shirt zu schenken, auf dem steht: Finger weg! Der Mann ist bereits vergeben!

So weit, so vorhersehbar. Später allerdings bringt Niall auch noch die Männerwelt mit einer großzügigen Spendierrunde auf seine Seite. Zwischendurch verschwindet er in der Küche, und als er Nellys Arbeitsbereich zwanzig Minuten später wieder verlässt, bekomme ich gerade noch mit, wie sie ihm zuzwinkert, bevor die Schwingtür sich wieder schließt. Das glaub ich jetzt nicht.

Sogar Theo bequemt sich irgendwann an die Bar, um Niall genauer in Augenschein zu nehmen, und als er mit ihm anstößt, habe ich endgültig das Gefühl, das Brady’s heißt seinen verlorenen Sohn willkommen. Dean hätte es bei der Wahl seines Vertreters eindeutig schlechter treffen können.

Wie um alles in der Welt macht er das bloß? Ich bin ziemlich sicher, dass jemand wie Theo weder auf Nialls dunkle Augen noch auf sein lautes, ansteckendes Lachen abfährt, aber ganz eindeutig ist es Niall an nur einem Abend gelungen, das komplette Brady’s zu entzücken. Vermutlich hat er hier bereits jetzt mehr Freunde als ich nach einem Jahr.

«Willst du nicht mal eine Pause machen?», fragt er mich gegen Mitternacht, als ich gerade einen Satz leerer Gläser anschleppe, und nimmt mir das Tablett aus den Händen.

«Ähm …» Überrascht starre ich ihn an.

«Du hast dich den ganzen Abend über nicht einmal ausgeruht und kaum was getrunken. Oder hab ich das nur nicht mitbekommen?» Er stellt die Gläser beiläufig Dean vor die Nase, der hinter Nialls Rücken zumindest den Anstand hat, zerknirscht auszusehen.

«Eigentlich gibt’s hier keine Pausen», beginnt er und räuspert sich, als Niall sich mit hochgezogenen Augenbrauen zu ihm umdreht. «Wir arbeiten alle durch», setzt er zu seiner Verteidigung hinzu.

Das stimmt. Selbst jetzt, während er redet, nimmt er die Gläser vom Tablett und taucht sie über die Bürsten im Spülbecken.

«Wie wäre es dann mit einer zweiten Bedienung? Wenigstens für ein paar Stunden?», fragt Niall.

«Wieso? Es läuft doch», erklärt Dean, ohne ihn dabei anzusehen.

«Okay.» Niall zuckt mit den Schultern, trotzdem sagt mir etwas an seinem Ton, dass er gerade ein paar Vorsätze gefasst hat.

Dean bemerkt das ebenfalls. «In einem Kaff wie Castledunns findet man nicht mal eben so eine neue Kellnerin», erklärt er. Ich verkneife mir die Bemerkung, dass er bisher nicht mal nach einer gesucht hat. «Und was soll ich den Leuten denn sagen? Sorry, ihr müsst warten, Seanna legt grad die Beine hoch?» Dean findet zu seinem gewohnten Grinsen zurück. «Tu mir den Gefallen und gründe nicht gleich eine Gewerkschaft, ja?»

«Wir werden sehen.» Nialls Lächeln gilt sowohl Dean als auch mir, und jetzt verstehe ich, wie er das Brady’s im Handumdrehen für sich eingenommen hat – er sieht die Leute. Er sieht sie wirklich. Keine Ahnung, wie er mitgekriegt hat, dass ich heute tatsächlich so gut wie nichts getrunken habe – wenn so viel los ist, vergesse ich es manchmal einfach –, aber es ist ihm aufgefallen. Bisher fand ich ihn in erster Linie attraktiv, doch jetzt ist er mir auch noch sympathisch – und so schnell vergebe ich meine Bonuspunkte in dieser Richtung selten.

Mit dem vollbeladenen Tablett starte ich zu einer neuen Runde und höre kurz darauf mit halbem Ohr zu, wie Abigail und ihre Freundinnen sich über Nialls Tätowierungen unterhalten, während ich sie mit Getränken versorge.

«Aber sicher trau ich mich das!» Abigails helle Stimme lässt mich aufhorchen. Im nächsten Moment springt sie auf und läuft zum Tresen. Zwei ihrer Freundinnen am Tisch erheben sich ebenfalls, um sie besser im Blick behalten zu können, und ich beeile mich, hinter Abigail her zurück zur Bar zu gelangen, obwohl immer noch volle Gläser auf meinem Tablett stehen.

Sie winkt Niall heran, der sich zu ihr beugt, und als Nächstes schlingt sie ihm einen Arm um den Hals und küsst seine Wange. Ein paar Typen auf ihren Barhockern lachen, Dean zieht beide Augenbrauen in die Höhe, und Niall selbst wirkt für einen Moment so perplex, wie ich mich fühle. Dann lacht auch er.

Inzwischen bin ich nah genug herangekommen, um hören zu können, was Abigail jetzt zu ihm sagt. «Nur eine Wette, sorry.» Sie legt ihren Kopf schief und blinzelt ihn an. «Hoffentlich bist du deshalb nicht sauer.»

Niall macht eine wegwerfende Handbewegung. «Quatsch. Und was hast du mit dieser Aktion gewonnen?»

«Ruhm und Ehre.»

«Dafür lohnt es sich zu kämpfen.»

«So hart war der Kampf ja nicht», erwidert Abigail mit diesem verrucht unschuldigen Lächeln, das nur sie zustande bringt. «Was machst du später noch?»

«Auf mich wartet heute noch jemand.»

Er hat das sehr nett gesagt, doch die Botschaft dahinter ist eindeutig, und Abby ist ihre Enttäuschung anzusehen.

«Ach so … klar … na dann …» Sie tritt einen Schritt zurück. «Freut mich trotzdem, dass du demnächst häufiger hier sein wirst.»

So souverän wäre ich auch nach einer netten Abfuhr nicht gewesen. Dafür muss ich Abigail fast schon wieder bewundern.

«Darf man sich einfach ein Glas runternehmen?», höre ich hinter mir.

Gerade noch rechtzeitig bringe ich mein Tablett vor Fearghas in Sicherheit. «Finger weg! Du musst genauso bestellen wie alle anderen auch.»

Sein Zwinkern macht mir klar, dass die Frage nicht ernst gemeint war. «Ich bin noch versorgt, danke. Dachte nur, ich sollte dich vielleicht aus deinem Wachkoma erlösen, bevor jemand über dich fällt.»

Selbst wenn ich sehr gerade stehe, reiche ich Fearghas nicht einmal bis zur Schulter, und damit zieht er mich gern auf. Ich strecke ihm die Zunge raus und mache mich daran, die restlichen Getränke abzuliefern, bevor irgendeiner sich zu Recht über abgestandenes Bier beklagen kann.

Dieser Niall hat also eine Freundin. Klar. Ist nicht wirklich überraschend. Ob sie mitkommen wird, nach Castledunns? Deans Wohnung ist groß genug für zwei, möglich wäre es. Ob sie dann auch einen Job braucht? Selbst wenn, glaube ich mittlerweile nicht mehr, dass Niall mich auf die Straße setzen würde. Vielleicht stellt Niall sie zu meiner Unterstützung ein?

Etwas zu heftig setze ich das letzte Ale auf Tisch zwölf ab, die Flüssigkeit schwappt beinahe über den Rand.

Ich glaube, es wird allmählich Zeit, mal wieder an etwas anderes zu denken als an Niall, Niall, Niall.

So interessant ist er schließlich auch wieder nicht.

❖ ❖ ❖

Meine Füße schmerzen, und mein Hals fühlt sich wund an, als ich um kurz nach zwei die Tür zum Brady’s hinter mir schließe. Trotzdem klettere ich wie in jeder Nacht über den kalten Stein der Mauer und stapfe zu dem schmalen Streifen Sandstrand hinunter. Vorsichtig steige ich über felsiges Geröll und angele dabei das Smartphone aus der Tasche.

Dean saß mit Niall und Fearghas an der Bar, als ich ging, ihre Einladung, noch etwas mit ihnen zu trinken, habe ich ausgeschlagen. Ich bin müde und werde jetzt nur noch ein paar Minuten Nachtluft und Meer tanken, bevor ich ins Bett krieche. Mit Niall als Chef werde ich wohl klarkommen. Ich glaube …

Mir entfällt, was ich glaube, weil Pippa vor ungefähr anderthalb Stunden auf die Mailbox gesprochen hat.

«Sheshe? Rufst du mich bitte zurück, egal wann?»

Mit plötzlich zitternden Fingern rufe ich die Nummer meiner Schwester auf.

Jedes Mal wieder.

Jedes Mal wieder die Angst vor dem, was sie gleich erzählen wird. Und während es noch in der Leitung knistert, gesellt sich wie immer die Sorge hinzu, sie könne nicht ans Telefon gehen. Was würde ich dann tun? Was würde ich nachts um zwei tun, wenn ich meine kleine Schwester nicht erreichen könnte, nachdem sie mir mit dünner, aufgelöster Stimme ihre Botschaft auf die Box gesprochen hat? Ruf zurück, egal wann …

Bitte, Pippa, geh ans Telefon. Gott, bitte …

«Seanna?»

«Pippa! Was ist denn? Hast du schon geschlafen, bist du in Ordnung?» Zu viele Fragen auf einmal, mühsam halte ich inne. Könnte ich Pippa in dieser Sekunde doch nur sehen, dann wäre alles viel einfacher.

«Es ist … ach, Sheshe!»

Pippa beginnt zu weinen, und ich möchte zu ihr rennen, stattdessen stolpere ich in der nächsten Sekunde über einen Felsen, weil ich gerade anderes zu tun habe, als auf meine Füße zu achten. Wild rudernd finde ich erst nach einigen Schrecksekunden das Gleichgewicht wieder und atme einmal tief durch. «Pippa? Was ist los?»

«Ich halte das nicht mehr aus, Seanna. Was soll ich nur machen? Ich hasse ihn, hasse, hasse, hasse ihn so sehr …»

«Was ist denn passiert?»

Vielleicht hat er erst unsere Mutter und dann Pippa verprügelt, weil die sich dazwischengeworfen hat. Oder er hat gleich mit Pippa angefangen, weil er wusste, dass sie versuchen würde, ihn daran zu hindern, auf unsere Mutter loszugehen.

Am anderen Ende ist nur Pippas Weinen zu hören, jeder einzelne ihrer Schluchzer schneidet in mein Herz, zerfetzt es, lässt es bluten und bluten.

«Erzähl es mir, Pip … was war los?»

«Mama ist im Krankenhaus.»

«Was?»

«Er hat sie … sie ist …»

«Was hat er, Pippa? Hat er sie so verprügelt, dass sie …»

«Sie ist hingefallen. Er hat sie gegen den Herd geschubst, und dann ist sie hingefallen. Und dabei hat sie die Pfanne runtergerissen, und das heiße Fett … ihr Bein …»

Pippas Schluchzen wird lauter.

«Schhh … Pip … Pippa, bist du allein mit ihm im Haus? Ist er in der Nähe?»

Oh Gott, wenn er sie weinen hört … wenn er mitbekommt, dass sie telefoniert …

«Ich bin bei Scarlet.»

Gott sei Dank. Scarlet ist Pippas beste Freundin.

«Bleib erst mal bei Scarlet, hörst du?»

«Ich muss aber mein Schulzeug holen.»

«Ich komme! Ich komme gleich morgen, geh da nicht allein rein!»

«Musst du nicht, Sheshe. Morgen Vormittag holen Scarlet und ich meine Sachen raus. Wenn er auf der Arbeit ist.»

«Vielleicht kann Scarlets Mutter …»

«Die weiß noch gar nicht, dass ich hier bin. Sie ist die ganze Woche weg, Scarlets Oma kommt einmal am Tag. Wir werden auch nicht erzählen, warum ich ein paar Tage hierbleibe, Scarlet meint, ihre Mutter informiert sonst bestimmt irgendjemanden.» Jetzt klingt Pippas Stimme sehr viel fester. «Und ich will nicht … irgendwas in Gang setzen, verstehst du? Ich denke, am besten wäre es, wenn ich so lange hierbleiben könnte, bis Mama wieder zu Hause ist.»

Und dann geht alles weiter wie gehabt, denke ich, spreche es jedoch nicht aus, weil ich weiß, dass es nichts bringt. Wir hatten immer Angst, man würde uns wegholen, uns vielleicht trennen, sobald irgendjemand etwas erfährt. Ein einziges Mal habe ich trotzdem einer Lehrerin gegenüber angedeutet, dass es bei mir zu Hause Probleme gäbe, ich war höchstens acht oder neun. Nach einem Gespräch mit meiner Mutter war meine Lehrerin beruhigt, und meine Mutter hat zu Hause so sehr geweint, dass ich vor lauter Angst und Reue mitgeheult habe. Nichts ändert sich, solange meine Mutter dichthält.

«Du könntest auch hierherkommen …», beginne ich, obwohl mir Pippas Antwort darauf inzwischen vertraut ist.

«Und Mama?»

Mama kommt klar, würde ich am liebsten erwidern und kann es nicht, weil es nicht stimmt. «Vielleicht würde sie auch endlich gehen … wenn wir beide …»

Ich schaffe es nicht, weiterzureden. Wenn wir beide sie verlassen würden? Ginge sie dann? Nein. Sie wird nie gehen, warum auch immer. Weil sie Angst hat. Weil er ihr droht. Weil er ihr dauernd sagt, dass sie ohne ihn nichts auf die Reihe kriegt. Vielleicht auch, weil es diese Momente gibt, in denen er ganz anders ist, freundlich, liebevoll, weil er manchmal mit Geschenken kommt und sie in den Arm nimmt.

Genau dann habe ich ihn immer am glühendsten gehasst, während ich nächtelang wach im Bett lag und auf den Moment gewartet habe, in dem die Stimmung wieder umschlug. Das konnte beim Abendessen passieren oder morgens vor der Schule oder nachts um drei, wenn man plötzlich einen erstickten Aufschrei aus dem Schlafzimmer hörte. So unberechenbar …

«Wenn Mama mit ihm ganz allein ist … irgendwann passiert vielleicht was», sagt Pippa.

Es ist doch schon was passiert, möchte ich schreien. Die ungesagten Worte dehnen sich aus und fühlen sich an wie Steine in meinem Hals. Langsam ein- und wieder ausatmen. In meinem Versuch, Wut und Verzweiflung nicht über mir zusammenschlagen zu lassen, überhöre ich beinahe Pippas nächsten Satz. «Ich hole morgen auch Mamas Handy. Du kannst dich dann bei ihr melden.»

Mühsam schlucke ich die Steine endlich hinunter. «Hast du den Notarzt gerufen?»

«Ja.»

«Und wo war …?»

«Der hat ihnen die Tür aufgemacht und erklärt, er hätte keine Ahnung, was passiert sei.»

Dass Sechzehnjährige schon so bitter klingen können.

«Pippa, so geht das alles nicht weiter.»

«Jetzt bin ich ja erst mal bei Scarlet.»

Unnötig zu fragen, warum Pippa den Sanitätern nicht die Wahrheit erzählt hat. Was, wenn sie ihr nicht geglaubt, wenn mein Vater die Bedenken zerstreut hätte? So etwas kann er gut. Und selbst wenn Zweifel aufgekommen wären: Mama unterstützt seine Lügen ja immer. Die Sanitäter wären mit ihr davongefahren und hätten Pippa mit ihm zurückgelassen.