Wir irgendwann - Kira Mohn - E-Book

Wir irgendwann E-Book

Kira Mohn

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Beschreibung

Irgendwo in Schottland. Irgendwann mit dir. Ein zutiefst berührender Liebesroman auf zwei Zeitebenen. Ein schlechter Scherz. Das ist der erste Gedanke, der Emmeline durch den Kopf geht, als plötzlich eine junge Frau vor ihr steht und behauptet, ihre Tochter zu sein. Em hat keine Kinder. Mehr noch: Sie kann keine Kinder bekommen. Dieser dumme Scherz ist also alles andere als witzig. Er ist grausam. Doch die junge Frau meint es ernst, sie ist überzeugt, dass sie verwandt sind. Nach einer schockierenden Enthüllung beginnt so für Em eine Reise in die Vergangenheit. Und zu einem Mann, an den sich nur ihr Herz erinnern kann …

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Kira Mohn

Wir irgendwann

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Irgendwo in Schottland. Irgendwann mit dir.

Ein schlechter Scherz. Das ist der erste Gedanke, der Emmeline durch den Kopf geht, als plötzlich eine junge Frau vor ihr steht und behauptet, ihre Tochter zu sein. Em hat keine Kinder. Mehr noch: Sie kann keine Kinder bekommen. Dieser dumme Scherz ist also alles andere als witzig. Er ist grausam. Doch die junge Frau meint es ernst, sie ist überzeugt, dass sie verwandt sind. Nach einer schockierenden Enthüllung beginnt so für Em eine Reise in die Vergangenheit. Und zu einem Mann, an den sich nur ihr Herz erinnern kann …

 

Emmeline und Liam. Vergangenheit und Gegenwart. Ein zutiefst berührender Liebesroman auf zwei Zeitebenen.

Vita

Kira Mohn hat schon die unterschiedlichsten Dinge in ihrem Leben getan. Sie gründete eine Musikfachzeitschrift, studierte Pädagogik, lebte eine Zeit lang in New York, veröffentlichte Bücher in Eigenregie unter dem Namen Kira Minttu und hob zusammen mit vier Freundinnen das Autorinnen-Label Ink Rebels aus der Taufe. Mit der Leuchtturm-Trilogie erschien sie erstmals bei KYSS, mit der Kanada-Reihe gelang ihr der Einstieg auf die Spiegel-Bestsellerliste. In ihren beiden neuen Büchern entführt Kira ihre Leser*innen nun in eins ihrer Lieblingsländer: Schottland. Es ist eine Dilogie mit einem einzigartigen Konzept: Band 1, «Du irgendwo», erzählt die Liebesgeschichte der 19-jährigen Victoria, Band 2, «Wir irgendwann», die ihrer Mutter Emmeline. Außerdem wird die Reihe ergänzt durch eine Vorgeschichte, die unter dem Titel «Because It’s True – Ein einziges Versprechen» erschienen ist. Kira wohnt mit ihrer Familie in München, ist auf Instagram aktiv und tauscht sich dort gern mit Leser*innen aus.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2024

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock; John Lawson, Belhaven/Getty Images

ISBN 978-3-644-01518-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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www.rowohlt.de

Für Anke, Anne, Katja, Sabina, Tessa & das ganze Team

Kapitel 1Liam

Früher

Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht, heißt es, aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Es gibt sie.

Es ist ein Gefühl, als bliebe die Zeit für eine Sekunde stehen, eine Sekunde, in der etwas an der richtigen Stelle einrastet, die Sekunde, in der in Filmen der Ton verschwindet und die Kamera eine Großaufnahme macht, mit Weichzeichner im Hintergrund. In dieser Sekunde hat Emmeline sich zu mir umgedreht, und seitdem ist sie in meinem Kopf, in meinen Gedanken, und wenn es nicht so endlos pathetisch klänge, würde ich noch hinzufügen, dass sie auch in meinem Herzen ist.

Jetzt habe ich es hinzugefügt, und es klingt pathetisch.

Egal.

«Also, was ist jetzt? Kommst du zu Camerons Party?»

«Ich glaub nicht.»

«Wieso nicht?» Davie verzieht genervt das Gesicht. Wir sitzen in der Mensa, und er wickelt ein viel zu großes Knäuel Spaghetti um seine Gabel. «Dann lernst du eben ein bisschen weniger – sei nicht so ein Streber, Mann.»

«Halt die Klappe, ist doch meine Sache.»

Das bringt mir einen Schlag gegen den Oberarm ein, denn bevor Davie darauf etwas erwidern kann, muss er erst den Mund leer kriegen.

Ich werde nicht mal lernen, aber ich habe Mum versprochen, am Wochenende die Kisten auf dem Speicher mit ihr durchzugehen. Allein wird sie das nicht machen, aber darüber will ich mit Davie jetzt nicht reden. Davon abgesehen ist Cameron ein Arsch, warum also sollte ich auf seine dämliche Party gehen?

«Kenny meint, Cameron hat einen DJ organisiert», setzt Davie neu an, als habe er meinen letzten Gedanken gespürt und sammele Argumente dagegen. «Die Party findet in einer Scheißvilla statt, es gibt einen Pool – ach, komm schon, es wird ein ganz großes Ding. Jeder geht hin.»

«Ich halte dich ja nicht davon ab.»

«Liam, weißt du, wie lange du schon so rumhängst?» Der genervte Gesichtsausdruck wird übergangslos durch einen mitleidigen ausgetauscht. «Du bist schon ewig nicht mehr auf einer Party gewesen.»

Oh nein, jetzt die Tour.

«Vergiss es einfach – ein andermal, okay?»

«Das hast du das letzte Mal auch behauptet.»

«Und irgendwann wird es stimmen.»

Was Davie als Nächstes sagt, kriege ich nicht mehr mit, weil in diesem Moment Emmeline an unserem Tisch vorbeiläuft. Ganz kurz sieht sie zu mir, und verdammt noch mal, wo kommt das her? Wieso möchte man einen Menschen, den man gar nicht kennt, ununterbrochen anstarren?

Sie und ihre Freundin setzen sich zu einigen Mädchen, und mehr als braune Locken und ein wenig von ihrem rot-weiß geringelten Pulli kann ich nicht mehr erkennen.

«Welche von beiden?», fragt Davie.

«Was?»

«Welche von beiden ist es?»

«Was meinst du?»

Davie grinst mich an, und ich fühle mich angemessen idiotisch – offensichtlicher habe ich es wohl nicht machen können.

«Die eine ist Camerons Schwester», redet Davie weiter. «Die Blonde. Geht es um sie? Dann lass uns doch noch mal über die Party reden.»

«Es ist nicht die Blonde.»

Davie dreht sich so auffällig um, dass ich ihn am liebsten am Kragen packen würde.

«Vielleicht kommt die andere ja auch.»

Vielleicht, und das wäre der erste Punkt, den Davie für die Party holen könnte. Es schadet nicht, das zu überprüfen. Und wenn Emmeline nicht da ist, verschwinde ich einfach wieder.

«Okay, wann fängt diese Party genau an?»

«Wieso erzählst du mir nicht, dass du auf eine stehst?»

Das weiß ich selbst nicht so genau. Ich hätte Davie erzählen können, dass ich Emmeline habe lachen hören, bevor ich sie sah, und dass allein schon ihr Lachen etwas mit mir gemacht hat. Ich stand vor meinem Spind, und es ist nicht so, dass es um mich herum leer gewesen wäre, im Gegenteil. Hinter mir schoben sich jede Menge Leute durch den Gang, und plötzlich war da dieses Lachen, bei dem ich den Spind schloss, um mich umzusehen. Sie ging dicht an mir vorbei, so dicht, dass ihre Schulter fast meinen Arm streifte, und als sie aufhörte zu lachen, drehte sie sich nach mir um. Braune Augen. Ein paar Sommersprossen. Ein Mund, bei dem ich Hitze in mir aufsteigen fühlte, dann legte ihre Freundin eine Hand auf ihren Rücken und rief: «Emmeline, beeil dich, wir sind schon viel zu spät», und das war’s. Herrgott, das war’s.

Seitdem sehe ich sie immer wieder, weil ich ständig nach ihr suche.

Aber das muss Davie nicht wissen.

«Die Party», erinnere ich ihn an meine Frage.

«Um acht. Woher kennst du sie also?»

«Noch gar nicht.»

Aber das lässt sich an diesem Wochenende ja vielleicht ändern.

Kapitel 2Liam

Früher

«Du bist ja schon zu Hause.» Mum platzt in die Küche, wo ich stehe und Zwiebeln schäle. «Und du kochst?» Sie verpasst mir einen flüchtigen Kuss in den Nacken, höher kommt sie nicht, und hängt ihre Tasche über einen Stuhl. «Ich kann dir sagen», stöhnt sie, «das war ein wirklich beschissener Tag.»

«Wieso?»

«Weil ich es gottverflucht noch mal hasse, wenn sich dieser Wichtigtuer Stewart ständig in meine Arbeit hängt! Warum kümmert er sich nicht um seinen eigenen Scheißjob? Man sollte meinen, er hätte genug zu tun, aber nein, er muss mir dauernd über die Schulter gucken!»

Archibald Stewart ist die Pest, ein Chauvi, ein pain in the ass. Das war er bereits an seinem ersten Tag, an dem er mit einer kotzgelben Krawatte ins Büro stolziert kam und sich als neuer Chef vorgestellt hat. Mum hat Dad und mir jedes Detail dieses Auftritts noch am gleichen Abend berichtet. Welche anzüglichen Witze er gemacht hat und wie laut er selbst darüber lachte, während alle anderen sich nur betreten ansahen.

Mum sagt es nicht allzu deutlich, aber wenn er hinter ihr steht, dann starrt er über ihre Schulter hinweg ziemlich sicher nicht auf ihre Arbeit, und ich hasse es, dass ich mir über so etwas Gedanken machen muss. Als Dad noch lebte, hat Archibald Stewart das nicht gemacht, der miese Sack.

«Was gibt es denn heute Leckeres?»

«Chili sin Carne.»

«Ach, du bist so ein guter Sohn.» Sie seufzt und streckt den Rücken durch. «Soll ich dir helfen?»

«Nein, ich mach schon. Ich sag dir Bescheid, wenn’s fertig ist.»

«Danke.» Sie lächelt, greift nach ihrer Tasche und geht aus der Küche.

Während ich Knoblauch hacke und ihn zusammen mit zerkrümeltem Tofu und Zwiebeln anbrate, denke ich darüber nach, dass ich so ein guter Sohn nun auch wieder nicht bin. Wäre ich es, würde ich ihr endlich mit diesen Kisten helfen, statt auf Camerons Party zu gehen, aber wann bekomme ich denn mal die Gelegenheit, außerhalb der Schule auf Emmeline zu treffen? Und außerdem stresst mich der Gedanke, die Kisten auf dem Dachboden zu öffnen. Darin sind Dads Sachen, alles, was wir nach seinem Tod dort hineingeworfen und damit fürs Erste aus dem Blickfeld geräumt haben. Unfähig, es auszusortieren, aber genauso unfähig, sie jeden Tag zu sehen. Gerade die alltäglichen Dinge sind am schlimmsten. Seine Zahnbürste, sein Rasierapparat, Haargel, sein Brillenetui. Sie vermitteln das Gefühl, er sei noch da, doch das ist er nicht mehr.

Bewusst atme ich bis in den Bauch hinein, um das Druckgefühl loszuwerden. Fast ein halbes Jahr lang habe ich nach Dads Tod jeden Tag Bauchschmerzen gehabt, richtige Krämpfe. Ich konnte nicht weinen, nicht mal auf seiner Beerdigung, also musste der Schmerz offenbar irgendwo anders hin.

Ich verspreche mir selbst, dass ich Mum mit den Kisten helfen werde – nur eben nicht an diesem Wochenende.

Kapitel 3Liam

Früher

Am Samstagabend machen Davie und ich uns gegen halb neun auf den Weg. Es war heiß heute, die Straßen schmorten in der Julihitze, und auch jetzt ist es noch immer ziemlich warm. Wir haben unsere Räder genommen, die wir, bei Cameron angekommen, an einen Baum ketten und sich selbst überlassen.

Ich kenne Cameron seit drei Jahren, doch ich war noch nie bei ihm zu Hause, weil er der arroganteste Typ ist, dem ich je begegnet bin. Einer von der Sorte, die nur mit ganz bestimmten Leuten abhängen und alle anderen scheiße finden. Er und ein paar seiner Arschlochfreunde haben Davies Sachen mal in einen Müllcontainer geworfen und Davie gleich hinterher, aber das hat mein bester Freund an diesem Abend offenbar vergessen.

«Fuck, das ist ja ein verdammter Palast – wie kann man in so einem Schuppen denn ganz normal wohnen?» Er läuft neben mir her und sieht aus wie ein Kind auf dem Weg ins Spielzeugparadies. «Da dreht man ja schon eine Joggingrunde, wenn man morgens nur zum Frühstück geht.»

Das Anwesen von Camerons Familie liegt ein gutes Stück außerhalb von Inverness auf einem Hügel, und Davie hat recht, es ist ein echter Prunkbau. Riesig, protzig, völlig überdimensioniert. Ein solches Monstrum für vier Personen – das ist doch abartig. Bestimmt haben sie massenhaft Personal, das sich auf kleine Personalzimmer verteilt, wie im 19. Jahrhundert.

Am Straßenrand stehen jede Menge Autos geparkt, und wir schlängeln uns mit einer ganzen Reihe anderer Leute daran vorbei, als befänden wir uns auf dem Weg zu einem Konzert. Stattdessen ist unser Ziel dieses hell erleuchtete Haus, in dem uns kein Butler begrüßt, wie ich es erwartet habe.

«Das ist krass, Mann», höre ich Davie murmeln, und damit meint er vielleicht die riesigen Fenster oder die geschwungene weiße Marmortreppe, die zu einer geöffneten Flügeltür hinaufführt. Auf einer breiten Balustrade sitzen Leute, trinken und rauchen, einer hat einen Sektkübel neben sich und lacht, als hätte er den Inhalt der Flasche darin schon intus. Ein paar Gesichter kommen mir bekannt vor, aber die meisten habe ich noch nie gesehen. Hat Cameron halb Inverness eingeladen?

Aus der Villa dringt Musik, schon auf der Straße war sie zu hören, und drinnen ist sie definitiv zu laut.

Hier scheint jeder willkommen zu sein, Cameron ist nirgendwo zu sehen. Davie und ich haben ein paar Snacks mitgebracht, doch während wir uns am Rand der Eingangshalle entlangschlängeln, in deren Mitte Leute tanzen, komme ich mir mit der Papiertüte in der Hand bereits bescheuert vor. Die Vorstellung, sie Cameron in die Hand zu drücken und irgendetwas in Richtung Vielen Dank für die Einladung zu sagen, ist lächerlich – ich sehe geradezu vor mir, wie er sie nehmen und gleichgültig zur Seite werfen würde. Außerdem hat er mich gar nicht im Speziellen eingeladen – ich bin einfach da, so wie wohl die meisten hier.

Das Wohnzimmer scheint größer zu sein als das Haus von außen, und trotzdem ist es voll. Mein Blick wandert von einem Gesicht zum nächsten – sollte Emmeline tatsächlich hier sein, wird es schwer, sie zu finden.

Davie nickt nur, als ich die mitgebrachten Chips auf einem Glastisch ablege, der zwischen einer Sofalandschaft steht – nie war der Begriff Landschaft dafür passender. Ein Typ greift nach einer der beiden Tüten und reißt sie auf, ohne mir auch nur einen Blick zu schenken – jetzt weiß ich immerhin, wie sich der Butler fühlen dürfte, der sich garantiert irgendwo vor den Horden versteckt hält.

«Wo haben die denn alle ihre Getränke her?», ruft Davie.

«Da vorn gibt’s ein Büfett.» Ich nicke zur Terrasse hinaus, wo Lampions und Fackeln ihr Licht verschwenden, denn es ist noch hell. Auf zwei Seiten stehen lange Tische, verborgen unter weißen Laken – ach was, Laken, wahrscheinlich ist es Damast oder in Form gegossenes Platin. Darauf stehen so viele Platten und Teller, dass mir vom bloßen Hinschauen übel wird, und jetzt nehme ich erstmals auch einige schwarz gekleidete Männer und Frauen wahr, die leeres Geschirr dezent verschwinden lassen und dafür neue Salate, Kuchen, Suppen und was weiß ich für Zeug auftragen.

Ich folge Davie zum Büfett, wo er sich ein Muffin nimmt und hineinbeißt. «Uh.» Angewidert mustert er die rosa Creme darauf. «Schmeckt nach Fisch.»

Ich muss lachen. «Ist das zu fassen? Ich meine, ich wusste, dass der Typ reich ist, aber das ist doch verrückt.»

«Scheint auf ein paar Tausend Pfund mehr oder weniger nicht anzukommen. Meinst du, das kann man essen?» Argwöhnisch betrachtet Davie eine Platte mit etwas, das wie eine Schokoladentorte mit Kirschkompottfüllung aussieht.

«Probier’s aus. Entweder es schmeckt süß, oder das Ding ist nur very rare durchgebraten.»

Auf meine Worte hin tritt Davie vom Tisch zurück. «Getränke scheint es anderswo zu geben.»

«Bestimmt ist hier irgendwo eine Bar. »

«Dann lass uns mal danach suchen.»

«Hey, endlich mal ein paar Leute, die man kennt – wie lange seid ihr schon da?» Diese Worte kommen von Kenny. Er sitzt mit uns im Physikkurs und ist offensichtlich froh, uns entdeckt zu haben.

«Erst seit ein paar Minuten. Weißt du, wo’s was zu trinken gibt?», erwidert Davie.

«Dahinten ist eine Theke, direkt am Pool.» Kenny wedelt vage in eine Richtung, aus der hinter einem ausladenden Rhododendron Gelächter und Geschrei zu uns herüberwehen. «Drinnen ist auch eine.»

«Lass uns erst mal draußen bleiben», sage ich. «Hier ist es deutlich angenehmer.»

«Habt ihr Badehosen dabei?», fragt Kenny.

«Badehosen?» Davie wirft im Vorübergehen einen Blick zum Pool. «Sieht nicht so aus, als würde man die brauchen. Mann, wie besoffen sind die? Es ist nicht mal zehn.»

«Alter.» Kenny stolpert bei dem Anblick über seine eigenen Füße und schlägt nur deshalb nicht der Länge nach hin, weil ich ihn gerade noch zu fassen kriege.

«Pass doch auf», weise ich ihn an. «Hast du noch nie Brüste gesehen, oder was?»

«Na ja – nicht so viele auf einmal. In echt», fügt er hinzu und grinst verlegen, als er Davies Blick registriert. «Was denn? Du ja wohl auch nicht!»

Davie zieht nur die Brauen hoch und überlässt es Kennys Fantasie, sich darauf einen Reim zu machen.

An der Bar mixen zwei Typen routiniert Drinks für alle, die vorbeikommen, und als Davie kapiert, dass man sich hier unbegrenzt bedienen lassen kann, strahlt er mich an. «Wir sind im Himmel, Mann.»

Das werde ich erst dann sein, wenn ich endlich eine ganz bestimmte Person entdeckt habe. Mittlerweile habe ich allerdings so meine Zweifel, ob Emmeline hier ist. Alle Anzeichen deuten darauf hin, dass diese Party noch vor Mitternacht ausarten wird, und ich schätze Emmeline auf sechzehn, maximal siebzehn. Falls ihre Mutter sie bringt, dreht sie mit dem Wagen wieder um, sobald sie nah genug herangekommen ist, um den Massenauflauf inklusive der Alkoholmengen zu bemerken. Es sei denn, sie ist schon seit heute Nachmittag da, besucht ihre Freundin oder so. Wäre möglich.

Kurz darauf halte ich einen Wodka Tonic in der Hand und versuche sinnloserweise, mir einen Überblick zu verschaffen. Es ist einfach verdammt noch mal viel zu viel los.

«Okay, wollen wir uns aufteilen, und wer sie sieht, pfeift?» Davie stößt mich an und grinst vergnügt. «Oder wir suchen Cameron und fragen ihn, wo seine Schwester ist.»

«Wieso sucht ihr Camerons Schwester?», will Kenny wissen.

«Weil Liam auf die Freundin von der steht.»

«Danke auch», murmele ich. «Brüll doch noch lauter.»

«Ich habe Cameron schon gesehen – vorhin war er drinnen. Wusste gar nicht, dass er eine Schwester hat. Sieht sie gut aus? Man sollte hier definitiv einheiraten», erwidert Kenny, und beide lachen.

«Also, was ist jetzt?», sagt Davie. «Finden wir mal raus, ob sie hier ist? Danach spring ich in den Pool.»

«Im Ernst? Ich komm mit», sagt Kenny.

«Springt doch einfach gleich. Ich sehe mich eh lieber ohne euch um», erkläre ich.

«Hey, ich bin dein Freund – ich helfe dir natürlich. Außerdem muss ich mich erst noch um meinen Drink hier kümmern.»

Ich lege Davie eine Hand auf die Schulter. «Okay, dann bin ich auf jeden Fall dafür, uns aufzuteilen – ist eine gute Idee mit dem Pfeifen. Bis später.»

«Hey!», ruft Davie mir hinterher. «Um eins bei den Rädern, ja?»

Ich hebe eine Hand und schlage mich in die Menge.

Kapitel 4Liam

Früher

Den Garten lasse ich schnell hinter mir. Beim Pool ist sie genauso wenig wie am Büfett oder an der Bar, und falls sie irgendwo in einer der entlegeneren Ecken herumhängt, will ich sie dort vielleicht gar nicht unbedingt finden. Im Inneren des Gebäudes schlägt mir Musik und Hitze entgegen, und ich dränge mich zwischen tanzenden, schwitzenden, lachenden Leuten hindurch. Mir ist bewusst, dass es ein riesiger Zufall wäre, würde mir tatsächlich Emmeline begegnen. Jede Stelle, die ich gerade hinter mir lasse, könnte die sein, wo sie als Nächstes auftaucht, doch ich hoffe darauf, dass ich meine Suche nur lange genug durchhalten muss, um irgendwann Glück zu haben. Vorausgesetzt, sie ist überhaupt hier.

Vor den bodentiefen Fenstern ist es bereits dunkel geworden, als ich das Gefühl habe, alles einmal abgelaufen zu sein: die Eingangshalle, das gefühlt fußballfeldgroße Wohnzimmer, ein Esszimmer mit offener Küche, die nicht die ist, von der aus das Partypersonal die Anwesenden versorgt, und eine Lounge mit Kamin und flachen Sitzpolstern. Sie scheint weder im unteren noch in einem der beiden oberen Bäder zu sein, und die anderen Zimmer dort sind verschlossen – bei dem, was hier los ist, hätte ich diese Vorsichtsmaßnahme auch ergriffen. Im Keller gibt es einen Billardraum und eine Wellnessoase mit Sauna und Whirlpool, beides belegt, und gerade habe ich mir einen zweiten Wodka Tonic organisiert und bin bereit, eine neue Runde zu drehen.

«Hey, Liam.» Cameron stolpert zu mir durch und schlägt mir auf den Rücken, als freue er sich ehrlich, mich zu sehen. «Hätte nicht gedacht, dass du mal auf ’ner Party auftauchen würdest.»

«Hi, Cameron.»

Er ist schon ziemlich in Schräglage, an seiner lässigen James-Dean-Frisur hat sich irgendjemand zu schaffen gemacht, doch noch sitzt dieses Lächeln, mit dem er der Welt entgegentritt, als würde sie ihm gehören. Nach heute Abend verstehe ich zumindest, wie es zu dieser Einstellung hat kommen können.

«Alles klar? Was zu trinken hast du offenbar schon gefunden, wie ich sehe. Bist du allein gekommen?»

«Nein, Davie ist auch hier irgendwo.» Ich trete einen halben Schritt zurück, weil Cameron mir mit seinem Alkoholatem eindeutig zu nahe kommt. «Mega Party.»

«Danke. Hat ein bisschen gedauert, alles zu organisieren.»

Ja, klar. Keine Ahnung, wer das hier organisiert hat, aber wenn ich mitbekomme, wie leere Gläser, Flaschen und Teller unauffällig beiseitegeräumt werden, glaube ich kaum, dass Cameron mehr Zeit in das Projekt reingesteckt hat, als nötig war, um Ich will das, das, das und das zu sagen. Mit dem, was diese Party kostet, könnte meine Mutter vermutlich ein Jahr lang ihr mickriges Gehalt so weit strecken, dass sie am Ende des Monats ausnahmsweise einmal nicht herumrechnen müsste.

Okay, das waren ein paar ziemlich unfreundliche Gedanken dafür, dass ich hier stehe und immerhin meinen zweiten Gratis-Drink in der Hand halte. «Ist ein tolles Haus», sage ich, um dafür Wiedergutmachung zu leisten.

Cameron zuckt nur mit den Schultern. Hört er wahrscheinlich häufiger. «Ist so ’ne Art Hobby meines Vaters, er ist Innenarchitekt. Meine Mutter ist Anwältin. Was machen deine?»

Meine Mutter ist Sekretärin, und mein Vater ist tot. Will ich diese Antwort ausgerechnet jemandem wie Cameron geben? Nein, will ich nicht.

«Du hast noch eine Schwester, oder? Ich glaube, die habe ich noch gar nicht gesehen.»

«Blair, ja. Sie hat auch ein paar Leute eingeladen. Wahrscheinlich sind sie unterm Dach.»

«Unterm Dach?»

«Da haben wir ein Heimkino. Sie wollten sich ein paar Filme reinziehen.»

Unten die Party, oben eine Filmsession. Muss gut gedämmt sein.

«Was gucken sie denn?»

«Keine Ahnung.» Cameron sieht an mir vorbei, und ich warte darauf, dass er weiterzieht. Seltsamerweise jedoch lehnt er sich mit der Schulter gegen die Wand, als hätte er nichts Besseres zu tun. «Was machst du eigentlich so, wenn du nicht gerade den Oberstreber gibst?»

«Was?»

Ich starre ihn an und weiß für den Moment nicht, was mich mehr irritiert: dass er mich einen Streber genannt hat oder dass er sich offensichtlich mit mir unterhalten will.

«Jetzt guck nicht so – du tust doch wirklich nichts außer Lernen, oder?»

Nee, ist klar. Ich arbeite an drei Nachmittagen in der Woche bei Morrisons, weil wir das Geld brauchen und obendrein noch einen Rabatt auf die Lebensmittel kriegen, und dazwischen versuche ich für meine Mutter so zu tun, als bekämen wir alles schon hin, obwohl uns seit Dads Tod gelegentlich das Wasser bis zum Hals steht. Aber was weiß einer wie Cameron schon davon, wie es ist, nicht in Geld zu schwimmen?

Ich wende mich ab, um zu gehen, woraufhin er tatsächlich nach meinem Arm greift, jedoch schnell wieder loslässt, als er meinen Blick registriert.

«Sorry.» Er hebt beide Hände. «Hab’s verkackt.» Mit einem Lachen stößt er sich von der Wand ab. «Wir sehen uns.»

Was war das denn? Einen Augenblick lang versuche ich, das eben Erlebte einzuordnen, dann schiebe ich es beiseite. Über Typen wie Cameron nachzudenken, lohnt sich nicht.

Okay, ein Filmabend also. Ich sehe mich um, diesmal auf der Suche nach Davie. Emmeline werde ich heute wohl nicht mehr zu Gesicht bekommen. Einfach auf einer Party aufzutauchen, ist das eine, aber ich kann mich ja schlecht uneingeladen zu Blair und ihren Freundinnen setzen. Immerhin habe ich bei Davie so eine Ahnung, wo ich ihn finden werde.

Kapitel 5Liam

Früher

Davie steht mit einem Glas in der Hand am Pool und unterhält sich mit zwei Mädchen, die nur noch ihre Unterwäsche tragen, die ihnen nass am Körper klebt. Beim Näherkommen stelle ich fest, dass es in ihrem Gespräch darum geht, ob Davie ihnen Handtücher besorgen könne.

«Hi.» Ich werfe ein Grinsen in die Runde. «Bin gleich wieder weg – Davie, ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich fahre.»

«Wohin denn?» Eines der beiden Mädchen legt mir lächelnd die Hand auf die Brust. «Die Party fängt doch erst an. Vielleicht besorgst du uns ja ein paar Handtücher – oder wie wäre es mit deinem T-Shirt?»

«Hey, meins wolltest du nicht!», ruft Davie in gespielter Empörung, bevor ich darauf etwas erwidern kann. «Dann teile ich auch meinen Freund nicht mit euch.»

Ergeben lasse ich mich von ihm ein paar Schritte weiter ziehen, weil ich ohnehin keine Lust habe, mit diesem Mädchen über mein Shirt zu diskutieren.

«Jetzt hast du mir die Tour versaut», seufzt er. «Wieso willst du denn schon wieder weg?»

«Das ist hier nicht so meins.»

«Wieso nicht?»

Er wird von ein paar Leuten zur Seite gestoßen, die grölend und kreischend den Pool ansteuern, und stolpert gegen eine Liege, auf der vornübergebeugt ein Typ sitzt und sich auf die Füße kotzt.

«Was?», sagt er, als ich ihn mit verschränkten Armen nur ansehe. «Ist doch nett hier.»

Ich verdrehe die Augen. «Mach’s gut, bis Montag dann.»

«Liam, du musst echt mal wieder ein bisschen lockerer werden. Wolltest du nicht die Freundin von Camerons Schwester suchen?»

«Ein andermal.»

Davie ist seit unserem ersten Schultag mein bester Kumpel, aber so langsam fällt er mir auf die Nerven mit seinem ewigen Mach-dich-locker-Getue. In den ersten Wochen, nachdem Dad gestorben ist, hat er sich für seine Verhältnisse wirklich zurückgehalten, aber jetzt, über ein Jahr später, kapiert er einfach nicht, wieso ich nicht endlich wieder der Alte sein kann.

Um zu meinem Rad zu kommen, muss ich noch einmal durchs Haus, und ich habe mich schon fast bis zur Eingangshalle vorgearbeitet, als eine Stimme mich herumfahren lässt.

«Spinnst du?»

In dem Durchgang zur Lounge und zum Badezimmer steht Emmeline. Mit zusammengezogenen Brauen funkelt sie einen Typen an, der sie nicht besonders ernst zu nehmen scheint. Keine Ahnung, was er daraufhin erwidert, doch als er eine Hand nach ihr ausstreckt, geschehen zwei Dinge gleichzeitig: Ich mache einen hastigen Schritt in ihre Richtung, und Emmeline reißt das Knie hoch.

Der Kerl sackt mit einem schmerzerfüllten Stöhnen in sich zusammen. Emmeline hält sich nicht damit auf, sich in dem aufbrandenden Applaus zu sonnen. An ein paar Leuten vorbei läuft sie in meine Richtung, dann fällt ihr Blick auf mich, und sie bleibt stehen. Ihre langen Haare ringeln sich leicht gewellt über ihre Schultern, in ihren Mundwinkeln zeigt sich ein Lächeln, ein bisschen überrascht und auch ein bisschen verwirrt.

«Hi», sage ich, eloquent wie ein Maulesel, und zermartere mir das Hirn nach einem Satz, der sie hoffentlich dazu bringen wird, noch etwas länger stehen zu bleiben. «Das sah ziemlich spektakulär aus.»

«Er hat’s verdient.»

«Da bin ich sicher.»

Kurz sieht sie sich nach dem Typen um, der im Begriff steht, wieder auf die Füße zu kommen. «Ich dachte, ich geh mal eben raus.»

«Wollte ich auch gerade. Vielleicht komm ich einfach mit – wenn’s dich nicht stört?»

Emmelines Lächeln wird ein wenig spöttisch. «Stört mich nicht. Hier laufen so viele Idioten rum, da könntest du mich beschützen.»

«Scheint mir nicht so, als hättest du das nötig.»

Jetzt lacht sie, und ich bin vermutlich der erste Mensch auf der Welt, dessen Herzfrequenz sich verdreifacht, nur weil er jemanden lachen hört. Ich weiß nicht, warum das so ist, aber ich will es weiter spüren, bitte.

Gemeinsam treten wir nur ein paar Augenblicke später ins Freie hinaus.

«Wolltest du gehen?», frage ich.

«Nein, ich wollte nur etwas Abstand zwischen mich und diesen Freak bringen. Und frische Luft schnappen. Da drin kriegt man ja Platzangst.»

«Kann man wohl sagen.»

«Und du? Wolltest du gehen?»

«Wollte ich.» Wir schlendern auf einen Teil der Balustrade zu, der nicht belegt ist. «Aber jetzt hab ich’s mir anders überlegt.»

«Warum?»

«Weil ich dich getroffen habe.»

Mit dem Grinsen, das ich meinen Worten hinterherschicke, nehme ich der Aussage etwas von ihrem Gewicht, gleichzeitig bin ich überrascht von mir selbst – unmittelbar mit dem herauszuplatzen, was mir gerade durch den Kopf schießt, ist eigentlich nicht mein Stil.

«Ach ja?» Wir setzen uns auf die Balustrade, und Emmeline mustert mich belustigt. «Du hast aber schon mitgekriegt, was Typen passieren kann, die zu schnell rangehen?»

Ich stütze die Ellbogen auf die Oberschenkel und beuge mich ein Stück vor, um sie neben mir ansehen zu können. «Was hat der Kerl zu dir gesagt?»

«Das wiederhole ich lieber nicht.»

«Ich verspreche, alles, was ich sage, könntest du wiederholen.»

Sie lacht leise. Dieses Lachen. Und dieser Blick, mit dem sie meinem begegnet.

«Ich heiße Emmeline. Emmeline Rose Sinclair.»

«Ich weiß.» Wenn ich in ihre Augen sehe, werde ich immer die Wahrheit sagen, immer. «Ich bin Liam Wilson.»

«Ich weiß.»

Kapitel 6Emmeline

Heute

Ich habe die beiden jungen Leute schon durch das Schaufenster hindurch entdeckt. Sie sind zu früh dran, das Café öffnet erst um zehn, und als es an der Tür klopft, unterbreche ich mich beim Auffüllen der Zuckerstreuer, um ihnen genau das mitzuteilen. Ein Blick in ihre Gesichter macht jedoch klar, dass hier nicht zwei Touristen lediglich das Schild mit unseren Öffnungszeiten übersehen haben. Vor allem das Mädchen scheint mir so nervös, dass es vermutlich eher um eine Beschwerde geht.

«Hi, ihr seid etwas zu früh, wir öffnen leider erst um zehn», sage ich trotzdem und überlege dabei, um was es gehen könnte, wenn man dafür sogar persönlich erscheint.

«Ja, ich weiß», erwidert die junge Frau. «Hallo.»

In ihrem Gesicht arbeitet es, ganz eindeutig ist sie hier, um etwas loszuwerden. Aber Kendra hätte mir doch gesagt, wenn gestern etwas Besonderes vorgefallen wäre. Ist den beiden vielleicht etwas zugestoßen? Hat man sie bestohlen?

«Kann ich irgendwie helfen? Ich meine … geht es euch gut?»

Im Blick des Mädchens liegt etwas, das ich nicht recht zu fassen bekomme. Hat sie etwa Angst?

«Sind Sie Emmeline Rose Sinclair?», fragt sie.

«Ja. Wieso?»

Für einen Moment sieht sie zu dem jungen Mann, der so wirkt, als mache er sich Sorgen, sie werde gleich zusammenbrechen. Was ist denn hier los?

«Ich bin … also, ich bin Victoria Buchanan.»

Der Name sagt mir nichts, obwohl sie mich mustert, als müsse ich auf diese Eröffnung irgendwie reagieren.

«Ich würde gern etwas mit Ihnen besprechen … wenn Sie Zeit haben, meine ich?»

Vielleicht will sie sich doch nur beschweren. Ein Unglück scheint zumindest nicht geschehen zu sein. «Worum geht es denn? Jetzt gerade passt es nicht so gut.» Demnächst werden die ersten Gäste erscheinen, und ich bin im Café noch nicht ansatzweise fertig.

«Es ist …» Noch einmal sieht sie zu ihrem Freund, bevor sie weiterredet. «Es ist ein bisschen privat.»

Privat? Es geht um etwas Privates? Ich kenne die beiden nicht, was könnten sie also Privates mit mir besprechen wollen? Oder verstehe ich da etwas völlig falsch?

«Es tut mir leid, aber ich muss in einer halben Stunde aufmachen und noch einiges vorbereiten. Hat es irgendetwas mit dem Café zu tun? War etwas nicht in Ordnung?»

Sie schüttelt den Kopf, öffnet den Mund, schließt ihn wieder.

«Wäre vielleicht später Zeit?», fragt der junge Mann neben ihr. «Wir könnten noch einmal wiederkommen.»

Inzwischen hat sich die Anspannung der beiden auf mich übertragen, nervös lache ich auf. «Okay, so langsam macht ihr mich neugierig. Wie wäre es gegen halb eins? Da habe ich Pause.»

«Perfekt, danke. Sollen wir ins Café kommen, oder …?»

«Nein», unterbreche ich ihn. «Wartet einfach hier, ich komme raus. Bis später.»

Ich schließe die Tür. Während ich letzte Vorbereitungen treffe, denke ich über die beiden nach, bis Kendra kurz darauf erscheint.

«Hallo!», ruft sie. «Soll ich die Tür gleich offen lassen?»

«Ja, ich bin fertig.» Ich binde mir eine der schwarzen Schürzen um, die unter der Theke hängen. «Sag mal, war gestern irgendetwas Besonderes, das du mir noch nicht erzählt hast?»

«Was genau meinst du?» Kendra geht in die Küche, um sich die Hände zu waschen, und noch bevor sie wieder herauskommt, öffnet sich die Eingangstür, und ein Pärchen tritt herein.

«Ist schon offen?»

«Ja», erwidere ich, greife nach unseren Getränkekarten und verschiebe alles Weitere auf später.

Gerade als ich die Bestellung des Pärchens notiere, taucht auch Fiona auf. Sie und Kendra kommen normalerweise um kurz vor zehn, um den ersten Schwung an Gästen aufzufangen. Wir bieten kein klassisches Frühstück, aber natürlich gibt es neben unserem Kuchenangebot auch Toast mit Marmelade, Croissants und ein paar andere Kleinigkeiten. Im Allgemeinen entscheiden sich die meisten Besucher trotzdem für ein Stück Kuchen mit heißer Schokolade, doch wenn sich morgens innerhalb von zwanzig Minuten nahezu zwei Drittel des Cafés auf einmal füllen, sind die Bestellungen allein in keiner akzeptablen Zeit zu bewältigen. In letzter Zeit habe ich häufiger über eine zusätzliche Aushilfe nachgedacht – mitunter werden die Wartezeiten für unsere Gäste trotz aller Anstrengung zu lang.

«Was hast du vorhin gemeint, als du gefragt hast, ob gestern irgendetwas Besonderes passiert sei?», will Kendra wissen, als es etwas ruhiger geworden ist.

«Heute Morgen stand ein Mädchen vor der Tür und wollte mit mir sprechen. Über etwas Privates.» Ich belade Kendras Tablett mit den dampfenden Tassen, die ich vorbereitet habe. «Erst dachte ich, es ginge um eine Beschwerde, aber irgendwie war es … seltsam.»

«Ein Mädchen? Entschuldige, das habe ich völlig vergessen – jemand hat nach dir gefragt. Es war aber ein junger Typ, kein Mädchen. Sah gut aus.»

«Sie hatte einen Freund dabei. Victoria hieß sie.»

«Dann müssen das doch die beiden gewesen sein, die gestern hier waren. Ich habe ihm gesagt, dass du heute ab zehn da bist.»

«Hat er gesagt, worum es geht?»

«Nein, er hat nur gefragt, ob du hier arbeitest und ob er mit dir sprechen könnte.»

«Komisch.»

«Was wollten sie denn?»

«Das weiß ich eben noch nicht. Wir treffen uns in meiner Pause.»

«Okay.» Vorsichtig balanciert Kendra das Tablett aus. «Klingt spannend.»

«Was klingt spannend?» Fiona tritt aus der Küche, in den Händen zwei Teller mit Toast und Schokoladencroissants. Sie trägt ihre feinen, blonden Haare mit einem Tuch aus dem Gesicht gebunden und wirkt wie immer so zierlich und fast schon ätherisch, dass man ihr am liebsten sofort alles abnehmen möchte. An Victoria und ihren Freund kann sie sich nicht erinnern.

«Vielleicht haben sie dein Auto zerkratzt», sagt sie.

«Erstens steht das in der Tiefgarage, und zweitens hätten sie daraus bestimmt nicht so ein Geheimnis gemacht.»

«Dann weiß ich auch nicht. Ich muss wieder rein, ich habe Hafermilch auf dem Herd stehen.» Sie verschwindet zurück in die Küche.

Um kurz vor halb eins verlasse ich das Café und habe noch immer keine Idee, worum es gleich gehen wird – mir ist nicht eine einzige Sache eingefallen, die zu der Ankündigung passen könnte, mit mir etwas Privates besprechen zu müssen – wie kann man mit jemandem etwas Privates besprechen, den man gar nicht kennt?

Als ich sie und ihren Freund am Ende der Straße auftauchen sehe, gehe ich ihnen einige Schritte entgegen. «Hallo! Jetzt bin ich gespannt.»

«Hi.» Das Mädchen namens Victoria wirkt genauso nervös wie heute Vormittag, und mittlerweile tut sie mir leid. Um was auch immer es geht – es scheint ihr furchtbar unangenehm zu sein.

«Laufen wir ein Stück?», schlage ich vor. Vielleicht fällt es ihr leichter, über was auch immer zu sprechen, wenn sie sich dabei bewegen kann. «Normalerweise mache ich in meiner Pause immer einen Spaziergang.»

Das ist nicht gelogen. Ich mache das oft, was sowohl Kendra als auch Fiona ausgesprochen verrückt finden. Doch es ist etwas anderes, ob ich zwischen den Tischen hin und her eile oder ziellos durch Edinburghs Straßen schlendere.

«Also?», frage ich. «Worum geht’s?»

Ich habe absichtlich nicht den Weg zur Royal Mile eingeschlagen, in der Hoffnung, Victoria werde es leichterfallen, einen Anfang zu finden, wenn es um sie herum weniger belebt ist.

«Okay, also es ist so», beginnt sie. «Ähm … vor einer Weile habe ich bei meinen Eltern nach Unterlagen gesucht und dabei herausgefunden, dass ich adoptiert wurde.»

Ich verberge meine Verwirrung hinter einem interessierten Gesichtsausdruck. Das ist wirklich etwas Privates – aber warum erzählt sie mir davon? Wie auch immer ich ihre Aussage drehe und wende, ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen.

«Ich glaube, dass du meine Mutter bist.»

Im ersten Moment laufe ich noch ein paar Schritte weiter, bevor das, was ich gerade gehört habe, wirklich zu mir durchdringt. «Was?» Verwirrt lache ich auf. «Soll das ein Scherz sein?»

Sie schüttelt nur wortlos den Kopf.

Sie hält mich für ihre Mutter? Um Gottes willen, wieso das denn? Wieso sollte ich die Mutter eines fast schon erwachsenen Mädchens sein? Was ist das denn für eine vollkommen verrückte Idee?

Ich starre sie an, während ein Teil in mir darauf wartet, dass alles sich gleich auflösen, dass sie lachen und abwinken wird, dass sie sagt, es sei doch ein Scherz gewesen, eine absurde Mutprobe. Ein anderer Teil in mir jedoch möchte sich auf der Stelle zusammenrollen und weinen. Sie kann es nicht wissen, wie sollte sie, aber ich wäre gern eine Mutter, auch wenn ich nicht die dieses Mädchens bin. Ich wäre so gern Mutter. Meine Beziehung zu Glen ist daran zerbrochen, dass ich keine Kinder bekommen kann.

«Ich bin mit Sicherheit nicht deine Mutter, tut mir leid. Wie kommst du denn darauf?»

«Dein Name. Er steht in den Gerichtsakten.»

«Mein Name?»

Mein Name steht in irgendwelchen Gerichtsakten? Oh Gott, es liegt so viel Hoffnung in ihrem Blick, aber …

«Das ist verrückt, wirklich. Hör zu – ich kann definitiv nicht deine Mutter sein. Ich sehe, dass du das wirklich glaubst, okay? Aber ich bin es nicht, tut mir leid. Ihr habt die Falsche erwischt.»

Mir ist übel. Wenn ich noch länger hierbleibe, kann ich für nichts mehr garantieren. Da steht dieses Mädchen, das hofft, ich sei seine leibliche Mutter, und da bin ich, die alles dafür geben würde, dürfte ich Mutter sein – doch es passt nicht. Passt einfach nicht.

Der junge Mann, der bisher nur schweigend danebenstand, räuspert sich. «Es wäre wirklich wichtig, die Wahrheit zu wissen. Um mehr geht es gar nicht. Nur um die Wahrheit. Dann fahren wir auch schon wieder.»

Die Wahrheit.

«Ja, sicher, das verstehe ich.»

Die Wahrheit ist grausam, für uns beide. Für Victoria und für mich.

«Das verstehe ich wirklich. Aber ich bin’s nicht. Ich bin nicht deine Mutter, es tut mir leid.» Ich trete einen Schritt zurück. «Ich meine, wie alt bist du? Neunzehn? Zwanzig?» Mein Kopf scheint zu zerspringen. Vor zwanzig Jahren lag ich in einer Klinik, und mein Leben war gerade in zwei Hälften zerbrochen. «Ich bin fünfunddreißig, denkt ihr nicht, ich wäre ein bisschen sehr jung schwanger geworden?»

Die Schultern des Mädchens sinken herab, die Hoffnung in ihrem Blick beginnt zu flackern.

«Es tut mir leid», wiederhole ich hilflos. «Aber ich bin nicht die, die ihr sucht.»

Ich drehe mich um und flüchte, werde mit jedem Schritt schneller. Verzweifelt bemühe ich mich, all die Gedanken, die mich zu überschwemmen drohen, zurückzuhalten, all die Gespräche mit Glen, die Tränen und die unzähligen Versuche, mich endlich damit abzufinden, dass ich nun mal kein Kind bekommen kann. Und dass Glen mich deshalb verlassen hat. Glen, der mir sagte, er sähe sich als Vater und er könne nicht mit einer Frau zusammen sein, die ihm dieses Glück niemals schenken werde.

Halb blind wische ich mir die Tränen aus den Augen, stoße fast mit einer Frau zusammen.

«Hey, passen Sie doch auf!», herrscht sie mich an.

Und ich kann ihn ja verstehen, natürlich kann ich das! Wer, wenn nicht ich? Ich wünschte nur, wir hätten vielleicht zusammen über andere Möglichkeiten nachdenken können, über ein Pflegekind, eine Adoption … Aber das kam für Glen nicht infrage. Eigene Kinder. Seine Kinder.

Am Café laufe ich vorbei. In diesem Zustand werde ich mich ganz sicher nicht den Gästen präsentieren. Stattdessen schließe ich die Haustür einige Schritte weiter auf und krame noch im Treppenhaus nach meinem Telefon.

«Kendra?»

«Hallo … Em? Was ist denn los? Alles in Ordnung mit dir?»

«Nein, hör zu – wäre es okay für dich, wenn du allein weitermachst? Vielleicht könnte Fiona ja noch etwas bleiben und dir helfen.»

Ich wäre ohnehin früher gegangen, meine Mutter will heute noch vorbeikommen, doch ich hatte nicht vor, direkt nach der Mittagspause schon zu verschwinden.

«Ja, klar, kein Problem. Aber was ist denn passiert? Geht’s dir gut?»

«Ja, es geht mir gut. Oder nein, eigentlich nicht wirklich – ich erzähle dir alles später, okay? Kann ich dich heute Abend anrufen?»

«Okay.» Kendra zögert. «Kann ich irgendetwas für dich tun?»

«Mir verzeihen, dass ich euch so Knall auf Fall mit allem alleinlasse.» Ich erreiche die Tür zu meiner Wohnung. «Das tut mir wirklich leid.»

«Ach was, schon in Ordnung. Aber ruf mich nachher wirklich an, ja? Sonst mache ich mir Sorgen. Also – noch mehr als ohnehin schon.»

«Musst du nicht, wirklich. Ich bin nur etwas durch den Wind.»

Augenblicke später lehne ich mich in meiner Wohnung von innen gegen die Tür und lege das Telefon auf die Kommode in der Diele. Okay. Erst mal runterkommen. So aufgelöst war ich das letzte Mal, als ich mit Kendra und Fiona unmittelbar nach Glens Auszug gesprochen habe.

Ich streife mir die Schuhe von den Füßen und trotte ins Wohnzimmer. Das Sofa sieht einladend aus. Aufseufzend lasse ich mich darauffallen und ziehe mir ein Kissen unter die Wange.

Ich glaube, dass du meine Mutter bist.

Mittlerweile tut es mir leid, dass ich die beiden einfach auf der Straße zurückgelassen habe. Dieses Mädchen … Sie hat sich offensichtlich so sehr gewünscht, in mir ihre leibliche Mutter gefunden zu haben. Noch einmal sehe ich vor mir, wie sie in sich zusammenzufallen schien und der Hoffnungsschimmer in ihren Augen erlosch. Vermutlich habe ich ähnlich ausgesehen, als Glen mir erklärte, ein fremdes Kind könne er sich nicht vorstellen. Hätte ich nicht genau daran denken müssen, wäre ich mit Sicherheit etwas mitfühlender gewesen, verdammt. Ganz davon abgesehen, würde es mich nicht wundern, wenn meine überstürzte Flucht bei ihr am Ende nicht noch Zweifel an meiner Aussage hervorgerufen hat – warum sollte eine ganz normale Frau auf eine solche Eröffnung hin wegrennen, als sei plötzlich der Teufel hinter ihr her?

Nur bin ich leider seit diesem Tag vor zwanzig Jahren keine ganz normale Frau mehr. Seit diesem Tag, der mir so viel genommen hat, sowohl von meiner Vergangenheit als auch von meiner Zukunft.

Ich schließe die Augen. Noch immer sehe ich das Gesicht des Mädchens vor mir, wie hieß sie noch gleich? Victoria Buchanan. Mit ein bisschen guten Willen könnte man sich sogar einbilden, sie und ich sähen uns ähnlich. Kein Wunder, dass sie dachte, sie sei am Ziel. Was hätte sie ihrer leiblichen Mutter wohl zu sagen?

Ich werde es niemals erfahren.

Könnte ich mich doch auch auf die Suche begeben – könnte ich doch nach einem Kind suchen, das einfach irgendwann in meinem Leben verloren ging. Ich wüsste ganz genau, was ich sagen würde, dürfte ich es in meine Arme schließen.

Kapitel 7Emmeline

Heute

Das Summen meines Telefons lässt mich aus einem Traum hochschrecken, der mich nicht loslässt, während ich ein wenig schwankend in die Diele stolpere. Da war ein Kind, hinter dem ich herlief, doch ich konnte es nicht einholen. Meine Träume sind wirklich alles andere als subtil.

«Hallo, Kendra.»