Saving Grace – Flammen der Liebe - Rebekka Wedekind - E-Book

Saving Grace – Flammen der Liebe E-Book

Rebekka Wedekind

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Beschreibung

Die brennende Liebe von Grace und Lex zwischen Geheimnissen und Hoffnung. Nach "Keeping Faith" der neue fesselnde New-Adult-Roman von Rebekka Wedekind. Vergessen, was in Chicago geschehen ist. Das ist alles, was Grace sich wünscht, als sie nach einem folgenschweren Fehler im Krankenhaus in ihre Heimatstadt Tipton zurückkehrt. Dort trifft sie während der jährlichen Charity-Show der Feuerwehr auf Lex. Ausgerechnet auf den Mann, der ihr vor Jahren ein Prom-Date versprochen hat – und dann nicht auftauchte. Dennoch flammen die alten Gefühle für ihn sofort wieder auf, und dieses Mal scheint er es tatsächlich ernst zu meinen. Mit ihm an ihrer Seite fühlt sie sich verstanden und glaubt, die Vergangenheit hinter sich lassen zu können. Doch was Grace nicht ahnt: Lex führt ein Leben im Schatten seiner eigenen Dämonen. Und die sind größer und mächtiger als alles, was sie sich vorstellen kann …

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Rebekka Wedekind

Saving Grace – Flammen der Liebe

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Die brennende Liebe von Grace und Lex zwischen Geheimnissen und Hoffnung. Nach »Keeping Faith« der neue fesselnde New-Adult-Roman von Rebekka Wedekind.

Vergessen, was in Chicago geschehen ist. Das ist alles, was Grace sich wünscht, als sie nach einem folgenschweren Fehler im Krankenhaus in ihre Heimatstadt Tipton zurückkehrt. Dort trifft sie während der jährlichen Charity-Show der Feuerwehr auf Lex. Ausgerechnet auf den Mann, der ihr vor Jahren ein Prom-Date versprochen hat – und dann nicht auftauchte. Dennoch flammen die alten Gefühle für ihn sofort wieder auf, und dieses Mal scheint er es tatsächlich ernst zu meinen. Mit ihm an ihrer Seite fühlt sie sich verstanden und glaubt, die Vergangenheit hinter sich lassen zu können. Doch was Grace nicht ahnt: Lex führt ein Leben im Schatten seiner eigenen Dämonen. Und die sind größer und mächtiger als alles, was sie sich vorstellen kann …

Inhaltsübersicht

Playlist1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. KapitelEpilogDanksagung
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Für GG-Dad

 

Damit du nicht aufhörst, an Happy Ends zu glauben!

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»The greatest challenge in life is discovering who you are. The second greatest is being happy with what you find.«

[Auliq Ice]

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Playlist

Grace – Lewis Capaldi

Too Emotional – Walking On Cars

Midnight – Tyler Glenn

Angel On The Moon – Thriving Ivory

Falling Like The Stars – James Arthur

Best Part Of Me – Ed Sheeran feat. Yebba

An Guten Tagen – Johannes Oerding

Running Away – Midnight Hour

Stay In The Dark – The Band Perry

Heavy – Delta Goodrem

State Of Grace – Taylor Swift

Wherever You Are – Kodaline

We Don’t Have To Dance – Andy Black

Rome – Dermot Kennedy

Someone To You – BANNERS

Excuses – Olly Murs

Falling – Harry Styles

Love Is Fire – Freya Ridings

Gracie’s Theme – Paul Cardall

Sink – Noah Kahan

Better Half Of Me – Tom Walker

Puzzle Pieces – Framing Hanley

Shape Of My Heart – Backstreet Boys

Dear Patience – Niall Horan

Get Up – Shinedown

Mercy Mirrow – Within Temptation

Maybe – James Arthur

Hold On – Chord Overstreet

How Do You Feel? – The Maine

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1

Stripper?« Vorwurfsvoll drehte ich mich zu Abby um. Das war nicht Teil des Plans gewesen, als sie mich vor knapp zwanzig Minuten aus dem Haus gelockt hatte.

»Stell dich nicht so an.« Sie wackelte anzüglich mit den Augenbrauen. »Das wird lustig.«

Ich hatte keine Chance. Mit erstaunlich viel Kraft für eine derart kleine Person zog sie mich in die älteste Bar Tiptons. Es war dunkel, stickig und überraschend voll für einen Sonntagabend. Was einzig und allein an den Strippern auf der provisorisch errichteten Bühne liegen konnte.

»Ernsthaft, Abby. Was ist das?« Die Musik war so laut, dass ich beinahe schreien musste.

Mein Blick war nach vorne auf die halb nackten Männer gerichtet. Fünf insgesamt, und mit Ausnahme des Kerls ganz links konnte keiner davon sich rhythmisch bewegen. Es wirkte ziemlich holprig und ungelenk, was sie dort fabrizierten, obwohl jeder von ihnen verdammt gut aussah. Die Muskeln ihrer Arme und Oberkörper waren definiert und trainiert und … glänzten. Ich kniff die Augen zusammen. War ihre Haut etwa mit Öl eingerieben?

»Das, meine liebe Gracie …«, Abby breitete theatralisch ihre Hände nach beiden Seiten aus, »… das ist die alljährliche Spendenaktion unserer Feuerwehrmänner.« Sie grinste über das ganze Gesicht, was einen leisen Verdacht in mir erweckte.

»Du wusstest, dass sie heute hier auftreten würden.« Meine Worte waren keine Frage.

»Natürlich.« Sie grinste noch mehr, sofern das überhaupt möglich war. »Gern geschehen«, sagte sie, zwinkerte mir zu und drehte sich von mir weg, sodass sie wieder zu der Truppe auf der Bühne blicken konnte.

»Ist er nicht toll?«, seufzte sie und legte ihren Kopf verträumt an meine Schulter.

»Wer?«

»Ach, Grace.« Ich spürte, wie sie ihren Kopf hin- und herbewegte. »Aidan natürlich. Nur weil das mit Ben schiefging, musst du jetzt nicht jeden Mann ignorieren oder so tun, als ...« Abby richtete sich wieder auf und sah mich von der Seite an.

Ich ließ sie nicht zu Ende sprechen. »Ben war … Er war eine Lektion.«

»Eine Lektion?« Sie runzelte ihre Stirn.

»Keine Affären mehr!«, antwortete ich bestimmt. »Und auch keine One-Night-Stands.«

»Das ist doch ...«, setzte Abby an. Der Blick auf ihrem Gesicht war eindeutig. Sie hielt meine Reaktion für vollkommen übertrieben.

»Nein«, unterbrach ich sie erneut und schüttelte den Kopf. »Davon bin ich für alle Zeiten geheilt.«

Mich auf Ben einzulassen, war keine gute Idee gewesen. Ehrlich gesagt war es vielmehr verflucht beschissen gewesen. Ich hatte auf die harte Tour gelernt, dass es sinnlos war zu versuchen, einen Mann mit Sex an mich binden zu wollen. Ben war kein schlechter Kerl, hatte immer mit offenen Karten gespielt und mir nie falsche Hoffnungen gemacht. Und trotzdem hatte ich mich in ihn verliebt und wochenlang darauf gewartet, dass er seine Gefühle für mich ebenfalls entdecken würde. Was nie passiert war. Stattdessen hatte er sich in seine Nachbarin verliebt, und ich hatte …

Nein. Ich wollte nicht über das nachdenken, was ich in Chicago angerichtet hatte. Nicht heute Abend. Wir waren hier, um Spaß zu haben. Oder um darauf anzustoßen, dass ich ab morgen einen neuen Job hatte. Keinen, auf den ich sonderlich stolz war und der so auch nie in meinen Plänen vorgekommen war. Aber ich hatte die Bitten meiner Mom nicht länger ignorieren können.

Das Vorstellungsgespräch hatte genau zehn Minuten gedauert. Dann war der alte Doctor Webber davon überzeugt gewesen, dass ich zwar überqualifiziert, aber definitiv perfekt für den Job war. Morgen früh um acht Uhr erwartete er mich in seiner Praxis.

»Okay.« Abby stieß mich in die Seite und riss mich damit aus meinen Gedanken. »Keine One-Night-Stands und Affären mehr. Aber deshalb kannst du es doch trotzdem genießen, wenn ein attraktiver Mann halb nackt vor dir steht. Oder in unserem Fall … sogar fünf.« Während sie mit mir sprach, klebte ihr Blick weiterhin fest an den in der Tat nur spärlich bekleideten Männern auf der kleinen Bühne.

Alle fünf waren gut gebaut, hatten gebräunte Haut, und kein Haar zierte ihre makellosen Oberkörper. Als Feuerwehrmann musste man sicher fit sein, aber die Männer auf der Bühne sahen alle so aus, als kämen sie gerade von einem Kalendershooting.

Mittlerweile hatte das Lied gewechselt, und Pony von Ginuwine ertönte aus den Boxen.

Als ein großer blonder Typ, dessen linker Arm komplett mit bunten Tattoos verziert war, sich eine Flasche Wasser reichen ließ, um sich den Inhalt aufreizend über die Brust zu schütten, gab es für die Zuschauerinnen kein Halten mehr. Sie pfiffen und kreischten. Fast hätte ich laut gelacht, doch der Typ mit der Wasserflasche schien die Aufmerksamkeit sichtlich zu genießen. Sein Grinsen war breit und ansteckend.

Es kostete mich einiges an Mühe, mich wieder Abby zuzuwenden. »Auf wen stehst du?«

»Was?«

»Welcher der fünf ist das Objekt deiner Begierde?« Ich konnte nicht anders, nun lachte ich tatsächlich.

Es war so einfach mit Abby. Als hätte ich nicht die letzten neun Jahre im knapp zweihundert Meilen entfernten Chicago verbracht, während es sie nur ans Community College in Davenport verschlagen hatte. Wann immer wir uns sahen, war es wie früher: vertraut und entspannt und unkompliziert. Und ich wusste, dass es einen Grund gab, warum wir heute ausgerechnet in Sheridan’s Bar gelandet waren. Ich war mir nur nicht ganz sicher, welcher der fünf es war.

»Ganz links«, entgegnete sie. »Aidan Donovan.«

Derjenige mit Rhythmusgefühl und der Wasserflasche also. Ich nickte und betrachtete ihn näher. Er war genau Abbys Typ.

»Heiß«, kommentierte ich. Sie war so leicht zu durchschauen.

»Ich weiß.« Ein leiser Seufzer entwich ihr, der mir eindeutig verriet, dass es einen Haken an der Sache gab.

»Was ist das Problem?« Mit dieser Frage erkämpfte ich mir Abbys volle Aufmerksamkeit.

»Dafür brauche ich einen Drink«, murmelte sie und deutete mit dem Daumen in Richtung der Theke, hinter der Sheridan persönlich stand. Es sah immer noch alles genauso aus wie vor zehn Jahren, als wir uns damals in die Bar geschlichen hatten. Wohl wissend, dass Sheridan uns in wenigen Minuten wieder hinauswerfen würde. Seine Haare waren lang, seine Arme von oben bis unten tätowiert, und eigentlich hätte man meinen können, dass er die Gesetze nicht sonderlich ernst nahm. Doch das Gegenteil war der Fall. Wer unter einundzwanzig war, hatte keine Chance, in Sheridan’s Bar an Alkohol zu kommen. Wir hatten es oft genug versucht.

»Ladys.« Er nickte uns zu, während er ein Glas polierte. »Was kann ich euch bringen?«

»Gin Tonic?«, fragte Abby.

Ich nickte zustimmend.

»Zwei Gin Tonic. Kommt sofort.« Sheridan machte sich an die Arbeit, und während wir auf unsere Getränke warteten, erzählte sie.

»Aidan hat eine Freundin. Da ist sie.« Abby zeigte nach vorne auf eine Blondine mit langem, perfekt gestyltem Haar. Sie stand direkt vor der Bühne, trug einen furchtbar kurzen Rock und klatschte am heftigsten in die Hände.

»Scheiße.«

»Jup.« Ihr Blick huschte zurück zu Aiden auf der Bühne. »Also bleibt mir nur, aus der Ferne zu schmachten. Wie ein Teenie.« Sie verdrehte die Augen und zuckte mit einer Schulter. »Na ja. Pech in der Liebe, Glück im Spiel. Vielleicht sollte ich mir einen Lottoschein kaufen.«

»Oder einfach einen der anderen ansprechen?« Mein Blick folgte ihrem. »Sie sind alle nicht übel.«

Vor allem den neben Abbys Aidan fand ich interessant. Er war dunkelhaarig und überragte seinen Kollegen in der Größe noch um ein paar Zentimeter. Der Kerl hatte absolut kein Taktgefühl, was ihm durchaus bewusst zu sein schien. Er blieb immer ein wenig hinter den anderen, wodurch sein Gesicht nicht zu sehen war. Es wirkte fast so, als würde er sich verstecken. Dabei hatte er das definitiv nicht nötig. Nicht mit diesen Oberarmen, der durchtrainierten Brust und seinem Sixpack, das in ein V an seinen Lenden überging. Er war die perfekte Kombination aus attraktiv und sexy – und damit verdammt gefährlich.

»Nein.« Abbys Antwort kam prompt und ließ keinerlei Raum für Diskussionen. Aus dem Nichts tauchten zwei Gläser neben uns auf. Gierig griff sie danach und nahm einen ersten Schluck. »Ich werde warten«, sagte sie entschieden. »Demnächst wird er mit ihr Schluss machen. Das tut er immer. Spätestens nach vier Wochen. Und dann werde ich …« Sie hielt inne und stocherte in ihrem Glas herum.

»Da sein?«, half ich ihr auf die Sprünge.

»Ihn ansprechen.« Sie nickte einmal fest. »Genau das werde ich tun. Ich werde ihn ansprechen und verzaubern, und dann werden wir ganz viele Mini-Aidans und Mini-Abbys machen und …«

»Okay, ganz langsam.« Ich legte meine Hand auf ihren Unterarm. »Wo kommt das auf einmal her?«

»Frust.« Sie trank einen großen Schluck. »Es war eine blöde Idee, hierherzukommen. Gehen wir woandershin?«

»Wir haben gerade erst Drinks bestellt.« Die wir noch nicht bezahlt hatten. Suchend drehte ich mich nach Sheridan um. Er war mit einem neuen Gast in ein Gespräch vertieft, und es sah nicht so aus, als würde sich das so bald ändern.

Als ich mich wieder Abby zuwandte, hatte sie das halbe Glas geleert. Wenn sie in diesem Tempo weitermachte, würde ich sie in einer Stunde nach Hause tragen müssen.

Ihre Augen waren nach wie vor auf Aidan gerichtet. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Er war ein wunderschöner Mann, groß, blond, trainiert, markante Gesichtszüge. Und trotzdem war da nichts an ihm, was ihn für mich irgendwie besonders gemacht hätte. Ganz im Gegensatz zu dem Mann neben ihm. Der war zwar immer noch ein furchtbar schlechter Tänzer, aber es sah niedlich aus, wie er versuchte, es seinen Kollegen gleichzutun, den Blick fest auf den Boden gerichtet. Als hätten sie eine Choreografie einstudiert, die er nie vollständig gelernt hatte. Und trotzdem schien er Spaß zu haben. Immer wieder spielte er mit dem Publikum, das hauptsächlich aus Frauen bestand. Abby war offenbar nicht die Einzige, die aus der Ferne schmachtete. Es ärgerte mich, dass ich sein Gesicht nicht sehen konnte. Wann immer er den Blick hob, fiel ein Schatten auf seine Stirn und Wangen und machte es mir unmöglich, mehr zu erkennen.

Abbys Glas war leer, als Sheridan wieder zu uns kam.

»Noch einen, bitte.«

Okay. Anscheinend hatte sie nicht mehr vor, zu gehen.

Sheridan nahm ihr Glas entgegen und reichte ihr im Gegenzug zwei kleine Papierfetzen.

»Was ist das?«, fragte sie irritiert und sah zwischen dem Barbesitzer und den gefalteten Papierstückchen hin und her.

»Eure Lose.«

»Wofür?«

»Keine Ahnung. Die Jungs haben mich gebeten, jedem Gast eins davon in die Hand zu drücken.«

»Okay.« Ich sah, wie Abby die Augen misstrauisch zusammenkniff. »Das ist neu. Hier.« Sie reichte mir eins davon. Es war ein schwieriges Unterfangen, das Stück Papier nur mit einer Hand zu öffnen. Aber nach ein paar Augenblicken gelang es mir. Es stand eine einzige Zahl darauf.

»25«, hörte ich Abby neben mir sagen. »Du?«

»72.«

»Wann wird ausgelost?«

Sheridan kam nicht mehr dazu, Abbys Frage zu beantworten. Mit einem Mal erstarb die Musik, und tosender Applaus erklang. Offenbar war die Show zu Ende.

Automatisch blickte ich von meinem Zettel auf und wieder zur Bühne. Vier der fünf räumten die Stühle beiseite, die sie für ihren soeben beendeten Tanz benötigt hatten. Der fünfte Stuhl blieb, wo er war. Ich sah, wie Aidan sich ein Mikrofon reichen ließ und mit dem Finger zweimal darauf klopfte.

»Okay, funktioniert das?«, klang seine Stimme im nächsten Moment durch die Bar. Sie war tief und kräftig und warm. Abby hing gespannt an seinen Lippen.

»Prima.« Er grinste charmant in die Menge, und ich war mir sicher, dass er an diesem Abend nicht nur Abby das Herz stahl. »Kommen wir zu unserem heutigen Highlight.«

»Ziehst du dich ganz aus?«, hörte ich einen Zwischenruf, gefolgt von lautem Kichern. Abby war definitiv nicht die Einzige, die auf ihn stand.

»Leider nicht.« Aidan schüttelte bedauernd den Kopf. »Ich habe es den Jungs vorgeschlagen, aber sie wollten es mir nicht erlauben. Sie hatten Angst, den Kürzeren zu ziehen.«

Das Gejohle und Gelächter, das Aidan daraufhin erhielt, glich einem donnernden Gewitter.

»Ich weiß, ich weiß.« Er machte eine einladende Handbewegung an seinem Körper nach unten. »Aber seien wir ehrlich … Ihre Befürchtungen sind berechtigt.«

»Ist er immer so arrogant?« Ich beugte mich zu Abby.

»Das ist nur Show«, erwiderte sie. »Er will Kohle machen. Je mehr, desto besser.«

»Es ist trotzdem etwas befremdlich.« Er reduzierte seinen Wert einzig und allein auf seinen Körper. Ich konnte nur hoffen, dass Abby recht hatte und er das tatsächlich nur der wohltätigen Sache zuliebe tat. »Wofür sammeln sie überhaupt?«

»Für die Kinderstation des Krankenhauses in Davenport.«

»… die Nummer 25.«

»Oh.« Das war wirklich großartig von ihnen. Krankenhäuser konnten Spenden immer gut gebrauchen. Besonders welche für Kinder. Beeindruckt sah ich zurück zur Bühne. Aidan blickte sich suchend in Sheridan’s Bar um.

»Wo bist du?«, fragte er und forderte die Besucher auf, noch einmal ihre Zettel anzusehen. »Oder hast du noch gar nicht alle verteilt, Sheridan?«

Mein Blick folgte Aidans zu dem Mann hinter der Theke.

»Doch«, rief Sheridan ihm zu und hielt eine leere Plastikbox in die Höhe. »Alle weg.«

»Okay. Dann sollte sich die glückliche Gewinnerin ja noch unter uns befinden. Oder der glückliche Gewinner. Aber ich hoffe wirklich, dass eine von euch Ladys gewonnen hat.« Er zwinkerte irgendeiner Frau in der Menge zu. »Das würde die Sache um einiges angenehmer machen. Nichts für ungut, Jungs.«

Wieder ging ein Lachen durch die Barbesucher. Es schien völlig egal, was Aidan von sich gab. Die Frauen flogen auf ihn.

»Welches Los hat denn gewonnen?«, fragte ich Abby.

Doch es war nicht meine Freundin, die mir die Antwort gab, sondern Aidan höchstpersönlich.

»Wir brauchen die Nummer 25.«

Meine Augen wurden groß. »Hast nicht du die 25 bekommen?«

Abby starrte auf den Zettel in ihrer Hand, als sie mir antwortete. »Hab ich.« Sie rührte sich nicht von der Stelle.

»Super. Dann los. Meld dich.« Ich legte meine Hand an ihre Schulter und hätte sie grinsend angesehen, wenn ihr Blick nicht nach wie vor auf ihrem Zettel gehaftet hätte.

»Abby?«

»Ich hab gewonnen«, hörte ich sie ungläubig raunen. »Ich gewinne nie etwas.«

Im nächsten Moment kam Leben in sie. Sie riss ihre Hand nach oben, winkte und rief laut »Hier!«.

»Ah. Da ist sie ja. Wir haben eine Gewinnerin. Komm nach vorn zu uns. Applaus, bitte.«

»Gib mir deinen Drink.« Ich nahm ihr das Glas ab, ehe ich sie in Aidans Richtung scheuchte. »Und jetzt los. Hol dir deinen Gewinn ab.« Worum auch immer es sich dabei handeln würde. Aidan hatte kein Wort darüber verloren, wasgenau Abby denn nun gewonnen hatte.

»Okay.« Sie fuhr sich mit den Händen durch die langen Haare, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie nervös war. An ihrer Stelle wäre es mir wohl genauso ergangen, immerhin würde sie in wenigen Sekunden dem Mann gegenüberstehen, auf den sie abfuhr und bei dem sie sich zumindest im Moment keinerlei Chancen ausrechnete.

Ich sah ihr nach, wie sie sich einen Weg zur Bühne erkämpfte. Aidan war immer noch alleine dort. Die anderen vier hatten sich an den Rand verzogen und mittlerweile wieder ihre Klamotten übergestreift. Einzig Aidan stand nach wie vor nur mit seiner Uniformhose bekleidet da.

»Hey.« Obwohl ich einige Meter von ihnen entfernt war, erkannte ich, wie er sie angrinste, während er ihr seine Hand entgegenhielt und ihr auf die Bühne half. »Wie heißt du?«

»Abby.«

»Herzlichen Glückwunsch noch einmal, Abby.« Er nickte auf den freien Stuhl vor sich. »Nimm doch bitte Platz.«

Ich hörte ihr »Okay« nicht, sah lediglich ihre Lippenbewegungen und wie sie Aidans Aufforderung nachkam. Abby saß kaum, als das Licht auf der Bühne ausging und die gesamte Bar für einen kurzen Augenblick in Dunkelheit gehüllt wurde.

Nachdem das Licht wieder angeschaltet worden war, trug Aidan einen Hut und eine Krawatte, und neue Musik ertönte. Ich kannte das Lied nicht, doch das war auch nicht wichtig. Als ich realisierte, was genau Abby gewonnen hatte, schnappte ich kurz nach Luft.

Aidan gab ihr einen verdammten Lapdance.

»Wahnsinn«, platzte es aus mir heraus, und ich konnte mich zwischen einem Kopfschütteln und einem belustigten Lachen nicht entscheiden. Also tat ich beides, ehe ich mich nach einem freien Hocker vor der Bar umsah. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ein Lapdance dauern würde, aber ich wollte keine Sekunde davon verpassen. Abbys Anblick war Gold wert. Sie strahlte, als wären Weihnachten, ihr Geburtstag und Thanksgiving gleichzeitig auf einen Tag gefallen.

Aidan hatte dem Publikum den Rücken zugedreht, platzierte Abbys Hände auf seinen Hüften und bewegte sich lasziv im Takt der Musik. Selbst aus zehn Metern Entfernung konnte ich sehen, wie Abby rot wurde, was sie ihre Hände jedoch nicht zurückziehen ließ. Geschickt nahm Aidan sich die Krawatte ab, legte sie um Abbys Hals und zog ihren Kopf zu sich heran. Fast sah es wie ein echter Kuss aus. Ich war kein eifersüchtiger Typ, aber anstelle seiner Freundin wäre das der Moment gewesen, ihn von der Bühne zu zerren. Er hatte zu viel Spaß bei dem, was er da tat. Genauso wie Abby, die ihn mit riesengroßen Augen anhimmelte, als hätte sie noch nie einen schöneren Kerl gesehen.

Am linken Ende des Tresens entdeckte ich einen einsamen Hocker und steuerte zielstrebig darauf zu. Im Gehen warf ich immer wieder einen Blick in Abbys Richtung, sah, wie sie lachte und von Aidan nach allen Regeln der Kunst bezirzt wurde. Im nächsten Augenblick stieß ich gegen ein Hindernis und verschüttete die Drinks in meiner Hand.

»Scheiße«, entwich es mir, und mein Blick schnellte nach oben. »Das war keine …« Der Rest meines Satzes blieb mir im Hals stecken, als mir bewusst wurde, wen ich soeben angerempelt hatte.

Ich kannte den Mann neben mir. Ich hatte ihn seit fast neun Jahren nicht mehr gesehen, aber ich wusste, wer er war.

Lex Wilson.

Feuerwehrmann, ein Freund meiner Schwester und die Liebe meines Lebens. Zumindest hatte ich das als Zehnjährige geglaubt, nachdem Claire sich mit ihm angefreundet und ihn das erste Mal mit zu uns nach Hause gebracht hatte. Ich hatte ihn immer aus der Ferne beobachtet, aber mehr als Claires kleine Schwester war ich nie für ihn gewesen. Und seit es mich nach Chicago verschlagen hatte, war ich ihm überhaupt nicht mehr begegnet.

Bis jetzt.

Unfähig, etwas zu sagen, starrte ich auf den nassen Fleck auf seinem T-Shirt und das Glas in seiner Hand, nach dem er gegriffen hatte. Es war nur noch halbvoll. Offenbar hatte ich nicht nur Abbys und mein Getränk verschüttet.

Ehe ich zu einer Entschuldigung ansetzen konnte, schüttelte Lex den Kopf und rieb mit seiner nassen Hand über die Seite seines Shirts.

»Schon gut, kein Ding. Kann passieren.«

Ich hatte Mühe, zu ihm aufzusehen. Lex war so viel größer, als ich ihn in Erinnerung hatte. Er überragte mich mindestens um einen Kopf, und seine Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem Stoff des ruinierten Shirts ab. Aus dem schlaksigen Jungen, in den ich damals hoffnungslos verknallt gewesen war, war ganz offensichtlich ein Mann geworden. Ein Mann, der unwiderstehlich nach einer Mischung aus Aftershave und … Babyöl roch?

Ich stand ihm immer noch sprachlos gegenüber und versuchte zu verstehen, dass ich vor ein paar Minuten nicht irgendeinem Fremden beim Strippen zugesehen hatte.

Sondern Lex.

Als mir klar wurde, wie dämlich ich aussehen musste, blickte ich mich Hilfe suchend nach Sheridan um. Wir brauchten ein Tuch. Ich war mir zwar sicher, dass das auch nicht mehr viel retten konnte, aber es war besser, als untätig herumzustehen.

»Entschuldigung?« Ich versuchte, Sheridan auf uns aufmerksam zu machen.

Ohne Erfolg.

Verdammt.

»Uhm … Hallo?« Dieses Mal schnippte ich sogar, doch das Geräusch ging in der Musik und den lärmenden Leuten unter.

Ich war kurz davor, schnell selbst hinter die Theke zu huschen und nach einer Küchenrolle oder Ähnlichem zu suchen, als ich eine Hand auf meinem Arm spürte.

»Hey.« Lex lächelte mich aus warmen, blauen Augen an. Seine Finger ruhten auf meinem Arm.

Mit einem Mal war meine Kehle staubtrocken. Mein Puls raste, meine Wangen glühten, und jedes einzelne Härchen auf meinen Armen gab mir zu verstehen, dass es wirklich, ehrlich und tatsächlich Lex Wilson war, der neben mir stand. Der Mann, in den ich jahrelang heimlich verliebt gewesen war.

»Es ist nichts passiert.«

Als nichts hätte ich sein durchnässtes Shirt nicht bezeichnet, doch seine Worte schafften es immerhin, mich in meinem Tun innehalten zu lassen. Die und seine Hand auf meiner Haut.

»Aber du … bist jetzt nass.« Ich hatte eindeutig meine Fähigkeit verloren, vernünftig zu sprechen. Und das war etwas, das nur Lex jemals geschafft hatte. In seiner Anwesenheit war es mir schon immer schwergefallen, vollständige Sätze zu formulieren, die gleichzeitig auch noch Sinn ergaben.

Als Reaktion auf meine Aussage erhielt ich ein belustigtes Lachen.

»Stimmt. Soll ich mich noch mal ausziehen?« Er zwinkerte mir zu und setzte dazu an, mit der Hand nach hinten zu greifen. Sofort schnellte meine eigene nach vorne, um ihn davon abzuhalten.

»Nein, das …« Gott, war das peinlich. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte.

»Na gut.«

Er ließ den Stoff wieder los und die Hand sinken. Wie von selbst lösten sich meine Finger von seinem Handgelenk. Was blieb, war das Kribbeln in meiner Handinnenfläche, mit der ich ihn eben noch berührt hatte.

»Dann schuldest du mir einen Drink.« Er lehnte sich mit den Unterarmen auf den Tresen und ließ seinen Blick ungeniert an mir auf und ab wandern, ehe er auf meinem Gesicht zur Ruhe kam.

»Einen neuen Drink«, murmelte ich und straffte die Schultern. Richtig. Das war das Mindeste, was ich tun konnte. »Was hast du denn getrunken?«

Ich hatte bereits wieder die Hand erhoben, um nach Sheridan zu winken, als Lex den Kopf schüttelte.

»Nein«, sagte er.

»Nein?« Hatte er nicht eben behauptet, dass ich für sein neues Getränk zuständig war?

»Du kannst mir keinen Drink ausgeben, wenn ich nicht weiß, wie du heißt.«

»Was?« Seine Worte ließen mich die Stirn runzeln.

»Ich bin Lex.« Er hielt mir seine Hand entgegen. Mein Blick fiel auf seine ausgestreckten Finger und verweilten viel zu lange dort. War das sein Ernst?

Als ich wieder in sein Gesicht sah, musterte er mich auffordernd. »Und du bist?«

»Grace.«

Irritiert ergriff ich seine Hand und schüttelte sie. Als Teenager hatte ich mir Hunderte Male ausgemalt, wie sich seine Haut wohl anfühlen würde. Nun wusste ich es. Sie war angenehm warm und rau und immer noch ein bisschen ölig.

»Grace«, wiederholte er und setzte erneut dieses Lächeln auf, das mich schon vor fünfzehn Jahren wahnsinnig gemacht hatte. Und dann zog er mir mit seinen nächsten Worten nicht den Boden, aber doch immerhin den Teppich unter den Füßen weg. »Schön, dich kennenzulernen.«

Was ich eben nur vermutet hatte, war nun Gewissheit: Lex Wilson hatte absolut keinen Schimmer, wer ich war. Ich schien keinerlei Eindruck bei ihm hinterlassen zu haben, wenn es so leicht war, mich zu vergessen. Und eigentlich sollte mich das nicht einmal überraschen. Streng genommen hatte er mir genau das schon vor neun Jahren klargemacht und mir damit das Herz gebrochen.

Ruckartig entzog ich ihm meine Hand, was ihn nicht einmal zu verwundern schien.

»Also, Grace, was verschlägt dich nach Tipton?« Lex musterte mich ein weiteres Mal mit einem intensiven Blick, den ich an meinem ganzen Körper spürte. »Nicht, dass ich mich nicht freue, dass du hier gelandet bist, aber …« Er ließ seinen Blick einmal durch die gesamte Bar schweifen. »Hier gibt es nichts, wofür es sich lohnen würde, herzukommen.«

Wow. Das waren harte Worte, die er benutzte, um unsere Heimatstadt zu beschreiben. Sicher war Tipton nicht mit Chicago oder irgendeiner anderen größeren Stadt Amerikas zu vergleichen. Aber es war auch nicht so ein Loch, wie er implizierte. Tipton war einfach eine typische, bunte, amerikanische Kleinstadt, wie es sie wie Sand am Meer gab.

Ich beschloss, seine Frage zu ignorieren und stattdessen auf den zweiten Teil seiner Aussage einzugehen.

»Du klingst nicht so, als würdest du gern hier wohnen.«

Seine Antwort war ein Schulterzucken. »Es ist okay. Aber Touristen kommen trotzdem eher weniger vorbei.«

»Wer sagt, dass ich Touristin bin?«

»Ich bin hier geboren und aufgewachsen.« Als beantwortete das meine Frage.

»Also kennst du die ganze Stadt?«

»Kann man so sagen.«

Er war völlig ahnungslos, wie falsch seine Aussage war. Ich war der Beweis dafür, dass er eben nicht mehr jeden Einwohner der Stadt kannte, auch wenn ich nur vorübergehend wieder in Tipton war. Solange, bis ich herausgefunden hatte, wie und wo mein Leben weitergehen sollte.

»Aber dich kenne ich nicht.« Er fuhr sich lässig durch die Haare. »Ich finde, wir sollten das ändern.«

Fragend hob ich eine Augenbraue.

»Was hältst du davon, wenn ich mir jetzt selbst ein Bier kaufe und wir unsere Drinks demnächst in Ruhe nachholen?«

Bevor ich ihm antworten konnte, wurde es laut in Sheridan’s Bar. Die letzten Töne des Liedes, zu dem Aidan für Abby getanzt hatte, waren verstummt, der Applaus begann zu tosen. Als ich zurück zur Bühne blickte, sah ich meine Freundin von ihrem Stuhl aufstehen. Aidan begleitete sie an den Bühnenrand, und unter lautem Klatschen half er ihr nach unten. Abby strahlte über das ganze Gesicht, während sie auf Lex und mich zukam. Was auch immer die restlichen Stunden des Tages für sie bringen würden, ihr Abend hatte sich definitiv gelohnt.

Auf der Bühne ergriff Aidan noch einmal das Mikrofon und erklärte die Aktion offiziell für beendet.

»Was aber nicht heißt, dass ihr schon nach Hause gehen sollt. Trinkt, meine Freunde. Trinkt und habt Spaß. Wir sind nie mehr so jung wie heute Abend. Slainté.«

Mit diesen Worten verabschiedete er sich von der Bühne und wurde von einer ganzen Traube an Menschen in Empfang genommen. Auch Abby war von einigen Bekannten abgefangen worden. Ihren entschuldigenden Blick winkte ich mit einem Lächeln ab.

»Slainté?«, wandte ich mich wieder Lex zu. Das Wort hatte ich noch nie gehört.

»Das irische Wort für Prost. Aidan ist in Dublin geboren und lässt keine Gelegenheit aus, das zu betonen.«

»Er sieht gar nicht aus wie ein Ire.«

»Wie sehen Iren denn aus?« Es war nicht zu übersehen, dass meine Frage ihn amüsierte.

»Rothaarig und … blass?«

Ich kam mir ziemlich dumm vor, als ich die Worte laut aussprach. Sie waren durchtränkt von klischeehaften Vorstellungen und ziemlich naiv. Natürlich wusste ich, dass nicht alle Iren wie Kobolde aussahen. Das war spätestens seit Colin Farrell und Michael Fassbender klar.

»Vergiss, was ich gesagt habe.«

»Okay.« Er schmunzelte und drehte sich zurück in meine Richtung. »Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Welche Frage?«

»Geh mit mir aus.«

Da war nichts in Lex’ Blick, was mir einen Grund gegeben hätte, seine Bitte abzuschlagen. Er war ehrlich, charmant, mit seiner forschen Art anziehend, und ich wusste von Claire, dass er ein guter Kerl war. Herrgott, er war Feuerwehrmann und rettete auch kleine Katzen von Bäumen, wenn es sein musste. Lex war meiner Schwester ein treuer Freund, war früher oft bei uns gewesen, als sowohl Claire als auch ich noch zu Hause gewohnt hatten. Und … trotzdem erinnerte er sich nicht an mich. Er hatte mich einfach aus seinem Gedächtnis gestrichen. Genau wie das Versprechen, das er mir damals gegeben und nicht gehalten hatte.

Es hätte mir nichts ausmachen sollen. Er hatte noch nie Interesse an mir und immer nur Augen für Claire gehabt. Ich war mir zu hundert Prozent sicher, dass er nicht mehr mit mir würde ausgehen wollen, wenn er wüsste, dass ich nicht einfach nur Grace war. Sondern Grace Hamilton, die kleine Schwester von Claire, die nie auch nur den Hauch eines Eindrucks bei ihm hinterlassen hatte.

Also tat ich etwas, von dem ich als verliebter Teenager nie gedacht hätte, dass ich es je tun könnte.

Ich ließ Lex Wilson abblitzen.

»Kein Interesse.«

»Was?«

»Kein Interesse«, sagte ich noch einmal. Mit neuem Elan winkte ich Sheridan zu uns, um Abbys und meine Getränke zu bezahlen.

»Und das von ihm übernehme ich auch.« An seinem verschütteten Getränk war ich schuld, also würde ich auch dafür bezahlen. Mit meinem Daumen deutete ich auf Lex, ehe ich Sheridan ein paar Geldscheine reichte. »Stimmt so.«

Dann drehte ich mich um und ließ einen sprachlosen Lex zurück. Auf dem Weg aus der Bar zwang ich mich, mich nicht noch einmal zu ihm umzudrehen. Stattdessen zog ich mein Handy aus der Hosentasche und schrieb Abby eine kurze Nachricht, dass ich gegangen war und sie sich melden sollte, falls sie abgeholt werden musste. In Chicago hätte ich eine Freundin niemals ohne Begleitung in einer Bar zurückgelassen. In Tipton war das kein Problem, vor allem, da ich wusste, dass Abby nicht alleine war. Sie war nach wie vor angeregt in ihr Gespräch vertieft.

Die Tür der Bar fiel hinter mir ins Schloss, und ich atmete tief durch. Das Herz schlug mir immer noch bis zum Hals, als ich den Weg nach rechts einschlug. Auf der ganzen Strecke nach Hause gab es nur einen einzigen Gedanken, der mir durch den Kopf geisterte.

Was zur Hölle war das gewesen?

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2

Mein Wecker war auf sieben Uhr gestellt, doch ich lag bereits um sechs hellwach und gleichzeitig hundemüde in meinem Bett. Der Plan, vor meinem ersten Arbeitstag genügend Schlaf zu bekommen, war gründlich nach hinten losgegangen. Ich war ständig aufgewacht, hatte mich unruhig hin und her gewälzt, und seit Beginn der Dämmerung war ich gar nicht mehr eingeschlafen.

Der Grund dafür war einfach nur lächerlich: Ich war nervös. Der Klumpen in meinem Magen war riesig und wog so schwer, dass mir schlecht wurde. Nicht einmal vor meinem ersten Tag in der Klinik war ich derart aufgeregt gewesen. Dabei gab es überhaupt keinen Grund für so viel Anspannung. Tipton war mir nicht fremd. Ich kannte Doctor Webber von klein auf, die Patienten waren allesamt Bewohner der Stadt, die mich – anders als Lex – hoffentlich nicht vergessen hatten. Selbst das Gebäude, in dem sich die Praxis befand, war immer noch dasselbe wie damals, als ich gestürzt war und am Kinn hatte genäht werden müssen. Dieser Sturz war über zwanzig Jahre her, und doch erinnerte ich mich bestens daran, wie Doctor Webber mir nach der Behandlung ein buntes Pflaster mit Dinosauriern auf die Haut geklebt hatte. Ich war so stolz gewesen, die drei Nadelstiche ohne eine einzige Träne überstanden zu haben. Es hätte mich nicht gewundert, wenn dieselben Kinderpflaster noch heute in der Schublade des alten Schreibtischs in Doctor Webbers Behandlungsraum liegen würden.

Als ich die Küche betrat, sah mein Dad von der Zeitung auf. Ein liebevolles Lächeln zierte seine Lippen.

»Morgen«, murmelte ich wortkarg und steuerte den freien Stuhl neben ihm an.

»Guten Morgen, Cici.« Er faltete seine Lektüre sorgfältig zusammen und legte sie beiseite.

Meine Mom war mit der Kaffeemaschine beschäftigt, während sie mir einen Blick über die Schulter zuwarf.

»Setz dich«, forderte sie mich auf. »Der Kaffee ist gleich so weit. Willst du ein Glas Orangensaft?«

Ohne meine Antwort abzuwarten, öffnete sie den Kühlschrank und nahm einen großen Kanister Saft heraus. Mit einem Glas in der anderen Hand kam sie zu mir.

»Gern, danke.« Ich hatte noch nicht richtig Platz genommen, als der Saft auch schon vor mir stand.

»Hunger?« Ein Teller voller frisch gebackener Pancakes, die sie in Ahornsirup getränkt hatte, wurde in mein Blickfeld geschoben. Den obersten hatte sie sogar mit einem grinsenden Smiley aus frischen Beeren verziert.

Es war süß und trotzdem … Wann zum Teufel war ich in diesem kitschigen Fünfzigerjahre-Film über amerikanisches Kleinstadtleben gelandet? Sie trug sogar eine rot-weiß karierte Schürze, um das Bild perfekt zu machen.

»Pancakes, Mom?«

Sie wusste genau, wie sehr ich ihre Koch- und Backkünste in Chicago vermisst hatte. Dieses Frühstück war ihre Art, mir zu zeigen, dass sie stolz auf mich war, obwohl es überhaupt keinen Grund dafür gab.

»Zur Feier des Tages.« Sie sah äußerst zufrieden aus, als sie mit der Kaffeekanne in der Hand zurück an den Tisch trat.

»Es ist nur ein Job …«, wandte ich ein, ein lausiger noch dazu, doch davon wollte sie nichts hören.

»Für den Doctor Webber schon eine ganze Weile jemanden gesucht hat. Es würde mich nicht wundern, wenn sie dich nachher mit Kuchen und Konfetti begrüßen.« Sie lachte laut auf, und mir rutschte das Herz in die Hose.

Bitte nicht! Ich wollte alles, nur kein Begrüßungskomitee. Das hatte ich nicht verdient, und es war auch definitiv nicht nötig. Aber dieser Stadt war alles zuzutrauen, im Guten wie im Schlechten.

»Jetzt iss erst mal.« Sie warf mir einen auffordernden Blick zu, ehe sie sich noch einmal umdrehte, nur um eine Sekunde später mit einer Schüssel Erdbeeren neben mir Platz zu nehmen.

Erschlagen betrachtete ich das Festmahl vor mir auf dem Tisch. Unter normalen Umständen hätte ich zugegriffen, hätte vermutlich nicht nur einen, sondern gleich drei Pancakes verschlungen. Aber heute … Mir war übel. Ich hatte keine Ahnung, wie ich Doctor Webber bei der Behandlung seiner Patienten helfen sollte. Was, wenn ich einer alten Dame beim Blutabnehmen versehentlich die Vene durchstieß? Oder wenn ich eine falsche Blutdruckzahl in die Krankenakte schrieb? Wenn ich nicht die richtigen Medikamente bereitlegte?

Was, wenn.

Die Gedanken in meinem Kopf schaukelten sich immer höher und höher, wurden so laut, dass ich am liebsten ins Badezimmer gerannt wäre und mich für den Rest meines Lebens dort eingeschlossen hätte.

Ich hatte Angst.

Angst davor, wieder einen Fehler zu machen, der ein Menschenleben kostete. Es war nie meine Absicht gewesen, der Patientin zu schaden. Und doch war mir dieser verhängnisvolle Fehler unterlaufen, weil ich nicht bei der Sache gewesen war.

»Cici?«

Wer sagte mir, dass so etwas nicht wieder geschah? Dass ich, egal, wie oft ich kontrollierte, etwas Falsches aufschrieb oder das falsche Medikament verabreichte? Ein Buchstabe zu viel, und am Ende war eine Frau gestorben.

Meinetwegen.

Wäre ich nicht gewesen, würde sie heute noch leben und weiterhin ihre Witze reißen, für die sie auf der Station so bekannt und beliebt gewesen war.

Auch wenn ich ihr nie hatte schaden wollen, blieb die Tatsache doch dieselbe: Ich hatte den Tod eines Menschen verschuldet.

»Grace!«

Die Stimme meines Dads wurde lauter und ließ mich nachdenklich von meinem Pancake aufblicken. Ohne es zu merken, hatte ich das Teil mit meiner Gabel in unzählige kleine Stücke zerpflückt.

Gegessen hatte ich nichts.

»Hm?« Ich sah ihn fragend an.

»Es gibt keinen Grund, nervös zu sein.«

Wie immer war ich ein offenes Buch für ihn. Er wusste genau, was mich beschäftigte. Mom, er und Claire waren die Einzigen in ganz Tipton, die die Wahrheit kannten. Für alle anderen war ich deshalb zurückgekehrt, weil mir das Großstadtleben zu viel geworden war und ich unser Städtchen vermisst hatte. Da es immer wieder vorkam, dass Leute in meinem Alter doch zurück in die Heimat zogen, winkten die meisten ohne weitere Nachfragen ab und nahmen meine Rückkehr kommentarlos hin. Und Abby glaubte, dass es an meiner gescheiterten Affäre mit Ben lag.

»Es wird alles gut gehen.«

Mom sprach leise, als sie ihre Hand auf meine legte und aufmunternd drückte. Ihre Worte waren ein Versprechen ohne Inhalt. Leere Hoffnungen, getragen von guten Wünschen.

Ich war mir nicht sicher, ob ihnen tatsächlich bewusst war, was ich angestellt hatte. Meine Zulassung, als Krankenschwester zu arbeiten, hatte ich nur deshalb nicht verloren, weil die Klinik Angst vor einem Skandal gehabt hatte. Ich mochte die Erste gewesen sein, die die Infusionen vertauscht hatte. Aber es war im Anschluss tagelang die falsche Lösung verabreicht worden. Und so etwas durfte in einem Krankenhaus wie dem Saint Joseph’s nicht passieren. Also war mein Fehler unter den Tisch gekehrt worden. Ich war mit einem blauen Auge davongekommen, doch das änderte nichts daran, dass eine Frau gestorben war. Nach ihrem Tod weiterhin im Krankenhaus zu arbeiten, war schlichtweg keine Option gewesen, auch wenn ausgerechnet Bens neue Freundin versucht hatte, mir klarzumachen, dass ich meinen Job nicht aufgeben musste.

Du kannst jeden neuen Tag als Chance sehen, es ein Stückchen besser zu machen.

Ich war Faith dankbar gewesen, dass sie mich nicht für meinen Fehler verurteilt hatte.

Gegangen war ich trotzdem.

Und nun sollte ich wieder mit Patienten in Kontakt treten. Ich würde sie nicht auf dieselbe Art und Weise behandeln müssen, wie ich das in der Klinik Tag und Nacht getan hatte. Aber auch in einer Kleinstadtpraxis konnten mir Fehler mit verheerenden Folgen unterlaufen.

Vermutlich war es nicht sonderlich klug, den Job bei Doctor Webber anzunehmen. Doch meine Mom hatte recht gehabt, als sie mir den Flyer gezeigt hatte: Ich war die einzige ausgebildete Krankenschwester in unserem Dreitausend-Seelen-Städtchen, die momentan verfügbar war.

 

»Grace Hamilton.« Eine ältere Frau mit grauem Haar und dem sympathischsten Lachen von ganz Tipton kam mit weit geöffneten Armen auf mich zu. »Sieh dich an, mein Kind. Wie groß du geworden bist. Und so hübsch.«

Auf der ganzen Welt gab es vermutlich nur einen einzigen Menschen, der so mit mir sprechen durfte. Und das war Martha Scott, das Urgestein in Doctor Webbers Praxis. Martha war schon da gewesen, als ich geboren wurde, und vermutlich würde sie erst dann damit aufhören, hier zu arbeiten, wenn Doctor Webber seine Praxis an einen Nachfolger übergab.

Sanft rieb sie mir mit ihren Händen über beide Oberarme, während ihr Blick an mir auf und ab wanderte. Irgendwie schaffte sie es, dabei kritisch und zufrieden zugleich auszusehen.

»Schön, dass du wieder da bist.« Sie gab mir erst auf die linke, dann auf die rechte Wange einen dicken Kuss. »Aber kleine Grace, du musst mehr essen.« Noch einmal musterte sie mich von oben bis unten. »Dringend.«

Natürlich fiel ihr auf, dass ich dünner geworden war, weil ich seit Wochen kaum Appetit verspürte. Zum Glück ersparte sie es mir, dazu etwas sagen zu müssen. Martha ließ mich los und schickte sich an, mir meinen neuen Arbeitsplatz zu zeigen.

»Hier findest du jeden Patienten, den Doctor Webber je behandelt hat, Liebes«, sagte sie, während sie eine Schublade aufzog. Unzählige Akten kamen darin zum Vorschein. »In alphabetischer Reihenfolge.«

Ich nickte. Verstanden.

»Und hier vorne …« Sie machte einen Schritt auf den Tisch zu, der gleichzeitig als Raumtrenner fungierte. »Hier ist der Kalender mit allen Terminen für jeden Tag. Deine erste Aufgabe ist es, alle benötigten Akten aus dem Schrank zu holen und bereitzulegen. Zunächst für den Vormittag, nach der Mittagspause auch für den Nachmittag.«

»Okay.«

Während Martha einen Blick auf die heutige Liste warf, sah ich mich schnell im gesamten Raum um. Doch egal, wohin meine Augen blickten … Es gab keinen Computer. Nur eine große Dose mit einer Vielzahl an Kugelschreibern und Bleistiften.

Ich steckte wohl immer noch in den Fünfzigern fest.

Bis Doctor Webber auftauchte, ging Martha die wichtigsten Aufgaben mit mir durch. Alles, was sie mir erzählte, klang machbar.

»Herzlich willkommen bei uns, Grace.« Er schüttelte kräftig meine Hand. »Es freut mich, dass du uns ab heute verstärken wirst.«

»Danke, Doctor Webber.« Ich bemühte mich um ein Lächeln, auch wenn mir immer noch mulmig zumute war.

»Nenn mich Bob. Ab sofort sind wir schließlich Kollegen.«

»Alles klar. Bob.«

Ich ließ seinen Namen über meine Lippen poppen und merkte sofort, dass es einige Zeit dauern würde, bis ich mich daran gewöhnt hätte. In meinem Kopf war Bob einfach immer Doctor Webber gewesen. Der alte, brummige Arzt mit Glatze und ein paar Kilos zu viel auf den Rippen.

»Wenn du Fragen hast, einfach raus damit. Martha lernt dich diese Woche ein. Einverstanden?«

Wortlos nickte ich. Eine Woche Einarbeitung erschien mir wenig, aber in Tipton tickten die Uhren offenbar anders.

Doctor Webber … Nein, Bob verschwand in seinem Behandlungszimmer, Martha erklärte mir ein paar Kleinigkeiten, und ehe ich mich’s versah, war ich mittendrin in meinem ersten Arbeitstag. Zum ersten Mal seit vier Wochen trat ich wieder in den direkten Kontakt mit Patienten.

Und es lief erstaunlich gut. Die meisten Fälle waren harmlos. Ein paar erkältete Kinder, die mit schniefenden Nasen und im Beisein ihrer Mütter von Martha zu Doctor Webber gebracht wurden. Einer Schülerin entfernte er den Gips von ihrem Arm, mein ehemaliger Highschool-Lehrer kam für seine Allergiespritze vorbei, und ein Herr mittleren Alters, den ich nicht kannte, klagte über Rückenschmerzen. Verdacht auf Bandscheibenvorfall.

Erst nachdem der komplette Morgen ereignislos verlaufen war, begann ich, mich langsam zu entspannen und die Arbeit sogar zu genießen. Es machte mir Spaß, als Arzthelferin tätig zu sein. Ich hatte diesen Beruf damals nicht deshalb gewählt, weil mir nichts Besseres eingefallen war. Nein, ich war Krankenschwester geworden, weil ich Menschen hatte helfen wollen. Nicht als Ärztin, die Menschen aufschnitt. Sondern hinterher. Ich wollte da sein, wenn die Patienten wieder aufwachten. Wenn sie auf den Stationen lagen und versorgt werden mussten. Das war mein Wunsch gewesen, und ich hatte ihn mir erfüllt. Bis vor ein paar Wochen.

Kurz nach halb eins kündigte Martha die Mittagspause an.

»Du hast dich gut geschlagen, Grace.« Sie lächelte mich an und wollte noch etwas sagen, als Doctor Webber – Nein, Bob, verdammt! – aus dem Behandlungszimmer kam.

»Können wir los, Martha?«, fragte er. Eine große Ledertasche befand sich in seiner Hand.

»Natürlich, Chef.« Martha umrundete den Tisch, ehe sie sich noch einmal zu mir umdrehte.

»Hausbesuch«, fügte sie erklärend hinzu und deutete auf die Tasche.

»In eurer Pause?«

»Ja. Wir müssen zur Farm des alten Callaway raus.«

»Oh.«

Ich bewegte meinen Kopf ganz langsam auf und ab, auch wenn Marthas Worte gleichzeitig einen kleinen Anflug von Panik in mir auslösten. Ließen sie mich wirklich allein?

»Wir sollten eigentlich wieder da sein, bis die nächsten Patienten kommen. Falls nicht, vertröstest du sie einfach und bietest ihnen Kekse und Wasser an.«

Martha öffnete eine Tür, hinter der sich im wahrsten Sinne des Wortes eine kleine Vorratskammer befand.

»Kekse und Wasser?«

Sie nickte. »Beugt Unterzucker und Dehydrierung vor. Alles andere kann warten, bis wir wieder da sind. Bis später, Grace.«

Auch Bob nickte mir einmal kurz zu, ehe er mit Martha das Gebäude verließ. Ich blieb zurück – mit feuchten Händen und einem klopfenden Herzen.

Der Zeiger auf der Uhr raste. Mir war durchaus klar, dass diese Beobachtung Quatsch war. Zeit war Zeit und somit nicht relativ. Eine Sekunde jetzt verging nicht schneller als heute früh nach dem Aufstehen oder während meines Spaziergangs zur Praxis. Aber jedes Mal, wenn ich auf die Uhr blickte, rückte der Zeitpunkt näher, an dem ich die Tür wieder aufschließen und Patienten in Empfang nehmen musste. Ohne dass Bob und Martha da waren.

Was, wenn ein Notfall passierte? Oder jemand kollabierte und keine Luft mehr bekam oder einen allergischen Schock hatte? Ich wusste, wie man in solchen Fällen handeln musste. Ich war im Krankenhaus oft genug dabei gewesen und in meiner Ausbildung bestens auf derartige Notfälle vorbereitet worden. Wenn kein Arzt in der Nähe war, lag es an mir, die lebensrettenden Maßnahmen einzuleiten.

Aber … Ich war doch nur Grace. Grace, die Fehler machte, weil sie nicht richtig aufpasste. Man konnte sich nicht auf mich verlassen, sobald ich unter Druck stand. Und das tat ich, seit Bob und Martha durch diese Tür getreten waren. Ich befand mich unter höchster Anspannung und hatte keinen Bissen meines mitgebrachten Essens angerührt.

Ein lautes Klopfen ließ mich so heftig zusammenzucken, dass mir dabei ein paar Aktenblätter, die ich geordnet hatte, auf den Boden fielen. Ich bückte mich hastig danach und hob sie auf, ehe ich meinen Blick zur Tür gleiten ließ. In der milchigen Glasscheibe stand eine dunkle Gestalt, die dagegentrommelte.

Das Herz rutschte mir in die Hose, als mir klar wurde, dass es so weit war. Die Mittagspause war vorüber, von Bob und Martha fehlte nach wie vor jede Spur, und der erste Patient stand vor der Tür.

Scheiße.

Ganz langsam, wie um Bob und Martha noch eine Chance zu geben aufzutauchen, erhob ich mich von meinem Stuhl und trat auf die Tür zu. Der Schlüssel steckte, ich brauchte ihn nur umzudrehen.

Meine Finger waren schwer wie Blei, als ich sie auf den Schlüsselbund legte. Und drehte. Lautlos sprang die Tür auf, und ich fand mich von Angesicht zu Angesicht mit meiner Begegnung von letzter Nacht wieder.

»Grace?«

»Lex?« Meine Augen wurden groß. »Was machst du denn hier?«

»Das sollte ich eher dich fragen.« Er zog die Stirn kraus. »Wo ist Martha?«

»Hier!«

Wir drehten uns beide im selben Moment um. Mit großen Schritten kam sie über den kleinen Weg auf uns zugelaufen. Pure Erleichterung durchflutete mich bei ihrem Anblick.

»Alexander Wilson.«

Sie schob sich ihre Brille mit dem Finger weiter auf die Nase und kniff die Augen zusammen, als sie bei uns ankam. Mit dem knielangen, schwarzen Rock und der weißen Bluse unter dem dunklen Blazer sah sie nicht aus wie eine Arzthelferin, sondern wie eine Gouvernante aus einem der alten Filme.

»Lex, Martha. Mein Name ist Lex«, verbesserte er sie.

»Ach, papperlapapp. Deine Eltern haben dich Alexander getauft. Lex ist kein ordentlicher Name, junger Mann.« Sie schüttelte entschieden den Kopf.

Martha strahlte eine Art von Autorität aus, die es einem leicht machte, Respekt für sie zu empfinden und sich ihr gegenüber auch dementsprechend zu verhalten. Geschickt drückte sie sich an uns vorbei in die Praxis. Nach einem schnellen Blick in Lex’ Richtung folgte ich ihr zurück zu den Dokumenten, die ich eben noch sortiert hatte.

»Wie können wir dir weiterhelfen, Alexander?« Sie streifte sich den Blazer von den Schultern und hängte ihn sorgfältig auf einen Bügel.

Ich beobachtete zwar meine Kollegin, doch mein gesamter Körper war sich Lex’ Anwesenheit mehr als deutlich bewusst. Ich spürte seinen Blick auf mir, und ein Schauer kroch über meinen Rücken. Es war furchtbar. Ich hasste es, dass er nach wie vor diese Wirkung auf mich hatte. Neun Jahre und ein gebrochenes Teenagerherz, verflucht noch mal. Und trotzdem schaffte er es immer noch.

»Ich habe einen Termin«, sagte er, und seine Stimme klang um einiges näher, als ich angenommen hatte. Als ich aufblickte, wurde mir auch klar, wieso. Er stand unmittelbar vor mir. »Zum Impfen.«

Ihn so nah vor mir zu wissen, machte mich nervös. Meine Abfuhr war noch keine vierundzwanzig Stunden her, und obwohl wir hier in einer Kleinstadt lebten … Ich hatte nicht erwartet, ihn so schnell wiederzusehen.

Mit dem Finger fuhr Martha über den Kalender. »Ah, hier. Vierzehn Uhr.« Sie nickte. »In Ordnung. Dann nimm doch bitte noch kurz im Wartezimmer Platz. Wir holen dich, sobald Doctor Webber da ist.«

»Kann ich auch hier warten und dich von der Arbeit abhalten?« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.

»Hierbleiben, ja. Von der Arbeit abhalten, nein.« Streng hob sie eine Augenbraue und unterband damit jegliche weitere Diskussion. Es war bewundernswert.

»Jawohl, Ma’am.« Lex salutierte und grinste breit.

Ich sah Martha deutlich an, dass sie mit aller Kraft versuchte, ernst zu bleiben, doch das halbe Schmunzeln, das sich auf ihr Gesicht schlich, verriet sie gnadenlos. Lex hatte sie mit Leichtigkeit um den Finger gewickelt.

»Erzähl … Wie geht es dir?«

Zwei Minuten lang hatte sie es geschafft, ihn zu ignorieren, und war damit genau 120 Sekunden erfolgreicher als ich. Ich versuchte, mich von seiner Anwesenheit abzulenken, indem ich die Dokumente weiter so sortierte und einordnete, wie Martha es mir gezeigt hatte. Dennoch lauschte ich ihrer Unterhaltung mit gespitzten Ohren.

»Alles okay.«

Alles okay. Diese beiden kleinen Wörter würden für immer meine Lieblingslüge bleiben. Jeder Mensch glaubte sie und fragte nicht weiter nach, obwohl in den allermeisten Fällen eine Nachfrage die Wahrheit ans Licht gebracht hätte. Doch Martha gehörte ebenfalls zu der Sorte Mensch, die sich mit einer solchen Aussage zufriedengab. Gut gelaunt steckte sie einen Bleistift zurück in die dafür vorgesehene Dose und ersparte sich ein Nachhaken. Stattdessen wechselte sie das Thema.

»Immer noch keine Freundin?«

Fast hätte ich mich an meinem Wasser verschluckt, das ich gerade getrunken hatte. Martha war schon immer direkt gewesen, aber ich hatte ganz offensichtlich vergessen, welche Ausmaße das annehmen konnte.

»Nope.« Lex ließ sich nicht anmerken, ob ihn diese Frage störte oder nicht. »Aber ich verspreche dir, dass du die Erste bist, die ich darüber informiere, wenn sich dieser Zustand ändert, Martha.« Ich musste ihn nicht ansehen, um zu wissen, dass er seinen Worten wieder ein keckes Zwinkern hinterherschickte.

»Es ist eine Schande.« Meine Kollegin seufzte tief und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Ich könnte dich immer noch meiner Enkelin vorstellen.«

Lex’ Antwort war ein belustigtes Lachen. »Ach, Martha. Du willst mich nicht als Schwiegerenkel. Glaub mir.«

»Warum? So ein Feuerwehrmann in der Familie … Das wäre praktisch. Wir haben viele Katzen.«

»Die rette ich gerne auch einfach so jederzeit für dich. Ohne Verwandtschaftsbonus.«

Schwere Schritte kündigten uns im nächsten Augenblick einen weiteren Ankömmling an.

Bob.

Nach einer kurzen Begrüßung blieb sein Blick an Lex hängen.

»Nanu. Warst du nicht letzte Woche erst hier, Alexander?«

»Lex«, hörte ich den Angesprochenen resigniert seufzen. Ein leichtes Grinsen schlich sich auf mein Gesicht.

»Was hast du dieses Mal angestellt?« Bob nahm den weißen Kittel vom Haken und schlüpfte hinein. »Oder sollte ich eher fragen, wen du wieder gerettet und dich dabei selbst in Gefahr gebracht hast?«

»Ich erinnere da nur an deine Rauchvergiftung, mein Lieber«, warf Martha ein. »Das war kein Spaß.«

»Weder noch, Doc.« Lex wandte sich Bob zu. »Der Captain hat mich dran erinnert, dass ich dringend meinen Impfschutz auffrischen muss, wenn ich weiterhin Teil seines Teams sein will. Et voilà. Hier bin ich.«

»Ah, Captain O’Hara. Guter Mann. Na, dann komm mal mit.«

Die beiden verschwanden gemeinsam in dem größeren der beiden Behandlungszimmer. Die Tür war längst ins Schloss gefallen, als ich sie immer noch lachen hörte. Doch ich kam nicht dazu, länger über Lex nachzudenken. Die nächsten Patienten trudelten ein, und schon waren Martha und ich wieder im Alltagsgeschäft der Praxis gefangen. Ich merkte nicht, wie die Zeit verflog, und war überzeugt davon, dass keine einzige Minute vergangen sein konnte, als Lex, gefolgt von Bob, aus dem Zimmer kam.

»Pass auf dich auf, Bursche.« Bob klopfte ihm kräftig auf die Schulter. »Wenn dich dein Job schon nicht umbringt, wäre es wirklich schade, wenn eine vergessene Impfung es schaffen würde.«

»Ich werde mir Mühe geben, Doc.«

Lex reichte ihm seine Hand. Nach einem festen Händeschütteln ließ sich Bob die Karteikarte des nächsten Patienten reichen. Damit ging er zurück in sein Behandlungszimmer, und Martha steckte ihren Kopf ins Wartezimmer. Lex blieb direkt vor mir stehen.

»Brauchst du noch was?«, fragte ich und wagte es kaum, ihn anzusehen.

»Nein«, antwortete er. Wieder bildete sich dieses verschmitzte Lächeln auf seinem Gesicht, doch dieses Mal erreichte es seine Augen nicht. Er rief meiner Kollegin ein »Tschüss, Martha« zu, ohne den Blick von mir abzuwenden.

»Mach’s gut, Alexander.« Sie winkte ihm vom Wartezimmer aus zu, wo sie Bobs nächsten Patienten in Empfang nahm und in das Behandlungszimmer führte.

Ein paar Sekunden standen wir einander wortlos gegenüber. Keiner von uns durchbrach die eingekehrte Stille. Und zum ersten Mal fiel mir auf, wie dicht seine Wimpern waren. Sie brachten seine strahlend blauen Augen perfekt zur Geltung.

Lex war schließlich derjenige, der unseren Blickkontakt beendete. »Bis dann, Grace«, sagte er und machte zwei Schritte rückwärts.

Im nächsten Moment war er aus der Praxis verschwunden.

»Ich mag den Jungen«, lachte Martha, als sie zurückkam und sich neben mich setzte.

»Wen?« Das kleine Kind, das sie gerade zu Bob geführt hatte?

»Na, Alexander.« Ich spürte ihren Blick auf mir, als sie ihre nächsten Worte aussprach. »Der Junge ist ein Goldstück.«

Lex war zwar mittlerweile alles andere als ein Junge, aber Martha war unverbesserlich und hätte einen Protest meinerseits mit Sicherheit nicht gelten lassen. Also reagierte ich nicht auf sie, auch wenn mir klar war, dass hinter ihren Worten mehr steckte als nur die bloße Aussage, dass Lex ein netter Kerl war.

Der Junge ist ein Goldstück, Grace. Und er ist Single. Genau wie du. Schnapp ihn dir.

Meine Kollegin hatte keine Ahnung, dass ich das bereits vor neun Jahren versucht hatte und kläglich gescheitert war. Noch einmal würde ich mir die Finger nicht an ihm verbrennen.

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3

Die erste Woche in Bobs Praxis hatte ich ohne Zwischenfälle hinter mich gebracht. Ich hatte aufgepasst wie ein Luchs, jede Anweisung meines Chefs an mich doppelt und dreifach gecheckt. Manches hatte ich auch von Martha unter dem Vorwand, dass ich neu war, gegenkontrollieren lassen. Ich hatte alles richtig gemacht. Aber auch wenn fünf Tage lang alles gut gegangen und mir kein Fehler unterlaufen war, blieb da immer noch dieses Gefühl von Unruhe und Unsicherheit in mir. Ich wusste schließlich, wie das lief. Sobald man routinierter war, sich eingewöhnt hatte, wurde man nachlässig. Und vor genau diesem Moment hatte ich Angst. Denn nur, weil bisher alles gut gegangen war, bedeutete das nicht, dass es weiterhin so bleiben würde.

Es war kurz nach vier Uhr nachmittags, als ich den Hof der Foresters erreichte. Er lag etwas außerhalb von Tipton, am westlichen Rand der Stadt, und meine Eltern waren seit Jahren mit den Hofbesitzern befreundet. William mistete gerade eine der Pferdeboxen aus, während von Jackie weit und breit nichts zu sehen war.

»Hallo, Cici«, sagte er, unterbrach seine Arbeit und lehnte sich an die Boxentür. »Dorina war heute schon draußen.«

»Okay. Dann nehme ich Giana«, meinte ich lächelnd und legte meinen Helm neben der Box auf einem großen Strohballen ab. »Ist das okay?«

»Natürlich. Die alte Dame freut sich immer über ein bisschen Bewegung.« William nickte. In seiner Jeans, dem alten karierten Hemd und vor allem mit seinem großen Strohhut erinnerte er an einen Farmer, wie er im Buche stand.

»Ist sie hier oder auf der Koppel?«

»Draußen. Es könnte also sein, dass du erst einmal eine Weile putzen musst.«

»Alles klar. Danke für die Vorwarnung.«

Ich machte mich an der großen Schrankwand zu schaffen, in der die Putzutensilien aller Pferde aufbewahrt wurden. Für jedes gab es einen eigenen Spind. Von den zwanzig Pferden auf dem Hof ritt ich meistens Dorina. Sie war sanft und einfach zu handhaben, während Giana manchmal an eine Diva erinnerte, die unbedingt ihren Willen durchsetzen wollte. Wir hatten beide Zeit benötigt, um uns aneinander zu gewöhnen, doch mittlerweile kamen wir gut miteinander klar.

Nachdem ich alles vorbereitet hatte, machte ich mich mit einem Halfter in der Hand auf den Weg zur Pferdekoppel und pfiff nach Giana. Ich sah sie am anderen Ende der eingezäunten Weide stehen, doch heute hatte sie scheinbar keine Lust, meinem Pfiff nachzukommen. Während drei andere Pferde ihren Kopf in meine Richtung drehten, blieb Giana, wo sie war, und graste in aller Seelenruhe weiter.

»Also gut.« Seufzend öffnete ich das Gatter und machte mich auf den Weg zu ihr. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich sie erreicht hatte. Als ich bei ihr ankam, wurde mir klar, dass William nicht übertrieben hatte.

»Ach, Süße.« Ich strich über das Fell an ihrem Hals. Die einzige dreckfreie Stelle. »Was hast du denn wieder angestellt?«