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Vor fünfzehn Jahren sind Viktoria und Mia spurlos aus einem abgelegenen Sommercamp in den schwedischen Wäldern verschwunden. Nur Liv kehrte zurück – gezeichnet von Schuldgefühlen, weil sie es gewesen war, die diese verhängnisvolle Nachtwanderung vorgeschlagen hatte. Als Liv in der Stadt einer Frau begegnet, die Viktoria zum Verwechseln ähnlich sieht, reißen alte Wunden auf. Getrieben von der Vergangenheit kehrt sie als Betreuerin in das Camp zurück, entschlossen, endlich Antworten zu finden. Aber kaum ist sie angekommen, häufen sich beunruhigende Vorfälle: ein Waldbrand bedroht das Camp, Stimmen flüstern in der Dunkelheit und jemand scheint jeden ihrer Schritte zu beobachten. Je tiefer sie in die Wahrheit eintaucht, desto klarer wird ihr, dass sie damals nicht die Einzige gewesen ist, die ein Geheimnis hatte. Und vielleicht war es ein Fehler, zurückzukommen …
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Anmerkung
Protagonisten
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Weitere Bücher der Autorin
Impressum
Auf das in Schweden übliche Duzen wurde zugunsten der Lesbarkeit verzichtet.
Die Geschichte sowie sämtliche Protagonisten, Institutionen und Handlungen sind in diesem Roman frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt. Wo tatsächlich existierende Orte erwähnt werden, geschieht das im Rahmen fiktiver Ereignisse. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin.
Der Regen prasselte unaufhörlich gegen die Fensterfront des Cafés, verwischte die Sicht auf die Straße in weichen, verschwommenen Konturen. Liv blickte nachdenklich hinaus, die Hände um eine heiße Tasse Kaffee geschlungen, als würde sie darauf warten, dass sich die Wärme auf sie übertrug. Der Mai war nass und regnerisch, zeigte sich von seiner unangenehmsten Seite.
Draußen eilten Menschen unter Regenschirmen vorbei, ihre Gesichter halb verborgen. Eine Frau mit einem roten Mantel und einem bunten Schal fiel ihr ins Auge und ihr Herzschlag setzte für eine Millisekunde aus. Sie war wie paralysiert, unfähig, den Blick abzuwenden. Die Frau drehte sich leicht, ihr Profil kam zum Vorschein – ein schmaler Kiefer, hohe Wangenknochen, ein schulterlanger, dunkelblonder Bob. Es war, als wäre sie aus einer Erinnerung herausgetreten.
Viktoria.
Liv schnappte nach Luft und setzte die Tasse abrupt ab. Heißer Kaffee schwappte über den Rand und hinterließ einen dunklen Fleck auf der abgenutzten Holzoberfläche des Tisches. Aber sie achtete nicht darauf. Ihre Augen waren weiterhin auf die Frau gerichtet, die nun die Straße überquerte.
„Das kann nicht sein“, murmelte Liv. Sie tastete nach ihrer Handtasche, ohne den Blick von der Gestalt abzuwenden, die sich immer weiter entfernte. Es war Jahre her, aber das Bild von Viktoria hatte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Genauso wie das von Mia.
Damals im Sommerlager.
Der Gedanke war wie ein Messerstich. Sie hatte versucht, ihn zu begraben, tief unten in den Schatten ihrer Seele. Aber er war immer noch da, hatte sie nie wirklich losgelassen. Sie stand abrupt auf, ihr Stuhl rutschte nach hinten und erzeugte ein schrilles Quietschen. Die anderen Gäste warfen ihr flüchtige Blicke zu, die sie ignorierte. Ihre Augen suchten panisch die Straße ab.
Die Frau war verschwunden.
Hastig legte sie einen zerknitterten Geldschein auf den Tisch und eilte zur Tür. Die kleine Glocke über ihr klingelte, als sie nach draußen trat. Nasskalte Luft strömte ihr entgegen. Sie zog die Kapuze über den Kopf und hielt den Blick starr auf den roten Mantel gerichtet, der sich zwischen den Passanten bewegte. Der Regen fiel in feinen, kalten Fäden, die sich wie ein Schleier über die Stadt legten. Sie lief los, während ihr Blick auf eine einzige Person fixiert war. Der rote Mantel war in der Menge kaum zu übersehen, selbst bei dem trübgrauen Wetter. Das leuchtende Rot, das sich gegen alle anderen Farben auflehnte, das weiche Material, das leicht glänzte, wenn das Licht darauf fiel.
Liv schüttelte unwillkürlich den Kopf. Es konnte nicht Viktoria sein. Viktoria war tot. Und dennoch … Die Figur, die Körperhaltung, die Art, wie diese Frau den Kopf leicht geneigt hielt, als wäre sie in Gedanken vertieft. Es war unmöglich, und doch so klar – es konnte nur Viktoria sein.
„Entschuldigen Sie!“, rief sie, aber ihre Stimme wurde von den Straßengeräuschen verschluckt. Niemand drehte sich um. Die Frau beschleunigte ihre Schritte, als hätte sie ihren Ruf gehört. Liv drückte sich an einem Pärchen vorbei, das unter einem Regenschirm Schutz suchte, und stolperte fast über den Bordstein.
„Viktoria!“
Das Wort brach aus ihr heraus, laut und unkontrolliert. Sie erwartete, dass die Frau anhalten, sich umdrehen, irgendetwas tun würde. Aber sie ging weiter. Rascher, wie ein gejagtes Tier, das die Gefahr spürte.
Livs Atem ging stoßweise. Sie hastete über die Straße, glitt auf dem nassen Kopfsteinpflaster aus und fing sich gerade noch rechtzeitig, bevor sie stürzte. Ihre Jeans waren an den Knien durchnässt, das Haar klebte an ihrer Stirn, aber sie hatte nur ein Ziel – die Frau in dem roten Mantel.
Sie wechselte die Straßenseite und Liv folgte ihr. Genau in diesem Augenblick bog ein Taxi um die Ecke und musste wegen ihr stark abbremsen. Sie rettete sich mit einem Sprung zur Seite und formte mit ihren Lippen ein ‚Sorry‘. Ihre Augen suchten fieberhaft die Straße ab. Menschen mit Regenschirmen eilten an ihr vorbei, in sich gekehrt, in Eile. Niemand schien die Frau gesehen zu haben.
„Wo bist du?“, murmelte sie und drehte sich im Kreis. Das Klopfen ihres Herzens übertönte die Geräusche der Stadt. Sie biss sich auf die Unterlippe, versuchte, klar zu denken.
Plötzlich bemerkte sie eine Bewegung am Rand ihres Sichtfeldes. Ein schmaler Durchgang zwischen zwei Gebäuden, kaum breiter als ein paar Schritte. Sie hätte schwören können, dass sie Viktoria dort hatte verschwinden sehen. Ohne zu zögern folgte sie ihr.
Das Plätschern eines Tropfens, der von einem undichten Dach auf eine Metalltonne fiel, war das einzige Geräusch, das sie hörte. Kein Schatten bewegte sich. Keine Spur eines roten Mantels, der vor wenigen Minuten noch wie ein Leuchtfeuer zu sehen gewesen war. Liv hatte sie eindeutig gesehen, die schlanke Gestalt, die sich durch die Menge der Fußgänger geschoben hatte. Ein Anflug von Panik durchzuckte sie, wie ein Blitz, der unerwartet in eine stille Nacht einschlägt.
Sie ging weiter und konnte den unangenehmen Gedanken nicht abschütteln, dass sie beobachtet wurde. Verunsichert drehte sie sich noch einmal um und suchte die Gasse ab, bevor sie zur Straße zurückkehrte. Sie redete sich ein, dass ihr die Sinne einen Streich gespielt hatten. Aber das Bild hatte sich festgesetzt. Es war nicht nur die Ähnlichkeit gewesen, auch die Mimik und der Gang, die leichte Neigung des Kopfes.
Ein vorbeifahrendes Auto spritzte eine kalte Fontäne grauen Straßenwassers in ihre Richtung. Sie wich zurück. Aber es war bereits zu spät, sie war völlig durchnässt. Schöne Bescherung. Ihr Wagen stand zum Glück nur zwei Straßen weiter auf einem der wenigen freien Parkplätze. Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster, als sie die Straße entlanghastete. Ein leichter Nebel stieg auf, der die Welt um sie herum aushöhlte und die Stadt in ein trügerisches Labyrinth aus Schatten und gedämpften Lichtquellen verwandelte. Ein ungutes Gefühl kroch ihr den Nacken hinauf, ein vertrautes Kribbeln, das sie jedes Mal überkam, wenn sie spürte, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte im Laufe der Zeit gelernt, auf diese Intuition zu hören.
Als sie ihren Wagen erreicht hatte, schaute sie sich noch einmal um. Niemand war ihr gefolgt. Niemand befand sich in der Nähe. Die Straße wirkte wie ausgestorben, abgesehen von den gelegentlichen Lichtkegeln vorbeifahrender Autos, die flüchtig ihre Umgebung erhellten. Aber das Gefühl, beobachtet zu werden, hatte sich wie eine Schraubzwinge um ihren Brustkorb gelegt.
Sie entriegelte das Auto und glitt auf den Fahrersitz. Der vertraute Geruch von Leder beruhigte sie ein wenig. Sie startete den Motor, und die monotone Vibration des Wagens ließ sie tief durchatmen. Während sie sich in den Verkehr einfädelte, konnte sie nicht aufhören, den inneren Monolog zu führen. Warum hatte sie die Frau überhaupt verfolgt? War es wirklich nur das Aussehen gewesen, das sie so gefesselt hatte? Viktorias Abbild einer erwachsenen Frau? Oder hatte sie etwas anderes wahrgenommen, etwas Subtileres, das sie jetzt nicht in Worte fassen konnte?
Die Fahrt zu ihrem Apartment zog sich wegen des Berufsverkehrs in die Länge. Als sie endlich in die Tiefgarage einbog, spürte sie eine Welle der Erleichterung. Die Luft in der Garage war stickig, schwer, und das monotone Summen der Neonlichter ließ den Raum noch bedrückender wirken. Ihre Schritte hallten in der Leere wider, während sie zum Fahrstuhl ging. Ihre Finger glitten über den Knopf für das dritte Stockwerk, und die Metalltüren schlossen sich hinter ihr. Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung. Sie griff in ihre Tasche und umklammerte den Schlüsselbund. Die scharfen Kanten des Schlüssels boten eine trügerische Sicherheit.
Als die Fahrstuhltüren sich öffneten, trat Liv hinaus in den langen, sterilen Flur. Ihre Wohnung lag ganz am Ende. Sie erreichte die Tür, steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete sie mit einer ruckartigen Bewegung. Die Stille, die sie empfing, war seit ihrer Trennung von Henning fast erdrückend. Sie warf die Tasche auf die Couch und ging in die Küche, um sich ein Glas Wasser einzuschenken. Während sie trank, schweiften ihre Gedanken erneut zu der Frau im roten Mantel. Etwas an ihr hatte sie nicht losgelassen, und jetzt, in der sicheren Einsamkeit ihres Zuhauses, begann sie, die Szenen im Kopf noch einmal durchzuspielen. Was hatte sie nur an dieser Person so fasziniert?
Sie stellte das Glas ab und ging zum Fenster. Von hier aus konnte sie die Straße überblicken, die sie gerade entlanggefahren war. Die Laternen warfen orangefarbene Lichtinseln auf das Pflaster und nur die ältere Dame, die schräg gegenüber wohnte, führte ihren schwarzen Pudel spazieren. Also alles normal.
Nachdem sie wieder Ordnung in ihren vier Wänden geschafft und geduscht hatte, stand sie in der Küche, um sich das Abendessen zuzubereiten. Das Messer klirrte leise, als sie das Gemüse schnitt. Die Karottenstücke lagen ordentlich gestapelt wie kleine orangefarbene Soldaten. Der schwere Geruch von Knoblauch und Thymian hing in der Luft, aber ihre Gedanken waren nicht bei der Suppe, die vor sich hin köchelte, sondern bei der Frau im roten Mantel, die sie gesehen hatte.
Der Tisch war gedeckt, ordentlich wie immer. Aber etwas hatte sich verändert. Der Stuhl, auf dem sie saß, schien ihr fremd, als hätte ihn jemand anderes bewegt. Sie schüttelte den Kopf. Es war Unsinn, natürlich. Dennoch konnte sie das Gefühl des Unbehagens nicht abschütteln. Sie nahm den ersten Löffel der Gemüsesuppe und die Hitze brannte auf ihrer Zunge. Irgendwie schmeckte alles fad. Sie war ausgesprochen nervös, spürte eine innere Unruhe, war gefangen in ihren Gedanken. Wie fremdgesteuert räumte sie das benutzte Geschirr in die Spülmaschine und stellte den Rest der Suppe in den Kühlschrank.
Später saß sie auf ihrer Couch, eingehüllt in eine Decke, die Knie an die Brust gezogen. Vor ihr lag ein zerknittertes Foto, das sie aus einer alten Schachtel hervorgeholt hatte. Drei Mädchen, lachend, Arm in Arm, vor einem Hintergrund aus dichten Bäumen. Viktoria in der Mitte, mit ihrer typischen Ausstrahlung, Mia rechts und links Liv, mit langen Zöpfen und schüchtern lächelnd, damals als die Welt noch für sie in Ordnung gewesen war.
„Wir dürfen das Camp nicht verlassen“, hatte Mia damals geflüstert, ihre Stimme kaum hörbar gegen das Rascheln der Blätter. „Sie haben es uns verboten.“
„Ach, stell dich nicht so an“, hatte Viktoria geantwortet und Liv zustimmend genickt. Viktoria war immer die Anführerin gewesen, furchtlos, voller Ideen.
Liv erinnerte sich an die Nacht, als sie sich hinausgeschlichen hatten. Der Wald hatte im Mondlicht geleuchtet, die Luft war schwer vom Duft nach Kiefernnadeln gewesen. Aber dann waren Viktoria und Mia verschwunden – spurlos. Trotz intensiver Suche hatte man sie nicht gefunden. Es war, als hätten sie sich in Luft aufgelöst.
Auch Jahre später wusste niemand wirklich, was geschehen war. Die Polizei hatte keine Hinweise gefunden, keine Spur. Der Fall war irgendwann zu den Akten gelegt worden. Nur Liv hatte nie damit abschließen können.
Der Gedanke an die Frau im roten Mantel ließ sie einfach nicht los und mit klopfendem Herzen öffnete sie den Laptop. Ihre Finger verharrten zögerlich über der Tastatur. Es fühlte sich an, als würde sie eine Grenze überschreiten. Aber die Erinnerung an Viktorias Lächeln, an ihre Stimme, trieb sie voran.
„Camp Silvanus“ tippte sie ein. Die Suchmaschine warf eine Liste von Links aus. Das alte Lager existierte noch, jetzt unter neuer Leitung. Es war kein Ferienlager mehr, sondern ein Programm für Jugendliche mit Verhaltensproblemen. Liv scrollte durch die Website, ihre Augen suchten fieberhaft nach Hinweisen. Auf den Bildern sah der Ort unverändert aus. Dieselben dichten Wälder, dieselben Holzhütten. Alles wirkte so vertraut und doch so fremd.
Plötzlich sprang ihr eine Zeile ins Auge: „Erwachsene Aufsichtspersonen gesucht.“
Liv hielt den Atem an. War das ein Zeichen? Ein Weg, um Antworten zu finden? Sie wusste, wie verrückt dieser Gedanke war. Sie wusste, dass sie sich vielleicht in etwas verrennen würde, das sie erneut in eine Spirale der Verzweiflung stürzen könnte. Aber sie musste es wissen. Sie musste herausfinden, was damals wirklich geschehen war.
Mit klopfendem Herzen klickte sie auf „Bewerben“. Jetzt lag es nicht mehr in ihren Händen.
Überrascht öffnete Liv die Mail, die sie schon am nächsten Morgen erhalten hatte. Sie war tatsächlich angenommen worden, obwohl sie nicht damit gerechnet hatte. Jetzt ließ sie den Blick durch ihr Apartment wandern, während sie darüber nachdachte, welcher Schritt als nächster folgen sollte. Sie besaß weder Wanderschuhe noch robuste Kleidung für den Aufenthalt im Camp und starrte auf die Liste in ihrer Hand, die sie gerade ausgedruckt hatte. Die Buchstaben wirkten beinahe einschüchternd, als würde jede Zeile ihr leise zuflüstern, wie unvorbereitet sie war. Es folgte eine endlose Aufzählung von Gegenständen, die sie kaufen oder zusammenstellen musste.
Sie legte die Liste auf den Tisch und schaute zum Fenster. Die Vormittagssonne hatte sich bereits hinter dichten Wolken verzogen, die den Himmel in ein tristes Grau tauchten. Passend zu ihrer Stimmung. Sie atmete tief durch und zog sich die Jacke über. Zeit, sich der Aufgabe zu stellen.
Der Outdoor-Laden lag am Ende einer schmalen, kaum belebten Straße. Eine hölzerne Veranda, verziert mit einem rustikalen Geländer und Laternen, verlieh dem Geschäft einen einladenden, fast beruhigenden Charme. Aber der Eindruck verflog, sobald Liv die Tür öffnete und von einer Flut aus grell beleuchteten Regalen und gleißenden Neonlichtern regelrecht erschlagen wurde.
Am Eingang streckte sie die Hand nach einem kleinen Einkaufswagen aus, dessen Griff sich kalt und klamm anfühlte. Mit einem Seufzen entfaltete sie die Liste, um sie abzuarbeiten. Robuste Wanderschuhe, wetterfeste Kleidung, Rucksack, Taschenlampe und, und, und. Es war eine Mischung aus alltäglichen Dingen und Ausrüstung, von der sie kaum wusste, wie man sie auswählte. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie es gewesen war, am Lagerfeuer in einem Schlafsack zu schlafen. Allein die Vorstellung, wieder unter freiem Himmel zu nächtigen, jagte ihr eine unbestimmte Angst ein. Von der Verantwortung, die sie übernehmen würde, ganz zu schweigen.
Ob das Ganze wirklich so eine gute Idee gewesen war?
Sie bahnte sich ihren Weg durch die ersten Gänge, in denen Regale mit Dosenessen und Wasserreinigungsfiltern überquollen. Ein lauter Knall ließ sie zusammenzucken. Sie drehte sich hastig um und sah einen Mitarbeiter, der gerade einen großen Karton auf dem Boden abgestellt hatte. Der Mann schenkte ihr nicht einmal einen Blick, als er wortlos weiterging.
Entspann dich, Liv, dachte sie und schaute auf die Angebote. Neugierig griff sie nach einem Paket mit gefriergetrockneten Mahlzeiten, die für eine Woche reichen sollten. ‚Spaghetti Bolognese‘ stand auf der Packung, begleitet von einem Foto, das unnatürlich perfekt aussah. Sie bezweifelte, dass es im echten Leben auch nur ansatzweise so schmecken würde, und legte die Packung zurück ins Regal.
Der Bereich mit den Zelten öffnete sich wie eine kleine Ausstellungshalle. Sie waren in allen Formen und Farben aufgebaut worden, manche so klein, dass sie wie Spielzeug aussahen, andere groß genug, um darin aufrecht stehen zu können. Liv blieb unschlüssig vor einem Modell stehen, das mit seinem vielversprechenden Namen für seine Wetterfestigkeit warb.
„Das ist ein gutes Modell“, sagte plötzlich eine Stimme hinter ihr. Liv drehte sich um und sah eine Frau, die wie aus einem Outdoor-Katalog entsprungen wirkte – geflochtener Zopf, wetterfeste Jacke und sonnengebräunte Haut.
„Oh, danke“, erwiderte Liv, unsicher, ob sie die Beratung überhaupt benötigen würde.
„Planen Sie einen Campingausflug?“, fragte die Frau und deutete auf Livs Liste.
„Nein, es handelt sich eher um eine Art Jugendcamp. Ich brauche nur Ausrüstung zum Wandern und entsprechende Kleidung.“ Liv wusste nicht, warum sie sich so um eine Erklärung bemühte. Die Frau nickte wissend.
„Die finden Sie im hinteren Bereich.“ Sie deutete in die entsprechende Richtung.
„Danke, ich werde mich dort umschauen“, sagte Liv höflich. Die Frau lächelte erneut, bevor sie in den Gängen verschwand.
Nach einer halben Stunde hatte sie alles zusammen und lief zur Kasse, um zu zahlen. Dann verstaute sie ihre Errungenschaften im Kofferraum und trat den Heimweg an. Zurück in ihrer Wohnung breitete Liv die Einkäufe auf dem Boden aus. Der Anblick der Ausrüstung löste eine Mischung aus Skepsis und Beklemmung aus. Sie hatte alles Notwendige besorgt, und doch schlich sich der Gedanke ein, dass sie etwas vergessen haben könnte. Sie warf einen Blick auf die Liste und ging die Punkte ein letztes Mal durch. Alles schien abgehakt, aber das unangenehme Gefühl blieb. Was würde sie im Camp erwarten? Die Geister aus ihrer Vergangenheit?
Sie trennte die Schilder von der Kleidung ab und begann, sie in den Koffer zu packen. Ihr Herz klopfte schneller, als sie den Koffer zuklappte. Es war nicht nur die Aufregung über das bevorstehende Abenteuer. Auch etwas anderes mischte sich darunter, etwas Dunkleres, das sich nicht abschütteln ließ.
Der Raum um sie herum fühlte sich plötzlich klaustrophobisch klein an. Sie öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Draußen war es still, abgesehen von dem leisen Rascheln der Blätter. Liv stützte sich auf die Fensterbank und versuchte, ihre Atmung zu beruhigen. Ein plötzlicher Gedanke durchfuhr sie wie ein elektrischer Schlag: War jemand hinter ihr? Sie spürte einen kühlen Hauch im Nacken und drehte sich um. Aber da war niemand. Sie stand allein in ihrem Wohnzimmer, umgeben von den vertrauten Gegenständen.
Seit sie beschlossen hatte, in dieses Camp zu fahren, stand sie unter Strom. Als Dreizehnjährige war es für sie ein traumatisches Erlebnis gewesen. Zu dritt waren sie aufgebrochen und sie war als Einzige von diesem unerlaubten nächtlichen Ausflug zurückgekehrt. Was folgte, waren die endlosen Befragungen durch die Betreuer, die Polizei und die Eltern der vermissten Freundinnen. Dabei hätte sie selbst am dringendsten psychologische Hilfe gebraucht, um alles zu verarbeiten. Sie erinnerte sich noch gut daran, als wäre es erst gestern gewesen, und reiste in ihren Gedanken in die Vergangenheit zurück …
* * *
Liv spürte das Kribbeln der Aufregung in ihren Fingern, als sie den Reißverschluss des Zelts leise hinter sich zuzog. Viktoria und Mia standen schon bereit. Sie hatten ihre Stirnlampen aufgesetzt und die Jacken bis zum Kinn zugeknöpft. Die Luft war kalt, durchdrungen vom Duft nach Kiefer und feuchtem Moos, während die Abendsonne kaum noch über den Horizont lugte. Es war dieser halbe Augenblick zwischen Tag und Nacht, in dem die Welt gleichzeitig geheimnisvoll und vielversprechend wirkte.
„Bist du bereit, Liv?“, fragte Viktoria und lächelte, ihre Zähne wirkten im schwachen Licht fast unheimlich weiß.
„Klar“, antwortete Liv, auch wenn sich ein leiser Zweifel in ihr breit machte. Die Wanderung durch den Wald war ihre Idee gewesen. Die wichtigste Regel im Camp lautete, nicht allein loszuziehen, aber die drei Mädchen hatten die Herausforderung trotzdem angenommen. Es war ihr Moment, sich wie Erwachsene zu fühlen – oder zumindest wie die Heldinnen in einem Abenteuerfilm.
Mia zog eine Augenbraue hoch. „Dann los.“
Sie schlugen den Trampelpfad ein, der sich hinter den Zelten durch das dichte Unterholz schlängelte. Der weiche Waldboden unter den Turnschuhen dämpfte ihre Schritte und das einzige Geräusch, das sie verursachten, war das leise Rascheln von Laub. Es war ein bisschen wie eine geheime Mission. Sie hatten sich vorgenommen, vor dem Frühstück zurück zu sein, bevor jemand bemerken würde, dass sie fehlten.
Liv hielt sich dicht hinter Viktoria und Mia. Die beiden waren mutiger als sie, schienen immer ein bisschen mehr von allem zu wollen – mehr Abenteuer, mehr Risiko, mehr Unabhängigkeit. Liv hingegen war oft diejenige, die zögerte, die lieber einmal zu viel nachdachte, bevor sie etwas riskierte. Aber heute wollte sie es ihnen beweisen. Sie wollte zeigen, dass sie nicht das schüchterne, verklemmte Mädchen war, für das sie alle hielten.
„Hast du die Karte dabei?“, fragte Mia, ohne sich umzudrehen.
„Ja“, antwortete Liv schnell. Sie griff in ihre Jackentasche und spürte das zerknitterte Papier. Die Karte war alt und teilweise unleserlich, aber sie hatte sich vor dem Aufbruch die Route eingeprägt. Ein einfacher Rundweg, hatte sie sich versichert. Nicht zu lang, nicht zu schwierig. Aber tief genug im Wald, um den Eindruck von Abenteuer zu erwecken.
Der Weg wurde schmaler, und die Bäume schienen dichter zusammenzurücken. Der Wald roch nach Erde und verfaultem Holz, ein schwerer, satter Geruch, der sich in ihrer Nase festsetzte. Sie hielt sich an den dunklen Umrissen der beiden Mädchen vor ihr fest, ihre Stirnlampen warfen lange Schatten auf die Baumstämme.
„Das macht richtig Spaß“, sagte Viktoria plötzlich. Ihre Stimme klang laut in der stillen Dunkelheit.
„Oh ja“, stimmte Mia zu. „Ich wette, die anderen werden total neidisch sein, wenn wir ihnen davon erzählen.“
Liv zwang sich zu einem Lächeln. Sie war nicht sicher, ob sie das wirklich so lustig fand. Die Dunkelheit hatte etwas Beunruhigendes, und der Wald schien mit jedem Schritt dichter und unheimlicher zu werden. Aber sie wollte nicht diejenige sein, die sich beklagte. Nicht heute.
„Seht ihr das?“, fragte Mia plötzlich und blieb stehen.
Liv hätte sie beinahe angerempelt. „Was denn?“
Mia zeigte auf etwas im Unterholz, ein schimmerndes Licht, das zwischen den Bäumen flackerte. Es sah aus wie eine Laterne, die jemand trug, aber die Bewegung war ungleichmäßig, fast wie ein Glühwürmchen, das durch die Luft schwebte.
„Da ist niemand“, sagte Viktoria. Ihre Stimme klang plötzlich angespannt. „Das ist nur … ach, keine Ahnung, eine Reflexion oder so.“
Mia lachte. „Oder ein Geist?“ Sie machte eine Grimasse und streckte die Hände nach Liv aus, wie um sie zu erschrecken.
Liv wich einen Schritt zurück. „Hör auf!“
„Angsthase“, murmelte Mia, aber sie beließ es dabei.
Sie gingen weiter und hatten das seltsame Licht bald wieder vergessen. Der Wald um sie herum schien endlos, die Bäume hoch und uralt, ihre Stämme von Moos und Flechten überzogen. Liv spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten, als der Wind durch die Zweige wehte und ein merkwürdiges Pfeifen erzeugte.
„Wie lange noch?“, fragte Mia, um die Stille zu durchbrechen.
„Es ist nicht mehr weit“, antwortete Liv, aber sie klang nicht überzeugt. „Wir sollten bald an den Bach kommen.“
Der Bach war ihr Orientierungspunkt, der Wendepunkt, ab dem sie den Weg zurück zum Camp einschlagen würden. Aber der Bach tauchte nicht auf. Stattdessen schien der Wald nur noch dunkler und dichter zu werden, und die Mädchen mussten sich nun gegenseitig über dicke Wurzeln und umgestürzte Bäume helfen.
Liv spürte, wie Panik in ihr aufstieg, als sie die Karte erneut hervorholte. „Wartet mal …“
Sie klappte das Papier auf, aber das schwache Licht ihrer Stirnlampe machte es schwer, etwas zu erkennen. Sie drehte die Karte in ihren Händen hin und her, versuchte, sich zu orientieren. Aber nichts schien Sinn zu ergeben.
„Ich glaube, wir sind falsch abgebogen …“
„Was?“ Viktoria drehte sich um, ihre Augen blitzten im Licht der Stirnlampe. „Du hast doch gesagt, dass du die Sache im Griff hast.“
„Hab ich ja auch, aber …“ Liv brach ab. Sie wollte keine Panik verbreiten, aber ihr Magen fühlte sich an, als hätte sie einen Stein verschluckt.
„Lass mich mal sehen“, sagte Mia und riss ihr die Karte aus der Hand. Sie beugte sich darüber, murmelte etwas Unverständliches, bevor sie frustriert aufstöhnte. „Das hilft uns nicht weiter. Wir sind irgendwo hier, denke ich …“
Ein plötzlicher Knall in der Ferne ließ sie alle zusammenzucken. Es klang, als wäre ein Ast abgebrochen und auf den Boden gefallen, aber in der Stille des Waldes wirkte es viel lauter, fast wie eine Explosion.
„Was war das?“, flüsterte Liv.
„Einfach nur ein Ast“, sagte Viktoria, aber ihre Stimme klang seltsam heiser. „Kommt, wir sollten weitergehen.“
Liv wollte etwas sagen, aber in diesem Moment bemerkte sie, dass Mia nicht mehr neben ihr stand.
„Mia?“ Sie drehte sich um, ihr Herz begann plötzlich zu rasen. Viktoria blieb ebenfalls stehen und schaute sich um.
„Mia? Das ist nicht witzig!“
Keine Antwort. Der Wald war totenstill. Nur das Rascheln der Blätter im Wind und das entfernte Krächzen eines Vogels waren zu hören. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie drehte sich in alle Richtungen, ihre Stirnlampe huschte über die Bäume und das Unterholz, aber Mia blieb verschwunden.
„Das kann doch nicht sein.“ Viktoria ging ein paar Schritte zurück und formte die Hände zu einem Trichter. „Mia! Hör auf mit dem Mist!“
Nichts. Die Dunkelheit verschluckte ihre Rufe.
Liv wurde von einer Panikattacke überrollt. Ihre Hände zitterten, und sie musste sich an einem Baumstamm festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. „Wo ist sie hin? Sie ist doch gerade noch hier gewesen.“
Viktoria sagte nichts. Ihre Augen waren groß und dunkel, die sonst so vollen Lippen fest zusammengepresst. „Wir müssen sie finden“, sagte sie schließlich.
Sie liefen zurück, suchten die Umgebung ab, riefen Mias Namen. Aber da war nichts. Kein Hinweis, keine Spur. Es war, als hätte der Wald sie einfach verschluckt. Und dann, während Liv noch versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, bemerkte sie plötzlich, dass auch Viktoria nicht mehr neben ihr war.
Ein erstickter Schrei löste sich von ihren Lippen, als sie sich umdrehte und nur Leere hinter sich sah. Der Lichtstrahl ihrer Stirnlampe tanzte zwischen den Bäumen, aber von Viktoria fehlte jede Spur.
„Viktoria?“ Ihr war so elend zumute. „Hey, das ist nicht witzig. Kommt raus. Bitte!“
Keine Antwort. Der Wald war so still, dass es in den Ohren dröhnte. Liv spürte, wie ihre Beine nachgaben, und sie sank auf die Knie. Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie merkte es kaum. Ihre Freundinnen waren weg. Und sie war allein.
Schon seit Stunden irrte sie durch den Wald, ließ den sicheren Pfad dabei nie aus den Augen. Leichter Nebel stieg auf und das diffuse Dämmerlicht verwandelte den einst so lebendigen Wald in ein Labyrinth aus Furcht und Ungewissheit. Ihr Atem ging stoßweise und das Herz flatterte wie ein wildes Vögelchen. Die Ereignisse der letzten Stunden wirbelten in ihrem Kopf wie ein unaufhaltsamer Sturm und sie konnte nicht fassen, dass Viktoria und Mia verschwunden waren. Einfach so, ohne Vorwarnung, hatten sie sich in Luft aufgelöst. Liv hatte sich nur kurz umgedreht, vielleicht einen Moment zu lange gezögert, und mit einem Mal war da nichts als Leere gewesen.
Die Dunkelheit schien zu atmen, lebendig zu sein, flüsterte ihr unverständliche Worte zu. Jeder Schritt fühlte sich an, als würde sie tiefer in den Schlund eines unersättlichen Ungeheuers treten. Die Bäume ragten empor, ihre Äste griffen nach ihr, versuchten, sie zurückzuhalten und daran zu hindern, das Geheimnis des Waldes zu lüften.
Ein leises Knacken ließ sie zusammenzucken. Sie blieb stehen und lauschte angestrengt in die Finsternis. War da jemand? Etwas? Der Verstand spielte ihr Streiche, er malte Schreckensbilder von Kreaturen, die im Schatten lauerten, bereit, sie zu verschlingen. Sie schüttelte den Kopf, versuchte, die aufkommende Panik zu unterdrücken. Sie musste einen klaren Kopf bewahren, musste zurück zum Zeltlager finden.
Aber mit jedem weiteren Schritt schien der Weg noch länger zu werden und das Dickicht noch dichter. Die sonst so vertrauten Geräusche des Waldes – das Zwitschern der Vögel, das Rascheln der Blätter im Wind – waren verstummt, ersetzt durch eine unheimliche Stille, die schwer auf ihren Schultern lastete. Es war, als hätte der Wald den Atem angehalten, lauernd, beobachtend.
Ihre Gedanken wanderten wieder zu Viktoria und Mia. Ihr Lachen hallte in ihrem Gedächtnis weiter, die fröhlichen Gespräche, die Pläne für die Zukunft. Und jetzt? Nichts als Stille. Eine Träne rollte über ihre Wangen, vermischte sich mit dem Schweiß auf ihrer Haut. Sie konnte nicht aufgeben, konnte die Hoffnung nicht verlieren. Viktoria und Mia mussten hier irgendwo sein, irgendwo in dieser endlosen Dunkelheit.
Plötzlich spürte sie eine Präsenz hinter sich, ein kühler Hauch, der ihren Nacken streifte. Sie wirbelte herum, aber da war nichts. Nur das diffuse Dämmerlicht, das sie umgab, sie einhüllte wie ein dichter Nebel. Ihr Herz raste, ihre Hände zitterten. War sie nicht allein? War da jemand, der sie beobachtete, der auf den richtigen Moment wartete, um zuzuschlagen?
Sie zwang sich, weiterzugehen, ihre Schritte wurden immer schneller und hektischer. Jeder Schatten schien sich zu bewegen, jede Wurzel schien nach ihr zu greifen. Die Finsternis war allumfassend, erdrückend. Sie konnte kaum die Hand vor Augen sehen, tastete sich vorwärts, stolperte über unsichtbare Hindernisse.
Ein leises Flüstern drang an ihr Ohr, kaum wahrnehmbar, wie der Wind, der durch die Blätter strich. Es hörte sich an wie Worte, unverständliche, fremde Worte. Sie blieb stehen, lauschte, versuchte, den Ursprung des Flüsterns auszumachen. Aber da war nichts, nur eine Täuschung ihrer Sinne.
Die Panik griff nach ihr, legte eine eiserne Faust um ihr Herz. Sie wollte schreien, aber ihre Stimme versagte. Sie war allein, verloren in einem endlosen Meer aus Schatten und Angst. Die Angst schien sie zu verschlingen, sie in ihre Tiefen zu ziehen.
Doch dann, inmitten der Finsternis, erblickte sie ein schwaches Licht, flackernd, kaum mehr als ein Glimmen. Hoffnung keimte in ihr auf, ein Funke in der Dunkelheit. Sie setzte einen Fuß vor den anderen, bewegte sich auf das Licht zu, klammerte sich an die Hoffnung, dass es sie aus diesem Albtraum führen würde. Aber es war nur die Morgendämmerung, die das Zepter übernommen hatte. Irgendwann lichtete sich der Wald und sie schaute in Richtung Camp.
Das Licht im Lager war anders, als Liv es in Erinnerung hatte. Kälter. Härter. Vielleicht lag es auch an der Müdigkeit oder an der Panik, die noch immer ihr Herz umklammerte. Sie hatte es zurückgeschafft. Allein. Ohne Viktoria. Ohne Mia.
Niemand war wach, als sie aus dem Wald trat. Kein einziges der anderen Mädchen, kein Betreuer. Stille hing über dem Lager, nur das leise Rascheln der Blätter im Wind begleitete sie. Sie schlich sich in ihr Zelt, kroch in ihren Schlafsack und presste die Hände auf die pochenden Schläfen. Ihr Herzschlag dröhnte in ihren Ohren. Sie durfte nicht auffallen. Sie musste warten.
Der Morgen kam zu schnell. Stimmen, die durch das Lager hallten, rissen sie aus einem unruhigen Dämmerschlaf, in den sie für einige Minuten gefallen war. Ein Gefühl der Taubheit hatte sich über ihre Glieder gelegt, ihre Gedanken waren träge, aber sie würde sich zusammenreißen müssen. Niemand durfte erfahren, dass sie und die anderen Mädchen sich in der Nacht davongeschlichen hatten.
„Liv, du siehst schrecklich aus“, sagte Emma, die im Zelt nebenan wohnte. Ihr Tonfall war halb besorgt, halb neugierig. „Hast du überhaupt geschlafen?“
Liv zwang sich zu einem Nicken. „Kaum.“ Ihre Stimme hörte sich seltsam verzerrt an. Sie stand auf, ignorierte Emmas prüfenden Blick und verließ das Zelt. Die kühle Morgenluft ließ sie wacher werden. Sie wollte nicht daran denken, dass Viktoria und Mia nicht hier waren. Noch nicht.
Aber es dauerte nicht lange, bis das Fehlen von Viktoria und Mia bemerkt wurde.
„Hat jemand Mia gesehen?“ Die Stimme von Astrid, ihrer zugeteilten Aufsichtsperson, übertönte das leise Murmeln beim Frühstück. Liv erstarrte. Ein dicker Knoten bildete sich in ihrem Magen. Die anderen Mädchen schüttelten die Köpfe, tauschten verwirrte Blicke aus.
„Oder Viktoria?“
Stille. Dann ein leises Flüstern. Mehr Kopfschütteln. Emma straffte die Schultern, ihr ernster Blick glitt prüfend über die Gruppe.
„Liv?“
Der Klang ihres Namens ließ sie zusammenzucken, und sie zwang sich, den Kopf zu heben. Ihre Kehle war wie ausgedörrt. „Nein. Ich … ich habe sie nicht gesehen.“
Es war nicht einmal gelogen. Sie hatte sie zuletzt gesehen, als sie noch alle zusammen gewesen waren, als sie sich durch das Dickicht gekämpft hatten, das Mondlicht kalt auf ihren Gesichtern.
Emma wirkte nicht überzeugt. „Wann hast du sie zuletzt gesehen?“
Das war der Moment. Sie hätte lügen können. Eine Geschichte erfinden. Aber es hätte nichts genützt. Der Wald würde sie verraten. „Gestern Abend“, sagte sie schließlich. „Wir … wir sind draußen im Wald gewesen.“
Lautes Stimmengewirr brach aus. Die Mädchen starrten sie an. Emmas Augen verengten sich. „Draußen? Meinst du, ihr seid nachts im Wald herumgelaufen?“
Liv nickte langsam. Ihre Hände zitterten. „Wir wollten nur ein kleines Abenteuer erleben. Es war nur ein Spiel. Wir haben gedacht, dass wir bald zurück sein würden.“
„Aber ihr seid es nicht.“
Livs Lippen bebten. Sie schüttelte den Kopf. Sie konnte den Geruch von feuchter Erde noch immer riechen, das Knacken von Zweigen unter ihren Füßen hören, Viktorias panischen Atem, als sie sich umgedreht hatten – und Mia nicht mehr dagewesen war.
„Was ist passiert, Liv?“ Emmas Stimme klang sanft, aber bestimmt. „Wo sind die beiden jetzt?“
Liv schloss die Augen. Sie konnte nicht antworten. Sie wusste es nicht. Alles, was sie wusste, war, dass sie Schuld an allem hatte. Und dass der Wald Dinge nahm, die nicht wiederkommen würden.
Und plötzlich war das totale Chaos über sie hereingebrochen …
* * *
Sie riss entsetzt die Augen auf und spürte den Druck auf ihrer Brust, als sie die Situation von damals noch einmal durchlebte. Jeder, wirklich jeder, hatte ihr Vorwürfe gemacht und sie konnte sich noch gut an die Standpauke ihrer Eltern erinnern. Sie wäre schließlich dabei gewesen und würde doch wissen, was Viktoria und Mia zugestoßen war. Aber das wusste sie eben nicht. Von einem Moment auf den anderen waren sie verschwunden. Zuerst hatte sie geglaubt, dass ihr die beiden älteren Mädchen Angst einjagen wollten. Sie hatte verzweifelt nach ihnen gerufen, dass sie mit diesem bösen Spiel doch aufhören sollten, und war zurück zum Lager gelaufen, um sich im Zelt zu verkriechen. Sie war die restliche Nacht wach geblieben, um auf Viktoria und Mia zu warten. Aber die Freundinnen waren nie zurückgekehrt.
Eine Woche später saß Liv im Zug, der sie immer weiter in die Wildnis brachte. Der Koffer lag auf dem Sitz neben ihr, gefüllt mit dem Nötigsten. Sie hatte ihren Freunden nichts von ihrer Reise erzählt. Keiner von ihnen hätte es verstanden. Sie hatten ihr eigenes Leben, ihre eigenen Probleme. Was sollte sie ihnen auch erklären? Dass sie einen Schatten jagte?
Der Zug hielt an einer kleinen, verlassen wirkenden Station. Der Wind wehte kalt, und Liv zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu. Ein junger Mann in einem abgetragenen Parka wartete am Bahnsteig. Er stellte sich als Jakob vor, einer der Koordinatoren des Camps. Sein Blick war freundlich, aber durchdringend, als wollte er sie einschätzen.
„Schön, dass du da bist“, sagte er und schüttelte ihr die Hand. „Wir können jede Hilfe gebrauchen.“
Liv folgte ihm zu einem Jeep. Während der Fahrt erzählte er ihr von den Jugendlichen, die oft aus schwierigen Verhältnissen stammten, von den Herausforderungen und den kleinen Erfolgen. Aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab, hin zu der Erinnerung an den letzten Sommer, den sie hier verbracht hatte.
Sie fuhren durch ein großes Tor aus Holz und ihr Herz begann bei diesem Anblick schneller zu schlagen. Der Jeep kam mit einem leichten Ruck zum Stehen. Als sie ausstiegen, umfing sie die erdige Kühle des Waldes, durchsetzt vom schwachen Geruch nach Rauch und Kiefernnadeln. Ein paar Meter entfernt stand ein hölzernes Schild, auf dem in schlichten Buchstaben ‚Camp Silvanus‘ geschnitzt war, darunter ein verblasster Pfeil, der Richtung Hauptgebäude zeigte. Die Luft war schwer von Feuchtigkeit, weil es die letzten Tage viel geregnet hatte. Ein leichter Nebel stieg vom See auf und zog zum Camp herüber. Sie atmete tief durch. Hier hatte alles begonnen.
„Du musst Liv sein.“
Die Stimme ließ sie herumfahren. Ein junger Mann lehnte an einer Holzveranda, die zu einem langen, eingeschossigen Gebäude gehörte. Er trug ein ausgewaschenes Camp-Shirt und Cargoshorts, die an den Knien eingerissen waren. Sonnengebleichte Locken fielen ihm in die Stirn, und sein Lächeln war offen, aber nicht übermäßig herzlich. Er stieß sich von der Veranda ab und kam auf sie zu. „Ich bin Kristof, aber alle nennen mich Kris. Ich bin einer der Gruppenleiter und soll dich herumführen.“ Er lächelte sie an, als wäre sie ein lang erwarteter Gast, und streckte ihr die Hand entgegen.
Liv ergriff sie und bemerkte, dass seine Handflächen schwielig waren, als würde er draußen viel arbeiten. „Ja, schön, dich kennenzulernen."
„Ich werde dich durch das Camp begleiten, danach kannst du dich einrichten.“ Er drehte sich um und bedeutete ihr, ihm zu folgen. „Ich hoffe, du hast keine Angst vor harter Arbeit. Die Kids können manchmal … sehr herausfordernd sein.“
„Damit habe ich gerechnet“, erwiderte Liv.
„Dann bist du die Erste.“ Kris lächelte erneut. „Ich zeige dir erst einmal das Wichtigste. Frühstück gibt es jeden Morgen um sieben in der Haupthütte, Mittagessen um zwölf, Abendessen um sechs. Falls du zu spät kommst, gibt es nichts mehr. Helene, die Leiterin des Camps, hat eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Nachzüglern. Und glaub mir, mit ihr willst du dich nicht anlegen.“
Liv nickte wissend und schaute sich um. Die Haupthütte war eine Mischung aus Speisesaal und Versammlungsraum mit langen Holztischen, die den Großteil des Raumes einnahmen. Die Wände waren mit alten Campfotos dekoriert – einige davon wirkten überraschend alt. Jahrzehnte, schätzte sie. Vielleicht noch älter. Auf einem müsste sie mit Viktoria und Mia zu sehen sein. Ein fieser Stich mitten ins Herz.
Anschließend führte Kris sie über das Gelände. Die Zelte waren auf kleinen Lichtungen zwischen den Bäumen aufgestellt, jeweils in Gruppen zu dritt oder viert. Ihre Leinwände waren fleckig, aber gut gespannt, und an einigen hingen Wäscheleinen mit Shirts, Socken und Handtüchern. Stimmen drangen aus den Zelten, Gelächter, ein leises Murmeln.
„Gruppenunterkünfte“, erklärte er. „Jungs links, Mädchen rechts. Und dahinten …“ Er deutete auf ein abseitsstehendes, einzelnes dunkles Zelt. „… ist das Problemzelt.“
Liv runzelte die Stirn. „Problemzelt?“
Kris zuckte mit den Schultern. „Manchmal brauchen ein paar Kids eine, wie soll ich es am besten ausdrücken … eine extra Betreuung.“
Sie liefen über die Lichtung, das Gras raschelte unter ihren Sohlen. Links ragten zwei große Holzhütten auf, die offenbar als zentrale Treffpunkte dienten. Die Fensterläden standen offen, und dahinter konnte sie lange Holztische erkennen. Auf einer der Veranden lehnte sich ein Mädchen gegen das Geländer und las ein Buch. Sie schaute kurz auf, dann kehrte sie zu den Seiten zurück.
Liv ließ den Blick weiterwandern. Ein schmaler Pfad führte in den Wald hinein. Am Rand standen Schilder mit Regeln des Camps – nicht allein in den Wald gehen, nicht schwimmen ohne Aufsicht, keine Handys außerhalb der Hütten.
„Die sanitären Anlagen befinden sich im hinteren Bereich.“ Kris deutete auf eine schlichte Holzhütte mit mehreren Türen. „Warmes Wasser gibt es meistens, also wenn du Glück hast.“
Er grinste breit und ging weiter, während Liv sich fragte, wie lange sie kalte Duschen wohl ertragen würde.
„Zu den Schlafplätzen geht es hier entlang“, fuhr er fort und führte sie tiefer ins Camp.
„Deine Hütte ist dort drüben.“ Er deutete auf eine kleine Blockhütte, die am Rand stand, umgeben von einer Handvoll Bäume, die Schatten spendeten. „Du teilst sie dir mit einer anderen Aufsichtsperson – Hannah. Sie ist schon länger hier, kann dir also alles erklären.“
Kris stieß die Tür auf, die leise knarrte, und sie traten ein. Drinnen war es spartanisch, aber gemütlich eingerichtet. Zwei schmale Betten, ein kleiner Tisch, eine Kommode, ein Schrank. Auf einem der Betten lag ein aufgeschlagenes Buch, und eine Wasserflasche stand daneben.
„Hier kannst du dich einrichten. Hannah kommt später zurück, sie ist gerade mit einer Gruppe am See.“ Kris lehnte sich an den Türrahmen.
„Also, was sagst du?“, fragte er.
„Rustikal“, erwiderte Liv und erntete ein kurzes Lachen.
„Du wirst dich daran gewöhnen. Oder du rennst nach einer Woche schreiend davon. Beides kommt hier oft vor.“
Etwas an seinem Tonfall ließ Liv aufblicken. Es klang wie ein Scherz – aber in seinen Augen lag ein Schatten.
„Ich bin nicht so leicht abzuschrecken“, sagte sie ruhig.
„Gut zu wissen.“ Er nickte ihr zu. „Falls du noch Fragen hast, dann sag Bescheid. Ansonsten – willkommen in Camp Silvanus.“
„Mein Gepäck ist noch im Wagen“, sagte sie.
„Kein Problem, Jakob wird sich darum kümmern.“ Kris hob kurz die Hand. „Ich bin dann mal wieder …“
Er verließ die Hütte und sie blieb allein zurück. Ihr Blick streifte durch den Raum, der wirklich winzig war. Das würde also ihr Reich für die nächsten drei Wochen sein. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und machte einen Schritt in Richtung Bett, das noch bezogen werden musste. Ein Stapel frischer Wäsche lag am Fußende. Weil sie gerade nichts anderes zu tun hatte, während sie auf ihr Gepäck wartete, bezog sie das Kopfkissen und die Bettdecke.
Als es an der Tür klopfte, zuckte sie kurz zusammen.
„Da bin ich“, sagte Jakob und stellte den Koffer und die Reisetasche auf dem blanken Dielenboden ab. „Gefällt es dir hier?“ Er musterte sie fragend.
„Ja. Ein bisschen spartanisch vielleicht, aber da gewöhnt man sich sicher dran.“
„Du sagst es.“ Jakob lächelte. „Ich wünsche dir eine schöne Zeit.“
„Danke.“
An der Tür drehte er sich noch einmal um. „Falls du etwas brauchst oder Fragen hast, dann scheue dich nicht, einen von uns anzusprechen.“
„Okay, danke. Seid ihr den ganzen Sommer hier?“
Er nickte und strich sich eine seiner dunklen Locken aus der Stirn. Seine sonnengebräunte Haut und der drahtige muskulöse Körperbau ließen ihn wie einen Beachboy aussehen. Aber er war sich anscheinend seiner durchaus attraktiven Ausstrahlung gar nicht bewusst.
„Bis später“, sagte er.
„Bis später“, antwortete sie.
Die vertauschten Positionen fühlten sich ein wenig seltsam an. Jetzt war sie nicht mehr Gast im Camp, sondern ein Teil des Teams. Ob es auch wirklich die richtige Entscheidung war, hierher zurückzukehren? Unwillkürlich musste sie an die Frau im roten Mantel denken. Pareidolie? Hatte sie sehen wollen, was gar nicht vorhanden gewesen war?
Sie hievte den Koffer auf das Bett. Es wäre wohl das Beste, sich erst einmal häuslich einzurichten. Sie schob die Holztür des Schrankes auf und verzog das Gesicht. Der Schrank war winzig, viel kleiner als sie es erwartet hatte, und roch muffig nach altem Holz und abgestandener Luft. Mit gemischten Gefühlen klappte sie den Koffer auf. Es war ihr erster Tag im Camp, und obwohl sie sich so lange darauf vorbereitet hatte, fühlte sich alles fremd an. Die Enge der Hütte, das leise Wispern des Windes, wenn er durch die Baumkronen strich und das fröhliche Lachen der Campbewohner – all das wirkte beruhigend und beklemmend zugleich.
Mit vorsichtigen Bewegungen faltete sie ihre Kleidung und legte sie auf die beiden kleinen Regalbretter im Schrank. Ihre Finger glitten über den weichen Stoff einer Seidenbluse, die sie für besondere Anlässe eingepackt hatte. Der Stoff roch angenehm nach dem Waschmittel, einem kleinen Stück zuhause. Ein Teil von ihr wollte sofort wieder abreisen, aber sie zwang sich dazu, nicht auf ihre Ängste einzugehen. Schließlich war sie nicht hier, um an der Vergangenheit festzuhalten. Sie war hier, um etwas Neues zu beginnen, Frieden zu finden und sich selbst zu vergeben.
Ein seltsames Kratzen kam aus einer der Ecken. Sie drehte sich abrupt um, ihr Herz schlug schneller. Aber da war nichts. Nur der Schatten des alten Bettes, das neben dem Fenster stand. Sie lachte nervös und schüttelte den Kopf.
„Alles in Ordnung?“
Liv zuckte zusammen. Die Stimme gehörte einer jungen Frau, mit der sie sich anscheinend die Hütte teilte. Sie stand im Türrahmen, eine Augenbraue skeptisch hochgezogen. Sie war groß, mit dunklen Haaren, die ihr in unordentlichen Wellen bis zu den Schultern fielen.
„Natürlich“, antwortete Liv und schloss den Schrank. „Du musst Hannah sein.“
Hannah nickte und reichte ihr die Hand. „Willkommen im Camp.“
„Danke.“
„Alles gut bei dir?“
„Ein bisschen fremd alles.“
„Zum ersten Mal hier?“, fragte Hannah mehr aus Höflichkeit als aus Interesse.
„Ich bin einmal als Kind hier gewesen, aber das ist Ewigkeiten her.“
„Du wirst dich wieder an alles gewöhnen. Oder auch nicht.“
Hannah lächelte sie an, aber sie erwiderte das Lächeln nicht. Mit einem tiefen Atemzug drehte sie sich um und strich die Decke auf ihrem Bett glatt. Sie musste sich zusammenreißen. Es war nur ein Camp. Nicht einmal ein ganzer Monat. Und dann würde sie wieder nach Hause zurückkehren. Oder nicht?
„Es ist Zeit fürs Abendessen. Kommst du mit?“
„Ja, gern, ich möchte mich nur kurz umziehen. Es ist eine lange Fahrt gewesen.“
Hannah lächelte. „Kein Problem, ich werde draußen warten.“
Liv zog sich eine kakifarbene Shorts und ein buntes Sommershirt über, dessen leichter Stoff ihre Schultern umschmeichelte. Es war ein lauer Sommerabend im Camp Silvanus, warm und mild.
„Und, schon aufgeregt vor deinem ersten Arbeitstag?“, fragte Hannah, während sie gemeinsam den Pfad entlangschlenderten, der zum Speisesaal führte, begleitet vom fröhlichen Lachen der Kinder, die nach einem ereignisreichen Tag hungrig zum Abendessen eilten.
„Ein wenig, weil ich so gar nicht weiß, was mich erwartet.“
„Ausbildung hast du keine in diese Richtung?“
„Du meinst beruflich?“
„Genau.“ Hannah nickte und bändigte ihre Mähne mit einem Zopfgummi.
„Nein, ich bin Freiberuflerin, sonst hätte ich den Job hier gar nicht annehmen können.“
„In welchem Bereich?“
„Ich gestalte und illustriere Bücher.“
„Wow, nice.“
Inzwischen hatten sie den Speisesaal, das rustikale Holzgebäude, erreicht, dessen Wände mit Erinnerungsfotos vergangener Sommer und handgemalten Bannern der verschiedenen Camp-Gruppen geschmückt waren. Der Duft von frisch gebackenem Brot und gegrilltem Fleisch hing in der Luft und vermischte sich mit dem erdigen Aroma des umliegenden Waldes.
Als sie eintraten, wurden sie von einem Chor aus Stimmen und dem Klappern von Besteck auf Tellern begrüßt. Die langen Holztische waren bereits mit Kindern und Betreuern gut gefüllt, die sich angeregt unterhielten. In einer Ecke des Raumes entdeckte Liv Kris und Jakob, die an einem der Tische saßen und ihnen zuwinkten.
„Da sind sie“, sagte Hannah und deutete mit einem Nicken in ihre Richtung.
Sie bahnten sich ihren Weg durch den Saal, wichen dabei umherflitzenden Kindern aus, bis sie den Tisch erreichten.
Sie wurden von Jakob mit einem breiten Lächeln begrüßt. „Hey, schön, dass ihr es geschafft habt.“ Sein sonnengebräuntes Gesicht strahlte vor Energie, und seine wilden Locken fielen ihm wieder lässig in die Stirn.
„Setzt euch, das Essen ist heute besonders gut“, sagte Kris und schob sich eine Gabel voller Kartoffelpüree in den Mund. Seine dunklen Augen funkelten und ein schelmisches Lächeln umspielte seine Lippen.
Kaum hatten Liv und Hannah Platz genommen, erschien auch schon eine der Küchenhilfen mit dampfenden Tellern.
„Danke“, sagte Liv höflich, als ihr der Teller gereicht wurde.
„Keine Ursache. Lasst es euch schmecken“, antwortete sie höflich, bevor sie zum nächsten Tisch weiterging.
Für einen Moment herrschte ein zufriedenes Schweigen, nur unterbrochen vom gelegentlichen Klirren des Bestecks und den gedämpften Gesprächen der anderen.
„Also, wie war euer Tag?“, fragte Kris schließlich und lehnte sich zurück, während er einen Schluck aus seinem Wasserglas nahm.
„Anstrengend, aber gut“, antwortete Hannah. „Die Kids hatten viel Spaß beim Klettern, und zum Glück gab es keine größeren Verletzungen oder Reibereien.“
„Das ist immer ein Pluspunkt“, sagte Jakob mit einem Augenzwinkern.
Liv lächelte, aber sie war nicht wirklich anwesend. Sie starrte auf den Teller, schob das Essen hin und her, ohne wirklich einen Bissen zu nehmen.
„Alles in Ordnung, Liv?“, fragte Jakob besorgt und beugte sich leicht vor.
Sie blinzelte, schien aus ihren Gedanken aufzutauchen. „Ja, alles gut. Ich frage mich nur, ob ich der Aufgabe auch gewachsen bin.“
Kris legte das Besteck beiseite und musterte sie. „Ein bisschen spät für Überlegungen dieser Art.“
„Das wird schon“, sagte Hannah und legte eine Hand auf Livs Arm. „Du wirst die Kinder bei den Bastelarbeiten beaufsichtigen oder den anderen Betreuern zur Hand gehen. Die Gruppenbetreuung obliegt nur den ausgebildeten Fachkräften.“
Liv atmete erleichtert aus. „Das sollte zu schaffen sein.“
Hannah lächelte. „Das denke ich auch.“
Jakob nickte ihr aufmunternd zu und sie spürte die Wärme in ihren Wangen.
„Und, wie ist euer Tag gewesen?“, fragte Hannah.
Kris winkte ab. „Das Übliche. Die Größeren können sich einfach nicht zusammenreißen.“
„Ich habe mich vor der Wanderung gedrückt und stattdessen Liv abgeholt“, sagte Jakob.
„Ihr drückt euch vor den Aufgaben, wo ihr nur könnt.“ Hannah schüttelte lachend den Kopf. „Übrigens, tagsüber habe ich wieder so ein komisches Gefühl gehabt.“
„Was denn?“, fragte Jakob neugierig.
Hannah warf einen Blick über die Schulter, als ob sie sicherstellen wollte, dass niemand lauschte, bevor sie fortfuhr. „Als ich nach dem Frühstück am See entlanggegangen bin, habe ich einen Mann am Waldrand gesehen, der das Camp die ganze Zeit über beobachtet hat.“
„Das ist doch nichts Ungewöhnliches“, erwiderte Kris. „Es kommen oft neue Betreuer oder Besucher ins Camp.“
„Ja, aber dieser Typ, er wirkte irgendwie fehl am Platz. Er stand einfach nur da und starrte zum See hinüber. Als ich ihn angesprochen habe, hat er sich umgedreht und ist ohne ein Wort wieder im Wald verschwunden.“
„Das ist tatsächlich merkwürdig“, stimmte Jakob ihr zu. „Wie hat er ausgesehen?“
Hannah runzelte die Stirn, während sie versuchte, sich an die Details zu erinnern. „Er war groß, vielleicht Ende dreißig, mit dunklem Haar und einem Bart. Er trug eine alte, abgenutzte Jacke und hatte etwas Unheimliches an sich. Außerdem war er viel zu warm angezogen, mit einem Rollkragenpullover mitten im Sommer. Könnt ihr euch das vorstellen?“
„Vielleicht ist es nur ein Wanderer gewesen“, sagte Kris. „Oder jemand aus der Stadt.“
„Ja, vielleicht“, erwiderte Hannah, deren Stimme unsicher klang.
Das Gespräch flaute ab und Liv schaute immer wieder unauffällig zur Wand mit den Fotos. Sie wollte sich nachher unbedingt das Bild ansehen, um die Erinnerung an Viktoria und Mia aufleben zu lassen.
Plötzlich wurde die Tür zum Speisesaal aufgerissen und prallte mit einem lauten Knall an die gegenüberliegende Wand. Alle Köpfe drehten sich in Richtung des Geräusches. Ein Mann stand im Eingang, außer Atem und mit weit aufgerissenen Augen.
„Feuer! Es brennt im Wald!“, rief er panisch.
Ein kollektives Raunen ging durch den Saal, gefolgt von aufgeregtem Stimmengewirr.
„Wir bleiben alle zusammen!“, rief die Leiterin des Camps und erhob sich von ihrem Platz. „Wir haben für solche Fälle Notfallpläne. Die Aufsichtspersonen bringen die Kinder in Sicherheit, die Feuerwehr ist bereits verständigt."
Sofort brach hektische Aktivität aus. Die Betreuer sammelten die Kinder ein und führten sie geordnet aus dem Speisesaal in die Richtung der Sammelplätze.
„Ich trommele meine Crew zusammen“, sagte Kris und stand auf.
Hannah und Jakob erhoben sich ebenfalls und liefen Kris hinterher. Liv fühlte sich völlig fehl am Platz. Dann löste sie sich aus ihrer Starre und half Hannah, die Gruppe von jüngeren Mädchen zum Sammelplatz zu begleiten.
Als sie nach draußen traten, konnten sie bereits den Rauch riechen und das ferne Knistern der Flammen hören. Der Himmel, der eben noch in warmen Orangetönen geleuchtet hatte, war von dunklen Rauchschwaden bedeckt. Liv sah es als schlechtes Zeichen und musste husten, als der Wind die Richtung wechselte und die Schwaden zu ihnen herübertrieb.
Ihre Finger gruben sich in Hannahs Arm, als sie sich einen Weg durch das Chaos bahnten. Die Hitze des Feuers lag schwer in der Luft, selbst hier, am Rand des Camps. Die Schreie der Kinder, das Knacken von Ästen, das entfernte Brüllen der Feuerwehrmänner – alles verschwamm zu einem einzigen, atemlosen Klangteppich.
„Schneller!“ Hannahs Stimme war scharf, beinahe panisch. Sie hatte die kleine Svea auf dem Arm, die sich an ihren Hals klammerte und leise wimmerte. „Wir müssen sie zur Sammelstelle bringen, bevor der Wind dreht.“
Livs Herz hämmerte in ihrer Brust. Ihre Beine waren schwer wie Blei, aber sie zwang sich weiter. Die Kinder hatten Angst, das sah sie in ihren weit aufgerissenen Augen. Die kleinen Hände klammerten sich aneinander, an Hannah und an sie.
Dicke Rauchschwaden krochen durch die Baumreihen am Rand des Camps. Die Feuerwehr hatte eine Sperrzone errichtet, aber die Gefahr war noch nicht gebannt. Flammen leckten an den knorrigen Baumstämmen, roter, tanzender Zorn, der sich mit jeder Sekunde weiterfraß.
„Los! Kommt!“ rief Liv und breitete die Arme aus. Sie schob die Kinder entlang des Pfades, der zum Parkplatz, zur offiziellen Sammelstelle führte. Hannah folgte dicht hinter ihr, Svea noch immer auf dem Arm.
Plötzlich ein ohrenbetäubender Knall. Ein Ast krachte mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Eines der Kinder schrie auf. Liv spürte, wie ihr Puls in die Höhe schnellte. Instinktiv griff sie nach dem nächsten Kind und zog es weiter.
Die Feuerwehrleute riefen sich Befehle zu, Schläuche wurden ausgerollt, Wasser schoss in die Flammen, es zischte und dampfte. Sie arbeiteten schnell, professionell. Aber das Feuer schien einen eigenen Willen zu haben und der Wind frischte auf.
„Hier entlang!“, rief eine Stimme. Ein Feuerwehrmann in voller Montur winkte ihnen zu. Sein Gesicht war mit Ruß verschmiert. „Schnell, bevor der Rauch dichter wird!“
Liv warf einen Blick über die Schulter. Die Flammen krochen weiter, die Feuerwehr hatte noch nicht das gesamte Gebiet eingedämmt. Zumindest die Kinder waren in Sicherheit. Aber warum überkam sie das seltsame Gefühl, dass etwas nicht stimmte?
Ein unheimliches Kribbeln kroch ihr den Nacken hinauf und sie drehte sich um. Inmitten des Feuers, zwischen den Bäumen, bewegte sich ein Schatten. Jemand war da. Jemand, der nicht zu den Feuerwehrmännern gehörte. Aber ehe sie Hannah darauf aufmerksam machen konnte, war der Schatten verschwunden.
Das Knistern der Flammen war bis zur Sammelstelle zu hören. Ein metallener Brandgeruch lag in der Luft, durchsetzt von Ascheflocken, die wie dunkler Schnee herabfielen. Der Himmel, von orangefarbenen Flammen gespenstisch erleuchtet, warf flackernde Schatten auf die Gesichter der Wartenden.
Liv stand mit Hannah etwas abseits, die Arme um die zitternden Schultern der Kinder geschlungen. Die Blicke waren ehrfürchtig und ängstlich zugleich auf die Flammen gerichtet. Die Feuerwehrleute arbeiteten fieberhaft. Blaulichter zuckten über den Parkplatz, vermischten sich mit dem rötlichen Feuerschein. Sirenen heulten in der Ferne, Motoren dröhnten, während Wasserfontänen gegen die lodernden Bäume prallten. Der Wald stand in Flammen, als hätte die Erde selbst beschlossen, die Dunkelheit zu verschlingen.
Livs Blick wanderte zu Hannah, die blass aussah, aber gefasst wirkte. „Glaubst du, dass sie das Feuer unter Kontrolle bekommen?“, fragte Hannah leise. Ihre Stimme klang rau von der trockenen, rußigen Luft.
Liv erwiderte nichts. Sie wusste es nicht. Niemand wusste es. Sie zog die Jacke enger um die Schultern eines Mädchens, das sich mit weit aufgerissenen Augen an sie drückte. „Es wird alles gut“, murmelte sie und versuchte, die Worte glaubhaft klingen zu lassen.
Ein Feuerwehrmann kam auf sie zu, die Schutzmaske hing um seinen Hals, sein Gesicht war rußgeschwärzt. Er wandte sich an Helene, die in der Nähe stand. „Wir haben das Schlimmste im Griff, aber der Wind dreht sich. Sie sollten bereit sein, falls wir evakuieren müssen.“
Helene nickte, während Liv sich verkrampfte. „Gibt es Verletzte?“, fragte sie.
Der Feuerwehrmann zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Wir haben jemanden gefunden. Weiter oben im Wald. Ein Mann. Es sieht nicht nach einem Unfall aus.“
Ein eiskalter Schauer lief Liv den Rücken hinunter.
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Es gibt Anzeichen von … Gewalteinwirkung. Die Polizei ist bereits unterwegs.“
Liv fröstelte. Das Feuer war nicht das einzige Bedrohliche in dieser Nacht. Ein anderer Schatten lauerte zwischen den Flammen. Zum Glück hatte das nichts mit ihr zu tun.
Nach einer halben Stunde hatten die Feuerwehrmänner den Brand endlich unter Kontrolle. Liv spürte eine grenzenlose Erschöpfung, als sich der erste Tross in Bewegung setzte. Plötzlich rannten einige der Kinder los und schrien durcheinander. Die Panik war greifbar, eine Welle unkontrollierter Emotionen, die über das Camp hinwegfegte.
„Beruhigt euch! Alles ist unter Kontrolle!“ Hannahs Stimme war fest, aber selbst sie konnte kaum gegen das Stimmengewirr ankämpfen.
Liv griff nach einem kleinen Jungen, der vor Angst zitterte, und beugte sich zu ihm herunter. „Hey, schau mich an. Es ist vorbei, wir bringen dich jetzt in dein Zelt, okay?“
Der Junge nickte, die Tränen rannen über seine rußverschmierte Wange. Liv nahm seine Hand und führte ihn zu den anderen Kindern, die sich in kleinen Gruppen sammelten. Betreuer riefen Namen, suchten verzweifelt nach fehlenden Kindern. In der Ferne leuchteten noch die schwachen Überreste des Feuers auf, das mittlerweile unter Kontrolle war.
Mit vereinten Kräften brachten Liv und Hannah die Kinder zurück in ihre Zelte. Manche wollten nicht loslassen, klammerten sich an ihre Betreuer, während andere schweigend und mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit starrten. Eine kleine Gruppe hatte sich in einem der größeren Zelte zusammengedrängt, wie eine Schutzgemeinschaft gegen das, was gerade geschehen war.
Livs Hände zitterten noch, als sie die letzte Gruppe in ihre Zelte gebracht hatte. Die Flammen waren längst erstickt, aber der Rauch hing noch in der Luft. Das Camp, das vor wenigen Stunden noch ein lebhafter Ort gewesen war, wirkte nun geisterhaft. Die anderen Betreuer bewegten sich mit gedämpften Stimmen, als hätten sie Angst, das Feuer wieder heraufzubeschwören. Gemeinsam schritten sie durch das Camp, vorbei an verkohlten Holzresten und nassen, rauchenden Flecken Erde. Die Feuerwehr hatte den Brand unter Kontrolle gebracht, aber die Zerstörung war nicht zu übersehen. Was, wenn es schlimmer gekommen wäre? Was, wenn jemand verletzt worden wäre?
Erst als alle sicher in ihren Schlafsäcken lagen, sanken Liv und Hannah erleichtert auf die verwitterte Bank vor ihrer Hütte. Die Aufregung ließ langsam nach, auch wenn der Brandgeruch noch immer über dem Camp wie eine unheilvolle Erinnerung hing.
„Es hätte schlimmer sein können“, sagte Hannah schließlich, ihre Stimme klang müde.
Liv schaute in die Dunkelheit. „Ja, aber es war schlimm genug. Und das an meinem ersten Tag.“
Hannah schnaubte. „Willkommen im Camp Silvanus. Hier passiert nie etwas nach Plan.“
Ein müdes Lächeln zuckte über Livs Lippen. Die Erschöpfung lastete schwer auf ihren Schultern, als sie sich erhob. „Wir sollten reingehen.“
„Gute Idee“, murmelte Hannah.
Drinnen war es warm, aber selbst hier war der Brandgeruch noch präsent.
„Denkst du, dass es Brandstiftung war?“, fragte Liv, während sie sich auf die Kante ihres Bettes setzte.
Hannah blieb stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. „Ich weiß nicht. Aber ich finde es merkwürdig, obwohl es im letzten Jahr auch schon einmal ganz in der Nähe gebrannt hat.“
Liv runzelte die Stirn. „Merkwürdig?“
Hannah zuckte mit den Schultern. „Es gibt Vorschriften. Das Feuer hätte nicht so schnell ausbrechen dürfen. Und dann diese seltsame Stille, bevor es losgegangen ist. Ich weiß nicht, vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.“
Liv erinnerte sich. Erst der atemlose Ruf, dass es brennt und dann – plötzlich – war die Luft in einem lodernden Orange aufgegangen. „Was, wenn es Absicht war und eines der Kinder gezündelt hat?“, flüsterte sie.
Hannahs Blick verdüsterte sich. „Dann haben wir ein Problem.“
Allmählich verzog sich der Rauch, aber über dem Camp hing noch immer eine gewisse Unruhe. Der Adrenalinschub, der sie während des Brandes am Laufen gehalten hatte, ließ langsam nach, und ihre Glieder fühlten sich schwer an. Als Liv sich endlich in ihre Decke kuschelte, konnte sie das Gefühl nicht ausblenden, dass ihr der schlimmste Teil des Aufenthaltes noch bevorstand.
Liv hatte in der ersten Nacht im Camp tief und fest geschlafen, die Erschöpfung des Abends hatte sie vollständig übermannt. Neben ihr atmete Hannah ruhig und gleichmäßig, während draußen langsam die Dämmerung über den noch leicht verbrannten Wald hereinbrach.
Als sie aufwachte, fühlte sie sich benommen, als hätte die Nacht sie in einen undurchdringlichen Kokon aus Schlaf gewickelt. Aber sobald sie sich aufrichtete, kam die Erinnerung zurück – das Feuer, der Rauch, die Angst.
Hannah blinzelte sie verschlafen an. „Guten Morgen. Bist du bereit für deinen ersten offiziellen Tag?“
Liv rieb sich die Augen und nickte. „So bereit, wie ich sein kann.“
„Dann mal los.“ Hannah schwang die Beine aus dem Bett, gähnte hinter vorgehaltener Hand und streckte sich. „Erst duschen?“
„Unbedingt“, erwiderte Liv. Der kalte Nachtschweiß bedeckte noch unangenehm ihre Haut.
Sie warfen sich die Handtücher locker über die Schulter, schnappten sich die Waschtaschen und liefen im Gleichschritt in die Richtung des in die Jahre gekommenen Sanitärgebäudes. Aufgrund des gestrigen Abends war das Wasser eiskalt und Liv unterdrückte einen spitzen Schrei, als sie sich unter die Dusche stellte. Aber danach fühlte sie sich wie neugeboren, als ihre Haut von der Kälte des Wassers leicht prickelte.
Zurück in der Hütte tauschte sie die Leggings gegen bequem sitzende Jeans und machte sich dann, gemeinsam mit Hannah, auf den Weg zum Speisesaal. Die anderen Betreuer saßen bereits an den Tischen. Die Stimmung war gedämpft, als würden die Ereignisse der letzten Nacht allen noch schwer auf den Schultern lasten. Sie setzten sich zu Kris und Jakob an den Tisch. Beide wirkten angespannt.
„Gibt es Neuigkeiten?“, fragte Liv und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein.
Kris bejahte. „Die Feuerwehr hat bestätigt, dass ein Brandbeschleuniger verwendet wurde. Jemand wollte, dass es brennt.“
Die Worte hingen schwer in der Luft. Die Stille am Tisch war beinahe greifbar, nur unterbrochen vom leisen Klirren des Bestecks und den vereinzelten Gesprächen der anderen Betreuer.
„Und der verletzte Mann?“, fragte Liv.
„Es ist nur ein Wanderer gewesen, der von den Flammen überrascht wurde. Er hatte nichts damit zu tun“, antwortete Kris.
„Das würde ja bedeuten, dass es jemand auf das Camp abgesehen hat“, sagte Hannah und blickte von einem zum anderen.