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Als Emarin dem distanzierten Magier Arkyrian begegnet, ahnt sie nicht, welche Abenteuer ihr bevorstehen! Unerklärliche Todesfälle erschüttern das Land und schließlich scheinen sogar die Schatten in den Straßen lebendig zu werden. Gemeinsam brechen sie auf zu einer gefahrvollen Reise, um der Sache auf den Grund zu gehen. Während Emarin endlich der Enge ihrer Heimatstadt entkommt, muss Arkyrian feststellen, dass auch die dunklen Spuren seiner Vergangenheit nur auf eine Gelegenheit warten, ihn einzuholen. Zugleich scheinen für Sandra, ein Mädchen unserer Welt, nach dem Umzug in ein neues Haus die Grenzen der Realität zu verschwimmen. Sind es ihre eigenen Gedanken und Gefühle, die sie verspürt? Und wessen Augen sehen die Bilder, die sie erblickt? Doch die, deren Wahrnehmung sich zunehmend mit der ihren vermischt, kann weiter entfernt gar nicht sein - oder? Und doch scheint es am Ende, als könnte gerade diese Verbindung zwischen den Welten die Rettung bedeuten, im Angesicht der Dunkelheit ...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Franka,
die mich in meiner Leidenschaft für das Schreiben bestärkte
und
in Dankbarkeit für all die Schriftsteller/innen,
deren phantastische Geschichten mich so oft zwischen ihre Seiten lockten
und in mir den Zauber der Worte entfachten
Nacht
Klang ihres Atems, wenn sie erwacht
zwischen den Bäumen
Vorhang, der uns trennt
Doch nicht im Geiste
Flammen
Geschmiedeter Stahl
umfasst die Asche
Und der Wind
kann sie nicht tragen
sanft auf leisen Schwingen,
fruchtbaren Boden
zu besingen
Solange die Schatten
schweigen
Prolog
Fremd und doch vertraut
Marktgeflüster
Dunkle Ahnungen
In den Fängen der Nachbarin
Träume
Im Schleier der Nacht
Wer kann noch sicher sein
Nachtwandler
Reine Einbildung
Aus der Deckung
Frieden und Verbündete
Neue Wege
Stimmen
Schatten
Fragen
Schein und Wirklichkeit
Sonnenlicht
Groß und alt
Eine andere Sichtweise
Hinein ins Ungewisse
Maskerade
Zwischen den Bäumen die Angst
Dächer aus Gold
In dunklen Gängen
Was das Auge sieht
Schweigen
Garten aus Asche
Gesichter im Spiegel
Momente der Schwäche
Bis zum letzten Atemzug
Die weißen Finger des Todes
Hinter der Mauer
Das Ticken der Uhr
Mythen
Flammendes Eis
Ein Märchen
Windspiele im Nebel
Geister
Unter den Wolken
Felsen aus Eis
Eine Antwort
Fremdes Land
Meeresrauschen
Sturmflut
Bis zum Horizont
Trotzdem
Heim
Was dann
Was uns trennt
Zum Herzen der Angst
Wenn man auf Hilfe hofft
Nasses Laub
Wie es sein soll
Dunkle Furcht
Dämmerung
Erwachen
Schließe Frieden
So weiß wie Schnee
Herzenswünsche
Lichter in der Nacht
Wohin du gehen musst
Heimkehr
An deiner Seite
D ie Dämmerung senkte sich mit zunehmender Geschwindigkeit über die Lichtung. Den ganzen Nachmittag über hatte dort eifrige Betriebsamkeit geherrscht, doch jetzt war vollständige Ruhe eingekehrt. Kein Laut unterbrach die Stille der hereinbrechenden Nacht. Die einzigen Lebewesen auf der Lichtung waren fünf Personen in schwarzen Mänteln, die in einem Kreis um einen Felsblock herumstanden, der in der Mitte der Freifläche aufragte.
Der Felsen war von Moos und Flechten bedeckt und sah aus, als würde er schon ziemlich lange dort liegen. Das einzig Auffällige an ihm war ein Zeichen, das auf seiner Oberfläche eingraviert war. Es hatte die meiste Zeit in Anspruch genommen, das Symbol freizulegen und das Moos und den Schmutz fein säuberlich abzukratzen. Die Männer hatten den gesamten Nachmittag dazu gebraucht. Zudem hatten sie mit einer besonderen Farbe einen fünfstrahligen Stern auf das Gras der Lichtung gezeichnet - ein Pentagramm.
Seit mehreren hundert Jahren waren diese Menschen die ersten Lebewesen, die sich so nahe an den Felsblock heranwagten. Tiere mieden die Lichtung und das Waldstück in einem weiteren Umkreis, sodass es kein Wunder gewesen wäre, wenn die Wildnis längst die Freistelle im Wald zurückerobert hätte, doch erstaunlicherweise war das Gras dennoch kurz und spärlich. Kein Insekt hatte je auch nur einen Fuß auf die Lichtung gesetzt, noch war in den vielen Jahrhunderten jemals ein Vogel auf dem Felsen gelandet.
Während langsam die Dunkelheit hereinbrach, nahmen die dunkel gewandeten Gestalten ihre Plätze an je einer Zacke des Pentagramms ein. Außerhalb des Kreises, den die Männer um den Felsblock bildeten, stand noch eine etwas kleinere Gestalt, die mit den Armen fest eine schmale Ledertasche umklammerte und sich immer wieder unruhig umschaute.
Die Männer standen jetzt ganz still, und in der nun fast vollständigen Schwärze der Nacht verschmolzen ihre Umrisse mit der Dunkelheit des Waldes hinter ihnen. Sie starrten stumm und konzentriert auf den Felsen, der den Mittelpunkt des Pentagramms bildete. Sie warteten. Es war still auf der Lichtung. Nicht einmal der Schrei einer Eule oder das Bellen eines Fuchses waren zu hören.
Nur der Junge, der mit der Tasche im Arm näher am Waldrand stand, konnte sich nicht konzentrieren. Er konnte dem Drang, sich umzuschauen, nicht widerstehen, doch wenn er den Kopf wendete, blickte er unweigerlich in die dunklen Schatten des Waldes. Die Schwärze der Nacht schien ihn erdrücken zu wollen und eine unerklärliche Angst kroch ihm kalt den Nacken hinunter. Vielleicht lag es daran, dass seine Ohren die Geräusche des Waldes vermissten, das leise Rauschen des Windes in den Blättern der Bäume und die Laute der Nachttiere. Es war sehr still auf der Lichtung. Unnatürlich still. Im Allgemeinen fürchtete er sich nicht vor der Dunkelheit, aber verbunden mit dieser völligen Lautlosigkeit wirkte sie plötzlich unheimlich, bedrohlich. Und waren dort nicht Augen, die ihn aus dem Wald heraus beobachteten, unsichtbar in der Finsternis und verwoben mit den Schatten der Bäume?
Unsinn, versuchte er sich einzureden. Das bildest du dir bloß ein! Du solltest dich auf deine Aufgabe konzentrieren!
Aber es half nicht viel, das ungute Gefühl blieb. Der Junge hatte Angst, und das, obwohl sich hier die fünf mächtigsten Magier, die er kannte, in seiner Nähe befanden. Allerdings würden die es wahrscheinlich überhaupt nicht bemerken, wenn er aus dem Hinterhalt angegriffen würde, so konzentriert, wie sie auf ihr groß geplantes Ereignis warteten.
Nun waren es noch fünfzehn Minuten bis Mitternacht und die Magier schienen aus ihrer Trance zu erwachen. In völligem Einklang miteinander hoben sie langsam die Arme, sodass die Handflächen auf den Felsen zeigten, und begannen, eine lange und komplizierte Zauberformel zu rezitieren.
Das Pentagramm, an dessen Spitzen jeweils ein Magier stand, begann in einem blauen Farbton zu glühen. Mit dem Singsang, in den die Magier verfallen waren, schwoll das Glühen immer stärker an, bis das Pentagramm in der Farbe eines wolkenlosen, tiefblauen Abendhimmels erstrahlte und damit die Lichtung in ein unheimliches Licht tauchte.
Außerhalb des Pentagramms öffnete der Junge währenddessen die Ledertasche und holte vorsichtig zwei in sanftem Türkis strahlende Steine heraus.
Noch zwei Minuten bis Mitternacht. Der Singsang der Magier hatte inzwischen einen fordernden, beschwörenden Ton angenommen, woraufhin der Felsblock ebenfalls zu leuchten begann. Er leuchtete allerdings weder in Blau, wie das Pentagramm, noch im warmen Türkis der beiden Steine, sondern in einem düsteren, nebligen Grauton. Das Symbol auf seiner Oberfläche war jetzt deutlich zu erkennen: Eine verschlungene Acht, das Zeichen für das Unendliche, die an beiden Seiten von je einer Raute durchbrochen wurde.
Ohne den Blick von dem Felsen abzuwenden, gab einer der Magier dem Jungen mit der Hand ein kaum merkliches Zeichen. Dieser näherte sich dem Rand des Pentagramms, zögerte aber und blieb außerhalb stehen. Der Magier unterbrach für einen kurzen Moment seine Beschwörung und zischte zwischen den Zähnen: ,,Los. Jetzt, Argon!“
Daraufhin trat der Junge vorsichtig und mit klopfendem Herzen über den leuchtenden Rand des fünfzackigen Sterns und ging langsam in gerader Linie auf den Felsen zu. Während er davor stehenblieb, wurden die Beschwörungen der Magier noch eindringlicher und nahmen an Lautstärke zu.
Argon zählte die Sekunden, die noch bis Mitternacht blieben. Um Punkt vierundzwanzig Uhr legte er behutsam, um ja nichts falsch zu machen, die türkisfarbenen Steine auf das schwarz glühende Zeichen. Auf jede der Rauten einen Stein, gleichzeitig.
Im selben Moment, in dem die Steine ihre Plätze auf dem Zeichen einnahmen, steigerten beide ihre Leuchtkraft, und plötzlich explodierte der Mittelpunkt der Lichtung in einer Fontäne gleißend hellen Lichts, das so grell war, dass die Magier sich noch immer geblendet die Hände schützend vor die Augen hielten, als sie kurz darauf wieder auf die Füße zu kommen versuchten.
Der Junge arbeitete sich währenddessen aus einem Gebüsch am Waldrand, in das ihn die Explosion geschleudert hatte. Er hielt den linken Arm fest an sich gedrückt und war über und über mit Kratzern und Zweigstückchen sowie Blättern bedeckt. Argon unterdrückte ein Fluchen und presste die Zähne vor Schmerz fest zusammen. Der Arm fühlte sich an, als sei er gebrochen. Wer hatte aber auch ahnen können, dass seine Aufgabe bei dem Ritual mit einem Flug durch die Luft verbunden sein würde! Als er ein schaurig klingendes Knirschen vernahm, richtete er sich auf und spähte über den Rand des Busches, aus dem er soeben gekrochen war, um zu sehen, was auf der Lichtung vor sich ging. Was er sah, übertraf alles, was er sich je als Ergebnis des Rituals vorgestellt hatte.
Die Magier hatten, wenn auch etwas zerzaust, ihre Plätze im Pentagramm wieder eingenommen, doch den Mittelpunkt bildete nicht länger ein Felsblock, sondern ein Haufen zersprungenen Gesteins, in dessen Zentrum sich ein im Boden klaffendes Loch mit ziemlich großem Durchmesser befand. Das, was dem Jungen die Nackenhaare vor Angst sträubte, war allerdings nicht der Geröllhaufen mit dem Loch. Es war die Gestalt, die, umgeben von grauen Nebelschwaden, aus der Tiefe heraufstieg.
Eigentlich konnte man es nicht wirklich als Gestalt bezeichnen. Es war eher ein sich drehendes Etwas aus schwarzer Materie, das keine bestimmte Form zu besitzen schien und sich ständig veränderte. Argon erkannte in dem dunklen Wirbel nur schemenhaft Köpfe und Gliedmaßen, die sich bildeten, um gleich darauf wieder eins mit der Dunkelheit zu werden und an anderer Stelle in veränderter Form wieder zu erscheinen. Obgleich dieses Wesen ihm Angst machte, war er gleichzeitig fasziniert davon und konnte den Blick nicht abwenden. Er glaubte, einen Menschenkopf neben einer Löwenpranke zu sehen und kurz danach dicht daneben das Maul eines Krokodils zu erkennen.
Im Gegensatz zu dem Jungen schien der Anblick der Gestalt aus wirbelnden Schatten die Magier in ihrem Pentagramm nicht im Geringsten zu ängstigen. Sie ließen die Arme sinken und fielen auf die Knie, um in einer ehrerbietigen Haltung zu verharren.
Das schattenhafte Wesen hatte aufgehört, sich zu drehen, und schien jetzt die Magier, sowie die Umgebung, in Augenschein zu nehmen. Allerdings war es schwer zu sagen, in welche Richtung es blickte, da sich nun an allen Seiten des Wesens Köpfe gebildet hatten, die sich mit den verschiedensten Tieraugen in unterschiedliche Richtungen wendeten.
Argon ging wieder hinter seinem Busch in Deckung. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, es wäre besser, wenn dieses Ungeheuer nichts von seiner Existenz wusste. Er spähte durch eine Lücke zwischen den Zweigen und sah, wie einer der Magier - er erkannte seinen Meister - vorsichtig den Kopf hob und das Wesen anrief: ,,Ich grüße Euch, Fürst der Schatten, im Namen aller hier Anwesenden!“
Der Blick, der den Magier aus den Augen eines Schakals traf, war scharf und berechnend. Und ohne Zweifel sehr intelligent.
Nach einer Weile vollkommener Stille erklang die Stimme des Schattenwesens, dunkel wie die Nacht um sie herum und kalt wie Stahl: ,,So so, ihr habt mich also aus diesem Grab befreit und geweckt? Was solch kleine Gestalten doch fertigbringen...“
Der Klang dieser Stimme jagte Argon einen eisigen Schauer über den Rücken. Die Magier hingegen schienen entzückt über das Wesen zu sein und schauten voller Hochachtung zu ihm auf. Argons Meister war es, der antwortete: ,,Seit wir von Eurer Gefangenschaft erfuhren, setzten wir alles daran, einen Weg zu finden, Euch zu befreien. Nun ist es uns endlich gelungen, Euch mit Hilfe dieses alten Rituals von Eurem Fluch zu erlösen.“
,,Dann wisst ihr doch sicher auch, dass es Menschen wie ihr waren, ´Magier´, die mich in diesem Stein wie in einem Grab einschlossen und mich viele hundert Jahre lang in tiefen Schlaf versetzten?“ Die Stimme des Wesens hatte nun etwas Lauerndes an sich und Argon sah jetzt auch bei den anderen Magiern so etwas wie Unsicherheit in ihrer Haltung aufflackern. Einzig sein Meister schien unbegrenztes Vertrauen darin zu haben, dass das Wesen ihnen wohlgesonnen war.
,,Wovon Ihr sprecht, ist lange her, und es waren damals nicht die Mitglieder unserer Zunft, die Euch verbannten. Wollt ihr Rache an den Nachkommen der Schuldigen nehmen, so werden wir Euch ehrerbietigst zur Seite stehen.“
,,Ihr bietet mir also eure Hilfe an“, erwiderte das Wesen nachdenklich. ,,Und das finde ich wirklich sehr freundlich von euch. Nun, wie ihr seht, bin ich noch geschwächt und brauche Kraft und Energie, um meine einstige Macht zur Gänze wiederzuerlangen. Dabei könnt ihr mir tatsächlich behilflich sein, ihr, nun ja, ´großen Magier´. Außerdem schulde ich euch noch Dank, das wollen wir ebenfalls nicht vergessen.“
Der Meister verbeugte sich erleichtert: ,,Wir haben Euch nur zu gerne geholfen. Es war uns wirklich eine Ehre und ...“
Doch das Wesen unterbrach ihn. Der Menschenkopf, mit dem der Fürst den Magier betrachtete, nahm ein verschlagenes Aussehen an und der Mund verzog sich zu einem nachsichtigen Lächeln. ,,Oh, ich glaube fast, du verstehst nicht ganz, was ich sagen will. Ich hasse alle Menschen - ohne Ausnahmen. Da ihr mich aber befreit habt, werde ich euch als allerersten Magiern die Ehre zuteil werden lassen, mir Energie zu geben, in euren Worten, mir zu dienen.“
,,Was..., was genau meint Ihr damit, oh Fürst?“ Der Mann konnte das Zittern in seiner Stimme nicht vollständig unterdrücken.
In Argons Versteck im Gebüsch verstärkte sich die böse Vorahnung einer schrecklichen Gefahr in seinem Kopf. Er wünschte, er wäre nie Lehrling bei diesen Magiern geworden, wünschte, sie würden endlich die Flucht ergreifen.
,,Ich meine damit, dass ich dich und deine Magierfreunde töten werde. Und zwar jetzt!“ Die Worte des Wesens waren nun kalt und ohne jedes Mitleid. Argon sah die blanke Angst auf den Gesichtern der Magier, als das Wesen lange, tentakelartige Arme nach ihnen ausstreckte. Er hörte die Stimmen, die voller Panik um Gnade flehten.
Als die Magier zu fliehen versuchten, legte sich ein magischer Kreis um sie, zog sich enger und enger, hielt sie gefangen, während sie in Todesangst gegen die unsichtbare Mauer liefen. Einer der Magier versuchte, dem Wesen einen Zauber entgegen zu schicken, doch nichts geschah. Stattdessen knickte der Mann selber ein und fiel schwer atmend zu Boden.
Argon kauerte noch immer in seinem Versteck, starr vor Entsetzen. Lauf endlich fort Argon, schrie es in seinem Kopf, doch die Angst lähmte ihn. Flieh, solange du noch kannst! Endlich regte er sich. Das Letzte, was er sah, bevor er sich umwandte, um nach hinten ins Dunkel des Waldes zu kriechen, war die leblose Gestalt seines Meisters in einer Klaue des Wesens.
Er krabbelte, so schnell er konnte, zwischen den Zweigen, Büschen und Blättern hindurch. Als er weit genug vom Rand der Lichtung entfernt war, kam er auf die Beine und rannte los, mitten hinein in die Finsternis des Waldes. Zweige schlugen ihm ins Gesicht und Dornenranken zerkratzten seine Beine, doch in seinem Kopf war nur ein einziger Gedanke: Weg! Fort! Lauf!
Er lief und lief, ohne jede Orientierung, immer und immer weiter. Er rannte, bis er nicht mehr konnte und schließlich erschöpft gegen einen Baum taumelte. Und auch jetzt, kilometerweit von der Lichtung entfernt, hörte er in seinen Ohren noch immer die Angstschreie der Magier, gejagt von der Kreatur, die sie selber eigenhändig erweckt hatten.
M it einem Ächzen stellte Sandra den letzten Umzugskarton auf die Holzdielen und strich sich erschöpft eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. Sie sah sich um und unterdrückte ein Seufzen. Ihr zukünftiges Zimmer glich dem Warenlager eines Baumarktes und wirkte in diesem Zustand nicht so, als könnte es jemals als gemütlich oder hübsch eingerichtet bezeichnet werden. Überall standen Umzugskartons herum, sodass der relativ kleine Raum völlig überfüllt wirkte.
Sandra konnte sich nur mit Mühe durch die Kistenstapel zwängen, um sich dann müde auf ihr Bett fallen zu lassen. Die Möbel waren die einzigen Einrichtungsgegenstände, die schon fest an ihrem neuen Platz standen. Den Vormittag hatte Sandra mit ihren Eltern damit verbracht, Schränke aufzubauen und Bettlatten zusammen zu schrauben. Diese Arbeit war also wenigstens schon mal erledigt. Sandra war froh darüber, denn so würde sie gleich in der ersten Nacht hier in ihrem eigenen Bett schlafen können und musste nicht mit Schlafsack und Isomatte vorlieb nehmen.
Sie sah aus dem Fenster. Der schöne Ausblick in den Garten war einer der Gründe gewesen, weshalb sie unbedingt dieses Zimmer hatte haben wollen. Es war Ende August und noch war das Laub der Bäume im Garten von einer frischgrünen Farbe, auch wenn sich hier und da schon einzelne Blätter gelb zu färben begannen. Der Garten war ziemlich verwildert und Sandras Mutter würde sicher anfangen, ihre Ordnungswut dort auszuleben, sobald das Haus fertig eingerichtet war. Sandra selbst mochte es, wenn die Natur ihrer Gestaltungskraft freien Lauf lassen konnte, aber da war mit ihrer Mutter nicht zu diskutieren. Bei ihr musste alles eine gewisse Ordnung haben, im Garten wie auch im Haus.
Ende August. Nach dem August kam der September und damit das neue Schuljahr, eine neue Schule, voller wildfremder Leute. Sandra hatte zuerst alles versucht, um ihre Eltern davon zu überzeugen, nicht umzuziehen, aber schließlich hatte sie nachgegeben. Ihr Vater würde in seiner neuen Arbeitsstelle mehr verdienen, und die Gegend war wirklich schön.
Warburg war eine Stadt mittlerer Größe mit einer malerischen Altstadt. Sandras Eltern waren ganz aus dem Häuschen gewesen, als sie gerade dort ein ruhig gelegenes altes Haus mit Garten zum Kauf gefunden hatten.
Das Haus im Tannenweg Nummer Vierzehn hatte ihnen auf Anhieb gefallen, ja es war Sandra sogar seltsam vertraut vorgekommen, so, als wäre sie schon einmal dort gewesen. Ihre Eltern hatten ihr allerdings fest versichert, sie wäre bestimmt niemals zuvor in einem Haus des Altstadtviertels gewesen, obwohl sie ja zwei Jahre ihres Lebens bereits in der Stadt verbracht hatte. Sie war im Warburger Marienhospital auf die Welt gekommen und fand es irgendwie seltsam, dass sie nun nach so vielen Jahren wieder in ihre Geburtsstadt zog. Ihre Eltern waren mit ihr aus Warburg in die Umgebung von München gezogen, kurz nachdem sie zwei Jahre alt geworden war, weshalb sie keinerlei Erinnerungen mit der Stadt verband. Jetzt war Sandra sechzehn, groß gewachsen, und würde im nächsten Jahr die Oberstufe des Hermann-Hesse-Gymnasiums in Warburg besuchen.
Das Leben hier wird wie ein Neubeginn, dachte sie, während sie gedankenverloren einen Vogel beobachtete, der sich auf dem Ast eines Apfelbaumes niederließ. Alles ist fremd, ich kenne hier niemanden und meine Freundinnen sind weit weit weg. Warum bin ich nur so ruhig, so gelassen? Eigentlich sollte ich vor Nervosität kaum still sitzen können, aber genau das tue ich gerade.
,,Kommst du runter zum Essen, Sandra?“ Ihre Mutter steckte den Kopf zur Zimmertür herein und riss sie aus ihren Tagträumen.
,,Ja, ich komme schon“, antwortete sie und machte sich auf den beschwerlichen Rückweg zur Tür.
Die Mutter runzelte die Stirn: „Diese Kartonstapel sind wirklich sehr hinderlich. Ich denke, da sollten wir gleich morgen mit dem Auspacken beginnen. Was meinst du?“
,,Das ist eine tolle Idee Mama, aber das können wir doch auch beim Abendessen besprechen.“ Sandra drückte sich an ihrer Mutter vorbei und ging von ihr gefolgt hinunter ins Ess- und Wohnzimmer.
Während die Familie Nudeln mit Tofu-Sahnesoße verspeiste, kam Sandras Mutter erneut auf das Thema Umzugskartons zu sprechen. Das Einzige, was ihr Mann daraufhin zwischen zwei vollen Löffeln Nudeln erwiderte, war: ,,Ich hab früher gar nicht gewusst, dass wir so viele Sachen haben. Aber keine Sorge, wenn die in unserer alten Wohnung Platz hatten, werden wir mit der Unterbringung in diesem riesigen Haus jawohl keinerlei Probleme haben. Und wenn die ganzen Sachen erst einmal ausgepackt sind und einen hübschen neuen Platz gefunden haben, dann sieht es gleich wieder viel leerer aus. Mach dir darüber bloß keine Sorgen.“
Die Mutter seufzte. „Meiner Meinung nach hätten wir den Umzug ja als Anlass nehmen sollen, ein wenig von dem Krempel zu entsorgen, aber das könnte man jetzt vielleicht wirklich endlich...“
Sie brach ab, da sie von zwei Augenpaaren entrüstet angestarrt wurde.
,,Ja, ja, schon gut. Ihr alten Sammler seid nun mal leider in der Überzahl, und es ist doch auch ganz nach eurem Wunsch jede noch so hässliche Keramikfigur vom Flohmarkt mit hierher gezogen!“
Eine Weile schwieg sie ein wenig beleidigt, doch dann verfiel sie in begeistertem Ton in einen ganzen Vortrag von Ideen, wie man den Garten gestalten könne. Sie merkte nicht, dass weder ihr Gatte noch ihre Tochter besonders aufmerksam zuhörten. Der Vater kratzte penibel seinen Teller sauber und Sandra studierte mit höchster Konzentration die Aufschrift auf einem der Umzugskartons. Sie musste sich abwenden, um ein Gähnen zu verbergen.
Als sie später ins Bett stieg, fühlte sie sich todmüde, aber einschlafen konnte sie trotzdem nicht sofort. Sie betrachtete die Kistenstapel im Schein des Mondes, der durch das Fenster hereinfiel. Ein wenig unheimlich sahen sie aus, voller Schatten und dunkler Ecken. Das Mondlicht malte Muster in verschiedenen Grau- und Schwarztönen auf ihre papierenen Oberflächen. Kurz kam ihr der Gedanke, dass sie hoffentlich nicht umfallen würden in der Nacht.
Sandra schloss lieber die Augen und fuhr sanft mit der Hand über die Bettdecke. In dieser Nacht. Der ersten Nacht in ihrem neuen Zuhause. Erstaunlicherweise überkam sie jetzt wieder das Gefühl der Vertrautheit, das sie verspürt hatte, als sie zum ersten Mal über die Schwelle dieses Hauses getreten war.
Während sie sich noch fragte, warum sie sich inmitten von Kartonstapeln in fremder Umgebung so sicher, so vertraut und geborgen fühlte, glitt sie langsam in den Schlaf hinein. In dieser Nacht schlief sie so gut, wie schon lange nicht mehr.
Emarin verharrte einen Augenblick auf der Türschwelle und sah sich nach beiden Seiten um, bevor sie auf die Straße hinaustrat. Jeder Bewohner von Bakoll, und vermutlich auch allen anderen Städten, machte das ganz automatisch, und ohne darüber nachzudenken.
„Bevor du eine Straße betrittst, sieh dich um, ob auch nicht gerade eine Kutsche vorbeifährt, damit du nicht überfahren wirst!“ Wie oft hatte Emarin diesen Satz von ihrer Mutter zu hören bekommen, als sie kleiner war.
Keine Kutsche oder ein sonstiges Gefährt war jetzt in Sicht, also machte sie sich in bester Laune auf den Weg in Richtung Marktplatz. Das Haus, in dem sie lebte, lag in einem ruhigeren Viertel der Stadt, weshalb die kleinen Straßen und Gässchen meist relativ ausgestorben wirkten. Nur einzelne Personen und kleinere Fuhrwerke, sowie spielende Kinder, brachten ein wenig Leben in die sonst so stille Gegend.
Die Straßen, durch die Emarin lief, waren gesäumt von alten Wohnhäusern, deren Bausubstanz aus Sandstein und Holz bestand. Dazwischen fand sich immer mal wieder ein kleines Geschäft oder eine Werkstatt, vor deren Türen sich die Inhaber mit Kunden beschäftigten oder auch einfach ihrer Arbeit im Freien nachgingen.
Im Vorbeigehen grüßte Emarin einige Leute, die sie kannte, und betrachtete die Auslegeware vor den Geschäften. Ein Blick in die Schaufenster lohnte sich ebenfalls fast immer, da in manchen der Läden wirklich außergewöhnliche Dinge zum Verkauf angeboten wurden. An einem der Schaufenster blieb sie auch dieses Mal stehen und sah sich interessiert die Artefakte an, die darin auf samtene Tücher gebettet auf Käufer warteten.
Vor diesem Laden blieb sie fast ausnahmslos immer stehen. Es war ein Verkaufs- und Handelsposten für allerlei seltsame Gegenstände, die teilweise wahrscheinlich als Hilfsmittel für die Anwendung höherer Magie genutzt wurden, aber so genau wusste Emarin das nicht, obwohl es sie sehr interessiert hätte. Bei einigen der Gegenstände hatte sie nicht die leiseste Ahnung, worin ihr Zweck liegen könnte.
Sie hatte schon oft überlegt, ob sie den Ladeninhaber einmal danach fragen sollte, den Gedanken aber stets sofort wieder verworfen. Der alte Mann hatte etwas leicht Gruseliges an sich und sie hatte einfach nicht den Mut aufgebracht, ihn anzusprechen. Außerdem würde er sie wahrscheinlich ohnehin nur von Kopf bis Fuß mustern und sie barsch wieder vor die Tür scheuchen.
Dass sie kein Kunde in seinem Geschäft war, auch kein zukünftiger, das sah man ihr auf den ersten Blick an. An ihrem Aussehen, dem ausgebleichten Kleid und dem Umhang mit den Löchern, die die Motten im letzten Herbst hineingefressen hatten, an den alten Lederschuhen, die eigentlich dringend neue Sohlen benötigten. Ja, dass sie nicht sehr wohlhabend war, konnte man leicht erkennen. Von ihrem gesamten Geld könnte sie nicht einmal das kleinste der Dinge im Laden bezahlen.
Leider achteten die Besitzer kleiner Warengeschäfte immer nur darauf, wer möglicherweise als Kunde in Betracht kam. Daran, dass man einfach nur aus Neugier etwas über die Objekte wissen wollte, dachten sie nie. Die Einteilung lautete: potenzieller Käufer? Wenn ja: freundliche, zuvorkommende Behandlung. Wenn nein: missbilligende Ignoranz oder die Aufforderung, das Geschäft zu verlassen.
Emarin war ganz in die Betrachtung eines kleinen Erdmodells mit seltsamen Zeichen vertieft, als das ferne Läuten einer Kirchturmglocke sie wieder daran erinnerte, worin ihre eigentliche Aufgabe bestand. Mühsam riss sie sich von dem Anblick los und setzte ihren Weg durch das Gewirr von Sträßchen fort.
Langsam wurden die Straßen bevölkerter, da sie sich dem Stadtzentrum näherte. Pferdekutschen bahnten sich einen Weg durch die Menschen, die kreuz und quer auf der Straße herumliefen, die einen in diese Richtung, andere in die entgegengesetzte, und wiederum andere standen mitten im Weg und unterhielten sich. Während die einen gemächlich die Straßen entlang schlenderten, schienen andere es eilig zu haben, zu einem bestimmten Ziel zu gelangen, manche rannten sogar.
Emarin fühlte sich in dem Gewimmel geborgen. Sie war in Bakoll aufgewachsen, und die Stadt glich, zumindest an Markttagen, in den Straßen in der Umgebung des Stadtzentrums immer einem Schwarm aufgescheuchter Bienen.
Geschickt schlängelte sie sich durch die Menschenmenge, die sich hauptsächlich in eine Richtung zu bewegen schien, in Richtung des Marktplatzes, einem großen gepflasterten Platz im Herzen der Stadt. Der Marktplatz war auch Emarins Ziel und so ließ sie sich einfach von der Menge mittreiben.
Ein ganz bestimmter Duft lag jetzt in der Luft. Es war der Duft, der Emarin zeigte, dass sie sich dem Markt näherte, ein Gemisch aus den unterschiedlichsten Gerüchen. Von Käse, knusprig frischem Brot und Gemüse über alte, verstaubte Bücher bis hin zu Tiermist – alles, was auf dem Markt angeboten wurde, jeder noch so schwache Duft, vermischte sich in der Luft zu einem überwältigenden Geruchserlebnis. Dazu kam natürlich noch der Geruch von sehr vielen Menschen, die an einem einzigen Ort zusammentreffen. Ein Hauch von Magie lag ebenfalls über dem Marktplatz und bewirkte eine aufregende, spannende und doch auch entspannte Atmosphäre, die sich über die Marktbesucher und Händler legte.
Emarin liebte den Geruch, den der Markt verströmte, und genoss es, zwischen den Verkaufsständen hindurch zu schlendern. So war es auch heute, nachdem sie den Platz durch einen großen steinernen Torbogen betreten hatte.
Sie kaufte zuerst Gemüse und Brot und machte sich dann auf die Suche nach einem Stand, bei dem es Kerzen zu kaufen gab. Ihr Vorrat zu Hause war fast aufgebraucht und neue Kerzen waren dringend nötig, vor allem, da es jetzt auf den Herbst zuging und es schon wieder begann, früher dunkel zu werden.
Endlich wurde sie fündig und stellte sich hinter einer klapperdürren älteren Dame in die Reihe, die sich vor dem Stand gebildet hatte. Anscheinend war ihre Familie nicht die einzige, die zur Zeit einen Mangel an Kerzen zu beklagen hatte. Emarin machte sich auf eine längere Wartezeit gefasst, was ihr allerdings nicht sehr viel ausmachte. Auf dem Markt gab es eigentlich immer irgendetwas zu betrachten, und es war auch manchmal ganz interessant, den Gesprächen der Menschen um sie herum zu lauschen. Auch heute vertrieb sie sich die Zeit damit, ihren Blick über die Marktstände in ihrer Nähe schweifen zu lassen.
Sie beobachtete gerade einen kleinen Jungen am Stand links von ihr dabei, wie er versuchte, sich weit genug nach oben zu strecken, um an einen Korb mit wunderschön glitzernden Seifenstücken zu gelangen, während seine Mutter um den Preis für einen Badezusatz mit Pfefferminzduft verhandelte, als sie ein paar Satzfetzen eines Gespräches auf ihrer rechten Seite aufschnappte, die sie aufhorchen ließen.
„… schon der zweite Tote in diesem Monat! Ich habe gehört, es sei Mord gewesen, aber anscheinend sind die Schutzbeamten nicht ganz sicher. Bald traue ich mich nicht mehr aus dem Haus, wenn diese seltsame Sache nun auch in Bakoll anfängt!“
Emarin drehte sich um. Die Stimme gehörte der Marktfrau am Stand gegenüber. Sie unterhielt sich mit einem jungen Mann, der mit dem Rücken zu Emarin stand, sodass sie sein Gesicht nicht sehen konnte. Er trug eine schwarze, teuer aussehende Hose und ein ausgeblichenes dunkelgrünes Hemd, außerdem war er groß und wirkte kräftig. Sein halblanges Haar war von einem dunklen Braun und sah ziemlich zerzaust aus.
Als er sprach, war seine Stimme ruhig, vielleicht sogar ein wenig desinteressiert, so wie die der meisten Marktkunden, wenn sie während des Einkaufs ein wenig mit den Verkäuferinnen schwatzten: „Wie viele Todesfälle gab es denn in den anderen Städten insgesamt? Wisst Ihr das zufällig?“
„Ich glaube, ungefähr zwanzig. Hat zumindest ein Reisender gestern erzählt“, sagte die rundliche Frau mit gesenkter Stimme. „Zwanzig! Die sollten sich wirklich mal beeilen, die Todesursache festzustellen, sonst werden die zwei armen Seelen wohl nicht die einzigen Opfer in Bakoll bleiben. Ich muss sagen, ich bekomme schon ein wenig Angst, wenn ich daran denke...“
„Das ist tatsächlich eine seltsame Angelegenheit, das Ganze. Anscheinend sind die Schutzbeamten damit vollkommen überfordert. Und keine äußeren Auffälligkeiten, keine Spuren von angewandter Magie... Hoffentlich finden sie bald heraus, woran die Leute gestorben sind, und vielleicht wäre es sinnvoll, mit den außerstaatlichen magietechnischen Institutionen zusammenzuarbeiten, der Defensivakademie zum Beispiel.“ Der Tonfall des jungen Mannes war weiterhin desinteressiert, doch es schwang etwas darin mit, das Emarin sicher machte, dass die Sache ihn in Wirklichkeit mehr interessierte, als er vorgab.
Jetzt war die Marktfrau fertig mit dem Zusammenpacken der Ware. Kräuter, wie Emarin erkannte, allerdings keine zum Heilen, soviel konnte sie sehen. Der junge Mann kramte in einem Lederbeutel nach seinem Geld.
Seltsame Todesfälle hier im ruhigen Bakoll? Die Stadt war eigentlich nicht gerade für eine hohe Konzentration von Verbrechen bekannt. Von Mord hatte Emarin schon seit elf Jahren niemanden mehr erzählen hören, seit der Sache mit dem geistesgestörten Ärztemörder. Damals hatte sie große Angst um ihre Mutter gehabt, da diese der Zunft der Kräuterheilerinnen angehörte.
Der junge Mann verabschiedete sich von der Verkäuferin und wandte sich um. Emarin sah jetzt, dass er nicht viel älter zu sein schien als sie selbst, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt.
Er blieb einen Moment stehen und sah sich um, ließ die Augen aufmerksam die Gegend um ihn herum durchkämmen. Emarin beobachtete ihn noch immer, als sich plötzlich ihre Blicke begegneten. Sie hielt dem forschenden Blick seiner Augen stand, auch wenn sie sich eigentlich abwenden sollte. Es gehörte sich nicht, fremde Leute so anzustarren! Doch dieser Blick, diese Augen, sie fesselten Emarin, hielten sie in ihrem Bann. Grau waren sie, wie der Nebel, der morgens in den Bäumen am Ufer der Flüsse hing, doch sie waren nicht verschwommen, sondern klar, und sie wirkten auf irgendeine Weise so, als hätten sie schon zu viel gesehen für ein Leben. In ihnen lag eine Traurigkeit, die tief im Herzen des Jungen verankert zu sein schien, verdrängt, doch keinen Augenblick überwunden. Er runzelte die Stirn, sah ihr jedoch weiterhin in die Augen.
„Willst du jetzt Kerzen kaufen oder nicht? Dazu stehst du doch da, oder?“
Erschrocken drehte Emarin sich um. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass die Schlange vor ihr mittlerweile geschrumpft war und nun nur noch sie allein dastand. Sie sagte dem Verkäufer, was sie brauchte, und sah dann rasch wieder nach hinten. Der Junge mit den Nebelaugen war verschwunden.
Emarin bezahlte für die Kerzen und machte sich dann auf, um noch Heilkräuter für ihre Mutter zu besorgen. Ihre Gedanken jedoch waren noch immer bei dem fremden Jungen, auch als sie sich auf den Heimweg machte.
Gedankenverloren ging sie durch die Gassen und Straßen und dachte über das Gespräch nach, das sie mitbekommen hatte.
Zwei Tote in Bakoll, ungeklärte Todesursache, zwanzig weitere Opfer in anderen Städten, Schutzbeamte überfordert. Wirklich rätselhaft. Doch halt, was hatte der junge Mann noch gesagt? Irgendetwas daran war ihr seltsam vorgekommen, aber sie konnte sich einfach nicht erinnern. Was hatte er gesagt, was war ihr aufgefallen?
Sie dachte angestrengt nach, doch es fiel ihr nicht ein, sosehr sie auch versuchte, die Szene noch einmal in ihrem Kopf durchzugehen. Das Einzige, was ihr immer wieder im Geist erschien, war das Bild seiner Augen, undurchdringlich, geheimnisvoll und faszinierend.
Während der Abendmahlzeit fragte sie beiläufig, ob ihre Eltern etwas von seltsamen Todesfällen in neuester Zeit wüssten, doch diese schienen davon noch nichts gehört zu haben.
Später in ihrem Zimmer, als sie bereits im Bett lag, dachte sie noch immer darüber nach. Im Halbschlaf ging sie das Gehörte noch einmal im Kopf durch.
„… mit den außerstaatlichen magietechnischen Institutionen zusammenzuarbeiten, der Defensivakademie zum Beispiel.“
Ja, genau das hatte er gesagt, doch was war daran so ungewöhnlich?
Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Abrupt setzte sie sich auf. Er hatte ,,Defensivakademie“ gesagt! Keiner nannte diese geheimnisvolle Akademie bei ihrem offiziellen Namen. Im allgemeinen Sprachgebrauch hieß sie ,,Schattenpalast“, selbst von ihren Mitgliedern wurde sie nur bei diesem Namen genannt. Emarin hatte noch nie gehört, wie jemand die Akademie mit offiziellem Titel bezeichnete. Die meisten Leute wussten nicht einmal, dass sie noch einen anderen Namen besaß als den ihnen bekannten.
Der Schattenpalast trug offiziell die Bezeichnung „Wissenschaftliche Defensivakademie“.
Emarin wusste das nur, weil sie sich oft in der Nähe des riesigen, von einer hohen schwarzen Steinmauer umgebenen Gebäudekomplexes herumtrieb. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als einmal hinter die Mauer aus Stein zu blicken, die es unmöglich machte, herauszufinden, was die Mitglieder der Akademie darin taten. Die Mauer war schwarz wie die Nacht, sehr hoch, zinnenbewehrt und undurchdringlich. Sie schützte zuverlässig die Geheimnisse des Schattenpalastes vor unliebsamen Besuchern. Keiner wusste, was genau innerhalb der Mauer geschah, und nur selten bekam man eines ihrer Mitglieder in den Umhängen der Akademie, schwarz mit silbernen Ärmelaufschlägen und rotem Zeichen des Schattenpalastes, außerhalb zu Gesicht.
Die ganze Gemeinschaft war von Geheimnissen umwoben und sie ließen nichts davon nach außen dringen. Das Einzige, das Emarin wusste, war, dass die Akademie als eine Art Kampfgemeinschaft gegen Kriminalität zu agieren schien und sich mit höherer Magie befasste.
Sie hatte versucht, mehr über den Schattenpalast in Erfahrung zu bringen und sich sehr oft in seiner Umgebung aufgehalten, aber sie hatte auch dadurch kaum Neues herausgefunden. Nur den eigentlichen Namen hatte sie erfahren.
Es war Nachmittag gewesen und das stechende Licht der Sonne war langsam in einen warmen Goldton übergegangen. Sie hatte sich genau gegenüber des eisernen Tores, das in der Mauer aufragte, befunden, als ihr Blick auf den steinernen Torbogen gefallen war. Die Sonne hatte ihn in einem bestimmten Winkel beschienen, sodass er in goldenem Glanz erstrahlt hatte, und plötzlich hatte sie eine Inschrift im dunklen Stein des Bogens erkannt, die ihr nie zuvor aufgefallen war.
Die Buchstaben waren zwar vom Alter verwittert, aber dennoch deutlich lesbar gewesen. Wissenschaftliche Defensivakademie, diese Bezeichnung hatte sie gelesen, bevor das Sonnenlicht wieder den Schatten gewichen war.
Emarin lehnte sich auf ihr Kissen zurück und seufzte. Geheimnisse, allein daraus schien diese Akademie zu bestehen. Ebenso wie die seltsamen ungeklärten Todesfälle. Und was hatte der fremde Junge mit dem zerzausten dunklen Haar und den grauen Augen damit zu tun?
Während sie noch darüber nachdachte, übermannte sie der Schlaf, und in ihren Träumen begegneten ihr schwarze Mauern und Leichen, die auf Bänken saßen mit einem Gesichtsausdruck, als würden sie noch leben. Dazwischen tauchten immer wieder die Gesichtszüge des Jungen mit den dunklen Haaren aus verschwommener Dunkelheit auf, dessen Augen so grau waren wie der Nebel über dem Fluss…
Ich sage dir, diese Mordfälle sind nicht als Standardfälle einzustufen. Die Umstände sind viel zu seltsam. Wenn die Schutzbeamten der Mordkommission schon vor einem Rätsel stehen, muss es sich meiner Meinung nach um Sonder-, nein, Spezialfälle handeln! Ich meine, die sind ja öfter mit sowas konfrontiert und kennen sich da ziemlich gut aus. Zu schade auch, dass du dieser Marktfrau nicht mehr Informationen entlocken konntest.“
,,Ich glaube, die wusste wirklich nichts weiter. Du weißt ja, wie sie sind: verbreiten allen Klatsch und Tratsch, den sie irgendwo aufschnappen konnten. Vielleicht nicht gerade die zuverlässigsten Informationsstellen, aber kaum einer ist besser über die neuesten Gerüchte im Bilde. Wir können ja schlecht zu den Schutzbeamten hingehen und uns nach den Neuigkeiten in den Mordfällen erkundigen. Die haben, soweit ich weiß, ein Schweigegebot, und außerdem sehe ich nicht gerade sehr vertrauenswürdig aus, in Zivilkleidung meine ich.“
Das warme Sonnenlicht eines Augustnachmittages schien durch die Blätter der Bäume und wärmte die Rücken der beiden Jungen, die durch den weitläufigen Park schlenderten und sich dabei in gedämpftem Ton unterhielten.
Der Park umgab ein großes, verwinkeltes und aus mehreren Teilgebäuden bestehendes Bauwerk, dessen schwarze Mauern ebenfalls von der Sonne in ein sanftes Licht getaucht wurden, was es weniger bedrohlich wirken ließ.
Die Jungen bogen in einen anderen Weg ein, während der eine Junge, klein und schmächtig, den anderen mit gerunzelter Stirn von oben bis unten musterte. Das Objekt dieser Musterung war um einiges größer und auch kräftiger als sein Begleiter.
,,Mmmh, vielleicht hast du recht. Dir würde man vermutlich nicht mal einen unwichtigen Brief anvertrauen, geschweige denn geheime Informationen. Wie ein zwielichtiger Halunke siehst du heute wieder aus...“ Er lachte: ,,Also mal im Ernst. Ich kenne niemanden, dem ich mehr anvertrauen würde als dir! Arkyrian, der Musterknabe, begabt, lernfreudig, absolut zuverlässig und geduldig. Und natürlich der beste Freund, den man sich vorstellen kann.“
Der größere Junge wirkte etwas verlegen, als er antwortete: ,,Du scheinst ja ganz schön viel Vertrauen zu mir zu haben, Lirion. Ich kann auch alle Komplimente ehrlich erwidern - na ja, außer dem lernfreudig, das trifft bei dir nun mal nur gelegentlich zu.“
Lirion grinste: „So gut wie nie meinst du wohl.“
Arkyrian machte eine wegwerfende Handbewegung. ,,Spaß beiseite. Wir müssen überlegen, wie wir mehr über diese Morde herausfinden könnten. Ich muss gestehen, die Sache interessiert mich wirklich. Eigentlich seltsam, dass noch nichts darüber in den Zeitungen stand“, sagte er nachdenklich und schob sich gedankenverloren eine widerspenstige Haarsträhne hinters Ohr. ,,Vielleicht wollen sie nicht, dass die Leute Angst bekommen. Oder sie wissen nicht genug, um darüber berichten zu können.“
Lirion zuckte nur mit den Schultern und machte ein ratloses Gesicht.
Eine Weile gingen sie schweigend nebeneinander her. Schließlich seufzte Lirion und meinte: ,,Wir sollten langsam wieder umkehren. Die Sonne geht schon unter und ich soll mich um fünf Uhr in Korthens Studierzimmer einfinden. Er will, glaube ich, vor der Abendmahlzeit noch prüfen, ob ich mich auch gut auf die morgige Prüfung in Theoretischer Schwarzer Magie vorbereitetet habe. Ich befürchte, er wird enttäuscht sein. Das Meiste hab ich zwar verstanden, aber eben nicht alles.“
Arkyrian sah den Freund mit hochgezogenen Augenbrauen an. ,,Wenn du gesagt hättest, dass du noch für eine Prüfung lernen musst, dann wäre ich nicht den ganzen Nachmittag mit dir im Sonnenschein spazieren gegangen und hätte über Todesfälle philosophiert. Wir hätten die Zeit sinnvoll nutzen können, um den Stoff nochmal durchzugehen. Du weißt, wenn du etwas nicht verstehst, kannst du mich immer fragen.“
,,Ich weiß, das wäre wahrscheinlich vernünftig gewesen, du hast ja recht“, meinte der Jüngere zerknirscht. Doch schon kehrte sein übliches freches Grinsen zurück. ,,Ach komm, heute war so ein schöner Tag und ich hatte einfach keine Lust, den Nachmittag mit Lehrbüchern und komplizierten Sachverhalten zu verbringen.“
Er bog voraus in einen Weg ein, wobei er bei jedem zweiten Schritt einen übermütigen Hopser vollführte.
Arkyrian folgte ihm kopfschüttelnd. Manchmal schien das Kind in Lirion den jungen Erwachsenen, zu dem er sich entwickelte, noch zu überwiegen. Vielleicht war das normal, dieses fröhliche, unbeschwerte Verhalten. Er selbst war anders, war auch in Lirions Alter anders gewesen, ernster, verschlossener, darauf bedacht, so viel wie nur möglich über die verschiedenen Ausprägungen der Magie zu lernen.