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Einer Frau wird in die Füße geschossen, später verschwindet sie. Von ihr werden blutverklebte Haarbüschel und ein Fetzen ihrer Kleidung gefunden. Ist sie ermordet worden oder gibt es noch Hoffnung? Die bekannten Kommissare Wolf Hetzer und Peter Kruse ziehen alle Register ihres kriminalistischen Könnens, um die Frau lebend finden zu können. Stundenlange Ermittlungen im Umfeld des Opfers bringen nach und nach grausame Details ans Licht. Sie kommen einer gemeinen Intrige auf die Spur und haben schließlich mehr Verdächtige als ihnen lieb ist. Doch die Zeit bleibt der größte Feind der beiden Kommissare. Während sich ihr Räderwerk im Schatten dreht, ticken Sekunden aus Blut.
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Veröffentlichungsjahr: 2012
Im Verlag CW Niemeyer sind bereitsfolgende Bücher der Autorin erschienen:
SchattenHautSchattenWolf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2012 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller
Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel
Printed in Germany
ISBN 978-3-8271-9412-1
E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
E-Book ISBN 978-3-8271-9812-9
Der Roman spielt hauptsächlich in einer allseits bekannten Stadt des Weserberglands, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über die Autorin:
Nané Lénard alias Nicolé-Annette Leonhard wurde 1965 in Bückeburg geboren und ist Mutter zweier erwachsener Kinder. Nach dem Abitur und einer Ausbildung im medizinischen Bereich studierte sie später Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Neue Deutsche Literaturwissenschaften.
Von 1998 an war sie als freie Journalistin für die regionale Presse tätig. Seit 2009 an arbeitet sie im Bereich Marketing und Redaktion bei einem Dienstleistungsunternehmen.
Von ihr wurden bereits mehrere Gedichte und Kurzgeschichten sowie gemeinsam mit Claudio di Facere im Ensemble „Zweins” die Hörbücher „Gleisgesänge“, „Erotic Art“, die „Fürstenblut“- Reihe und zwei Kurzfilme auf YouTube veröffentlicht.
Beim Literaturwettbewerb von Niedersachsen und Bremen 2010 belegte sie mit „Helmut” den zweiten Platz. Platz drei und zehn erlangte sie beim Wettbewerb „Bückeburg mordet”. Gemeinsam mit Claudio di Facere als Zweins wurde dem Duo mit „Gesicht zeigen” ein Hörspiel-Preis auf der Leipziger Buchmesse verliehen.
Mehr über Nané Lénard und ihre Aktivitäten erfahren Sie unter www.prosa-lyrik.de
Aus schleichender Angst
rinnt ein starkes Gift,
in Nerven, ins Fleisch und ins Blut.
Es quält seinen Träger, es peinigt ihn wach
und nichts, was je schön war, bleibt gut.
Zur Nacht schenkt es Grübeln,
denn das mehrt die Angst,
um tags drauf sein Opfer zu plagen,
das so mit dem Feind um sein Leben ringt,
und doch sich nie traut, es zu sagen.
So hat - was er war – auch kein Feind je gewusst,
nun ragt ihm die Spitze des Dolchs aus der Brust.
Ein Schuss, aus nächster Nähe. Noch während sie das Pfeifen hörte, spürte sie schon den Schmerz an ihrem Knöchel. Panik überschwemmte sie, ein inneres Wissen. Es würden weitere folgen, bis sie getroffen war. Der zweite Schuss schlug durch ihren Fuß. Sie schrie auf, warf sich hin und zitterte. Dann war Ruhe.
Auch unter der Frankenburg konnte der Sommer nicht halten, was der Frühling versprochen hatte. In strömendem Regen fuhr Kommissar Wolf Hetzer die Kirschenallee hinab und ärgerte sich immer noch.
Es machte ihm keinen Spaß, schon morgens mit dem Hund nass zu werden. Heute hatte es ihn eine komplette Montur gekostet, einschließlich Jacke. Warum musste seine Schäferhündin Lady Gaga auch genau in dem Moment in eine Pfütze springen, als er gerade in Reichweite war?
Den Fluch hörten die Bäume nicht, und Gaga war es egal, sie lief schwanzwedelnd neben ihm her. Von oben bis unten war alles versaut, auch der Hund. Mit dem Gartenschlauch entfernte er den gröbsten Morast aus dem Fell und rubbelte es trocken. Der Rest würde später als feiner Staub auf dem Boden liegen. Seine Klamotten schmiss er mit einem Seufzen in die Waschmaschine und zog sich um.
Auf der Fahrt zur Dienststelle ließ sein Grummeln langsam nach. Er freute sich nach drei freien Tagen auf Peter und stellte das Radio an.
„…durch Schüsse in die Füße verletzt. Vom Täter fehlt bisher jede Spur. Und nun der Wetterbericht…“
Hetzer stellte ab. Er wusste schon, dass es regnete und wollte nicht auch noch hören, dass das so weitergehen würde. Die Meldung mit den Füßen war allerdings interessant. Er hatte nur nicht mitbekommen, wo es passiert war. Vielleicht wusste Peter schon mehr, dachte er bei sich und bog mit einem eleganten Schlenker auf den Parkplatz im Hasphurtweg ein.
Peter stand schon am Fenster und winkte hektisch, aber Wolf ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er war schließlich rund zehn Jahre älter und ging auf die fünfzig zu. Außerdem war er froh, dass der Rücken ihn derzeit nicht plagte. Also immer schön bedächtig und keine falschen Drehungen. Gemächlich stieg er aus dem Wagen und winkte zurück. Dabei grinste er frech, und Peter zog oben hinter der Scheibe eine Grimasse. Wie hatte er das vermisst.
Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen grüßte er den Schichtführer am Eingang und sprang zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf. Doch bis oben kam er gar nicht. Auf halbem Weg fing ihn Peter ab und schüttelte den Kopf.
„Und wo haben wir wieder unser Handy, Herr Hauptkommissar?“
Wolf stutzte, dachte nach und fluchte dann zum zweiten Mal an diesem Tag.
„Willst du es genau wissen?“
„Ich bitte darum!“
„In der Waschmaschine!“
„Kein guter Ort für ein Mobiltelefon der modernen Generation. Hattest du das nicht erst neu?“, legte Peter den Finger in die Wunde.
„Ach was, uralter Schinken, das hab ich schon mindestens drei Wochen, vielleicht auch vier.“
„Vielleicht geht wenigstens die SIM-Karte noch. Sollen wir eben zu dir hoch fahren?“ Peter konnte sich das Lachen kaum verkneifen.
„Nee, ich nehme das aus dem Büro. Warum hast du eigentlich so unruhig gewinkt und fängst mich schon hier auf der Treppe ab?“
„Ich hab dich schon versucht auf dem Handy anzurufen. Du hättest dir den Weg sparen können.“
„Wieso?“
„Das ist eine lange Geschichte. Ich erkläre dir alles unterwegs. Komm einfach mit.“
Hetzer runzelte die Stirn, folgte seinem Kollegen aber zum Dienstwagen und stieg ein.
„So, nun aber. Du machst mich ja neugierig.“
Peter startete den Wagen und fuhr los.
„Also das war so: Unser Bückeburger Kollege Bernhard Dickmann ist am Wochenende mit seiner Familie samt Hund in den Urlaub nach Schweden, Norwegen oder sonst wohin gefahren. Auf jeden Fall hat er keinen Handyempfang. Sein Partner Ulf Hofmann ist beim Pflücken vom Baum gefallen. Er liegt jetzt mit einem Beckenbruch im Krankenhaus und wird mindestens sechs Wochen keinen Dienst wahrnehmen können. Das war die Kurzform.“
„Mist!“
„Ja, Mist, und vor allem auch deswegen, weil wir die beiden vertreten werden. Doppeltes Jagdrevier also, Herr Wolf.“
„Na super!“
„Ist von Nienburg so bestimmt worden. Du hast doch in Bückeburg jahrelang Dienst geschoben. Bist du nicht sogar dort geboren worden?“
„Das ist lange her…“
Wolf Hetzer starrte nach vorn. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Es war wie ein Flashback. Kruse konnte nichts dafür. Die Worte fehlten ihm. Er dachte an sie. Sah sie mit ihrem wehenden Haar gegen die Sonne und hatte ihren Duft in der Nase. Trauer schwappte wie ein Tsunami über ihm zusammen.
„Wolf?“
„Ja.“
„Was ist los?“
„Nichts.“
„Ist es wegen damals?“ Peter kannte die Geschichte nur von Erzählungen oder aus der Zeitung. Wolf hatte nie mit ihm darüber gesprochen und er hatte nicht gefragt. Über manche Wunden wuchs nur eine dünne Haut.
„Ich ärgere mich nur wegen des Handys.“
„Okay, dann ist ja gut.“ Peter wusste genau, dass das nicht die Wahrheit war, denn Wolf waren solche banalen Dinge egal. Er sagte nichts, nahm sich aber vor, dies zu einem anderen Zeitpunkt zu tun. „So, und jetzt zum eigentlichen Grund unserer Reise. Heute Morgen ist einer Frau in die Füße geschossen worden.“
„Hab ich im Radio gehört und wo?“
„An der Parkpalette in Bückeburg. Kennst du die?“
„Sicher, ich kenne jeden Winkel, die ist in der Nähe des Schlosses. Wir kommen stadteinwärts direkt darauf zu.“
„Gut, ich nehme an, die SpuSi aus Stadthagen ist auch schon da.“
„Wird wohl nicht viel zu finden sein, bei dem Regen!“
„Wer weiß…“
Der Rest der Fahrt in die ehemalige Residenzstadt verlief schweigend. Wolf wirkte, als ob er nicht da war. Es saß nur seine Hülle auf dem Sitz. Peter machte sich ernsthaft Sorgen, ob ihn diese alte Geschichte immer noch so mitnahm.
„So, jetzt den Kreisel auf neun Uhr verlassen“, sagte Wolf und war aus seiner Trance erwacht. Mit einem Mal schien er wieder der Alte zu sein. „Nächste gleich rechts, dann sind wir da.“
Als Kruse in die Kestner-Straße einbog, sah er schon die Wagen der Spurensicherung. Er parkte dicht neben den Streifenwagen und seufzte:
„Leider nix für Nadja dabei heute!“
Wolf Hetzer schüttelte den Kopf. „Kruse, Kruse, die Hormone scheinen deine Hirnwindungen aber ganz schön zu beeinträchtigen.“
„Ich meinte damit nicht, dass einer tot sein sollte!“, schmollte Peter.
„Vielleicht könntet ihr euch mal außerhalb des Dienstes treffen?“
„Tolle Idee und wie?“
„Lad sie einfach ein!“
„Zu mir nach Hause?“
„Wohin auch immer…“
„Ich weiß nicht.“
„Was weißt du nicht? Ob du das willst?“
„Nein. Ich will schon, aber sie könnte Nein sagen.“
Sie hatten jetzt Mimi und Seppi von der Spurensicherung erreicht und ließen das Gespräch im Raum stehen. Hetzer nahm sich vor, es später wieder aufzunehmen. Peter war ein fähiger Kollege und guter Freund. In Liebesdingen schien er allerdings ein wenig vertrottelt zu sein.
Als Mimi ihn frech angrinste, fiel ihm die Osternacht wieder ein. Die hatte er völlig verdrängt. Er hoffte, dass sie keine anzüglichen Bemerkungen machen würde.
„Na, Wolf, bist du im fremden Jagdrevier unterwegs?“ Eine eindeutig zweideutige Begrüßung, die Hetzer nonchalant mit einem: „Küss die Hand, gnädige Frau!“ überspielte und sofort „Habt ihr schon was gefunden?“ anfügte, um das Gespräch auf eine neutrale Ebene zu ziehen.
„Zwei Hülsen dort hinten im Untergeschoss der Parkpalette bei den Stellplätzen der Landeszeitung und ein Projektil auf dem Parkplatz der Commerzbank, just hinter der Schranke.“ Seppi streckte sich, er hatte zu lange gebückt gesessen. „Ansonsten wird es hier nicht viel zu entdecken geben. Fußspuren gibt es keine auf den gepflasterten Steinen. Ein bisschen Blut klebte an dem Projektil – na ja, eher eine magere Ausbeute.“
Hetzer rieb sich das Kinn und fragte: „Und das andere Projektil? Habt ihr schon nachgesehen, ob das irgendwo steckengeblieben ist?“
Mimi und Seppi sahen Wolf fragend an.
„Wieso? Wo soll das schon sein? Ich nehme doch an, im Labor.“
Seppi schlug sich vor die Stirn.
„Ach, ihr seid zuerst hierhergekommen. Jetzt verstehe ich. Der andere Schuss ging doch direkt in den linken Fuß. Glatter Durchschuss. Sie hat Glück gehabt, es ist wahrscheinlich nicht mal ein Knochen getroffen worden – eigentlich ein Wunder.“
„Ja, aber dann muss doch das Ding irgendwo liegen!“, wandte Peter ein.
„Nein, es blieb in der Specksohle ihres Spangenschuhs stecken. Sie trug diese Entenschuhe, kennt ihr die noch? Die gab es mal in den 80er-Jahren. Robustes Leder und eine richtig dicke Kreppsohle aus Leder und Rohgummi. Unverwüstlich und erst richtig gut, wenn sie eingelatscht waren. Vor allem absolut durchschusssicher!“, lachte Seppi, der bei dem Gedanken an seine Jugendzeit ins Schwärmen gekommen war.
„Sag nicht, dass du diese komischen Dinger auch getragen hast?“, stichelte Mimi. „Ich weiß, welche du meinst. Na ja, zu deinem Ökobart würden sie ja passen.“
Seppi zupfte an seinem roten Vollbart. „Eigentlich eine gute Idee! Ich könnte mir mal wieder welche zulegen. Und du strickst mir dann eine Mütze für meinen kahlen Schädel.“
„Ich denke überhaupt nicht daran. Ich kann auch nicht stricken.“ Mimi fixierte ihn mit einem bösen Blick und sagte: „Bleib mir mit diesem Hausfrauenmüll vom Hals. Falls du eine Rundumversorgerin suchst, in mir findest du die nicht.“
„Klare Ansage!“, schmunzelte Peter. Und Wolf Hetzer dachte daran, dass sie durchaus ihre Qualitäten hatte, wenn er sich auch darüber hinaus kein Urteil erlauben konnte.
„Na fein, wisst ihr, ob die Frau noch im Krankenhaus ist? Wie heißt sie überhaupt?“
„Marie-Sophie Schulze aus Bergdorf. Ich denke nicht, dass sie überhaupt noch ins Krankenhaus gegangen ist. Ihr Chef, Dr. Wiebking, war kurz hier und hat draufgeschaut. Er hat seine Praxis in der Schulstraße. Frau Schulze ist seine Angestellte. Sie war vor dem Vorfall ganz kurz in der Apotheke, sagte sie und wirkte ziemlich unruhig.“
„Das ist ja wohl kein Wunder, wenn auf sie geschossen wurde.“ Peter lehnte sich an die Hauswand.
„Nicht nur“, antwortete Seppi, „sie war auch in Sorge um die Frau ihres Nachbarn, die sie betreut.“
„Wieso?“
„Die Frau ist schwer krank und brauchte dringend ein Medikament, sollte aber wohl nicht zu lange allein gelassen werden. Frau Schulze hat für ein paar Tage die Pflege übernommen. Sie wollte dringend nach Hause zurück, um nach ihr zu sehen.“
„Die ist ja hartgesotten. Will mit ihrem durchschossenen Fuß gleich wieder Hilfe leisten. Den sollte sie doch besser erst mal hochlegen.“ Peter schüttelte den Kopf.
„Denkst du, wir Frauen seien Memmen?“, fragte Mimi angriffslustig und blickte über vierzig Zentimenter zu Peter nach oben. Sie selbst war nur 1,55 Meter groß, während Peter Kruse nur ein einziger Zentimeter an zwei Metern fehlte, aber dafür hatte sie entschieden mehr Energie. „Ich bin mal mit einer Schnittwunde noch fast zwanzig Kilometer weitergeradelt. Das musste dann genäht werden.“
„Schon gut, Mimi“, sagte Hetzer süffisant, „ich weiß, dass du hart im Nehmen bist.“ Mimis Augen funkelten ihn mit einer Mischung aus Neugier und Wut an.
„Frau Schulze hat sich, nachdem ihr Chef sie untersucht hatte, nur im Krankenwagen versorgen und dann nach Hause bringen lassen, soweit ich weiß“, entschärfte Seppi die Diskussion. „Der Schuh samt Projektil ist schon nach Stadthagen gegangen.“
„Alles klar, dann werden wir jetzt mal nach Bergdorf fahren. Schreib mir mal bitte die genaue Adresse auf“, bat Hetzer.
„Hier ist der Zettel, hab ich extra für dich abgeschrieben, damit ihr nicht erst auf dem Bückeburger Revier nachfragen müsst.“
„Super, danke Seppi!“
Wolf Hetzer und Peter Kruse gingen zum Wagen zurück und Peter wedelte mit dem Schlüssel.
„Ist es nicht besser, wenn du fährst? Du kennst doch die Stadt wie deine Westentasche. Dann musst du nicht dauernd rechts, links oder so sagen.“
„Nee, mach du mal, ist fast immer nur geradeaus.“
Peter zuckte mit den Schultern und stieg ein.
„Den Kreisel dann also auf zwölf Uhr verlassen?“
„Richtig!“
Peter ließ das Amtsgericht rechts und das Krankenhaus links liegen.
„Über die abknickende Vorfahrt geradeaus“, sagte Wolf und träumte an den Villen in der Herminenstraße vorbei.
„Tolle Ecke hier!“, sagte Peter bewundernd.
„Ja, hier hab ich auch mal gewohnt, bis mir die Wohnung unter dem Hintern wegschimmelte.“
„Ihh, das ist ja ekelig!“
„Das kannst du laut sagen. Und der Vermieter hat nichts anderes getan, als uns auch noch zu schikanieren. Der Prozess läuft immer noch, inzwischen seit fünf Jahren. Jetzt hat das Schwein auch noch Berufung eingelegt. Ich hoffe, sie wird nicht vom Gericht angenommen.“
„Wie, du prozessierst deswegen schon fünf Jahre lang?“
Hetzer nickte.
„Da gehen sie hin, unsere armen Steuergelder!“
„Und meine Nerven… Jetzt hier links in die Hermannstraße.“
„Das nächste Mal kannst du etwas eher Bescheid sagen.“
„Stell dich nicht so an, das war doch noch rechtzeitig. Jetzt immer geradeaus, bis es nicht mehr weitergeht und dann rechts. Dann sind wir fast da.“
Peter knurrte und fand, dass es in diesem „Bergdorf“ ein ziemlich verwirrendes Wirrwarr aus kleinen, verkehrsberuhigten Straßen gab.
Er war froh, als der Weg plötzlich einfach in einem Wendehammer vor einem Haus endete, das sehr ungewöhnlich war.
„Irre Hütte!“, sagte er bewundernd und schlug die Autotür zu.
„Sieht irgendwie aus wie ein japanisches Teehaus mit diesen zwei Dächern übereinander.“
Hetzer lachte. „Gleich öffnet eine Dame im Kimono.“
„Wenn das der Fall ist, muss ich mich arg zusammenreißen, aber dieses grüne Zeug trinke ich nicht, nicht ums Verrecken!“
„Vielleicht gibt es Sushi!“
„Willst du mich vergiften? Ist das nicht toter Fisch in totem Algenblatt mit Reis oder so?“
„So ähnlich. Du kochst Reis, lässt ihn erkalten, ebenso Zucker mit Reisessig…“
„Spar dir die ausführliche Beschreibung. Mir ist schon schlecht. So einer wie du isst den Fisch bestimmt auch noch roh.“
„Ja, aber das muss auch so sein.“
Kruse verzog das Gesicht zu einer angewiderten Grimasse.
„Mein Herr, es muss gar nichts so sein. Es geht nichts über ein ordentliches Stück Fleisch!“
Hetzer sparte sich den Kommentar. Er schüttelte nur belustigt den Kopf und ging zur Haustür.
„Nun lass uns mal sehen, ob Frau Schulze zu Hause ist.“ Sie klingelten.
„Ja, bitte“, tönte es aus der Sprechanlage. „Sie wünschen?“
„Hetzer mein Name, Kripo Rinteln. Ich bin mit meinem Kollegen Kruse hier. Wir möchten Ihnen ein paar Fragen wegen heute Morgen stellen.“
„Können Sie sich ausweisen? Sie müssen verstehen, dass ich ängstlich bin. Man hat auf mich geschossen!“
„Das wissen wir. Deswegen sind wir ja hier. Wir zeigen Ihnen gerne unsere Ausweise.“
„Gut, dann komme ich zur Tür.“
Es dauerte eine Weile, bis ein schleppendes Geräusch immer lauter wurde. Durch die Glasscheibe konnten sie eine kleine Frau erkennen, die ihr linkes Bein durch eine Gehstütze entlastete.
Sie hielten ihre Ausweise an die Scheibe. Frau Schulze nickte und öffnete die Tür.
„Bitte entschuldigen Sie, dass ich so vorsichtig bin, aber ich habe Angst.“ Sie wirkte fahrig.
„Das verstehen wir doch! Es ist auch vollkommen richtig, dass Sie sich vergewissern, wen Sie in Ihr Haus lassen. Ein schönes Haus übrigens.“
„Vielen Dank, Herr … wie war noch Ihr Name?“
„Hetzer, Kriminalhauptkommissar Hetzer, und das ist mein Kollege Oberkommissar Kruse.“
„Ah ja, bitte folgen Sie mir. Ich muss das Bein unbedingt hochlegen, sonst bringen die Schmerzen mich um.“
Während sie zum Esstisch gingen, sah Hetzer sich um. Auch innen war das Haus sehr geschmackvoll gestaltet. Die melierten Fliesen changierten von blaugrau über beige zu terracotta, wobei sich letztere Farbe in den Wänden widerspiegelte. Die offene Küche wirkte freundlich in ihrem Vanilleton, ein Specksteinkaminofen, die vielen bodenlangen Fenster und der großzügige Wohnraum sagten ihm, dass hier am Bau nicht gespart worden war.
Sie setzten sich.
Frau Schulze legte ihr Bein auf einen der Stühle und sagte: „Oh Verzeihung, jetzt habe ich Sie gar nicht gefragt. Möchten Sie Tee oder Kaffee?“
Bei dem Wort „Tee“ zuckten Hetzer und Kruse zusammen. Sie sahen sich an und schmunzelten unbemerkt.
„Machen Sie sich keine Mühe. Sie können doch kaum laufen. Wir haben nur ein paar Fragen. Vielen Dank.“
„Was möchten Sie denn wissen?“
Mit den Fingern nestelte sie an der Tischdecke herum und versuchte, sie noch glatter zu streichen.
„Um wie viel Uhr waren Sie heute Morgen in der Stadt?“
„Ziemlich früh, so gegen acht Uhr. Ich wollte nur schnell Medikamente aus der Neuen Apotheke für meine Nachbarin holen.“
„Sind Sie oft um diese Uhrzeit zur Apotheke gefahren? Haben Sie immer am selben Platz geparkt?“
„Das muss ich beides verneinen. Normalerweise arbeite ich in einer Arztpraxis in der Schulstraße. Von dort gehe ich höchstens zu Fuß zur Apotheke. Wir haben dort eigene Parkplätze auf dem Hof. Sie liegen gegenüber der Parkpalette.“
Kruse stutzte.
„Und wieso haben Sie dann heute nicht auch dort geparkt? Ich meine auf den praxiseigenen Parkplätzen?“
„Dort war nichts frei. Morgens kommen immer etliche Patienten zum Blutabnehmen. Da musste ich ausweichen und fand erst weiter unten eine Parkbucht.“
„Wir überlegen, ob Sie ein Zufallsopfer gewesen sind oder ob Sie jemand gezielt verfolgt hat.“ Hetzer machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Wieso sollte mich jemand beobachten? Das ergibt doch keinen Sinn. Ich habe keine Feinde.“
Ihr Blick wirkte unruhig. Sie schien wirklich Angst zu haben.
„Augenscheinlich keinen, von dem Sie wissen“, warf Peter ein. „Das heißt aber noch nicht, dass es keinen gibt.“
„Da muss ich meinem Kollegen recht geben. Wir müssen diese Möglichkeit auf jeden Fall mit ins Auge fassen.“
„Wie Sie meinen. Ich verstehe das alles nicht. Das kann nur ein Irrer gewesen sein. Schießt mir in den Fuß, und das auch noch zweimal!“ Der Schmerz oder die Erinnerung ließ sie zusammenzucken. Kruse sah aus, als litt er mit.
„Wäre es nicht besser gewesen, Sie hätten sich richtig im Krankenhaus versorgen lassen?“
„Ach was, ich arbeite selbst beim Arzt und kann die Wunde dort jeden Tag vorzeigen.“
„Hatten Sie denn heute frei?“
„Ja, ich habe mir Urlaub genommen, weil mein Nachbar verreisen wollte. Seine Frau ist krank und kann nicht alleine bleiben – wenigstens nicht lange. Wir haben ein gutes Miteinander, und ich helfe gerne.“
„Wer wusste denn, dass Sie heute frei haben?“, wollte Hetzer wissen.
„Na ja, mein Mann, meine Kollegen, die Nachbarn hier. Kann sein, dass ich es die Tage schon in der Apotheke erzählt hatte und bestimmt auch einigen Patienten. Aber wem, das kann ich nicht mehr genau sagen.“
Wolf Hetzer überlegte. So kamen sie erst mal nicht wirklich weiter. Alles war zu vage, nichts ließ sich eingrenzen. Jede Idee löste sich in Luft auf.
„Kommen Sie denn hier zurecht?“
Marie-Sophie Schulze lächelte. „Vielen Dank, dass Sie sich Sorgen machen, aber ich gehe sowieso gleich wieder nach nebenan zu meiner Nachbarin. Falls es also jemand auf mich abgesehen hat, wird er mich dort nicht unbedingt vermuten.“
„Es sei denn“, wandt Peter ein, „er kennt sich gut aus und weiß, was Sie heute vorhaben. Aber es ist eher unwahrscheinlich, dass derjenige einen weiteren Versuch wagt, wenn Sie nicht allein sind.“
„Denken Sie wirklich, dass es jemand auf mich abgesehen hat? Vielleicht hat nur irgendwer herumgeballert.“
Sie schauderte leicht.
Hetzer schüttelte den Kopf.
„Das glaube ich nicht. Denn wenn das so wäre, dann wäre nicht zweimal genau auf Ihren linken Fuß geschossen worden. Ein Spinner hätte mal hier und mal dorthin geballert. Dann wären Sie höchstens durch Zufall oder einen Querschläger getroffen worden.“
„Es könnte auch sein“, wandte Peter ein, „dass es jemand gezielt auf den Fuß angelegt hat. Die Person, der der Fuß gehörte, könnte ihm aber egal gewesen sein. Also so eine Art Störenfried, der provozieren wollte.“
„Das halte ich für zu weit hergeholt, Peter, dann könntest du auch vermuten, der Kerl hasste Füße oder so – eine Art Antifußfetischist.“
Marie-Sophie Schulze guckte zuerst verdattert, musste dann aber lachen. „Sie sind mir ja ein spaßiges Gespann. Was wollen Sie denn jetzt unternehmen?“
„Da es keine konkreten Hinweise gibt, dass Sie wirklich als Person direkt betroffen sind, müssen wir erst mal die ballistischen Untersuchungen abwarten und hören, was die Spurensicherung noch herausfindet. Fühlen Sie sich denn unsicher oder bedroht nach diesem Vorfall?“
„Wie soll ich es sagen, ich bin jetzt schon vorsichtig, vielleicht habe ich auch ein bisschen Angst, aber in Panik gerate ich nicht. Außerdem habe ich noch Aisha.“
„Wer ist Aisha?“ Kruse hatte nicht bemerkt, dass noch jemand im Haus war.
„Aisha ist meine Hovawarthündin. Sie ist ein sehr zuverlässiger Wachhund. Ich hatte sie eben mit zu meiner Nachbarin genommen. Sie schläft dort neben deren Bett. Eigentlich schlafen beide. Ich wollte mir nur schnell ein Buch holen. Da haben Sie geklingelt. Sie hatten also Glück, mich hier zu erwischen.“
„Wir hätten auch nebenan nachgefragt“, sagte Kruse.
„Ach so?“
„Ja, wir wussten schon, dass Sie hier Nachbarschaftshilfe leisten. Das haben wir am Tatort erfahren.“
Hetzer rieb sich das Kinn. „Wann kommt denn Ihr Mann nach Hause? Sie haben ihn doch sicher schon angerufen.“
„Das hätte wenig Sinn. Er arbeitet bei Siemens in München und kommt nur am Wochenende hierher. Ich will ihn damit gar nicht erst beunruhigen. Ich halte die Sache nichtsdestotrotz für einen dummen Zufall. Wahrscheinlich war ich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.“
Hetzer legte den Kopf etwas schräg und sah sie an. Es war wirklich so, dass sie jetzt selbstsicherer wirkte als zu Beginn ihres Gespräches. Trotzdem nahm er eine Visitenkarte aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch.
„Für alle Fälle. Per Handy können Sie mich immer erreichen.“
„Vielen Dank“, antwortete sie, „ich hoffe aber, dass es nicht nötig sein wird.“
„Das hoffen wir beide!“
Peter Kruse stutzte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass die letzten Sätze dieser Befragung eine andere Atmosphäre bekommen hatten. Hatte Hetzer mit „Das hoffen wir beide!“ ihn und sich selbst gemeint oder Frau Schulze und sich? Aber vielleicht irrte er sich auch.
Es war trotzdem merkwürdig, dass Wolf während der Fahrt zur Bückeburger Dienststelle so gar nichts sagte.
„Aufwachen!“, rief Kruse und stach Hetzer mit dem Finger in die Seite.
„Ich schlafe nicht“, brummte der widerwillig.
„Was ist dir denn über die Leber gelaufen?“
„Eigentlich nichts. Ich grübele nur.“
„Und worüber genau?“
„Etwas ist komisch gewesen, aber ich kann dir nicht genau sagen, was. Möglicherweise trügt mich mein Gefühl auch. Die Frau war so unstimmig in sich selbst.“
„Wie meinst du das?“
„Unruhig und doch auf der anderen Seite so gelassen. Verarztet sich selbst, ruft ihren Mann nicht an und versorgt die Nachbarin weiter. Wenn mir jemand in den Fuß geschossen hätte, ich glaube, ich würde anders reagieren.“
„Wie denn?“
„Unruhiger, vorsichtiger. Ich würde erst mal zu Freunden gehen oder so. Eventuell auch im Krankenhaus bleiben, aber auf keinen Fall allein zu Hause sein wollen.“
„Sie war doch nur kurz da und wollte gleich wieder zu ihrer Nachbarin. Da ist doch auch der Hund.“
„Ja, aber nachts wird sie wohl zu Hause schlafen, oder?“
Peter zuckte mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Möglich, vielleicht auch wahrscheinlich. Glaubst du denn wirklich, dass sie akut gefährdet ist? Dass es nicht nur ein dummer Zufall war? Dann lassen wir dort heute Nacht mehrfach eine Streife vorbeifahren. Das hält schon so manchen von Dummheiten ab.“
„Mal sehen“, sagte Hetzer und nahm sich vor, an seinem freien Abend selbst ein paar Stündchen zu opfern. Er wusste selbst nicht genau, warum. Es war so ein unbestimmtes Gefühl in ihm.
Als sie die Bückeburger Wache betraten, nickte ihnen Carsten Kunze freundlich zu. Er war jetzt Anfang fünfzig. Sein Haaransatz hatte sich etwas nach hinten verschoben und der Gürtel nach unten. Wie Peter war er ein Freund guten Essens. Hetzer sah, dass auf seiner Schulterklappe ein Stern hinzugekommen war und freute sich für ihn.
„Hallo Wolf, altes Haus. Schön, dich mal wieder hierzuhaben. Immer rein in die gute Stube. Du kennst dich ja aus. Ihr könnt dein altes Büro nehmen, wenn du willst.“
„Fein, das ist schön!“, sagte Wolf und fragte sich, wie er sich überwinden sollte, diesen Raum zu betreten, in dem er so lange mit ihr gearbeitet hatte. Er versuchte, den Gedanken an seine verstorbene Verlobte zu verdrängen und sagte: „Darf ich vorstellen, das ist mein Kollege Peter Kruse. Wir arbeiten jetzt fast schon ein Jahr zusammen.“
„Was, echt? So lange schon?“ Kruse schmunzelte. „Und er hat mich noch nicht gefressen! Da bin ich aber froh.“
„Ich bin auch froh, dass ihr uns aushelfen könnt“, lachte Kunze und tätschelte Wolfs Schulter, „es ist ja auch nicht alltäglich, dass gleich zwei Kommissare ausfallen.“
„Na, dann drück mal schön die Daumen, dass nach diesen Schüssen nicht mehr allzu viel passiert, bis die zwei wieder einsatzfähig sind. Habt ihr Bernhard Dickmann den nun eigentlich erreichen können?“
„Nee, der gurkt immer noch irgendwo in Skandinavien in irgendwelchen Wäldern rum und verschreckt die Elche. Diese Reise war sein großer Traum. Dafür hat er sich fünf Wochen Urlaub genommen. Wer konnte schon ahnen, dass Ulf aus dem Baum fällt.“
„Wie geht es ihm denn?“
„Ach, sehr durchwachsen. Es wird noch einige Zeit dauern, bis der wieder dienstfähig ist. Vorerst haben sie sein Becken wieder zusammengenagelt. Du kannst dir vorstellen, wie er sich fühlen muss, wo er doch sonst so smart und dynamisch ist. Er soll wohl danach noch in die REHA.“
„Hmm, das klingt alles nicht sehr vielversprechend, Wolf!“ Kruse machte ein bedauerndes Gesicht. „Ich schätze, wir werden wohl eine Zeit lang ein etwas erweitertes Einsatzgebiet haben, falls Nienburg keine andere Lösung hat.“
„Das glaube ich kaum“, erwiderte Kunze, „wir haben Urlaubszeit. Sonst hätten sie es gleich anders geregelt. Und jetzt ist es sowieso schwierig nach dem heutigen Vorfall. Ihr habt doch schon angefangen und ihr kennt die Gegend. Ortsfremde würden sich schwerer tun.“ Wolf nickte und holte tief Luft. „Na, dann wollen wir mal, Peter. Komm, ich zeige dir die Stätte meines früheren Wirkens.“
Abgestandene Luft empfing sie. Wolf ging zum Fenster und öffnete es weit. Draußen regnete es immer noch. Es war fast alles wie früher. Vergilbte Wände mit den Bildern, die er zurückgelassen hatte. „Die letzte Fahrt der Téméraire“ von William Turner. Märchen und grausame Wirklichkeit in einem Gemälde. Daneben ein paar kleinere Winterszenen von Julius von Klever und ein einsames Schiff von Gustave Courbet. Einsam, wie ich, dachte er bei sich. Es liegt nahe dem Ufer und hat doch keine Bodenhaftung. Es könnte auf das Meer hinausfahren, aber es sind keine Segel gesetzt. Auf jedem meiner Bilder ist Wasser, überlegte er. Das Wasser zieht mich an. Mit seiner Tiefe, seiner Unergründlichkeit. Es trägt einen, lässt sich aber nicht bezwingen.
Peter Kruse hatte erkannt, dass es für seinen Kollegen Wolf nicht einfach gewesen war, den Raum zu betreten. Noch beim Herunterdrücken der Klinke hatte er fast unmerklich gezögert und war dann eingetreten, wie ein Zeitreisender. Er ließ ihn sich in seine Gedanken verlieren, gab ihm die Minuten, sich zurechtzufinden in der Vergangenheit.
Wolf ging zum Fenster und sah, wie sich aus den Pfützen Rinnsale von der Fensterbank hinabschlängelten. Wasser, dachte er, sie war wie Wasser für ihn gewesen. Lebensnotwendig. Er ahnte jetzt, was ihn bei Marie-Sophie Schulze so irritiert hatte. Sie war ihr ähnlich.
Kruse räusperte sich, um seinen Kollegen in die Wirklichkeit zurückzuholen.
„Sag mal, Wolf, sollen wir nun eine Streife bitten, gelegentlich im Nordkamp vorbeizufahren?“
„Nee, lass mal, ich denke nicht, dass es nötig sein wird. Es ist bestimmt wie du gesagt hast, sie war das Zufallsopfer eines Spinners.“
„Wenn der ihr wirklich etwas hätte antun wollen, dann hätte er nach dem ersten Knöchelstreifschuss etwas höher zielen sollen.“
„Du bist ja gut. Da fällt mir überhaupt etwas ein. Muss sie sich nicht gebückt und nach der Wunde geschaut haben?“
„Stimmt, und auf was für eine Idee hat dich das gebracht?“
„Was würdest du tun? In die Hocke gehen und nachsehen, oder? Dazu müsstest du den Kopf aber doch ziemlich nah in Richtung Fuß nehmen. Ich denke, sie hat wahnsinniges Glück gehabt, dass sie nicht beim zweiten Schuss zufällig erschossen worden ist, denn die Schüsse folgten doch ziemlich schnell aufeinander. Das jedenfalls hat Frau Schulze zu unseren Kollegen gesagt.“
„Ja, da könntest du wirklich recht haben. Es muss ihr ganz schön um die Ohren gepfiffen haben. Ich glaube, sie ist dann in Deckung gerobbt.“
„Aber da muss sie doch Todesangst gehabt haben? Sie konnte nicht wissen, dass der Täter nach dem zweiten Schuss aufhören würde. Er hätte sie auch verfolgen können.“
„Vielleicht hat sie geschrien und gehört, wie jemand weggelaufen ist.“
„Ich frage gleich mal nach, ob der Bericht schon da ist, den die Kollegen vor Ort angefertigt haben. Dann wissen wir mehr.“
Aus den Aufzeichnungen erfuhren Hetzer und Kruse, dass die Schüsse tatsächlich in kurzem Abstand gefallen waren. Marie-Sophie Schulze hatte angegeben, vor Angst davongekrochen zu sein, nachdem der Schmerz des Durchschusses etwas nachließ. Gehört oder gesehen hatte sie nichts.
„Wie lange dauert es wohl, bis der Wundschmerz nachlässt?“ Hetzer machte ein nachdenkliches Gesicht.
„Keine Ahnung, ob es da bei unterschiedlichen Verletzungen auch andere Zeitspannen gibt. Wir können Nadja fragen.“ Sofort lag ein Strahlen in Kruses Augen.
„Später, die genaue Spanne ist jetzt nicht so wichtig, aber wir können wohl davon ausgehen, dass es schon so einen Moment gibt, wo Schmerz und Schock groß sind, bevor man sich aufraffen kann, das Weite zu suchen.“
„Das ganz bestimmt.“
„Ich schätze, das kann gut fünfzehn bis dreißig Sekunden dauern. Und das ist im Hinblick auf einen möglichen weiteren Schuss eine lange Zeit“, grübelte Hetzer.
„Wenn nicht die Angst größer ist als der Schmerz und das Adrenalin die lebenserhaltenden Funktionen insoweit ankurbelt, dass eine Flucht sofort möglich ist“, gab Peter zu bedenken.
„Stimmt, aber ich glaube, hier geraten wir ins Philosophieren. Wir müssen Frau Schulze noch mal fragen.“
„Rufst du sie an oder soll ich?“
„Ich mach schon.“ Hetzer griff zum Hörer.
Anke Tatge hatte an diesem Morgen schon von Anfang an schlechte Laune. Alles war grau in grau. Es regnete, was der Himmel hergab, sodass sie sich entschloss, eine Jacke anzuziehen. Normalerweise fror sie auch im Winter nicht, aber diese Feuchtigkeit kroch überall hin, und das war unerträglich.
Der Weg von Obernkirchen bis Bückeburg war nicht weit. Trotzdem beschlugen die Scheiben, sodass sie sich entschloss, Klimaanlage und Sitzheizung anzustellen. Hinter der Praxis ergatterte sie einen der letzten Parkplätze und wusste sofort, was das hieß. Es würden schon etliche Patienten vor der verschlossenen Praxistür stehen. Sie hasste das. Sie wollte nicht schon draußen angesprochen werden. Es musste einem doch die Zeit bleiben, sich wenigstens umzuziehen und sich moralisch auf den Arbeitstag einzustellen.
Nicht unfreundlich, aber kurz und knapp, begrüßte sie die Wartenden und würgte alle Gespräche mit den Worten ab: „Bitte nehmen Sie erst einmal im Wartezimmer Platz. Es geht gleich los.“
Während dieser Worte hatte sie die Tür aufgeschlossen und entschwand in Richtung Sozialraum, der ebenfalls zum Umziehen diente.
Mehr oder weniger unwillig entledigte sie sich ihrer Kleidung und tauschte diese gegen eine weiße Hose und einen weißen Pullover. Weiß stand ihr gar nicht, fand sie. Es machte sie blass. Sie schlüpfte in die Birkenstock und ging in Richtung Anmeldung. Dort lehnten schon zwei Patienten am Tresen. Die ließen ihre Laune endgültig im Erdboden versinken.
„Einen kleinen Moment bitte, ich muss erst die Rechner starten. Vorher geht sowieso nichts.“
„Frollein“, sagte Ernst Krüger mit einer Knoblauchfahne, die sich gewaschen hatte, „ich komm zum Abzapfen und EKG.“
„Ist recht, bitte nehmen Sie noch Platz, Herr Krüger.“ Der Radius des Knoblauches hatte bereits die gesamte Anmeldung erreicht. Ihr wurde übel.
Die Kolleginnen, die jetzt durch die Tür kamen, verzogen angewidert das Gesicht und beeilten sich nach hinten zu flüchten.
„Grippespritze!“, war das einzige Wort, das Egon Friedrich über die Lippen kam. Kein „Guten Morgen“ oder ein „Bitte“. Aber auch diesen alten Griesgram bat Anke Tatge höflich ins Wartezimmer und schrieb ihn auf die Liste. Innerlich kochte sie. Ihr Ärger wuchs.
Während die Computer hochfuhren, notierte sie sich im Wartezimmer, weswegen die anderen Patienten gekommen waren. Dann ging sie in den Bestrahlungsraum und riss das Fenster auf. Der Durchzug brachte etwas Erleichterung in der Anmeldung.
So nahm der Arbeitstag seinen Lauf. Sie hatte immer viel zu tun, aber wenn Marie-Sophie Urlaub hatte, blieb alles an ihr hängen. Sie war dann allein verantwortlich für Anmeldung und Organisation. Trotzdem war es ihr auf eine Art und Weise ganz recht, dass sie ihre Ruhe hatte. Jetzt konnte sie schalten und walten, wie sie wollte. Das Telefonklingeln riss sie aus ihren Gedanken. Es war kein Gespräch, das sie erwartet hatte.
Etwas ging vor. Da waren Kräfte am Werk, die sie schon seit Langem spürte. Kleine Veränderungen, die niemand bemerkte. Gesten, die niemand sah. Nach außen hin war alles wie immer. Aber sie wusste, dass das nicht der Wirklichkeit entsprach.
Er sah sie nicht mehr so an wie früher, verbrachte weniger Zeit mit ihr. Ja, er arbeitete viel, aber das war es nicht. Was ihr diesen Verlustschmerz zufügte, den sie nicht näher bezeichnen konnte, wusste sie nicht. Trotzdem fühlte sie ihn.
Vielleicht waren es wirklich die Augen, an denen man Nähe ablesen konnte oder Entfernung. Seine ließen sie nicht mehr in sich hinein. Wie an einer unsichtbaren Schranke blieb ihr Blick an seiner Netzhaut hängen. Auch wenn er lächelte. Es war ein Lächeln ohne Inhalt, als wäre er fortgegangen aus sich selbst.
Zu der anderen war er unverändert, aber sie hatten auch niemals das geteilt, was sie selbst und ihn verband. Aber heute hatte sie gemeint, ein Leuchten zu sehen, das von ihm ausging, doch sie konnte es sich nicht erklären, woher es gekommen sein könnte.
Der „Bücke-Burger“ lag Peter Kruse noch schwer im Magen, als er sich gegen zwei Uhr nachmittags auf dem fremden Schreibtischstuhl streckte und verkündete:
„Ich glaube, ich sollte rauchen!“
„Bist du bescheuert? Sei doch froh, dass du davon weg bist.“
„Acht Jahre schon. Da wird es vielleicht Zeit, mal wieder anzufangen?“
„Und aus welchem Grund?“
„Damals war ich schlanker. Rauchen macht schlank. Man verbrennt mehr.“
„Ja, ganz schlank, du verbrennst dich selbst von innen. Und der Krebs gibt dir den Rest.“
„Danke. Das hilft mir jetzt echt weiter.“
„Eben, ich bin wenigstens ehrlich zu dir. Ich habe keine Lust, frühzeitig an deinem Grab zu stehen.“
„Ich meine doch auch nur. Vielleicht hätte ich dann ein paar Kilo weniger.“
„Meinst du nicht, dass du das auch anders schaffen könntest?“
„Nicht so leicht auf jeden Fall. Das Joggen hängt mir zum Hals raus, das Hungern auch. Außerdem macht das so schlechte Laune.“
„Wie wäre es einfach mit einer etwas anderen Art der Nahrungsaufnahme? Gesünder, fettärmer und ausgewogen?“
„Keine Zeit für dieses aufwendige Gekoche. Ich kenne mich. Da hole ich mir dann doch lieber irgendwo ein Schnitzel oder einen Burger oder Pommes. Schmeckt ja auch immer.“
„Na, dann musst du dich auch nicht wundern.“
„Weiß ich.“
„Wenn du jetzt noch anfängst zu rauchen, dann ist es so, als ob du zu deiner ungesunden Lebensweise noch den Turbo zuschaltest.“
„Super, du bist ja ein toller Freund.“
„Stimmt, das bin ich. Ich sage dir nämlich, was ich denke und schmiere dir keinen Honig ums Maul. Außerdem glaube ich dir nicht.“
„Wieso?“
„Du meinst das nicht ernst mit dem Rauchen.“
„Ah ja? Und warum meinst du das?“, fragte Peter verschmitzt.
„Du bist verliebt und Nadja hasst den Gestank von Zigarren und Zigaretten. Das weiß ich von der letzten Feier beim LKA in Hannover.“
„Möglicherweise weiß ich das aber nicht.“
„Vielleicht, aber sie selbst raucht nicht. Und sie hat bestimmt keine Lust, einen Aschenbecher zu küssen. Falls du das also mal vorhaben solltest, solltest du von Rauchwaren Abstand nehmen.“
Peter grinste, sagte aber nichts.
„Immerhin hast du schon eine Nacht mit ihr verbracht“, stichelte Hetzer.
„Tolle Nacht, so auf zwei Autositzen, ein Lichtjahr voneinander entfernt. Wir sind eingeschlafen vor Erschöpfung.“
„Tja, Pech gehabt, schlechte Planung. Und jetzt willst du sie deshalb nicht mehr küssen?“
„Das habe ich nicht gesagt. Mal sehen, was sich ergibt.“
„Du kannst dir auf jeden Fall sicher sein, dass sie drastischere Methoden hätte, um dich vom Rauchen abzubringen“, sagte Wolf mit Überzeugung.
„Ah ja, und an was dachtest du da?“
„Sie würde dir bei der nächsten Obduktion die Lunge eines Rauchers auf den Sektionstisch klatschen und dich fragen, ob du innen auch so dreckig aussehen willst.“
Hetzer hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Puh, hast du eine fiese Fantasie!“ Peter schlug sich auf die Schenkel und konnte sich kaum beruhigen. Ihm liefen vor Lachen die Tränen die Wange hinab.
„Du bist ein zu guter Ermittler, Wolf! Ich dachte, ich könnte mich besser verstellen…“
„Tut mir leid.“
„Schade, und ich dachte, ich könnte mich in der Zukunft bei dir zum Essen einnisten.“ Peter hielt sich seinen Bauch.
„Du hättest auch einfach fragen können, du Hornochse.“
„Das hätte aber nicht so viel Spaß gemacht. Dein Gesicht war einfach klasse und deine Entrüstung erst mal – wenigstens im ersten Moment, bis du misstrauisch wurdest.“
Hetzer schüttelte den Kopf.
„Und, steht der Deal? Kochst du für mich mit?“
„Für dich alte Heuschrecke? Da werde ich doch arm.“ Wolf schmunzelte. „Wenn du bereit bist, auch mal fleischlos zu essen, vor allem, wenn Moni mitisst, können wir darüber reden.“
„Ich kann bis heute nicht verstehen, wieso deine Nachbarin Vegetarierin ist, aber okay, soll ja gesund sein. Und keine Bange, ich werde meinen finanziellen Beitrag dazu schon leisten.“
„Was kostet denn heutzutage eine Schachtel Zigaretten?“
„Keine Ahnung, bestimmt fünf, sechs Euro oder so.“
„Na fein, das ist dein Essensobolus, als Strafe sozusagen, dass du mich so schön verarscht hast.“
Kruse schlug ein. Wolf hatte ihm die Hand gereicht und sagte: „So, und nun rufe ich noch mal bei Frau Schulze an.“
„Gut, dann werde ich versuchen, etwas bei der Kriminaltechnik herauszukriegen wegen der Schüsse. Vielleicht wissen sie schon mehr.“
Hetzer lehnte sich zurück. Vieles war schön in seinem Leben.
Er hatte einen Kollegen, der auch sein Freund war. Ja, sie waren unterschiedlich in vielerlei Hinsicht, aber etwas Starkes verband sie auch. Das wog mehr. Ihre Eigenheiten bereicherten die Freundschaft noch. Er seufzte zufrieden und griff nach dem Hörer. Die Zeiger der Wanduhr zeigten fast fünf Uhr.
„Schulze.“
Der Klang ihrer Stimme durchströmte ihn wie ein guter, alter Rotwein.
„Guten Abend, Frau Schulze, es tut mir leid, dass wir Sie noch einmal stören müssen. Hier spricht Hauptkommissar Wolf Hetzer. Sie erinnern sich? Wir waren vorhin bei Ihnen.“
„Sicher erinnere ich mich. Ich bin doch nicht dement. Es ist erst ein paar Stunden her.“
„Frau Schulze, wir haben noch ein paar Fragen, die erst jetzt aufgekommen sind.“
„Fragen Sie, Herr Kommissar!“
„Die Schüsse, die auf Sie abgegeben worden sind, kamen sie unmittelbar nacheinander? Oder war ein größerer Abstand dazwischen?“
„Schwer zu sagen, es ging irgendwie alles ganz schnell. Ich erinnere mich noch, dass ich völlig verwirrt war. Es knallte, etwas an meinem Knöchel tat weh. Ich konnte es nicht zuordnen. Wer denkt denn schon, dass jemand auf einen schießt und dazu noch am helllichten Tag.“
„Haben Sie sich gebückt, um nach der Wunde zu schauen?“
