7,99 €
Ein Engel im Schnee – eine Botschaft aus Blut Kurz vor Weihnachten entdeckt ausgerechnet Wolf Hetzer eine Frauenleiche im Herminenpark. Man hat sie als Engel verkleidet und auf dem frostigen Boden abgelegt. Doch was bedeuten die mysteriösen Worte über ihr, die jemand mit Blut in den Schnee geschrieben hat? Niemand kann mit der Botschaft des Mörders etwas anfangen. Keiner scheint diese Frau zu vermissen. Man hofft auf Hinweise aus der Rechtsmedizin und ist geschockt, als man das Ergebnis der Obduktion erfährt. Der 12. Fall von Wolf Hetzer
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2020
winterunter dem schnee sind alle winter grausam doch seine spuren werden weichgezeichnet flockenschleier vernebelnein tönigesnichts verlockend bannt der rausch goldengel augen blicke und zeichnet ein tauendes lächeln über das grau der wintergesichter
Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher der Autorin erschienen:SchattenHautSchattenWolfSchattenGiftSchattenTodSchattenGrabSchattenSchwurSchattenSuchtSchattenGierSchattenZornSchattenQualSchattenSchuldFriesenNerzFriesenGeistFriesenSpielFriesenLustFriesenSchmutzKurzKrimis und andere SchattenSeiten
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2020 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8390-3
Nané LénardSchattenSchnee
Über die Autorin:Nané Lénard wurde 1965 in Bückeburg geboren, ist verheiratet und Mutter von zwei erwachsenen Kindern. Nach dem Abitur und einer Ausbildung im medizinischen Bereich studierte sie später Rechts- und Sozialwissenschaften sowie Neue deutsche Literaturwissenschaften. Ab 1998 arbeitete sie als freie Journalistin. Von 2009 an war Lénard im Bereich Marketing und Redaktion für verschiedene Unternehmen tätig. Seit 2014 ist sie freiberufliche Schriftstellerin und verfasst neben Kriminalromanen auch Kurzgeschichten und Lyrik. Einige ihrer Werke wurden prämiert. Nané Lénard ist auf Lesungen, Buchmessen und in sozialen Netzwerken für ihre Fans präsent. Mittlerweile sind ihre SchattenThriller rund um die Kommissare Hetzer und Kruse sowie ihre heiter-skurrilen OstfriesenKrimis mit Oma Pusch im gesamten deutschen Sprachraum bekannt.Mehr über Nané Lénard finden Sie auf der Internetseite:www.nanelenard.de
Für Birgit und Peter
Blut rann in den Schnee. Jeder einzelne Tropfen bahnte sich seinen Weg durch die Kristalle und hinterließ eine rote Spur, bis seine Temperatur so weit gesunken war, dass er plötzlich stoppte und vom Weiß umschlungen wurde. Ein kleines Stück Leben, das einem Körper gehört hatte, der unwiederbringlich verloren war. Noch für eine Weile würde er weiter vom Frost gekühlt werden. Doch dies war kein Ort für die Ewigkeit. Man hatte die Frau sichtbar in diesem Park abgelegt, wie einen Engel. Sie sollte gefunden werden. Nur in ein weißes Spitzenhemd gekleidet lag sie unter der Tanne. Mit ihren toten Armen hatte jemand Flügel in die Schneedecke gemalt. Das hatte nichts Besinnliches.
Es war drei Tage vor dem ersten Advent, aber hier hielt der Totensonntag noch alles fest in seinen Klauen. Die Grabesstille lastete schwer auf Mauern und Wipfeln. Sie wurde jetzt durch das Zwitschern der Wintervögel durchbrochen, denn inzwischen dämmerte es.
Wenn man die Frau genauer ansah, musste man unwillkürlich an das Märchen mit der Eiskönigin denken. Versteinert lag die Tote in einem Bett aus Schnee. Ihre naturblonden Haare waren um den Kopf herum ausgebreitet wie Strahlen um einen Stern. Sie umrahmten ein Gesicht, das sich so wenig vom Weiß des Untergrundes abhob, dass es beinahe damit verschmolz. Möglicherweise war es das Bläuliche, das ihr einen märchenhaften Schimmer verlieh, fast als wäre Eiswasser statt Blut durch ihre Adern geflossen. In ihr konnte sich auf jeden Fall keines mehr befinden, denn es war zur Tinte für einen Todespoeten geworden und hatte dazu gedient, eine Botschaft im Weiß des Winters zu hinterlassen.
So früh hatte es selten Schnee gegeben. Die letzten Winter waren mild und trist gewesen. Von oben und von der Seite, je nach Wind, hatte es den hier üblichen Nieselregen bei vier Grad gegeben, der überallhin bis auf die Haut kroch. Wenn überhaupt mal eine Flocke gefallen war, dann nur in den höheren Regionen. Dazu konnte man Todenmann wirklich nicht zählen, auch wenn es am Kamm des Wesergebirges lag. Den Begriff Gebirge muss man etwas differenziert betrachten. Jeder Bayer würde sich kaputtlachen. Hier oben in Niedersachsen ist ein Hügel schon ein Berg, denn weiter nördlich gibt es nur noch Flachland. Man kennt es als norddeutsche Tiefebene.
Hauptkommissar Wolf Hetzer witzelte immer, wenn er den Begriff hörte und behauptete, stets im Trockenen leben zu können, selbst wenn die Polkappen schmelzen würden. 153 Meter über NN waren schließlich schon etwas.
Genau an diese Worte musste Moni gerade denken, als sie mit Leo und Ole durchs Hainholz stapfte. Die Hunde tobten durch den Schnee wie ausgelassene Kinder. Allem Klimawandel zum Trotz glaubte dieser Winter wohl, wirklich einer zu sein. Das wäre zu schön, dachte sie. Ein stimmungsvoller Advent mit der Aussicht auf gemeinsame besinnliche Stunden lag vor ihnen. Schon jetzt freute sich Moni wie verrückt auf Weihnachten, denn dann würde Wolf endlich aus der Kurzzeitpflege wieder zu Hause sein. Was hatte sie sich in den vergangenen Monaten um ihn gesorgt. Und in seinen schwärzesten Tagen, als er schon aufgeben wollte, hatte sie ihm Ole auf den Schoß gesetzt. Der pechschwarze Welpe hatte an ihm geschnuppert und sich anschließend schlafend auf seinem Schoß zusammengerollt. Wolfs Herz hatte er mit seinen Knopfaugen im Sturm erobert.
„Wir brauchen dich. Wenn er groß ist, musst du fit sein. Ich kann ja nicht allein mit 60 Kilo Hund spazieren gehen“, hatte sie zu ihm gesagt. „Wir wollen deinen etwas verfrühten Ruhestand mit viel Bewegung an frischer Luft genießen."
„Wie …? Wieso …?“, wollte er fragen, aber Moni hatte ihm ganz sanft ihren Zeigefinger auf die Lippen gelegt.
„Er und seine Geschwister sind Opfer eines Verbrechens, genau wie du“, hatte sie ihm erklärt. „Ich dachte, dass ihr gute Freunde werden könntet. Und Leo ist nicht so alleine, wenn ich dich in den nächsten Wochen besuchen komme.“
Es rührte sie immer noch, wenn sie daran dachte, dass er den Kleinen damals wortlos unter Tränen gestreichelt hatte. Doch anschließend war er wie verwandelt gewesen. Es schien, als hätte er neuen Lebensmut geschöpft, und er hatte sich vorgenommen, ihr nicht zur Last zu fallen.
Mit einem leisen Seufzer dachte sie an die vergangenen Monate zurück …
Die Wintersonne traute sich soeben zaghaft hinter den Bäumen hervor. Es war noch bitterkalt. Kahle Äste und Tannenzweige waren vom Neuschnee der letzten Nacht überzuckert. Selbst die Pfeiler der Absperrung zum See hin trugen kleine Mützen. Fußstapfen und Reifenabdrücke, die die Wege mit ihren Spuren gezeichnet hatten, konnte man nicht mehr erkennen. Wie unberührt lag der Palaisgarten vor Wolf Hetzer. Die Stille war fast greifbar. Kein einziger Mensch hatte sich bisher an diesem Morgen hinaus in die Kälte gewagt, um im Park spazieren zu gehen. Er selbst hatte es in seinem stickigen Zimmer nicht mehr ausgehalten. Ihm fehlten die Runden in der klaren Morgenluft, die er sonst immer mit seinem Hund Leo gedreht hatte. Wenn er genauer nachdachte, fehlte ihm vieles, aber er schob den Gedanken weg. Es brachte nichts, mit seinem Schicksal zu hadern. Das zumindest hatte er begriffen. Man musste die positiven Sachen sehen. Immerhin lebte er, wagte mit Unterstützung einige Schritte und konnte sich mit dem E-Rolli wieder überall selbstständig fortbewegen. Gerne hätte er aus eigener Kraft die Räder des Rollstuhls angeschoben, aber die gesamte linke Seite war nach dem Schlaganfall noch immer nicht wieder richtig einsatzfähig – von seinem Arm ganz zu schweigen, der schon vorher unbrauchbar gewesen war, weil man ihn vor ein paar Jahren während der Ermittlungen fast umgebracht hatte.
Man konnte meinen, das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm, doch wenn man es andersherum betrachtete, war er dem Tod schon oft von der Schippe gesprungen. Es war fast so, als ob er mehrere Leben hätte, wie eine Katze. Extra totschlagen musste man ihn wohl. Er war sich selbst in den vergangenen Monaten zuwider gewesen und hätte den bedauerlichen Rest seines Körpers in dunklen Momenten am liebsten weggeworfen. Aber da war eben auch noch sein Geist gewesen, seine Seele, die sich mit Händen und Füße wehrte aufzugeben, obwohl sie unendlich müde war.
Wolf schob auch diese Gedanken beiseite und sog die kalte Luft ein. Schnee hatte einen eigenen Geruch. Durch die Bäume bahnte sich jetzt der erste Sonnenstrahl seinen Weg. Er lockte die Vögel von ihren Schlafplätzen zu einem Morgenständchen. Das alles war doch wunderbar, dachte Wolf und steuerte seinen Rolli bergab um eine Kurve, aber ein Glücksgefühl wollte sich trotzdem nicht einstellen. Doch selbst wenn eines da gewesen wäre … in dieser einen Schrecksekunde hätte es sich abrupt verflüchtigt.
Fassungslos starrte Hetzer auf das Bild, das sich ihm plötzlich bot. Von einem Sonnenstrahl in gleißendes Licht getaucht, lag ein Engel vor ihm im Schnee, direkt am Fuß einer Tanne. Er wusste überhaupt nicht, was er denken sollte. Trotz seiner schrecklichen Endgültigkeit war das Stillleben vor ihm unglaublich faszinierend. Ja, man konnte es fast schön nennen. Der Gedanke an einen Rauschgoldengel oder eine Ikone schoss ihm durch den Kopf. Natürlich wusste er, dass das viele Rot, das den Körper in einem Bogen umrahmte, Blut sein musste, aber hier wirkte es wie eine Verzierung. Mit bläulich-bleichem Gesicht lag die Tote vor ihm, auch ihre Gliedmaßen, die aus dem weißen Hemdchen ragten, zeigten diese Farbe. Das gab ihr ein übersinnliches Aussehen. Er schätzte, dass die Frau so Mitte 20 gewesen sein musste und versuchte, sich möglichst viele Eindrücke einzuprägen. Dann zog er mit der rechten Hand sein Smartphone zwischen den Beinen hervor und machte mehrere Aufnahmen. Das gelang ihm einhändig zwar mehr schlecht als recht, aber er wollte auch nicht zu nah heranfahren, um den Fundort nicht zu verändern. Auch wenn er schon länger nicht mehr im Dienst war, hatte er noch alle Nummern im Speicher seines Telefons. Als Erstes rief er seinen Kollegen und Freund Peter Kruse an und erwischte ihn schmatzend.
„Mensch, Wolf, das ist ja eine Überraschung“, freute der sich. „Moment, ich muss eben die Frikadelle …“
„Ja, ja schon gut“, sagte Wolf und musste grinsen. Manche Dinge änderten sich zum Glück nie. In diesem Moment spürte er, wie sehr er gewisse Momente mit ihm vermisste. Bald würde er wenigstens wieder zu Hause sein, seufzte er innerlich, obwohl er aus freien Stücken hier war.
In den Wochen bis zum Fest würde ein Therapeut zu ihm in den Herminenhof kommen, der deutschlandweit bekannt war. Nein, Hetzer würde nicht aufgeben. Das hatte er sich selbst geschworen. Darum hatte er den Spezialisten für knapp vier Wochen auf eigene Rechnung gebucht, Hotel inklusive. Das kostete ein Vermögen, würde ihn aber enorm nach vorne bringen, was den Heilungsprozess anging.
„So, jetzt kann ich hören“, kam es von Peter, der ein Bäuerchen unterdrückte.
„Du meinst wohl sprechen“, erwiderte Wolf, „hören konntest du schon mit vollem Mund, aber ich habe ja Anstand.“
„Immer noch der Alte“, antwortete Peter, „aber das freut mich. Was hast du auf dem Herzen? Kann ich irgendwas für dich tun?“
„Sicher, du kannst mich besuchen“, schlug Wolf vor.
„Jetzt? Im Heim? Aber wir haben uns doch erst letzte Woche im Klinikum gesehen“, wunderte sich Peter. „Ich fürchte, das muss bis zum Feierabend warten. Geht es dir nicht gut? Brauchst du mentale Unterstützung?“
„Auch“, entgegnete Wolf, „aber im Moment benötige ich eher kriminalistische und natürlich verständigst du auch gleich Nadja mit ihrem versierten rechtsmedizinischen Blick sowie Seppi von der Spurensicherung.“
Peter stutzte. „Gibt es da im Herminenhof etwa Unregelmäßigkeiten?“
„Nein, ich habe eine Leiche im Park gefunden, weiblich, schätzungsweise Mitte 20“, erklärte Wolf. „Sie liegt im Schnee und sieht aus wie ein Engel.“
„Du machst Witze“, antwortete Peter und überlegte, ob Wolfs Psyche nicht doch irgendwie gelitten hatte.
„Moment“, bat Wolf Hetzer und schickte eins seiner Fotos per WhatsApp an seinen Kumpel. „Glaubst du mir jetzt?“
„Ach du heilige Scheiße“, entfuhr es Peter, als er das Bild sah.
„Sag ich doch!“ Hetzer grinste in sich hinein. Hielt der ihn für bekloppt?
„Bleib genau, wo du bist“, befahl Peter und hatte es plötzlich eilig. „Wir sind in Sekundenbruchteilen vor Ort.“
„Keine Sorge, ich werde die Dame mit meinem Leben verteidigen“, versprach Wolf.
„Äh ja, der Mörder hat in deinem Zustand sicher mächtig Angst vor dir.“ Wolf hörte ein amüsiertes Hüsteln. „Rollst du ihm über die Haxen, ziehst die Bremse an und machst ihn am Rad fest? Wo genau ist der Fundort?“, wollte Peter noch wissen.
„Knapp unterhalb des Sees“, informierte Wolf ihn. Dann klickte es in der Leitung. Ungläubig sah er auf sein Smartphone. Legte der einfach auf. Und was sollte das, ihn in „seinem Zustand“ auch noch zu verhohnepiepeln! Das war frech und respektlos, fand Wolf, aber es war ihm bedeutend lieber als die bedauernden, mitleidigen Blicke vieler anderer. Peter behandelte ihn wie immer. Dafür war er ihm dankbar.
So langsam fing er allerdings an zu frösteln. Wenn man sich nicht richtig bewegen konnte, kroch die Kälte noch schneller überallhin.
Was musste sein Sohn Niklas gefroren haben, dachte Wolf, als er knapp 14 Tage in diesem Regenwasserschacht auf der Wiese gefangen gewesen war. Nur mit Boxershorts bekleidet hatte er mal in mehr oder weniger Wasser gestanden und zuletzt gelegen. Es war ganz knapp gewesen. In allerletzter Sekunde war er dem Tod von der Schippe gesprungen, weil eine aufmerksame Nachbarin von Gaby ihn gehört hatte. Und auch Christel war zunächst davon überzeugt gewesen, sich zu irren. Wie konnte da jemand auf der Heuwiese rufen, wenn keiner zu sehen war? Doch als sie am Nachmittag noch einmal durch ihren Garten gegangen war, stutzte sie wieder. Tatsächlich, da rief jemand. Zwar fast unhörbar leise, aber nun war sie sicher, dass sie sich das nicht einbildete.
Doch wo kam es her?
Wolf, der inzwischen zu zittern begann, fiel wieder ein, dass er selbst damals Christels Anruf entgegengenommen hatte. Er erinnerte sich: Sie war extra auf die Wiese gegangen, weil ihr plötzlich der tiefe Schacht wieder eingefallen war und hatte dort nachgesehen, damit sie sich nicht zum Affen machte, falls es doch nur ein Pfeifen im hohlen Baum gewesen sein sollte. Da säße jemand im Höppenfeld nackt in einer Betongrube, hatte sie kurze Zeit später atemlos in den Hörer gerufen und Wolf, dessen Hoffnungsschimmer bereits dabei gewesen war zu verblassen, hatte sofort gewusst, dass es sich bei dem jungen Mann nur um seinen Sohn Niklas handeln konnte.
Seitdem waren Monate vergangen. Monate voller Angst und Zuversicht, von denen er selbst etliche verpassen sollte. Beide Gefühle hatten einander ständig die Hand gereicht und sich abgewechselt, da Wolf bei der Organtransplantation einen Schlaganfall erlitten hatte und ins Koma gefallen war. Ein Martyrium für Moni, eine Selbstverständlichkeit für ihn. Auch heute fand er den Preis noch angemessen: Sein Leben für das seines Sohnes, falls es dazu gekommen wäre, aber glücklicherweise hatten sie beide überlebt.
Im Gegensatz zu ihm war Niklas längst wieder hergestellt und im Dienst. Gesundes Essen, Sport sowie eine liebende Frau an seiner Seite, hatten ihn ruckzuck zu alter Form zurückfinden lassen. Natürlich musste man auch sein jugendliches Alter bedenken. Da wurde man einfach schneller wieder fit. Vielleicht war er durch die Tortur etwas ernster geworden, aber das schadete nicht. Und Nadine, die anfänglich an seinem Bett gewacht hatte, tat es auch jetzt noch mit Argusaugen. Wolf schmunzelte. Sie hatte ihn auf positive Art im Griff. Um seinen Sohn musste er sich keine Sorgen mehr machen, was den Alltag anging. Der Erziehungsauftrag war beendet.
„Mann, Mann, Mann, ist das lausig kalt hier draußen, richtig schattig“, schimpfte Peter, der seinen Kollegen Detlef beneidete, weil er mit Lammfell gefütterte Stiefel trug. Er beschloss, sich auch welche zuzulegen. Warum nur zu Hause Lammfellpuschen tragen?
„Moin, Wolf, du siehst auch schon ganz schön verfroren aus, fast wie die Schönheit im Schnee“, begrüßte Detlef ihn.
„Kein Wunder, ihr kommt aus dem Warmen, und ich sitze schon seit Längerem hier“, sagte Wolf.
„SpuSi und Rechtsmedizin sind auch gleich da“, kündigte Peter an. „Krasse Nummer.“ Er zeigte auf die Tote.
Detlef betrachtete sie, als suche er irgendetwas. „Hmm, ich kann gar keine Verletzung erkennen. Das viele Blut. Wo kommt es her? Wirkt wie ein Muster oder so. Komisch.“
„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, erwiderte Wolf. „Ich kann mir allerdings keinen Reim drauf machen, aber es geht mich im Grunde gar nichts an.“
Peter stöhnte. „Jetzt komm mir nicht mit der Mitleidsnummer. Nur weil du im Moment im Rolli sitzt …“
„Schön, wenn es nur ein Moment wäre“, wandte Wolf mit bitterer Stimme ein.
„Unterbrich mich nicht“, meckerte Peter. „Nur weil du also zeitweise im Rollstuhl sitzt, muss doch dein Hirn nicht auch geschoben werden, oder? Das wird ja wohl intakt sein. Falls nicht, lass es mich wissen. Vielleicht hat dir der Schlag ja die grauen Zellen zerdeppert. Ich glaube aber eher, das ist der miese Versuch, uns deutlich zu machen, dass wir bei diesem Fall auf deine Mithilfe nicht zu hoffen brauchen.“
„Ja, aber, äh …“, begann Wolf. „Ich bin doch nicht im Dienst und werde auch längere Zeit ausfallen, wenn ich überhaupt wiederkommen kann.“
„Und wen interessiert das jetzt?“, fragte Peter. „Hier liegt jetzt eine Tote. Glaubst du, wir wollen auf deine langjährige Erfahrung verzichten?“ Er sah Detlef an.
Der schüttelte den Kopf. „Wollen wir keineswegs!“
„Zumindest inoffiziell möchten wir dich an unserer Seite wissen“, bohrte Peter weiter. „Können wir mit deiner Unterstützung rechnen?“
„Klar könnt ihr mich jederzeit fragen“, antwortete Wolf gerührt.
„Ich spreche nicht nur vom Fragen, sondern davon, dass wir die Teambesprechungen gelegentlich in dem Seniorenknast abhalten können, wenn du nicht runter in die Ulmenallee rollen kannst oder möchtest“, erklärte Peter.
„Vergesst nicht, dass ich krankgeschrieben bin“, erinnerte Wolf die beiden.
Peter verdrehte die Augen. „Schon klar, du kommst uns dann nur besuchen, Mann. Wie ein einsamer, alter Krüppel, der sich nach der Gesellschaft seiner ehemaligen Kollegen sehnt.“
„Arschloch“, zischte Wolf. „Du machst aus mir einen bedauernswerten Tattergreis.“
„Wenn du dich so benimmst“, sagte Peter und zuckte mit den Schultern. „Wo ist dein Biss, Alter? Der Ehrgeiz, der dich immer angetrieben hat? Klar, du hast in der letzten Zeit viel Scheiße erlebt. Ja, und? Kopf in den Sand stecken, oder was? Das passt doch gar nicht zu dir. Reiß dich gefälligst zusammen.“
Wolf schwieg.
Auch Peter begann langsam zu frösteln. „Mann, brauchen die lange!“ Er stapfte auf der Stelle herum. „Meine Füße sind langsam Eiszapfen.“
„Musst du Lammfellstiefel anziehen“, schlug Detlef vor und grinste.
„Gleich haue ich dir was hinter die Löffel, du Klugscheißer“, lachte Peter.
„Hast du zu Hause nicht diese überdimensionalen Puschen?“
Peter brummte nur und freute sich, als er Nadja durch den Torbogen am seitlichen Eingang des Parks kommen sah. Ihr folgte, einen Koffer an jeder Seite, Joseph von der Lancken, auch Seppi genannt.
„Hi. Schön, dich zu sehen, Wolf. Endlich wieder unter den Lebenden.“ Sie zwinkerte Hetzer zu. „Seppi und ich haben uns bei den Parkbuchten getroffen“, sagte Nadja. „Na, dann zeigt uns mal euer Engelchen!“ Sie trat näher. „Oh“, sagte sie und reckte den Hals. „Jetzt hätte ich gerne eine Drohne oder zumindest eine Leiter.“
„Wozu das denn?“, wollte Peter wissen.
„Na ja, weil ich glaube, dass da jemand was mit Blut in den Schnee geschrieben hat. Und ich bin zwar groß, aber fliegen kann ich nicht“, erklärte Nadja.
„Ich könnte dich auf die Schultern nehmen“, schlug Peter vor.
„Damit ich hinterher deinen Bandscheibenvorfall pflege?“, konterte sie. „Kommt nicht infrage.“
„Räuberleiter?“, versuchte Peter weiter.
„Wie wär’s denn, wenn ihr einfach im Heim nachfragt, ob uns der Hausmeister eine Leiter borgen kann?“, kam es aus dem Rollstuhl.
„Praktisch wie immer, unser Wolf“, freute sich Nadja und inspizierte den Leichnam.
„Ich geh dann mal los und organisiere eine, entweder aus dem Herminenhof oder dem Palais“, beschloss Detlef. „Irgendwo werde ich schon fündig.“
Alle anderen warteten gespannt auf die erste Beurteilung der Rechtsmedizinerin.
Wolf Hetzers Sohn, Oberkommissar Niklas Müller, und seine Kollegin Nadine Michels waren auf der Dienststelle geblieben. Auch wenn Niklas kaum noch etwas von der Organtransplantation spürte, war er doch empfindlich, was die momentane Kälte anging. Niemand hatte nach den letzten milden Wintern schon Ende November mit Schnee und Minusgraden gerechnet. Und er hatte nur noch diese eine Niere, die, wenn man es genau nahm, bis vor Kurzem nicht einmal ihm gehört hatte. Sie war ein Geschenk, das es zu bewahren galt, wenn er noch ein paar Jahre leben wollte.
Wahrscheinlich wäre Niklas aus reiner Neugier trotzdem mit zum Fundort der Leiche gefahren, aber Nadine hatte ihn nur einmal schräg von der Seite angesehen, um ihn von solchen Gedanken abzubringen. Sie war seine gute Fee. Nachdem er erkannt hatte, dass die Rechtsmedizinerin Anke Seiler keine Frau war, mit der er seine restliche Lebenszeit verbringen wollte, war ihm endlich aufgefallen, dass jemand anders um ihn herum ständig dafür sorgte, dass es ihm gut ging. Tagelang hatte Nadine an seinem Bett gesessen, nachdem man ihn aus der kalten Grube gefischt und mühsam am Leben erhalten hatte. Wenn sie als Spenderin von Niere und Leberteil infrage gekommen wäre, hätte sie sich sofort dazu bereit erklärt, aber sie passte nicht. Zum Glück war Wolf aufgrund seiner engen genetischen Verwandtschaft geeignet gewesen, auch wenn die unvorhersehbaren Folgen ihn schwer gezeichnet hatten. Nadine wusste genau, er hätte es auch in dem Wissen getan, was er würde erleiden müssen. Nichtsdestotrotz: So ein Schlaganfall während der Operation und das anschließende Koma waren nicht leicht zu verkraften.
Beide freuten sich wie alle hier, dass Wolf überhaupt wieder aufgewacht war. Und das meinten sie nicht nur körperlich. Sein Lebenswille schien ebenso mit neuer Kraft ans Licht zu dringen wie Schneeglöckchen aus dem winterfahlen Boden. Sie hatten direkt schmunzeln müssen, dass ausgerechnet Wolf im Herminenpark auf eine Tote gestoßen war. Es hätte jeden treffen können. Jetzt jedoch würde er sich verantwortlich fühlen, an der Aufklärung mitzuwirken. Und das konnte ihm nur guttun – in jeder Hinsicht!
Wieder schüttelte die Rechtsmedizinerin Doktor Nadja Serafin den Kopf. So etwas hatte sie in der Tat noch nicht gesehen.
Die Leiche sah irgendwie komisch aus, und damit meinte sie nicht nur die blutleere Blässe, die dem „Engel“ eine überirdische Ausstrahlung verlieh. Sie wirkte zu wächsern, was den Eindruck des Rauschgoldengels unterstrich, den sie wohl darstellen sollte. Zumindest vermutete Nadja das.
Es war eine fast schon perfekte Inszenierung dort im Schnee. Jede Falte des Hemdchens, jede Extremität, die Haare – alles war von einem morbiden „Regisseur“ gestaltet worden. Und genau diese Perfektion gruselte Nadja, die sonst hartgesotten war. Hier hatte der Tod etwas Schönes und stand damit in grausamem Widerspruch zu seiner eigentlichen Eigenschaft. Kein Verfallen und Vergehen, keine Autolyse konnte man von der Toten erwarten.
Die Abwesenheit ihres Geistes und ihrer Seele paarte sich mit der Unvergänglichkeit ihres Körpers. Sie war gleichzeitig da und auch nicht – wie ein dreidimensionales Abbild der Vergangenheit anstatt eines Fotos. Wie lange die zurückliegen mochte, konnte sie nicht sagen. Zu einer möglichen Totenstarre war aufgrund des Frostes rein gar nichts zu sagen. Nadja vermutete aber, dass diese sich nicht erst kürzlich aufgelöst hatte und dass die junge Frau schon viel länger tot, wenn nicht gar tiefgekühlt gewesen war.
„Sind die Haare echt?“, riss Peter seine Frau aus den Gedanken. „Die wirken irgendwie künstlich.“
Nadja zuckte mit den Schultern. „Das kann ich erst nach einer Analyse genau sagen. Beneidenswert auf jeden Fall, wenn das Naturhaar ist“, sagte sie und dachte an ihr wirres Gestrüpp auf dem Kopf, von dem Peter immer behauptete, sie müsse eher im Frühling eine Mütze tragen als im Winter, sonst würden die Vögel darin nisten wollen. Sie überlegte. „Komisch auch die Haut, möchte ich sagen. Theoretisch sieht die Frau aus, als sei sie eingefroren gewesen, aber dann wäre die Haut nicht so glatt. Ich kann auch nirgendwo Gefrierbrand entdecken.“
Jetzt war Hauptkommissar Wolf Hetzer hellhörig geworden. „Zu schön?“, fragte er. „Zu perfekt und so?“
„Ja, so könnte man es nennen“, gab Nadja zu. „Eigentlich eher wie mumifiziert, aber da ist das äußere Erscheinungsbild trotzdem ein ganz anders. Ehrlich gesagt bin ich etwas ratlos, aber ich finde das richtig klasse, denn so ist es total spannend.“
„Mir wäre wohler, wenn einfach mal einer dem anderen was über die Omme haut und gut is“, stöhnte Peter. „So eine schöne, klassische Schädelfraktur, wo man gleich weiß, woran man ist.“
„Und ich fände es besser, wenn überhaupt keiner umgebracht würde“, wandte Wolf aus dem Rollstuhl heraus ein.
„Du wirst alt“, konterte Peter, „aber wer weiß es besser als du, dass wir nicht auf einem Ponyhof leben. Hättest eben nicht hier so herumrollen sollen.“
„Du Depp“, schimpfte Wolf, „dann wäre sie doch trotzdem tot.“
„Schon“, erwiderte Peter, „aber du würdest davon nichts mitgekriegt haben, und deine Welt wäre noch in Ordnung.“ Er biss sich auf die Lippen, nachdem er das gesagt hatte. Nichts in Wolfs Welt war derzeit in Ordnung – bis auf seine Beziehung zu Moni und Niklas.
Glücklicherweise kam Detlef wieder und rettete die Situation. Über seiner Schulter trug er eine große Trittleiter aus Aluminium.
„Ja los, schwing dich hoch“, schlug Peter seinem Kollegen vor.
Detlef schüttelte den Kopf. Er war schwer höhenkrank und konnte nicht mal auf einen Stuhl steigen.
„Der kleine Zwockel?“, lachte Nadja und handelte sich von Detlef einen strengen Blick ein. „Wohl kaum! Das wirst du schön selbst machen. Du siehst mit deinen zwei Metern viel mehr oder soll ich etwa?“ Sie war nur rund fünf Zentimeter kleiner als er.
„Untersteh dich“, drohte Peter und nahm die erste Stufe.
„Kindsköppe“, sagte Detlef kopfschüttelnd zu Wolf, doch der reagierte nicht. Sein Fokus war ganz auf den Fundort ausgerichtet. Er war gespannt, ob jemand wirklich etwas mit Blut in den Schnee geschrieben hatte.
Seppi konnte bestätigen, dass es sich tatsächlich um Blut handelte. Er hatte bereits von einer Stelle am Rand eine Probe genommen.
Diffuses Knistern lag in der Luft, und das hatte nichts mit Weihnachtsstimmung oder -vorfreude zu tun. Selbst Wolf, der das nie zugegeben hätte, spürte es: Der Jagdinstinkt des Teams war erwacht.
Mittlerweile war Peter oben angekommen, lehnte sich auf der Leiter nach vorne wie über eine Balkonbrüstung und kniff die Augen zusammen.
„Ja, da steht tatsächlich was“, sagte er. „Ist irgendwie Schrift, aber man kann nix damit anfangen.“
„Also, was denn nun?“, wollte Detlef wissen. „Steht da was geschrieben oder nicht?“
„Buchstaben schon, nur ohne Sinn. Ich glaube, der Kerl ist nicht fertig geworden“, überlegte Peter laut.
„Könntest du uns denn jetzt bitte vorlesen, was du siehst?“, fragte Wolf mit mühsam beherrschter Stimme. Er musste sich zusammenreißen. Normalerweise dürfte er gar nicht mehr hier sein. Im Grunde hätten sie ihn wegschicken müssen.
Peter drehte sich um 180 Grad und grinste Wolf an. „Das willste wohl wissen, was? Freut mich! So, hier steht: ALDRIG MOR. Und jetzt könnt ihr euch auch vorstellen, dass da noch ein winzig kleiner Buchstabe fehlen muss, wenn ihr das vor eurem inneren, geistigen Auge ausschreibt.“
„Du denkst, das letzte Wort hätte MORD heißen sollen?“, hakte Seppi nach.
„Gut möglich, er könnte gestört worden sein“, überlegte Detlef.
„Klingt sinnvoll, aber was soll das erste Wort heißen?“, fragte Nadja. „Hat da jemand von euch eine Idee?“
„Vielleicht ein Name?“, kam es aus dem Rollstuhl. „Möglicherweise heißt die Tote so. Der Mörder wird mit Sicherheit kaum so dumm gewesen sein und seine Visitenkarte dagelassen haben.“
„Unwahrscheinlich“, erwiderte Detlef. „Wer eine Tote so virtuos inszeniert, kann nicht ganz blöd sein. Dazu gehört schon eine gewisse Raffinesse und Planung.“
Nadja reichte Peter die Kamera nach oben.
„Machst du bitte ein paar aussagekräftige Bilder? Mal mit Blitz, mal ohne“, bat sie. „Dann kann die Frau eingepackt werden. Alles Weitere mache ich im Institut, wenn ich meine Finger wieder bewegen kann.“ Sie rieb sich die Hände, die in den Latexhandschuhen ganz kalt geworden waren.
„Okay“, sagte Peter und nickte den Bestattern zu, die sich dezent zurückgehalten hatten und ein paar Meter weiter weg warteten. „Macht auch keinen Sinn, sie hier weiter zu untersuchen, wenn sie länger tot ist, aber vielleicht solltest du Enno anrufen, damit er den Sektionstisch runterkühlt oder willst du, dass sie sofort auftaut?“
„Keinesfalls“, erwiderte Nadja, „aber zuerst muss ich sie so haben, wie sie jetzt ist, sonst kann ich einige spezifische Dinge nicht mehr richtig beurteilen.“
„Dachte ich mir“, sagte Peter und zwinkerte ihr zu. „Wir rücken dann ab, Detlef. Bis später!“
„Wann denn später?“, fragte Wolf. „Kommst du mich mal besuchen?“
„Nee“, antwortete Peter frech, „du wirst dich schön in der Ulmenallee einfinden und mit an unseren Ermittlungen teilnehmen – natürlich inoffiziell und eher als Berater, aber wir wollen nicht auf dich verzichten.“ Er blickte in die Runde. Alle nickten. „Gibt wegen der neuen Rampe auch keine Ausrede hinsichtlich deines neuen Fortbewegungsmittels.“
„Okay“, sagte Wolf gerührt. Sie hatten ihn noch nicht abgeschrieben. Wahrscheinlich glaubten sie mehr an ihn als er an sich selbst.
„Treffen wir uns doch mit den ersten Ergebnissen am frühen Nachmittag“, schlug Peter vor. „Sagen wir halb vier? Schaffst du das, Nadja?“
„Ich denke schon. Schaltet mich dann einfach per Skype zu, einverstanden?“, bat sie.
„Perfekt“, sagte Peter und winkte zum Abschied.
Wolf beschloss, noch einen Moment zu bleiben, denn Seppi würde jetzt den Bereich unter der Leiche untersuchen. Dabei wollte er ihm Gesellschaft leisten, bevor er wieder in sein Zimmer zurückrollen würde.
Eines hatten all diese Einrichtungen gemein, seien es Krankenhäuser, Reha- oder Kurkliniken sowie Seniorenheime: Alle Mahlzeiten gab es wahnsinnig früh. Das Morgengedeck kam zwischen sechs und halb sieben, zu Mittag gegessen wurde spätestens um halb zwölf und das Abendbrot stand schon kurz nach fünf auf dem Tisch. Da tranken manche Leute noch Kaffee, überlegte Wolf, als er sich um 11:27 Uhr im Speisesaal einfand. Heute, wo er vom aufregenden Morgen im Park ganz durchgefroren war, kam ihm die lauwarme Hühnersuppe zu dieser Uhrzeit allerdings wie eine Erlösung vor. Selbst den halb garen Blumenkohl neben einem Kartoffelpüree aus der Tüte verschmähte er nicht, denn er hatte Hunger. Kälte und Anspannung hatten seinen Kreislauf in Schwung gebracht. Seit Langem hatte er sich nicht mehr so lebendig gefühlt.
Das Essen hier war in der Tat keine Offenbarung, aber gelegentlich brachte ihm seine Moni etwas richtig Leckeres mit. Doch er hatte den Aufenthalt hier gewollt, um ihr in der ersten Zeit nicht zu sehr zur Last zu fallen und natürlich, um körperlich durch die Turbo-Physiotherapie einen enormen Schritt nach vorn zu machen. Wenigstens hoffte er das. Sie würde morgen endlich beginnen. Das war für ihn eine große Erleichterung. Trotzdem freute er sich mehr als alles andere wieder auf sein Zuhause.
Nach dem Essen legte er sich hin. Richtig schlafen konnte er nicht, dafür war der Vormittag zu aufregend gewesen, aber er döste so vor sich hin. Im Halbdämmerzustand kamen die Erinnerungen der nahen Vergangenheit zurück. Gespräche, die er vor der Organtransplantation geführt hatte, Blicke und Gesten von Ärzten und Schwestern, die sorgenvollen Gesichter seiner Angehörigen und Freunde.
All das hatte er dem Mörder seines letzten Falles zu „verdanken“. Er war es gewesen, der seinen Sohn in einen tiefen Regenschacht im Höppenfeld angekettet und sie alle nur mit einem Rätsel zurückgelassen hatte. Wäre Moni Kahlert, seine Nachbarin und Verlobte, nicht gewesen, hätte er die Todesangst um Niklas verwinden können? Ihrer beider Liebe, die vielen Gespräche hatten ihn durch diese schwere Zeit getragen. Obwohl er seinen Sohn erst als Erwachsenen kennengelernt hatte, war er ihm mehr als er ahnte ans Herz gewachsen. In den schlimmsten Stunden war er sich dessen erst wirklich bewusst geworden.
Als er nach Niklas’ Bergung aus dem Schacht mit Seppi von der Spurensicherung dort hinuntergestiegen war, hatte ihn das Grauen gepackt. Man konnte sagen, dass er hinterher nicht mehr derselbe gewesen war. Die Kratzer, das Blut, die Hautreste an den Betonwänden hatte selbst der hartgesottene Techniker schwer ertragen. Es war etwas anderes, wenn man den Menschen kannte, der dort gelitten hatte. Man fühlte die Verzweiflung fast greifbar, mit der der junge Mann versucht hatte, sein Leben zu retten. Wäre das Gitter im Schacht nicht gewesen, hätte er sich in die Beeke spülen lassen können. Die Röhre wäre vom Durchmesser wohl groß genug. Doch er hatte die Stäbe nicht lösen können – nicht mit Steinen, nicht mit bloßen Fingern. Wolf seufzte. Vielleicht auch ein Glück, denn wenn er in dem Betonrohr stecken geblieben wäre, hätte man ihn niemals gefunden. Auch so war es allerhöchste Eisenbahn gewesen. Kurz vor dem Multiorganversagen hatte man ihn geborgen und sofort intensivmedizinisch versorgt. Was folgte, waren quälende Wochen des Hoffens. Jetzt konnte man sagen, dass Niklas dem Tod durch die Leberteillappenspende von Wolf, die beide gut überstehen sollten, von der Schippe gesprungen war. Zumindest hatte es so ausgesehen. Aber Niklas war immer noch sehr schwach. Eine Niereninsuffizienz war das zweite Übel. Da es zu gefährlich gewesen war, mit dem Leberfragment gleichzeitig eine Niere zu transplantieren, verschob man diese zweite, schwere Operation auf unbestimmte Zeit, was regelmäßige Blutwäschen mittels Dialyse zur Folge hatte. So konnte man sich ein paar Monate behelfen, aber im Herbst wurde man sich bewusst, dass eine zügige Lösung gefunden werden musste. Zwar stand Niklas schon seit seiner Einlieferung ins Krankenhaus auf der Liste von Eurotransplant, aber bisher hatte sich kein Spenderorgan finden lassen. Vater und Sohn wussten, dass eine erneute Lebendspende für Niklas unvermeidbar, ja seine einzige Chance war. Wer hätte ahnen können, dass der Eingriff Wolfs Leben erneut und auf andere Weise verändern würde? Selbst wenn man über die möglichen Risiken aufgeklärt wird, glaubt man doch kaum, dass sie eintreten werden. Man hält die Beschreibungen des Arztes, was eventuell passieren könnte, für eine Absicherung der Krankenhausleitung und vergisst das Ganze schnell, nachdem man unterzeichnet hat. Wer zieht schon gerne „Worst Case“ in Betracht, wenn er sich dazu entschlossen hat, einem anderen Menschen das Leben zu retten, vor allem, wenn es sich dabei um den eigenen Sohn handelt?
Im Dämmerschlaf sah er Doktor Till Niederegger vor sich. Er sah blöd aus mit seiner Eulenspiegelkappe anstatt der OP-Haube. Wolf schüttelte sich. Als Mundschutz hatte er eine grinsende Zahnreihe getragen. Aus dem Fernsehen wusste er, dass es die Dinger tatsächlich gab. Was ihm das Unterbewusstsein aufgrund eines Vornamens vorgaukelte … Beinahe schämte er sich. Der Spezialist für Transplantationsmedizin, den Nadja extra aus dem Klinikum Neuperlach bei München organisiert hatte, hatte etwas Besseres verdient, als so in seinen Träumen zu erscheinen. Er war ein früherer Studienkollege der Rechtsmedizinerin und hatte hervorragende Arbeit geleistet. In Kooperation mit der Medizinischen Hochschule Hannover war der Eingriff durchgeführt worden. Dass Wolf dabei einen Schlaganfall erlitten hatte, war ihm nicht zuzuschreiben. In der MHH hatte er so einen guten Eindruck hinterlassen, dass ihn der Chef der Abteilung für Transplantationschirurgie, Professor Doktor Severin Pichlmayr, vom Fleck weg abgeworben hatte. Gegen eine nicht unerhebliche Summe, wie es in Fachkreisen geheißen hatte. Und da das Transplantationszentrum in Hannover deutschlandweit den besten Ruf genoss, war Niederegger nicht abgeneigt gewesen, dem Locken des Professors Folge zu leisten. Es war quasi eine Art Ritterschlag. Viele Ärzte bewarben sich dort tagtäglich ohne Erfolg.
Niederegger hatte die Nierentransplantation auf Bitten und Drängen von Rechtsmedizinerin Nadja und dem Leiter der Operativen Fallanalyse des LKA Niedersachsen, Thorsten Büthe, in der MHH durchführen dürfen. Allerdings nur unter den strengen Augen des Oberarztes. Pichlmayr und Büthe kannten sich seit Jahren, nachdem der ebenfalls als Hochzeitsfotograf tätige Hauptkommissar den Professor und dessen zweite Braut an ihrem schönsten Tag abgelichtet hatte.
Wolf seufzte im Halbschlaf. Operation gelungen, Spender ein Wrack – eigentlich nur noch zum weiteren Ausschlachten gut, überlegte er und rief sich sofort zur Räson, denn solche Gedanken wollte er überhaupt nicht mehr zulassen. Was immer nun aus ihm werden mochte, auf etwas in seinem Dasein konnte er stolz zurückblicken: Er hatte seinem Sohn das Leben gerettet. Niklas konnte ohne Einschränkungen alt und glücklich werden. Ein warmes Gefühl durchströmte ihn. Ja, auch glücklich, denn Nadine war die Richtige für ihn – warmherzig, klug und ein echter Kumpel. Darüber hinaus war sie hübsch anzusehen, was Wolf in waghalsigen Momenten auf niedliche Enkel hoffen ließ. So weit war es also schon. Er dachte daran, Opa zu werden.
Als Wolf wieder auf die Uhr sah, war es kurz vor drei. Potzblitz! Da musste er doch tatsächlich bei seinen wirren Gedanken noch eingeschlafen sein. Zum Kaffeetrinken brauchte er nun nicht mehr zu gehen. Die räumten bestimmt ohnehin längst ab. Aber er sollte sich fertig machen. Bis er sich restauriert hatte und auf die Dienststelle gerollt war, würde es seine Zeit dauern. Und just in dem Moment, als er am schlechtesten abheben konnte, klingelte sein Smartphone.