Schaurige Nächte - Bridget Collins - E-Book
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Schaurige Nächte E-Book

Bridget Collins

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Beschreibung

Lange, kalte Winternächte: Zeit, um den Kamin zu entzünden, Zeit für Geistergeschichten. Ob in den wilden Mooren von Yorkshire, auf dem verschneiten Gelände eines Spukhauses oder auf dem belebten Londoner Weihnachtsmarkt – diese Geschichten, die von Gespenstern vergangener Tage erzählen, jagen den Lesenden die köstlichsten Schauer über den Rücken. So herrlich britisch wie ein Yorkshire Pudding, so stimmungsvoll und gruselig wie ›Eine Weihnachtsgeschichte‹ von Charles Dickens und so spannend, dass man dieses Buch kaum aus den Händen legen kann. ›Schaurige Nächte‹ vereint acht Erzählungen ausgewiesener Gruselexpert*innen, die eine alte Tradition neu beleben: Als Meister*innen des Unheimlichen und Makabren bescheren sie uns den köstlichsten Nervenkitzel.

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Seitenzahl: 348

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Lange, kalte Winternächte: Zeit, um den Kamin zu entzünden, Zeit für Geistergeschichten. Ob in den wilden Mooren von Yorkshire, auf dem verschneiten Gelände eines Spukhauses oder auf dem belebten Londoner Weihnachtsmarkt – diese Geschichten, die von Gespenstern vergangener Tage erzählen, jagen den Lesenden die köstlichsten Schauer über den Rücken. So herrlich britisch wie Yorkshire Pudding, so stimmungsvoll und gruselig wie ›Eine Weihnachtsgeschichte‹ von Charles Dickens und so spannend, dass man dieses Buch kaum aus den Händen legen kann.

›Schaurige Nächte‹ vereint acht Erzählungen ausgewiesener Gruselexpert*innen, die eine alte Tradition neu beleben:

Als Meister*innen des Unheimlichen und Makabren bescheren sie uns einen Nervenkitzel ganz besonderer Art.

»In diesem Jahr gibt es keine spannendere Winterlektüre und keine bessere Auswahl an Autor*innen, die das Gruselige und Gespenstische beherrschen.«

Sara Collins

»Eine Reihe renommierter literarischer Stimmen haben gruselige Geschichten zu diesem wunderschön gestalteten Buch beigesteuert.«

Daily Express

»Was für ein Line-up! Diese phänomenalen Erzählungen werden alle begeistern, die klassische Gruselgeschichten lieben.«

Woman

Werner Löcher-Lawrence war lange als Lektor in verschiedenen Verlagen tätig. Heute ist er literarischer Agent und Übersetzer. Zu den von ihm übersetzten Autor*innen gehören John Boyne, Hisham Matar, Hilary Mantel, Robert Littell, Richard Wright und Meg Wolitzer.

Bridget Collins, Imogen Hermes Gowar, Kiran Millwood Hargrave, Andrew Michael Hurley, Jess Kidd, Elizabeth Macneal, Natasha Pulley, Laura Purcell

SCHAURIGE NÄCHTE

Unheimliche Geschichten für den Winter

Aus dem Englischen vonWerner Löcher-Lawrence

Das bei der Produktion dieses Buches entstandene CO2 wurde durch die Finanzierung von Klimaschutzprojekten kompensiert:

climate-id.com/17531-2110-1001/de

Die englische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel

›The Haunting Season. Ghostly Tales for Long Winter Nights‹ bei Sphere, London.

›Eine Studie in Schwarzweiß‹ Copyright © Bridget Collins 2021

›Thwaites Mieter‹ Copyright © Imogen Hermes Gowar 2021

›Die Aal-Sänger‹ Copyright © Natasha Pulley 2021 – Die Charaktere Keita Mori, Thaniel Steepleton und ein Mädchen namens Six stammen aus der von Bloomsbury Publishing Plc veröffentlichten Watchmaker and Pepperharrow-Reihe.

›Lily Wilt‹ Copyright © Jess Kidd 2021

›Chillinghams Rollstuhl‹ Copyright © Laura Purcell 2021

›Das Hängen des Grüns‹ Copyright © Andrew Michael Hurley 2021

›Gefangen‹ Copyright © Kiran Millwood Hargrave 2021

›Ungeheuer‹ Copyright © Elizabeth Macneal

E-Book 2023

© 2023 für die deutsche Ausgabe: DuMont Buchverlag, Köln

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln, nach der Originalausgabe © Lisa Perrin

Umschlagillustration: Sophie Harris – LBBG

Illustrationen im Innenteil: © Lisa Perrin

Satz: Fagott, Ffm

E-Book-Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-8321-6078-4

www.dumont-buchverlag.de

Bridget Collins

EINE STUDIE IN SCHWARZWEISS

VIELLEICHT, WENN MORTON nicht genau an dieser Stelle stehen geblieben wäre, um sich die Stirn zu trocknen, vielleicht wäre ihm dann das schwarzweiße Haus nie aufgefallen. So aber hatte er gerade die Mütze wieder aufgesetzt und das Bein über sein Rad geschwungen, als sein Blick auf das schmiedeeiserne Tor in der Mauer fiel, hinter dem – es war kaum mehr als ein flüchtiger Eindruck – etwas Lichtes und gleichzeitig Dunkles aufschien. Er hätte nicht wirklich sagen können, was er da sah, aber es brachte ihn dazu, hinüberzumanövrieren und, halb auf dem Sattel, zwischen den Eisenstangen hindurchzuspähen. Durch den Dunst seines Atems sah er ein Haus vertrauter Art, uralt, ein Fachwerkhaus, umgeben von einem kargen, geometrisch angelegten Garten. Das Ganze kam ihm vor wie eine Strichzeichnung: die schmalen Fachwerkbalken, die winterlich weiße, raureifbedeckte Zufahrt, die Symmetrie der kunstvoll beschnittenen Eiben und ihre langen Schatten … Aber die anderen, ähnlichen Häuser, die er kannte, waren marode, die Giebel lehnten zur Seite oder nach vorn, und die Dächer bogen sich unter der Last von Jahrhunderten. Dieses hier stand aufrecht, mit geraden, klaren Linien und Winkeln, und doch war es allem Anschein nach nicht neu.

Morton betrachtete es genau. Er mochte Ordnung, Regeln, Disziplin, und dieses Haus mit seiner Weigerung nachzugeben, seiner offenkundigen Resistenz gegen die Kräfte von Schwerkraft und Zeit, fand seine Anerkennung. Lange stand er da und sah durch die Gitterstäbe des Tors. Es war außergewöhnlich ruhig. Haus und Garten erinnerten ihn an etwas, doch das wurde ihm erst bewusst, als er sich von ihrem Anblick endlich losgerissen und ein Stück die Straße hinuntergefahren war. Erst, als er sich noch einmal umblickte und das Haus aus einer anderen Perspektive sah, mit weiteren Eiben links und rechts einer weiten Rasenfläche. Sie waren kunstvoll zu vertrauten Formen beschnitten, zu Türmen, Springern, Läufern, zwei Königen und zwei Damen, und davor jeweils zu einer langen Reihe Bauern. An einem Sommertag mochte es verspielt wirken, so, in der eisigen Stille, hatte es etwas düster Fesselndes. Morton und sein Rad gerieten ins Wanken, und er hatte zu kämpfen, um sein Gleichgewicht zu halten. Er bog um die nächste Ecke. Ja, so war es. Das Haus hatte ihn an ein Schachspiel erinnert, eine Schachtel mit Figuren, ein glattes Brett, das Schwarzweiß-Muster von Frost und Schatten. Es war reiner Zufall, dass er die Assoziation schon gehabt hatte, bevor er die zugeschnittenen Eiben sah – es sei denn, der Besitzer des Hauses hatte da ein besonderes Faible und Garten und Haus entsprechend angelegt. Oder nein, dachte Morton, er musste die Bäume bereits durch eine Lücke in der Mauer wahrgenommen haben, ohne dass es ihm bewusst geworden wäre. So musste es sein, zweifellos.

Er beugte sich über den Lenker, trat fester in die Pedale und widerstand dem Impuls umzukehren. Erst spürte er, wie das Haus hinter ihm zurückblieb, wie ihn jede Umdrehung der Pedale weiter davon forttrug, ein paar Minuten später jedoch ging es steil bergauf, und die Anstrengung, die der Berg ihm abverlangte, trieb alles andere aus seinen Gedanken. Die Sonne stieg höher und blitzte ihm über die Bäume hinweg in die Augen. Ihm wurde angenehm warm, und er bekam Hunger. Seine Tour beschrieb mehr oder weniger eine Acht und brachte ihn zurück in das Dorf, wo er vorhatte, in einem berühmten alten Gasthaus zu Mittag zu essen. Die Straße, auf der er zurückkam, war jedoch eine andere, und als er vor dem Swan vom Rad stieg, dachte er an nichts anderes als ein Bier der örtlichen Brauerei und einen Kanincheneintopf oder ein paar scharfe Hammelnierchen. Er trat ein, nahm die Mütze ab, zog die Handschuhe aus und setzte sich ans Feuer.

Und erst jetzt, als er spürte, wie ihn eine angenehme Trägheit erfüllte, musste er wieder an das Haus denken. Er sah die beschnittenen Eiben vor sich, wie sie einander über den bleichen Rasen hinweg gegenüberstanden, und in seiner Vorstellung gab er dem Damenbauer einen Stoß und bewegte ihn vor. Er mochte Schach, er hatte schöne Erinnerungen an Triumphe über seine Cousins und seine Schwester, die einmal, in Tränen aufgelöst, das Brett durchs Zimmer geschleudert hatte und danach nicht wieder mit ihm spielen wollte. Es gab wenige Dinge, die so befriedigend waren, wie ein Schachmatt zu verkünden und zuzusehen, wie der Gegner verärgert seinen König umstieß, um seine Niederlage einzugestehen. Wie gut es sich doch angefühlt hatte, das Spiel gegen den Captain des Schachclubs zu gewinnen, der ihm halbherzig und verächtlich die Hand geschüttelt hatte, bevor er sich gedemütigt davonschlich. Morton hatte es genossen.

Eine Frauenstimme sagte: »Was darf ich Ihnen bringen, Sir?«

Morton blinzelte und bestellte ein Ale und nach einiger Überlegung auch noch ein paar Hammelkoteletts. Das Essen, als es dann kam, war überraschend gut, und eine halbe Stunde später saß er immer noch in seinem Sessel und fühlte sich gesättigt und zufrieden wie schon lange nicht mehr – tatsächlich seit er seine letzte Adresse etwas jäh verlassen hatte, nachdem eine gewisse Unannehmlichkeit ans Licht gekommen war. Es waren fünfzehn Meilen zurück zu seiner Pension in Ipswich, aber er sank noch ein wenig tiefer in die Polster und bestellte ein weiteres Bier. Als die Kellnerin es vor ihn hinstellte, sagte er und sah dabei zu, wie das Licht des Kamins in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit spielte: »Kennen Sie zufällig das Haus direkt östlich von hier mit den zu Schachfiguren zugeschnittenen Eiben?«

Sie zögerte, und er hob überrascht den Blick, gerade rechtzeitig, um einen Anflug von Argwohn in ihrer Miene aufscheinen zu sehen. Sie sagte: »Das schwarzweiße Haus, Sir?«

»Genau das«, sagte er. Die Beschreibung mochte auf zahllose Häuser passen, aber er war sich sicher, dass sie wusste, welches er meinte.

»Ja«, sagte sie. Dann kam nichts mehr, und sie wandte sich ab.

Was für eine Unverschämtheit. »Wem gehört es?«, fragte Morton und streckte die Hand nach ihr aus. Nicht, dass er sie wirklich hätte festhalten wollen, aber seine Geste reichte, um sie zusammenzucken und innehalten zu lassen.

»Niemandem von hier«, sagte sie. »Der alte Mann war der Letzte.«

»Aber so ein Haus muss doch jemandem gehören.«

Sie zuckte mit den Schultern.

»Wer wohnt denn da?«

»Im Moment keiner.« Sie beugte sich vor, um den Nachbartisch abzuwischen, und wich seinem Blick aus.

Ein merkwürdiger Funke zündete in Mortons Brust. Er sagte: »Es steht also leer?«

Sie antwortete nicht, und er holte tief Luft und unterdrückte seinen Ärger. Vielleicht waren sie hier in der Gegend keine gebildeten Leute gewohnt. Wahrscheinlich hatten sie es eher mit Bauern und Landwirten zu tun. Er sagte, jetzt lauter: »Ich würde mir gern mal den Garten ansehen. Hineingehen, meine ich.«

»Das Tor wird abgeschlossen sein.«

»Das ist mir schon klar. Ich frage mich nur, ob … oh, ist schon gut.« Er ließ sich in seinen Sessel zurücksinken und entließ sie mit einer Handbewegung. Sie ging, ohne eine Entschuldigung oder gar einen Blick zurück.

»Das Haus ist zu vermieten.«

Morton fuhr zusammen. Die Stimme, so schmeichlerisch wie vertrocknet, war aus einer düsteren Ecke des Raums gekommen, wo er bisher niemanden vermutet hatte. Aber jetzt sah er, dass da jemand an einem kleinen Tisch saß. »Wie bitte?«, sagte er und lehnte sich nach vorn.

»Das schwarzweiße Haus«, sagte der Mann, ohne sich zu bewegen, sodass sein Gesicht auch weiter im Schatten blieb. Morton war nicht aufgefallen, dass die Wintersonne nicht länger hereinfiel und der Nachmittag zur Neige ging. »Entschuldigen Sie«, sagte der Mann, »aber ich habe Sie fragen hören. Es ist ein hübsches kleines Anwesen, nicht wahr?«

»Es ist auf jeden Fall eindrucksvoll«, sagte Morton.

»Wenn Sie es sich ansehen wollen, wird der Makler es Ihnen zeigen können, denke ich. Letterman, am Platz.« Der Mann machte eine Geste, leicht ruckartig und unbeholfen, wie eine Marionette. »Oben beim Rathaus. Aber Sie beeilen sich besser, im Winter macht er früher zu.«

»Ja. Ja, ich verstehe.« Morton stand bereits, obwohl er sich doch so satt und schläfrig gefühlt hatte und sein Glas noch fast voll war. Er war dankbar für den Hinweis und wollte gleich bei dem Makler nachfragen. Seine Eile hatte nichts mit den funkelnden Augen des Mannes zu tun oder der Art, wie sich Schatten und Düsternis um ihn drängten. »Danke«, sagte er.

»Gern geschehen.«

»Einen guten Tag noch.« Morton tastete nach seiner Mütze und seinen Handschuhen und warf einen zu Boden. Als er sich bückte, um ihn aufzuheben, sah er, dass der Mann an einem Schachbrett saß. »Ah«, sagte Morton, der sich bewusst war, dass sein überhasteter Aufbruch unziemlich war, »noch ein Schachliebhaber.«

»Jaaa«, sagte der Mann und lächelte. »Das kann man so sagen.«

Es entstand ein kurzes Schweigen. Unter anderen Umständen wäre Morton vielleicht noch eine Weile länger geblieben, um ein wenig zu fachsimpeln, sagen wir, über die Vorzüge einer Eröffnung mit dem Königsbauern oder dem Damenbauern. Stattdessen sagte er: »Nun, vielen Dank«, eilte nach draußen und war froh, dass sich die Tür hinter ihm schloss und er die kalte Luft auf dem Gesicht spürte.

Der Makler, ein kleiner Mann mit Brille und einem zerschlissenen Kragen, konnte seine Überraschung angesichts Mortons Anliegen kaum verbergen und machte große Augen, sagte dann aber: »Ja, ja, natürlich, ja«, und holte begeistert einen Schlüssel hervor. »Das schwarzweiße Haus«, sagte er, »meine Güte, ja. Eine sehr annehmbare Miete. Sehr annehmbar. Haben Sie sich schon andere Objekte in der Gegend angesehen?«

Morton erklärte, er habe sich in einer Pension in Ipswich eingemietet und bis heute eigentlich kein ganzes Haus gewollt – es sei ihm nicht mal in den Sinn gekommen. Er rechnete mit weiteren Fragen, da es schließlich kaum einen Sinn ergab, doch der Makler sagte nach einem kurzen Zucken mit den Augenbrauen nur: »Ah, ja, ja, in der Tat«, und griff nach seinem Hut. »Ich nehme an, Sie möchten es sich ansehen.«

Das Haus lag näher, als Morton gedacht hatte, direkt am Rand des Dorfes, aber als der Makler das Tor aufschloss, war die Sonne bereits hinter den Bäumen versunken und der Garten lag im Schatten. Im zunehmenden Zwielicht wirkten die beschnittenen Eiben massiv und solide, wie schwarzer Stein. Morton blieb stehen und betrachtete die Figuren links und rechts. Schwarz gegen Schwarz, dachte er, und es kribbelte ihm im Nacken. »MrMorton?«, fragte der Makler vom Eingang aus. »Sollen wir?«

Morton schüttelte sich. »Entschuldigen Sie«, sagte er und beeilte sich, sein Fahrrad an die Mauer zu lehnen.

»Wie Sie sehen werden, ist es voll möbliert«, sagte der Makler. »Soweit ich weiß, hat der gegenwärtige Besitzer da kein Interesse, und so sieht das Haus genau so aus wie, als der alte Mann … ja, nun. Vielleicht ein wenig altmodisch, aber Sie könnten sofort einziehen. Heute Abend noch, wenn Sie wollten!« Er ließ ein wieherndes Lachen hören. »Hier entlang, bitte …«

Es war dunkel drinnen. Die Decken waren niedrig und die Möbel mehr als nur ein wenig altmodisch. Sie nahmen so viel Raum ein, dass Morton sich zwischen ihnen hindurchwinden musste, um dem Makler zu folgen. Die Zimmer waren lang, mit breiten Flügelfenstern, deren Scheiben in der Dämmerung bläulich leuchteten. Sie gingen durch einen schmalen Flur, dann die Treppe hinauf, und der Makler sagte: »Hier sind die Schlafzimmer«, bewegte sich aber so schnell voran, dass Morton keine Zeit blieb, sich richtig umzusehen. »Es wird spät«, sagte er, »und es ist ziemlich düster hier drin. Ich will Sie nicht hetzen, aber …«

»Gibt es Gas?«

»Nein, nur Petroleumlampen, fürchte ich. Oder natürlich Kerzen. Aber es würde dem Haus den Charme nehmen, über Gas zu verfügen, meinen Sie nicht?« Sein Ton strafte seine Worte Lügen, er drehte um, schob sich an Morton vorbei und eilte die Treppe hinunter. »Haben Sie genug gesehen?«

Morton zögerte und starrte durch die offene Tür in ein Schlafzimmer, in dem ein Bett mit Behang stand. Er sah einen Spiegel, einen Tisch mit gedrechselten Beinen und einen Kandelaber mit halb heruntergebrannten Kerzen. Seine Aufmerksamkeit wurde jedoch vom Blick nach draußen angezogen, von den massigen Schachfiguren beiderseits des Rasens. Es kostete ihn Mühe, den Blick von ihnen abzuwenden. »Ja«, sagte er. »Es genügt völlig.«

»Oh. Gut, sollen wir dann …?« Der Makler machte eine lahme Geste zur Tür hin. »Es ist nicht jedermanns Geschmack. Ich verstehe das. Diese historischen Häuser können im Winter ziemlich beklemmend sein.«

»Ich nehme es.«

»Und natürlich …« Er hielt inne. »Entschuldigung?«

»Ich nehme es«, wiederholte Morton. Warum verstanden die Leute hier die einfachsten Sätze nicht? »Ich werde morgen meine Sachen herbringen lassen. Sollen wir zurück in Ihr Büro gehen? Ich nehme an, ich sollte etwas unterschreiben.«

»Oh … nein, nein, das hat Zeit. Wann immer Sie sich eingerichtet haben«, stammelte der Makler. »Das ist … Nun, es freut mich, dass es das Richtige für Sie ist. Die Einzelheiten mit der Miete klären wir, wenn es Ihnen passt.«

Morton nickte. Es kam zu einem kurzen Schweigen, und dann begriff Morton leicht ungläubig, dass der Makler darauf wartete, gemeinsam mit ihm das Haus zu verlassen.

»Ich bleibe«, sagte Morton. »Es ist etwas spät, um noch mit dem Rad zurückzufahren. Ich nehme an, im Swan bekomme ich etwas zu essen?«

»Sicher, aber …«

»Sie haben gesagt, ich könnte heute noch einziehen, wenn ich wollte.«

»Das habe ich, ja.« Der Makler räusperte sich. »Es ist natürlich Ihre Entscheidung. Wenn Sie gern jetzt schon einziehen wollen.« Er gab ihm den Schlüssel. »Morgen früh dann, und …« Er trat von einem Bein aufs andere und fügte schließlich noch hinzu: »Falls Sie es sich über Nacht anders überlegen, gibt es keine weitere Diskussion.«

»Ich bin sicher, ich komme schon klar«, sagte Morton. »Ich kann im Wohnzimmer Feuer machen.«

»Ja. Nun, dann eine gute Nacht.« Der Makler nickte ihm zu und ging davon. Morton hörte, wie er den Schritt im Flur beschleunigte und die schwere Eingangstür hinter sich schloss. Er wartete, bis er glaubte, dass der Makler zurück auf der Straße war, und atmete tief und befriedigt durch. Er durchquerte den Flur und genoss die Erregung durch seine Akquisition. Wie unerwartet, wie wunderbar! Er musste fast lachen, als er daran dachte, wie er – war es erst heute Morgen gewesen? – das Haus von der Straße aus entdeckt hatte. Jetzt gehörte es ihm, um es zu erkunden und in Besitz zu nehmen …

Während der letzten Minuten war die Nacht so gut wie hereingebrochen, und er holte den Kandelaber vom Tisch im Schlafzimmer, zündete die Kerzen an und ging damit durchs ganze Haus, umkreiste Sessel mit Löwentatzen und schob staubige Behänge zur Seite, um Bücher aus Regalen zu ziehen, öffnete Schränke und Schubladen. Der Makler hatte das Haus als möbliert bezeichnet, aber es war weit mehr als das. Es machte den Eindruck, als wäre es völlig unberührt geblieben, nachdem es von einem Moment auf den anderen verlassen worden war. Nur ein Zimmer war völlig aufgeräumt, ein Kinderzimmer hinten im Haus, mit einem Regal voller Spielzeug, einem kleinen Cricket-Schläger in der Ecke, einem winzigen Schachspiel auf der Fensterbank und einem Stapel Bücher. Morton blieb in der Tür stehen, schloss sie dann heftiger als nötig und ging weiter.

Überall gab es Spuren des alten Mannes: nichts so Offensichtliches wie ungegessenes Essen oder eine halb gerauchte Pfeife auf einem Seitentisch, aber die Kerzen, die Seife auf dem Waschtisch, das Handtuch auf der Stange daneben … Im Wohnzimmer fand er ein Exemplar des Chess Player’s Chronicle, umgedreht und offen lag es auf der Lehne des Sofas, als hätte der Leser sich die Seite merken wollen. Davor, in der Ecke, in der sich die Schatten sammelten, stand ein Schachbrett, die Figuren bereit für ein Spiel. Sie waren aus Stein, oder war es Gagat und Elfenbein? Morton nahm einen Bauern, spürte sein ölig glattes Gewicht und stellte ihn zurück vor die Dame. Vielleicht würde er sich später eine Aufgabe aus dem Chronicle heraussuchen und sich damit beschäftigen, bis er die nötige Bettschwere hatte. Gut, dass er ein echtes Brett zur Anschauung hatte, das machte es leichter. Er rückte den Bauern mit der Fingerspitze zurecht, sorgte dafür, dass er exakt in der Mitte des Feldes stand, und wandte sich um. Als er das Zimmer verließ, erfasste ihn plötzlich das absurde Gefühl, etwas vergessen oder einen Fehler gemacht zu haben – als hätte er ein Glas unachtsam an einer Stelle stehen lassen, wo es so gut wie sicher von einem Ärmel zu Boden gestoßen werden würde, oder ein Fenster nicht richtig geschlossen, obwohl doch ein Sturm heraufzog. Aber erst, als er in der Küche stand und nachsah, was noch an Trockennahrung in den Schränken war, begriff er mit einem dürren Lächeln über seine Grille: Er hätte, wie jeder höfliche Spieler, ein J’adoube murmeln sollen, hatte er doch eine Figur angefasst, ohne sie zu bewegen.

Es war eiskalt. Das Erste, was er tun sollte, war, der Kälte ihren Biss zu nehmen, und während er den riesigen kalten Herd anstarrte, musste Morton zugeben, dass es in der Tat nicht der komfortabelste Ort war, um die Nacht zu verbringen. Aber er schien sich zu erinnern, dass der Makler auf dem Herweg eine Zugehfrau erwähnt hatte, die zweifellos dafür verantwortlich war, dass weder Staub noch Spinnweben zu sehen waren. Morgen früh schon würde er die geeigneten Vereinbarungen mit ihr treffen, damit sie sich um ihn kümmerte. Bis dahin hatte es etwas Aufregendes, allein in diesem Haus zu sein und die Schränke nach allem zu durchsuchen, was er brauchte. Einmal, als Kind, nach irgendeinem Vergehen, hatte er sich stundenlang versteckt und mit wachsendem Vergnügen der Stimme seiner Mutter gelauscht, die zunächst besorgt und am Ende voller Angst gewesen war. Lange hatte er sie rufen lassen, bevor er endlich aufgetaucht war, und er hatte seine Macht genossen. Er wusste nicht, warum ihm das in diesem Moment einfiel, aber er spürte eine Art trockenes, untypisches Grinsen in seinem Gesicht, während er nach alten Zeitungen und Anmachholz suchte, sich hinkniete und den großen Wohnzimmerkamin entzündete. Als das Feuer flackerte, ließ er sich zurücksinken und atmete tief und zufrieden durch. Eigentlich hatte er im Gasthof zu Abend essen wollen, aber jetzt, wo er eingeheizt hatte, verspürte er keine Neigung mehr, hinaus in die bitterkalte Nacht zu gehen. Er stand auf, schlug sich die Asche von den Knien und ging hinüber zum Fenster, um die Vorhänge zuzuziehen, doch der Blick hinaus in den Garten ließ ihn innehalten. Der Mond war aufgegangen, färbte den Rasen silbern und die Bäume und ihre Schatten tiefschwarz. Das winterliche Gleißen verwandelte die Welt in Perlmutt und Ebenholz. Es wirkte geradezu jenseitig, fremd, und Morton dachte, er hätte noch nie etwas so Schönes gesehen.

Aber er war nicht die Sorte Mann, die sich von etwas Immateriellem wie Schönheit verführen ließ. Er schloss den Vorhang mit einem so entschlossenen Schwung, dass sich eine Staubwolke daraus löste und ihn husten ließ. Erneut dem Raum zugewandt, blieb sein Blick an einer Karaffe Brandy auf dem Sideboard hängen. Er roch daran, erst vorsichtig, dann heftig, und schenkte sich großzügig ein, die Gläser standen direkt daneben. Morton setzte sich neben den Kamin, den Rücken ans Sofa gelehnt, die Füße in Richtung Feuer gestreckt, und gratulierte sich selbst. Ein Haus wie dieses, für eine minimale Miete … Der Brandy war ausgezeichnet, das Feuer nahm die Kälte aus der Luft, und nach der körperlichen Anstrengung am Morgen und den unerwarteten Ereignissen des Nachmittags fühlte er sich fast etwas benommen. Er spürte, wie die Wärme um seine Füße wallte und sich im Zimmer ausbreitete. Das Knistern der Flammen wurde vom Heulen des Windes im Kamin und dem Stöhnen des alten Gemäuers begleitet. Die Deckenbalken begannen leise zu murmeln, als die Wärme sie erreichte. Mortons Augen schlossen sich langsam, plötzlich jedoch hörte er eine Reihe dumpfer Schläge über den Boden auf sich zukommen und fuhr in die Höhe. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und er rechnete halb damit, jemanden zu sehen. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich scharfzustellen, und kurz glaubte er, einen dunklen Schemen vorbeiziehen und sich in Nichts auflösen zu sehen, bevor er auch nur einmal blinzeln konnte. Sein Herz setzte für einen Schlag aus. Aber natürlich war da niemand. Es musste das Holz sein, das sich in den Fugen zwischen den Dielen und Balken verschoben hatte. Er hatte schon andere alte Häuser Geräusche machen hören, die unheimlich wie Stimmen oder Schritte klangen. Er beruhigte sich, versuchte zu lachen und legte den Kopf zurück auf die Ecke des Sofas. Gleichzeitig ließ der Ledersessel gegenüber, der beim Schachbrett, ein leises Seufzen hören, als hätte sich jemand in ihn hineingesetzt.

Es war leicht zu erklären, leichter noch als das Knarzen der Dielen: Die Luft in den Kissen musste sich infolge eines warmen Luftstroms vom Feuer ausgedehnt haben. Dennoch konnte er nicht anders und starrte mit zusammengekniffenen Augen und einem unsinnig klopfenden Herzen zum Sessel hinüber. Nichts, keine Bewegung. Das Leder schien die Form eines Körpers zu halten, eines Mannes, dachte er, knochig und mit schmalen Hüften, der die Angewohnheit hatte, die Ellbogen auf die gepolsterten Lehnen zu stützen. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte Morton ihn fast sehen, zwischen den tanzenden Schatten des Feuers. Er blinzelte das Bild weg und nahm noch einen Schluck Brandy. Die kräftige Süße beruhigte den Schauder in seinem Nacken. Er nahm noch einen größeren Schluck, verschob den Hintern ein wenig und versuchte zurück in die Behaglichkeit von vorhin zu finden. Da fiel sein Blick auf das Schachbrett.

Der weiße Bauer stand nicht mehr an seinem Platz.

Morton erstarrte. Statt ordentlich in seiner Reihe zu warten, war der Bauer vorgerückt und hatte die anderen hinter sich gelassen. Die Damenbauern-Eröffnung. Es war unmöglich. Er hatte ihn zurückgestellt – hatte er nicht gedacht, er hätte J’adoube sagen sollen?

Aber … Nein. Er musste ihn vorgerückt haben. Er hatte ihn in die Hand genommen, um sein Gewicht zu spüren, und wieder zurückgestellt. Dabei musste er sich in der Position getäuscht haben, das war alles. Es war das Natürlichste überhaupt, den Bauern in eine neue Position zu bringen … und so automatisch ein Spiel zu beginnen … so automatisch, dass es ihm kaum aufgefallen war … und er es gleich vergessen hatte … sodass er jetzt, absurderweise, perplex war und nach Luft schnappte … Er streckte die Hand aus, hielt aber über dem Brett inne, als wäre er gegen eine Scheibe gestoßen. Er wollte den Bauern nicht anfassen. Er erinnerte sich an das Gewicht in seiner Hand und an das leicht ölige Gefühl, das ihn hatte überlegen lassen, ob er aus Elfenbein war und nicht aus Stein.

Er wich zurück und hob instinktiv den Blick zum Sessel, aber der war leer, die Konturen im Leder stammten von keiner Person, es war einfach nur ein alter Sessel, dem die jahrelange Benutzung anzusehen war. Die Spannung in Mortons Rücken löste sich, und es blieb nur Müdigkeit. Die Anstrengung, die Aufregung und – er blickte auf sein Glas – seine Zügellosigkeit. Er trank die letzten Tropfen und stellte das Glas neben das Schachbrett. Es war Zeit, schlafen zu gehen.

Er schlief unruhig. Es war eiskalt im Schlafzimmer, und er war zu empfindlich, um unter das Bettzeug zu kriechen, legte sich stattdessen voll angezogen auf die Daunendecke und deckte sich mit seinem Mantel zu. Womit es vielleicht kein Wunder war, dass er sich im Traum im Schlafsaal seines Internats wiederfand und sich an den Unfug und die Streiche erinnerte und zum Teil neu erfand, die er den anderen gespielt hatte. Als er aufwachte und sich von seinen Träumen freigemacht hatte, die ihm wie ein Nebel vor Augen hingen, dachte er gleich an den Kaffee, das warme Rasierwasser und das fröhliche Feuer im Frühstücksraum seiner Pension, begriff dann aber, wo er war. Er fluchte. Was war in ihn gefahren, dass er hier die Nacht hatte verbringen wollen, und, schlimmer noch, dieses Haus zu mieten? Steif schwang er sich aus dem Bett, stolperte laut stöhnend den Flur entlang und die Treppe hinunter.

Aber schon, als er am Fenster oben an der Treppe vorbeikam, hob sich seine Laune. Der Tag war klar wie ein Diamant, der Garten lag silbrig grün im Licht der Dämmerung, und die beschnittenen Eiben waren ein wahres Wunder an Symmetrie. Es würde kein großer Aufwand sein, dieses Haus bewohnbar zu machen. Gute Feuer, saubere Bettwäsche, eine Lebensmittellieferung, die Dienste einer Hausangestellten, und er wäre – Morton lächelte – der Herr über das alles … Er eilte die Stufen hinab und hinaus in die helle, belebende Luft. Eine Minute später schon segelte er auf dem Fahrrad durch die Schatten der Bäume zum Tor und hinaus auf die Straße ins Dorf.

Und es wurde ein absolut zufriedenstellender Morgen. Falls der Makler erstaunt war, dass Morton das schwarzweiße Haus nach wie vor mieten wollte, wusste er es bewundernswert zu verbergen und war so schnell mit allem zur Hand, dass Morton schon nach einer Viertelstunde wieder aus seinem Büro kam. Er gab ihm auch die Adresse der Zugehfrau, die etwa einmal die Woche kam, um Staub zu wischen, und sich mit einem gierigen Schimmer in den Augen bereit erklärte, Morton mit Essen zu versorgen, das er aufwärmen konnte, zu waschen und zu bügeln und sich um andere Einzelheiten des Haushalts zu kümmern, die sich als notwendig erweisen würden. Morton verließ ihr Cottage und radelte vergnügt pfeifend die High Street hinunter. Er hatte sich ursprünglich nur einen vorübergehenden Aufenthalt in der Gegend vorgestellt, höchstens für ein paar Monate, bis die ungute Verstrickung zu Hause vergessen war, aber vielleicht würde er ja länger bleiben, vielleicht sogar auf Dauer … Er hielt am Postamt, sandte Anweisung an die Pension, ihm seine Sachen zu schicken, und ging endlich im Gasthof etwas essen. Diesmal setzte er sich bewusst auf die andere Seite des Raumes, da er aus einem unerklärlichen Grund nicht auf den Gentleman treffen wollte, mit dem er hier geredet hatte. Es war Markttag und der Gastraum voller Bauern und Händler, und als er sich einen Überblick verschafft hatte, sah er, dass die dunkle Ecke gegenüber unbesetzt war und man selbst den Sessel und das Schachbrett entfernt hatte, wahrscheinlich, um mit dem größeren Andrang fertigzuwerden.

Hinterher machte er einen weiten Umweg zurück zum Haus, genoss die Bewegung und die frische Luft, und als er ankam, hatte, wie mit der Zugehfrau vereinbart, deren Sohn eine Fleischpastete und einen süß duftenden Pudding vor der Tür deponiert. Morton trug beides in die Küche, und nach einem langen Kampf gelang es ihm, den Herd in Gang zu setzen. Als sich das Ding endlich seinem Willen beugte, jauchzte er triumphierend. Etwas später hatte er heißes Wasser und nahm, so gut es ging, die überfälligen Waschungen vor. Er hatte nur ein halb versteinertes Stück Seife und schreckte davor zurück, den Rasierer des alten Mannes zu benutzen. Dennoch genoss er das angenehme Gefühl, seine Aufgaben erfüllt zu haben, ging in die Bibliothek, entfachte auch dort ein Feuer und inspizierte das Bücherregal. Der vorherige Bewohner war eindeutig kein großer Leser gewesen. Morton zog Buch um Buch heraus und stellte fest, dass sie alle – sämtlich schöne Klassikerausgaben – nicht aufgeschnitten waren. Er räumte sie wieder ein und fuhr mit seiner Erkundung fort, bis er auf einen kleinen leinengebundenen Band zur örtlichen Geschichte stieß, eher eine Broschüre als ein Buch. Er blätterte durch die Seiten, die mit ordentlichen Strichzeichnungen bedeutender Gebäude illustriert waren, dem Rathaus, der Kirche und – aha! – auch dem schwarzweißen Haus.

»Im späten siebzehnten Jahrhundert von Sir Jeremiah Hope erbaut, von dem wenig bekannt ist, bis auf den Umstand, dass er von seinen Nachbarn in Anspielung auf seinen Namen ›Verloren‹ genannt wurde … In jüngerer Zeit wurde das Haus durch seinen geometrisch angelegten Garten mit aufwendiger Formschnitt-Gärtnerei bekannt, die von seinem gegenwärtigen Bewohner, MrE.E. Hope, M.A. (Cantab.), im Gedenken an seinen Sohn geschaffen wurde, der die Leidenschaft seines Vaters für das Schachspiel geerbt hatte und sich als ein wahres Ausnahmetalent erwies vor seinem tragischen Tod im zarten Alter von …«

Morton gähnte und blätterte weiter, doch es gab nur noch wenig mehr zum Haus und nichts von Interesse. Er ließ sich auf der Chaiselongue nieder und legte das Büchlein auf den Boden. Nach seiner unruhigen Nacht, seiner Fahrradtour und den Erledigungen des Tages fühlte er sich schläfrig, schlief ein, wachte auf, döste, schlief wieder. Endlich wurde er wieder richtig wach, mit einem klaren Kopf und ausreichend Appetit für das Abendessen. Er stand auf, war mit den Gedanken bereits bei seiner Fleischpastete, bemerkte die Broschüre auf dem Boden kaum und hatte sie, als er die Tür hinter sich schloss, bereits völlig vergessen.

Nach dem Essen, das reichhaltig, wenn auch nicht der reine Genuss gewesen war, zog er sich ins Wohnzimmer zurück. Er säuberte den Kamin etwas unbeholfen, bekam Asche auf die Hose und beschloss, der Zugehfrau aufzutragen, sich, wenn sie kam, um die Feuerstellen im Haus zu kümmern. Entspannt schüttete er sich einen Brandy ein, entzündete ein paar Kerzen gegen die hereinbrechende Dunkelheit und setzte sich auf den Platz, den er abends zuvor schon eingenommen hatte. Erst da erinnerte er sich wieder an das kleine Buch und fragte sich, ob es die Mühe lohnte, hinaus in den zugigen Flur zu gehen und es zu holen. Aber nein, da lag doch der Chess Player’s Chronicle, und Brett und Figuren standen bereit. Vielleicht sollte er, falls er länger blieb, ein Programm ausarbeiten, mit Lektüre und Korrespondenzen, um sich die einsamen Stunden zu vertreiben. Aber fürs Erste fand er bestimmt ein paar deftige Aufgaben im Chronicle, um sich die Zeit zu vertreiben, bis er müde genug fürs Bett war. Er griff nach der Zeitschrift, die sich zufällig auf einer Seite mit verschiedenen Aufgaben, illustriert mit einer Skizze der jeweiligen Spielsituation, öffnete. Von R.B. Wormald, B.A., London. Weiß am Zug, setzt Schwarz in drei Zügen schachmatt. Er sah gleich eine vielsprechende erste Attacke – der Läufer schlug den Turm –, doch da stand ein verlockender Bauer hinten auf dem Brett, der mittels eines Zuges zu einer Dame werden würde. Er zog das Schachbrett zu sich heran, um die Situation nachzustellen. Sein Herz stockte.

Eine weitere Figur war bewegt worden.

Morton registrierte automatisch, dass es sich um die holländische Verteidigung handelte. Der Bauer vor dem Läufer war zwei Felder vorgerückt und brachte das Brett in ein Ungleichgewicht, ein aggressiver, allerdings riskanter Zug, der den König in Gefahr brachte … Aber das nur nebenbei. Es war unmöglich, dass er den Bauern selbst bewegt hatte. Das gestern Abend konnte an seiner Vergesslichkeit oder gar Trunkenheit gelegen haben, doch jetzt war er sicher – eisig, widerlich sicher –, dass er den schwarzen Bauern nicht angerührt hatte. Und doch stand er dort. Die beiden Bauern sahen einander über die Reihen hinweg an. Es war eine Replik. Als hätte ein unsichtbarer Gegner …

Er wandte den Blick zum Sessel, Hals- und Nackenmuskeln verspannt, als rechnete er mit einem Schock. Aber da war niemand. Natürlich war da niemand, nur das alte Leder mit seinen Rissen und Tälern, der Erinnerung an Körper und Hände. Abwesenheit. Er starrte den Sessel an und versuchte, nicht zu blinzeln. Das Kaminfeuer flackerte und spielte mit den Schatten an der Wand. Das Holz schimmerte, glatt wie ein See, ohne ein Staubkorn …

Morton atmete heftig aus. Die Zugehfrau musste hier gewesen sein. Sie musste den schwarzen Bauern vorgeschoben haben, vielleicht auch ihr Sohn, als er das Essen gebracht hatte. Ja, wohl eher ihr Sohn, die Zugehfrau selbst war alt und ungebildet, kaum jemand, der Schach spielte. Aber wer von beiden es auch gewesen sein mochte, es war eine Frechheit, eine verdammte Frechheit, dachte Morton. Er überlegte kurz, ob die Frau den Bauern mit dem Staubwedel umgeworfen haben konnte. Aber es war ein überlegter Zug, eine klare Antwort auf die Eröffnung, das konnte kaum Zufall sein. Es war eindeutig gewollt, eindeutig der Sohn. Er musste Ansätze von Bildung genossen haben. Morton biss die Zähne zusammen. Er glaubte nicht eine Sekunde, dass der Junge an einer ehrlichen Schachpartie interessiert war. Jungen waren fiese kleine Biester. Nein, der Bursche wollte, dass er ihnen mehr zahlte. Wie konnte er sich unterstehen? Morton erinnerte sich an eine ähnliche Aktion in der Schule, die erfolgreich gewesen war, zu erfolgreich. Nun, er würde nicht darauf hereinfallen.

Er betrachtete das Schachbrett noch einen Moment und schob dann mit einer schnellen Bewegung den Königsbauern auf das Feld neben seinem Kameraden. Das Staunton-Gambit: einen Bauern als Opfer anbieten, um einen Angriff auf den schwarzen König zu fahren. Das würde dem kleinen Dreckskerl zeigen, dass er keine Angst hatte. Er lehnte sich zurück, rieb sich die Schenkel und stellte sich die Enttäuschung im Blick des Jungen vor, wenn er begriff, dass Morton seinen Bluff durchschaut hatte.

Aber die kurze Befriedigung erstarb praktisch schon, als Morton sie empfand, und Sekunden später erhob er sich und lief auf und ab, erst zum Sideboard, dann zum Fenster. Er zog den Vorhang zur Seite, aber der Garten lag in Dunkelheit – Wolken verdeckten Mond und Sterne –, und er sah nicht mehr als unbestimmte Flecken eines tieferen Schwarz, wo die Bäume vor dem finsteren Himmel aufragten. Wenn er jetzt einen Bauern bewegte, ermutigte er dadurch das Kind nur noch, und das war das Letzte, was er wollte. Er klopfte mit den Fingernägeln gegen das Glas und überlegte, aber das Geräusch klang seltsam im stillen Zimmer, und er ließ die Hand sinken. Das Würdevollste wäre, alle Figuren zurück an ihren Ausgangsplatz zu stellen. Oder, besser noch, sie ganz wegzunehmen, außer Sicht. Der Junge konnte kaum fragen, was mit ihnen geschehen war, oder? Und Mortons eigene Lust auf Schachprobleme war geschwunden, tatsächlich spürte er die Präsenz des Brettes hinter sich, es brannte ihm im Rücken wie ein feindseliger Blick. Er drehte sich um und betrachtete es. Es war absurd, aber er wünschte, wünschte von ganzem Herzen, er hätte seinen Gegenzug nicht gemacht.

Die Kerzen brannten langsam herunter, und eine erste begann hungrig in die Luft zu lecken. Unter Mortons Blick beugten sich die Schatten aus der Ecke begierig vor, und die Flamme schrumpfte zu einer winzigen blauen Blase – und verschwand. Eine Sekunde lang, während sich seine Augen an die neue Düsternis gewöhnten, schienen die Flecken auf dem Sessel zu etwas Festem, Körperlichem zu werden, fast so, als wüchse jemand daraus hervor. In Morton verspannte sich etwas, und aus einem plötzlichen Entschluss heraus ging er zum Schachbrett hinüber, griff nach der Schachtel und warf die Figuren ungestüm hinein. Es gab zwei Abteile, für Schwarz und Weiß, aber er ignorierte sie, und dann drückte er und drückte, bis etwas nachgab und der Deckel sich schloss. War da der Kopf eines Läufers abgebrochen? Das Knacken schien von den Wänden widerzuhallen. Er hatte noch nie ein Spiel abgebrochen, noch nie um Pardon gebeten, nie eine Schwäche zugegeben. Und obwohl er allein war, verspürte er eine seltsame Mischung aus Scham und Trotz und, darunter, einem schleichenden Unbehagen. Eine weitere Kerze fiel in sich zusammen und drohte zu verlöschen. Er zuckte zusammen. Irgendwie war ihm der Gedanke, hier allein mit dem zuckenden Licht des Kamins zu stehen, unerträglich, und so griff er abrupt nach dem Kandelaber und ging hinaus auf den Flur. Und obwohl die Haut zwischen seinen Schulterblättern kribbelte, erlaubte er sich nicht, sich umzusehen.

Es dauerte lange, bis Morton in Schlaf fiel. Er verachtete alle, die unnötigerweise in der Vergangenheit hängen blieben, aber aus irgendeinem Grund traten auch ihm jetzt Erinnerungen aus seiner Schulzeit vor Augen. Er sah den Jungen vor sich, den sie immer wieder mit ihren Streichen gequält hatten – Simms Minor, richtig, oder Simmons? –, sah seine schreckensweiten Augen an dem Abend, als er Morton um Hilfe gebeten hatte … Ein Schwächling war er gewesen, sowieso, und hätte mit ihren Streichen umgehen sollen wie Morton mit dem Schachspiel unten, hätte sie einfach verächtlich abtun sollen. So reagierten Männer auf so etwas. Und der Unfall … Nun, das war kaum Mortons Schuld gewesen. Trotzdem fühlte er sich rastlos und unwohl, wand und drehte sich auf der Daunendecke und zog seinen Mantel fester um sich.

Am Ende musste er doch eingedöst ein, und als er aufwachte, lag eine seltsame Stille in der Luft – die gleiche Stille, die ihm aufgefallen war, als er das Haus zum ersten Mal durch das Tor betrachtet hatte, ganz so, als lauschte die Welt selbst auf etwas. Er hatte den Eindruck, von einem ungewöhnlichen Geräusch, das gleich wieder verklungen war, geweckt worden zu sein, davon oder von einer Bewegung im Zimmer, als wäre jemand bis auf Armlänge an sein Bett herangekommen. Aber Letzteres konnte es nicht sein, denn als er sich aufsetzte, war er eindeutig allein. Eindeutig, denn der Mond war hinter den Wolken hervorgekommen und warf ein Schwarzweiß-Muster durch die Fensterscheiben.

Er zog sich den Mantel enger um die Schultern und schwang die Beine über den Bettrand. Der Boden unter seinen nackten Füßen war eiskalt, aber er stand auf und tappte stumm zum Fenster. Dort blieb er stehen und wartete darauf, dass sich das Geräusch wiederholte. Er hörte jedoch nichts; da rief nicht einmal eine Eule, kein Luftzug blies durch die Ritzen am Fensterrahmen. Konnte ihn die Tiefe der Stille aus dem Schlaf gerissen haben? Aber nein, er war sicher – fast sicher –, etwas gehört zu haben. Er versuchte, sich das Geräusch zu beschreiben: ein mahlendes, dunkel nachhallendes Knarzen, irgendwo zwischen Holz und Stein. Er starrte die Bäume an und verspürte eine Art Schwindel, keine richtige Angst. Das überirdische Licht, die dunklen Formen vor dem mondbleichen Himmel, ihre klaren Umrisse, die dichten Schatten … Er spürte, wie sich der Raum zusammenzog, sodass die Schachfiguren zugleich riesig waren und klein genug, um in seine Hand zu passen. Morton schloss die Augen, doch da wurde ihm richtig schwindelig, und er öffnete sie gleich wieder. Die Schatten zuckten vor dem Gleißen des Mondes und schienen sich zu verschieben.

Er griff nach dem Fensterrahmen. Er dachte, nur einen Moment lang, er hätte gesehen, wie … Nein. Nein, nichts war anders, nichts hatte sich bewegt. Es hätte beruhigend sein sollen, die Eiben dort so ordentlich aufgereiht zu sehen, genau so, wie sie dastehen sollten, doch der Druck in seinen Ohren wuchs und wurde zu einem Summen. Wenn er eine von ihnen vorrücken sehen würde, sagen wir, den Bauern, wie er sich über das silbrige Gras bewegte, wüsste er, dass er halluzinierte, und wäre fast schon erleichtert. Aber das Gefühl des Wartens, die Schwere der Luft, die bewegungslosen, in Formation dastehenden Eiben – es war unerträglich, furchterregend, irgendwie schlimmer, und er war wie gelähmt und vermochte sich nicht abzuwenden.

Er hätte nicht sagen können, wie lange er dort stand, die Figuren anstarrte und auf etwas wartete, das nie geschehen würde. Am Ende wurde ihm bewusst, dass der Mond hinter dem Haus verschwunden war, eine sanfte Brise im Kamin murmelte und seine Füße vor Kälte ganz taub waren. Er humpelte zurück zum Bett und schlief gleich ein, wie von einem großen Kampf erschöpft.

Ein Klopfen weckte ihn. Er stapfte triefäugig die Treppe hinunter, den Flur entlang, rieb sich die Augen und zerrte die Haustür auf. Ein kleiner Junge stand dort mit einer Puddingschüssel und einem Paket in braunem Papier. Beides hielt er Morton hin.

»… das Geschirr«, murmelte er.

»Was?«

»Meine Ma sagt, ich soll das benutzte Geschirr mitnehmen.«

»Das kannst du morgen holen«, sagte Morton und wollte die Tür wieder zumachen.

»Morgen sind Sie eingeschneit.«

Morton hielt inne. In seiner noch halb verschlafenen Eile, die Tür zu öffnen, war es ihm kaum aufgefallen, doch es stimmte, der Wind hatte einen eisigeren Biss und die niedrig hängenden Wolken waren ohne Kontur. »Also gut«, sagte er. »Warte hier.« Augenblicke später schon war er mit dem leeren Topf und dem Pastetenteller zurück. Der Junge trat von einem Bein aufs andere, als müsste er aufs Klo. Er nahm das schmutzige Geschirr, schob es in einen Rucksack und wandte sich ohne ein Wort ab, um zu gehen. Seine Hast, wenn auch nicht direkt unverschämt, traf Morton an einer empfindlichen Stelle. Er zahlte der Mutter des Kindes einen Lohn, oder?

»Moment«, sagte Morton, »nicht so schnell. Du hast im Wohnzimmer herumgetan, oder? Also, damit hör besser mal auf.«

Der Junge starrte ihn an. »War nicht da drin«, sagte er nach einer Pause.