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»Ich habe ›Schlafenszeit‹ gelesen und geliebt ... die Plot-Twists sind wirklich überraschend, und es hat diese schwer zu erreichenden Sogkraft, die einen das Buch nicht aus der Hand legen lässt. Und die Bilder sind großartig!« -STEPHEN KING Der vierjährige Teddy malt für sein Leben gerne. Seine neue Babysitterin Mallory liebt seine Kreativität, und gemeinsam spielen, malen und lachen sie. Doch dann werden Teddys Zeichnungen immer düsterer und verstörender. Nach dem so liebenswürdigen Gekritzel malt der kleine Junge plötzlich einen grausamen Mord, immer und immer wieder. Mallory ist besorgt und verängstigt, doch Teddys Eltern behaupten, es sei nur eine Phase. Aber Mallory lassen die schrecklichen Bilder keine Ruhe und rauben ihr nachts den Schlaf, wenn sie allein in ihrer Hütte im Garten ist. Sie versucht dahinterzukommen, was es mit den schrecklichen Zeichnungen auf sich hat, ohne zu ahnen, in welche Spirale des Grauens sie sich begibt. Mit Schwarz-Weiß-Illustrationen Das mitreißende Horrordebut von Jason Rekulak überzeugt nicht nur durch Hochspannung und unvorhersehbare Plottwists, sondern liefert auch düstere Schwarz-Weiß-Illustrationen, die essentieller Teil der Handlung sind und den Lesespaß ins Unermessliche steigern. Gewinner "Bestes Horror-Buch" des Goodreads Choice Awards 2022 Jason Rekulak ist Autor und Herausgeber von Quirk Books in Philadelphia. Dort hat er bereits zahlreiche New-York-Times-Bestseller mitkonzipiert und veröffentlicht. Mit »Schlafenszeit« legt er nun sein Horror-Debüt vor, das Leser:innen und Autor:innen gleichermaßen begeistert. Die Illustrationen stammen von Will Staehle und Doogie Horner.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
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© Jason Rekulak 2022
Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Hidden Pictures«, Flatiron Books, 2022
© Piper Verlag GmbH, München 2024
Illustrationen: Will Staehle, Doogie Horner
Aus dem Amerikanischen von Peter Beyer
Covergestaltung: bürosüd, München, nach einem Entwurf von Hannah Wood - LBBG
Covermotiv: Hannah Wood - LBBG und Shutterstock.com
Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence, München mit abavo vlow, Buchloe
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Ein Jahr später
Dank
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für Julie
Als ich vor ein paar Jahren pleite war, stellte ich mich freiwillig für eine Forschungsstudie an der Universität von Pennsylvania zur Verfügung. Die Wegbeschreibung führte mich zur Klinik auf dem Campus in West Philly und schließlich in einen großen Hörsaal, in dem jede Menge Frauen saßen, alle zwischen achtzehn und fünfunddreißig.
Es waren nicht ausreichend Stühle vorhanden, und da ich eine der Nachzüglerinnen war, musste ich mich fröstelnd auf den Boden hocken. Es gab kostenlosen Kaffee und Schokodonuts, und auf einem großen Bildschirm lief The Price Is Right, aber die meisten glotzten auf ihre Handys. Die Stimmung glich der im Warteraum einer Zulassungsstelle, außer dass wir stundenweise bezahlt wurden und mehr oder weniger alle recht froh darüber zu sein schienen, den ganzen Tag warten zu müssen.
Irgendwann erhob sich dann eine Ärztin in einem weißen Laborkittel und stellte sich uns vor. Sie sagte, ihr Name sei Susan oder Stacey oder Samantha und sie sei Gastmitglied im Programm für klinische Forschung. Sie las uns die üblichen Haftungsausschlüsse und warnenden Hinweise vor und erinnerte uns daran, dass die Entlohnung in Form von Amazon-Geschenkgutscheinen erfolgen werde, nicht in Form von Schecks oder Bargeld. Hier und da kam Gemurre auf, aber mir war das egal, denn ich hatte einen Freund, der mir Geschenkgutscheine für achtzig Cent pro Dollar abkaufte. Also war ich weiterhin bereit, teilzunehmen.
Alle paar Minuten rief Susan (ich glaube, sie hieß Susan?) einen Namen vom Zettel auf ihrem Klemmbrett auf, worauf eine von uns den Raum verließ. Niemand kam jemals zurück. Bald gab es reichlich freie Plätze, aber ich blieb auf dem Boden sitzen, weil ich befürchtete, mich bei der kleinsten Bewegung übergeben zu müssen. Mein ganzer Körper schmerzte, und ich hatte Schüttelfrost. Immerhin sprach sich irgendwann herum, dass man die Probanden nicht vorher untersuchte. Das hieß, niemand würde meinen Urin testen, meinen Puls messen oder sonst irgendwas tun, was mich aus dem Rennen geworfen hätte. Also schob ich mir eine 40er in den Mund und lutschte sie so lange, bis sich der wachsgelbe Überzug ablöste. Dann spuckte ich sie mir auf die Handfläche, zerdrückte sie mit dem Daumen und schnupfte etwa ein Drittel davon, gerade genug, um mich wieder auf Touren zu bringen. Den Rest wickelte ich in ein kleines Stück Folie für später. Danach hörte das Zittern auf, und auf dem Boden zu warten, war nicht mehr ganz so übel.
Etwa zwei Stunden später rief die Ärztin schließlich: »Quinn? Mallory Quinn?« Ich ging den Gang hinunter auf sie zu, wobei ich meinen schweren Winterparka hinter mir herschleifte. Falls sie bemerkte, dass ich high war, gab sie keinen Kommentar dazu ab. Sie fragte mich nur nach meinem Alter (neunzehn) und meinem Geburtsdatum (3. März) und verglich dann meine Antworten mit den Daten auf dem Zettel an ihrem Klemmbrett. Ich schätze mal, sie entschied, dass ich nüchtern genug war, denn sie führte mich durch ein Labyrinth von Fluren, bis wir zu einem kleinen, fensterlosen Raum gelangten.
In ihm saßen fünf junge Männer nebeneinander auf Klappstühlen. Da sie alle auf den Boden starrten, konnte ich ihre Gesichter nicht sehen. Ich ging davon aus, dass sie Medizinstudenten oder Assistenzärzte waren – sie trugen alle Krankenhauskittel, noch mit Bügelfalten und strahlend marineblau, als seien sie eben erst gekauft worden.
»In Ordnung, Mallory, bitte stellen Sie sich vorne in den Raum, mit dem Gesicht zu den Männern. Genau hier auf das X, perfekt. Bevor wir Ihnen eine Augenbinde anlegen, erkläre ich Ihnen kurz, was geschehen wird.« Ich sah, dass sie eine schwarze Augenmaske in der Hand hielt, so eine weiche aus Baumwolle, wie sie meine Mutter immer vor dem Schlafengehen aufsetzte.
Sie erklärte mir, dass die Männer im Moment alle auf den Boden starrten, in den nächsten Minuten jedoch meinen Körper ansehen würden. Meine Aufgabe sei es, die Hand zu heben, wenn ich das Gefühl hätte, einen »männlichen Blick« auf meinem Körper zu spüren. Ich solle meine Hand so lange erhoben halten, wie das Gefühl andauere, und sie wieder senken, wenn es verschwinde.
»Wir machen das fünf Minuten lang, aber wenn wir fertig sind, werden wir Sie vielleicht bitten, das Experiment zu wiederholen. Haben Sie noch irgendwelche Fragen, bevor wir beginnen?«
Ich fing an zu lachen. »Ja, habt ihr Typen Fifty Shades of Grey gelesen? Ich bin mir nämlich ziemlich sicher, dass das hier eine Szene aus Kapitel zwölf ist.«
Das war mein Versuch, die Sache mit ein wenig Humor aufzulockern. Susan lächelte, um höflich zu sein, aber keiner der Jungs achtete auf mich. Sie nestelten alle an ihren Klemmbrettern herum und synchronisierten ihre Stoppuhren. Die Stimmung im Raum war rein wissenschaftlich. Susan setzte mir die Schlafmaske auf und stellte den Verschluss so ein, dass sie nicht zu eng anlag. »In Ordnung, Mallory, sitzen Sie bequem?«
»Klar doch.«
»Und sind Sie bereit, anzufangen?«
»Ja.«
»Dann zähle ich jetzt bis drei, und wir legen los. Meine Herren, halten Sie Ihre Uhren bereit. Und eins, zwei, drei.«
Es ist total schräg, fünf Minuten lang mit verbundenen Augen in einem mucksmäuschenstillen Raum reglos zu verweilen und dabei zu wissen, dass diese Kerle einem auf die Titten oder den Hintern oder was auch immer schauen. Es gab keinerlei Geräusche oder Anhaltspunkte, die mir hätten helfen können, zu erraten, was geschah. Aber ich spürte es definitiv, wenn sie mich anschauten. Ich hob und senkte meine Hand mehrmals, und die fünf Minuten fühlten sich wie eine Stunde an. Als wir fertig waren, bat Susan mich tatsächlich, das Experiment zu wiederholen, und wir machten alles noch einmal. Dann bat sie mich sogar, das Experiment ein weiteres Mal zu wiederholen! Als sie mir schließlich die Augenbinde abnahm, standen alle Kerle auf und begannen zu klatschen, als hätte ich gerade einen Oscar gewonnen.
Susan erklärte, sie hätten das Experiment schon die ganze Woche mit Hunderten Frauen durchgeführt. Ich sei jedoch die erste, die ein nahezu perfektes Ergebnis abgeliefert und die Blicke in den drei Runden mit 97 Prozent Genauigkeit gemeldet habe.
Sie sagte den Jungs, sie sollten eine Pause machen, führte mich in ihr Büro und begann, Fragen zu stellen. Und zwar: Woher wusste ich, dass die Männer mich anstarrten? Mir fehlten die Worte, um das zu erklären – ich hatte es einfach mitbekommen. Es war so ein flattriges Gefühl am Rande meiner Wahrnehmung – eine Art Spidey-Superhelden-Sinn. Bestimmt haben Sie es auch schon mal gehabt und wissen genau, wovon ich spreche.
»Außerdem war da noch so eine Art Geräusch.«
Nun riss sie die Augen auf. »Wirklich? Sie hören etwas?«
»Manchmal schon. Es ist so ein hoher Ton. Wie wenn eine Stechmücke ganz nah am Ohr summt.«
Sie griff so hektisch nach ihrem Laptop, dass sie ihn fast fallen gelassen hätte. Dann tippte sie auf der Tastatur herum und fragte mich schließlich, ob ich in einer Woche für weitere Tests wiederkommen würde. Ich sagte ihr, für zwanzig Dollar die Stunde würde ich so oft wiederkommen, wie sie nur wollte. Ich gab ihr meine Handynummer, und sie versprach, mich anzurufen, um einen Termin zu vereinbaren. Aber noch am selben Abend tauschte ich mein iPhone gegen fünf Oxy-80er Tabletten ein. Sie hatte also keine Möglichkeit, mich zu erreichen, und ich habe seitdem nie wieder von ihr gehört.
Jetzt, da ich clean bin, bereue ich eine Million Dinge, und mein iPhone eingetauscht zu haben, ist das geringste Problem. Aber manchmal erinnere ich mich an das Experiment und denke dann darüber nach. Ich habe versucht, die Ärztin im Internet aufzuspüren, aber ich kann mich ja nicht einmal mehr an ihren korrekten Namen erinnern. Eines Morgens nahm ich mal den Bus zur Uniklinik und versuchte, den Seminarraum zu finden, aber der Campus sieht heute ganz anders aus; da stehen jede Menge neuer Gebäude, und alles ist total zugebaut. Ich habe versucht, Begriffe wie »Blickwahrnehmung« bei Google zu suchen, aber jedes Ergebnis besagt, dass so ein Gespür kein nachweisbares Phänomen ist – es gibt keinen Beweis dafür, dass jemand »Augen im Hinterkopf« hat.
Ich schätze mal, ich habe mich damit abgefunden, dass das Experiment nicht wirklich stattgefunden hat. Es ist vermutlich eher eine der vielen nicht realen Erinnerungen, die mir dank meines Missbrauchs von Oxycodon, Heroin und anderen Drogen im Gedächtnis hängen geblieben sind.
Mein Sponsor, Russell, meint, derart falsche Erinnerungen seien unter Süchtigen weit verbreitet. Er sagt, das Gehirn eines Süchtigen »erinnere« sich an glückliche Fantasien, damit wir die echten Erinnerungen vermeiden können – all die beschämenden Dinge, die wir angerichtet haben, um high zu werden, all die beschissenen Lügen und Betrügereien, mit denen wir gute Menschen, die uns liebten, verletzt haben.
»Achte doch nur mal auf die Details deiner Geschichte«, gibt Russell zu bedenken. »Du kommst auf dem Campus einer renommierten Ivy-League-Universität an. Du bist zugedröhnt vom Kiffen, und niemand kümmert sich um dich. Du betrittst einen Raum mit gut aussehenden jungen Ärzten. Die starren dann fünfzehn Minuten lang auf deinen Körper – und brechen am Ende in stürmischen Applaus aus! Ich meine, nun komm schon, Mallory! Man muss nicht Sigmund Freud sein, um dahinterzukommen!«
Natürlich hat er recht. Bei der Rehabilitation für Suchtkranke ist es mit am schwersten, sich damit abzufinden, dass du deinen eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen kannst. Du musst dir sogar darüber klar werden, dass dein eigenes Gehirn zu deinem schlimmsten Feind geworden ist. Es wird dich zu schlechten Entscheidungen verleiten, Logik und gesunden Menschenverstand außer Kraft setzen und deine am meisten geschätzten Erinnerungen zu abstrusen Fantasien verfälschen.
Aber hier mal ein paar Fakten, an denen es nichts zu rütteln gibt:
Ich heiße Mallory Quinn und bin einundzwanzig Jahre alt.
Ich bin seit achtzehn Monaten in der Reha und kann guten Gewissens von mir sagen, dass ich kein Verlangen verspüre, Alkohol oder Drogen zu mir zu nehmen.
Ich habe das Zwölf-Schritte-Programm durchlaufen und mich dem Glauben zugewandt. Sie werden mich zwar nicht gerade an Straßenecken stehen sehen, wo ich Bibeln verteile, aber ich bete jeden Tag dafür, clean zu bleiben, und bis zum jetzigen Zeitpunkt klappt das auch.
Ich lebe im Nordosten von Philadelphia im Safe Harbor, einem von der Stadt geförderten Heim für Frauen im fortgeschrittenen Reha-Stadium. Wir nennen es »Dreivierteloffene Einrichtung«, weil wir alle bewiesen haben, dass es uns ernst ist mit dem Cleansein und wir uns eine Menge persönlicher Freiheiten verdient haben. Wir kaufen unsere eigenen Lebensmittel, kochen unsere eigenen Mahlzeiten und müssen nicht mehr Unmengen nerviger Regeln befolgen.
Montags bis freitags arbeite ich als Hilfslehrkraft in der Aunt Becky’s Childcare Academy, einem von Mäusen befallenen Reihenhaus mit sechzig zukünftigen Schülerinnen und Schülern im Alter von zwei bis fünf. Ich verbringe einen Großteil meiner Zeit damit, Windeln zu wechseln, Goldfisch-Cracker zu verteilen und Sesamstraßen-DVDs abzuspielen. Nach der Arbeit gehe ich joggen und nehme anschließend an einem Meeting teil oder bleibe einfach im Safe Harbor mit meinen Mitbewohnerinnen. Wir schauen uns dann alle auf Hallmark Channel Filme wie Sailing into Love oder Forever in My Heart an. Lachen Sie ruhig, wenn Sie wollen, aber ich garantiere Ihnen, dass Sie in einem Film auf Hallmark niemals eine Prostituierte sehen werden, die weiße Pulverlinien schnupft. Ich will nämlich nicht, dass solche Bilder bei mir Erinnerungen wachrufen.
Russell hat sich bereit erklärt, mich zu betreuen, weil ich mal Langstreckenläuferin war; er hat viel Erfahrung im Trainieren von Läufern. Russell war Assistenztrainer des Teams USA bei den Olympischen Sommerspielen 1988. Später führte er die Uniteams von Arkansas und Stanford zu NCAA Leichtathletik-Meisterschaften. Noch später hat er dann unter dem Einfluss von Methamphetamin seinen Nachbarn überfahren. Russell verbüßte fünf Jahre wegen fahrlässiger Tötung und wurde danach zum Priester geweiht. Heute betreut er gleichzeitig fünf oder sechs Süchtige, die meisten von ihnen sind aus der Bahn geworfene Sportler wie ich.
Russell hat mich dazu inspiriert, wieder mit dem Training zu beginnen (er nennt es »Rennen für die Reha«), und er erarbeitet Woche für Woche auf mich zugeschnittene Trainingspläne: Langstreckenläufe, im Wechsel mit Windsprints entlang des Schuylkill River; dazu kommen noch Gewichtheben und Konditionstraining im YMCA. Russell ist achtundsechzig und hat eine künstliche Hüfte: Trotzdem stemmt er immer noch zweihundert Pfund und kommt an den Wochenenden vorbei, um Seite an Seite mit mir zu trainieren, mir Tipps zu geben und mich zu motivieren. Er erinnert mich ständig daran, dass Läuferinnen ihren Zenit nicht vor dem fünfunddreißigsten Lebensjahr erreichen und dass meine besten Jahre noch weit vor mir liegen.
Außerdem ermutigt er mich, Pläne für die Zukunft zu schmieden, einen Neuanfang in einer neuen Umgebung zu wagen, weit weg von alten Freunden und Gewohnheiten. Aus diesem Grund hat er für mich ein Vorstellungsgespräch bei Ted und Caroline Maxwell arrangiert – Freunde seiner Schwester, die kürzlich nach Spring Brook, New Jersey, gezogen sind. Die beiden suchen ein Kindermädchen, das auf ihren fünfjährigen Sohn Teddy aufpasst.
»Sie sind gerade aus Barcelona zurückgekommen. Der Vater arbeitet in der Computerbranche. Oder in der Wirtschaft? Irgendwas, das gut bezahlt wird, die Details habe ich vergessen. Jedenfalls haben sie sich hier niedergelassen, damit Teddy – das Kind, nicht der Vater – im Herbst eingeschult werden kann. Vorschule. Sie wollen also, dass du ihn bis September betreust. Aber wenn alles gut läuft – wer weiß? Vielleicht übernehmen sie dich ja.«
Russell besteht darauf, mich zum Vorstellungsgespräch zu fahren. Er gehört zu den Leuten, die ständig so aussehen, als wollten sie gleich ins Fitnessstudio, auch wenn sie gerade gar nicht trainieren. Heute trägt er einen schwarzen Adidas-Trainingsanzug mit weißen Streifen. Wir sitzen in seinem SUV, fahren auf der linken Spur über die Ben Franklin Bridge und überholen den langsam fließenden Verkehr, während ich mich am Angstgriff festklammere und auf meinen Schoß starre, bemüht, nicht auszuflippen. In Autos fühle ich mich nicht besonders wohl. Ich benutze sonst eigentlich immer den Bus oder die U-Bahn. Außerdem verlasse ich gerade seit fast einem Jahr zum ersten Mal Philadelphia. Wir fahren zwar nur zehn Meilen raus in die Randbezirke, aber es fühlt sich so an, als würde ich zum Mars fliegen.
»Was hast du denn?«, fragt Russell.
»Nichts.«
»Du bist verkrampft, Mallory. Mach dich locker.«
Wie soll ich denn entspannen, wenn uns gerade dieser riesige Bus rechts überholt? Er ist wie die Titanic auf Rädern und so nah, dass ich aus dem Fenster greifen und ihn berühren könnte. Ich warte, bis er vorbeigefahren ist und ich reden kann, ohne schreien zu müssen.
»Was ist mit der Mutter?«
»Caroline Maxwell. Sie ist Ärztin im Veteranenkrankenhaus, in dem auch meine Schwester Jeannie arbeitet. Von ihr weiß ich, dass sie jemanden suchen.«
»Wie viel weiß sie über mich?«
Er zuckt mit den Schultern. »Sie weiß, dass du seit achtzehn Monaten clean bist. Und ich habe dich ihr ohne Wenn und Aber empfohlen.«
»Das habe ich damit nicht gemeint.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich habe ihr deine ganze Geschichte erzählt, und sie freut sich sehr darauf, dich kennenzulernen.« Ich muss eine skeptische Miene aufgesetzt haben, denn Russell legt nach: »Die Frau arbeitet beruflich mit Süchtigen. Und ihre Patienten sind altgediente Soldaten. Wir reden hier von Navy SEALs, von echt abgefuckten afghanischen Kriegstraumata. Nimm mir das nicht krumm, Mallory, aber im Vergleich zu denen klingt deine Geschichte gar nicht so dramatisch.«
Ein Arschloch in einem Jeep wirft eine Plastiktüte aus dem Fenster, und wir haben keinen Platz, um einen Schlenker zu machen, also knallen wir mit sechzig Meilen pro Stunde gegen das Ding, und es erklingt ein lauter Knall von zerberstendem Glas. Es hört sich an wie die Explosion einer Bombe. Russell greift einfach nach dem Regler der Klimaanlage und klickt sie auf zwei Stufen kühler. Ich halte den Blick auf meinen Schoß geheftet, bis ich höre, wie der Motor leiser wird, und spüre, wie wir die sanfte Kurve einer Ausfahrt nehmen.
Spring Brook ist eines dieser kleinen Käffer in South Jersey, die es schon zu Zeiten der Amerikanischen Revolution gab. Hier stehen jede Menge historischer Häuser im Kolonial- und im viktorianischen Stil, auf deren Veranden US-Flaggen flattern. Die Straßen sind ordentlich gepflastert, die Bürgersteige makellos sauber. Nirgends liegt auch nur ein Fitzelchen Müll herum.
Wir halten vor einer roten Ampel, und Russell fährt beide Fensterscheiben herunter.
»Hörst du das?«, fragt er.
»Ich höre gar nichts.«
»Genau. Es ist friedlich. Das ist genau das Richtige für dich.«
Die Ampel springt auf Grün, und wir fahren nun einen drei Häuserblock langen Straßenabschnitt mit Geschäften und Restaurants entlang – mit einem Thai, einem Smoothie-Laden, einer veganen Bäckerei, einer Hundetagesstätte und einem Yogastudio. Es gibt eine Nachmittagsschule namens »Mathe-Gymnasium« und einen kleinen Buchladen mit angeschlossenem Café. Und natürlich darf auch ein Starbucks mit hundert Teenagern und Jugendlichen davor, die allesamt auf ihren iPhones rumdaddeln, nicht fehlen. Sie sehen aus wie die Kinder in einem Werbefilm von Target. Sie tragen bunte Klamotten und brandneue Schuhe.
Dann biegt Russell in eine Seitenstraße ein, und wir fahren an einem makellosen Vorstadthaus nach dem anderen vorbei. Große, ausladende Bäume werfen lange Schatten auf die Bürgersteige und den Straßenzug. Auf Hinweisschildern steht in großen Buchstaben FUSS VOM GAS – HIER LEBEN KINDER!, und als wir an einer großen Kreuzung ankommen, winkt uns dort ein lächelnder Schülerlotse in einer neonfarbenen Sicherheitsweste durch. Alles ist bis ins kleinste Detail so perfekt, dass es sich anfühlt, als würden wir durch eine Filmkulisse fahren.
Schließlich fährt Russell an den Straßenrand und hält im Schatten einer Trauerweide an. »Also, Mallory, bist du bereit?«
»Ich weiß nicht.«
Ich klappe die Sonnenblende herunter und betrachte mein Spiegelbild. Auf Russells Anregung hin habe ich mich wie eine Betreuerin in einem Sommercamp gekleidet – grüner Rollkragenpullover, khakifarbene Shorts und makellos weiße Sneaker. Ich hatte immer lange Haare, die mir bis zur Taille reichten, aber gestern habe ich mir meinen Zopf abgeschnitten und die Haare einer Krebshilfe-Organisation gespendet. Geblieben ist nur noch ein sportlicher schwarzer Bob. Ich erkenne mich selbst kaum wieder.
»Hier noch zwei kostenlose Ratschläge«, sagt Russell. »Erstens, vergiss nicht zu erwähnen, dass das Kind begabt ist.«
»Wie soll ich das denn erkennen?«
»Das spielt keine Rolle. In dieser Stadt sind alle Kinder begabt. Bau das einfach irgendwie ins Gespräch mit ein.«
»Na gut. Und wie lautet der zweite Ratschlag?«
»Tja, wenn das Gespräch schlecht läuft? Oder wenn du glaubst, dass die beiden unentschlossen sind? Dann kannst du immer noch hiermit punkten.«
Er öffnet das Handschuhfach und zeigt mir etwas, das ich wirklich nicht mit ins Haus dieser beiden nehmen möchte.
»Oh, Russell, ich weiß nicht.«
»Nimm es, Mallory. Betrachte es als eine Art Trumpfkarte. Du musst sie nicht ausspielen, aber vielleicht brauchst du sie.«
Ich habe während der Reha genug Horrorgeschichten gehört, um zu wissen, dass er wahrscheinlich recht hat. Also nehme ich das blöde Ding und schiebe es tief in meine Tasche.
»Gut«, lenke ich ein. »Danke, dass du mich hergefahren hast.«
»Hör zu, ich werde beim Starbucks auf dich warten. Ruf mich an, wenn du fertig bist, dann fahre ich dich wieder zurück.«
Ich behaupte beharrlich, dass es mir gut geht, sage ihm, dass ich den Zug zurück nach Philadelphia nehmen kann, und dränge Russell, jetzt nach Hause zu fahren, bevor der Verkehr noch dichter wird.
»Also schön, aber ruf mich an, wenn du fertig bist«, erwidert er. »Ich möchte jedes Detail erfahren, okay?«
Als ich aus dem Wagen steige, empfängt mich ein heißer, schwüler Juninachmittag. Russell drückt auf die Hupe, als er losfährt, und ich fürchte, jetzt gibt es kein Zurück mehr. Das Haus der Maxwells ist ein großer, klassischer viktorianischer Bau mit drei Stockwerken, gelber Holzverkleidung und weißen Verzierungen. Auf der breiten, umlaufenden Veranda stehen Korbmöbel und Kübel voll mit gelben Blumen – Margeriten und Begonien. Das Grundstück grenzt an einen großen Wald, vielleicht ist es auch ein Park, lauter Vogelgesang schallt bis auf die Straße, und inmitten des Zwitscherns und Trillerns kann ich alle möglichen Insekten summen, brummen und zirpen hören.
Ich gehe den gepflasterten Weg zum Haus entlang und steige die Stufen zur Veranda hinauf. Ich läute an der Tür, und ein kleiner Junge macht mir auf. Er hat orangefarben-rötliche Haare, die abstehen, und erinnert mich an eine kleine Troll-Puppe.
Ich gehe in die Hocke, damit wir einander in die Augen sehen können.
»Ich wette, du bist Teddy.«
Der Junge schenkt mir ein scheues Lächeln.
»Ich bin Mallory Quinn. Ist dein …«
Er macht auf dem Absatz kehrt, sprintet die Treppe ins Obergeschoss hinauf und verschwindet aus meinem Blickfeld.
»Teddy?«
Ich bin mir nicht sicher, was ich tun soll. Vor mir befindet sich eine kleine Diele und ein Durchgang, der nach hinten in die Küche führt. Ich kann ein Esszimmer (auf der linken Seite) und ein Wohnzimmer (rechts) sehen, alles mit sehr hübschem Hartholzboden. Mir schlägt der frische, saubere Geruch der Luft aus einer Klimaanlage entgegen – vermischt mit einem Hauch von Reinigungsmittel; es riecht so, als hätte jemand die Böden gerade gründlich geschrubbt. Alle Möbel sehen modern und brandneu aus, als wären sie eben erst aus dem Ausstellungsraum von Crate & Barrel angeliefert worden.
Ich drücke noch einmal auf die Türklingel, aber sie gibt keinen Ton von sich. Ich versuche es noch drei weitere Male – Fehlanzeige.
»Hallo?«
Ganz hinten im Haus, in der Küche, sehe ich die Silhouette einer Frau, die sich umdreht und mich bemerkt.
»Mallory? Bist du das?«
»Ja! Hallo! Ich hab versucht zu klingeln, aber …«
»Ich weiß, tut mir leid. Wir lassen sie reparieren.«
Bevor ich mich fragen kann, woher Teddy wusste, dass ich vor der Tür stand, kommt sie zur Haustür, um mich zu begrüßen. Sie hat den anmutigsten Gang, den ich je gesehen habe, bewegt sich lautlos, als würden ihre Füße kaum den Boden berühren. Sie ist groß, schlank und blond, hat helle Haut und weiche Gesichtszüge, die zu zart für diese Welt zu sein scheinen.
»Ich bin Caroline.«
Ich reiche ihr meine Hand, aber sie begrüßt mich mit einer Umarmung. Sie ist einer dieser Menschen, die Wärme und Mitgefühl ausstrahlen, und sie hält mich einen Moment länger als nötig.
»Ich bin so froh, dass du hier bist. Russell hat uns so viele wunderbare Dinge erzählt. Bist du wirklich schon seit achtzehn Monaten clean?«
»Achtzehneinhalb.«
»Unglaublich. Nach allem, was du durchgemacht hast? Das ist einfach phänomenal. Du kannst wirklich stolz auf dich sein.«
Ich fürchte schon, gleich in Tränen auszubrechen, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie schon nach meiner Genesung fragt, kaum dass ich ihr Haus betrete. Aber es ist eine Erleichterung, es hinter mich zu bringen, gleich alle meine schlechtesten Karten auf den Tisch zu legen.
»Es war nicht leicht, aber es wird jeden Tag leichter.«
»Das ist genau das, was ich meinen Patienten auch immer sage.« Sie tritt zurück, mustert mich von Kopf bis Fuß und lächelt. »Und sieh dich einer an! Du siehst so gesund aus, du strahlst ja förmlich!«
Im Haus sind es angenehm frische zwanzig Grad – eine willkommene Zuflucht vor der schwülen Hitze draußen. Ich folge Caroline, vorbei am Treppenaufgang und unter den Treppenabsatz des Obergeschosses hindurch. Ihre Küche ist lichtdurchflutet und sieht aus wie das Set einer Kochshow auf Food Network. Dort stehen ein großer Kühlschrank, ein kleiner Kühlschrank und ein Gasherd mit acht Flammen. Die Spüle ist eine Art Trog, so breit, dass er zwei separate Wasserhähne erfordert. Dann sind da noch Dutzende von Schubladen und Schranktüren in allen möglichen Formen und Größen.
Caroline öffnet eine kleine Tür, und ich erkenne, dass dies ein dritter Kühlschrank ist, ein Minikühlschrank, gefüllt mit kalten Getränken. »Mal sehen, wir hätten Sprudelwasser, Kokosnusswasser, Eistee …«
»Sprudel wäre toll.« Ich drehe mich um und schaue staunend durch die Fensterfront auf den Garten hinter dem Haus. »Das ist eine wunderschöne Küche.«
»Riesig, nicht wahr? Eigentlich viel zu groß für drei Personen. Aber wir haben uns in das Haus verliebt, also haben wir es gekauft. Da ist ein Park direkt hinter unserem Grundstück, hast du das gesehen? Teddy liebt es, durch den Wald zu stromern.«
»Das klingt nach Spaß.«
»Aber wir müssen ihn ständig nach Zecken absuchen. Ich überlege schon, ob ich ihm ein Schutzband oder so etwas kaufen soll.«
Sie hält ein Glas unter den Eisspender, der daraufhin ein leises Klirren von sich gibt – wie das Windspiel auf ihrer Veranda –, als Dutzende winzige Eisperlen herauspurzeln. Mir ist, als wäre ich gerade Zeuge eines Zaubertricks geworden. Sie füllt das Glas mit sprudelndem Wasser und reicht es mir. »Wie wär’s mit einem Sandwich? Kann ich dir etwas anbieten?«
Ich schüttle den Kopf, aber Caroline öffnet trotzdem den großen Kühlschrank, worauf eine riesige Auswahl an Lebensmitteln zum Vorschein kommt. Da stehen Kannen mit Vollmilch und Sojamilch, Kartons mit braunen Eiern aus Bodenhaltung, Becher mit Pesto, Hummus und Salsa. Es gibt Käseecken, Flaschen mit Kefir und weiße Netzsäckchen, die berstend voll sind mit grünem Blattgemüse. Und erst das Obst! Riesige Klappschachteln mit Erdbeeren und Blaubeeren, Himbeeren und Brombeeren, eine Wassermelone und eine Honigmelone. Caroline greift nach einem Beutel Babymöhren und einem Glas Hummus und schließt die Kühlschranktür dann mit dem Ellbogen. Ich bemerke, dass an der Tür eine Kinderzeichnung hängt, ein primitives und ungeschickt angefertigtes Porträt eines Kaninchens. Ich frage, ob Teddy es gemalt hat, worauf Caroline nickt. »Sechs Wochen in diesem Haus, und schon deutet er an, dass er sich Haustiere wünscht. Ich habe ihm gesagt, dass wir erst einmal zu Ende auspacken müssen.«
»Er scheint begabt zu sein«, sage ich ihr. Augenblicklich befürchte ich, dass die Worte gezwungen klingen, dass ich zu früh zu weit gegangen bin.
Aber Caroline stimmt mir zu!
»Oh, auf jeden Fall. Er ist wirklich weit für sein Alter. Das sagen alle.«
Wir setzen uns an einen kleinen Esstisch in der Frühstücksecke, und sie reicht mir ein Blatt Papier. »Mein Mann hat ein paar Richtlinien verfasst. Nichts allzu Verrücktes, aber wir sollten sie gleich mal durchgehen.«
HAUSREGELN
1. Keine Drogen
2. Kein Alkohol
3. Nicht rauchen
4. Keine vulgären Ausdrücke
5. Keine Bildschirme
6. Kein rotes Fleisch
7. Kein Junkfood
8. Keine Besucher ohne vorherige Erlaubnis
9. Keine Fotos von Teddy in den sozialen Medien
10. Keine Religion, kein Aberglaube. Unterrichte Wissenschaft.
Unter der getippten Liste steht noch eine elfte Regel, handgeschrieben in graziler, weiblicher Schrift:
Hab Spaß! 🙂
Caroline fängt schon an, sich für die Regeln zu entschuldigen, bevor ich sie überhaupt durchgelesen habe. »Nummer sieben ziehen wir nicht wirklich durch. Wenn du Muffins backen oder Teddy ein Eis kaufen willst, ist das in Ordnung. Nur keine Limonade. Und auf Nummer zehn hat mein Mann bestanden. Er ist Ingenieur. Er arbeitet in der Technologiebranche. Wissenschaft ist also sehr wichtig in unserer Familie. Wir sprechen keine Gebete, und wir feiern Weihnachten nicht. Wenn jemand niest, sagen wir nicht einmal ›God Bless You‹.«
»Was sagt ihr denn dann?«
»Das deutsche ›Gesundheit‹. Oder ›Zum Wohl‹. Das bedeutet das Gleiche.«
In ihrer Stimme schwingt ein entschuldigender Ton mit, und ich sehe, dass sie einen Blick auf das winzige Goldkreuz wirft, das an einer Kette um meinen Hals hängt – ein Geschenk meiner Mutter zu meiner Erstkommunion. Ich versichere Caroline, dass ihre Hausregeln kein Problem für mich sein werden. »Teddys religiöse Erziehung ist eure Sache, nicht meine. Ich bin nur hier, um ihm ein sicheres, liebevolles und fürsorgliches Umfeld zu verschaffen.«
Sie wirkt erleichtert. »Und Spaß zu haben, ja? Das ist Regel elf. Wenn du also mal einen besonderen Ausflug planen willst, ins Museum oder in den Zoo – ich übernehme die Kosten dafür gerne.«
Wir sprechen eine Weile über den Job und meine Aufgaben, aber Caroline stellt mir kaum persönliche Fragen. Ich erzähle ihr, dass ich in South Philly aufgewachsen bin, in der Shunk Street, gleich nördlich der Stadien. Ich lebte mit meiner Mutter und meiner jüngeren Schwester zusammen und habe für alle möglichen Familien in meinem Viertel als Babysitterin gearbeitet. Ich ging auf die Central High School und hatte gerade ein Sportstipendium für die Penn State erhalten, als mein Leben aus den Fugen geriet. Den Rest muss Russell Caroline erzählt haben, denn sie nötigt mich nicht, die ganzen unschönen Dinge wieder aufzuwärmen.
Stattdessen sagt sie nur: »Sollen wir mal schauen, wo Teddy steckt? Mal sehen, wie ihr zwei miteinander auskommt?«
Das Wohnzimmer der Familie befindet sich direkt neben der Küche. Es ist ein gemütlicher, zwanglos eingerichteter Raum mit einer Couchgarnitur, einer Truhe voller Spielzeug und einem flauschigen Zottelteppich. Die Wände sind gesäumt mit Bücherregalen und gerahmten Postern der New Yorker Metropolitan Oper – Rigoletto, Pagliacci und La Traviata. Caroline erklärt, dies seien die drei Lieblingsinszenierungen ihres Mannes, und früher, bevor Teddy kam, hätten sie immer das Lincoln Center besucht.
Der Junge selbst liegt ausgestreckt auf dem Teppich, vor sich einen spiralgebundenen Block und gelbe HB-Bleistifte. Als wir hereinkommen, schaut er auf, wirft mir kurz ein verschmitztes Lächeln zu und widmet sich dann sofort wieder seinem Werk.
»Na, hallo noch mal. Malst du gerade ein Bild?«
Er zuckt übertrieben stark mit den Schultern, ist immer noch zu schüchtern, um mir eine Antwort zu geben.
»Liebling, Schatz«, wirft Caroline ein. »Mallory hat dich gerade etwas gefragt.«
Er zuckt wieder mit den Schultern und rückt mit seinem Gesicht dann näher an das Papier heran, bis seine Nase mehr oder weniger die Zeichnung berührt, so als würde er versuchen, darin zu verschwinden. Dann greift er mit der linken Hand nach einem Bleistift.
»Oh, du bist Linkshänder!«, sage ich zu ihm. »Das bin ich auch!«
»Viele Weltpolitiker sind Linkshänder«, erklärt Caroline. »Barack Obama, Bill Clinton, Ronald Reagan – alles Linkshänder.«
Teddy verlagert seinen Körper so, dass ich nicht über seine Schultern sehen, nicht erkennen kann, was er da gerade zeichnet.
»Du erinnerst mich an meine kleine Schwester«, sage ich. »Als sie so alt war wie du, hat sie für ihr Leben gerne gezeichnet. Sie hatte einen riesige Tupperbox voll mit Buntstiften.«
Caroline langt unter das Sofa und holt eine riesige Box voller Buntstifte hervor. »So was wie das hier?«
»Genau!«
Caroline hat ein unbeschwertes, angenehmes Lachen. »Ich erzähle dir mal eine lustige Geschichte: Die ganze Zeit, als wir in Barcelona lebten, konnten wir Teddy nicht dazu bewegen, einen Bleistift auch nur in die Hand zu nehmen. Wir haben ihm Marker, Fingerfarben und Wasserfarben gekauft, aber er zeigte keinerlei Interesse daran, irgendetwas damit zu zeichnen. Aber in dem Moment, als wir in die USA zurückkehren und in dieses Haus einziehen, mutiert er plötzlich zu einem Pablo Picasso. Mittlerweile malt er wie verrückt.«
Caroline hebt die Platte des Couchtischs an, und ich sehe, dass er gleichzeitig als eine Art Aufbewahrungskiste fungiert. Sie zieht einen Stapel Papiere heraus, der zwei, drei Zentimeter dick ist. »Mein Mann zieht mich damit auf, dass ich alle Bilder aufhebe, aber ich kann einfach nicht anders. Willst du sie sehen?«
»Unbedingt.«
Unten auf dem Boden liegend, lässt Teddy den Bleistift zwischen seinen Fingern verharren. Sein ganzer Körper hat sich angespannt. Ich merke, dass er aufmerksam zuhört und sich ganz auf meine Reaktion konzentriert.
»Oooh, das erste ist wirklich schön«, sage ich zu Caroline. »Ist das ein Pferd?«
»Ja, ich glaube schon.«
»Nein, nein, nein!«, ruft Teddy, springt vom Boden auf und tritt neben mich. »Das ist eine Ziege, denn sie hat Hörner auf dem Kopf, siehst du? Und einen Bart. Pferde haben keine Bärte.« Dann klettert er auf meinen Schoß, blättert die Seite um und lenkt meine Aufmerksamkeit auf die nächste Zeichnung.
»Ist das die Trauerweide da draußen?«
»Ja, genau. Wenn man raufklettert, kann man in ein Vogelnest sehen.«
Ich blättere weiter, und es dauert nicht lange, bis Teddy sich in meinen Armen entspannt und seinen Kopf an meine Brust lehnt. Mir ist, als würde ich einen großen Welpen umarmen. Sein Körper ist warm, und er riecht wie Wäsche, die frisch aus dem Trockner kommt. Caroline sitzt neben uns und beobachtet unsere Interaktion. Sie scheint zufrieden zu sein.
Die Zeichnungen sind alle ziemlich typisch für Kinder – jede Menge Tiere, jede Menge lächelnde Menschen an sonnigen Tagen. Teddy beobachtet meine Reaktion auf jede Zeichnung und saugt mein Lob auf wie ein Schwamm.
Caroline wirkt überrascht, das letzte Bild in dem Stapel zu finden. »Dieses hier wollte ich eigentlich beiseitelegen«, sagt sie, aber jetzt bleibt ihr nichts anderes übrig, als es zu kommentieren. »Das ist ein Bild von Teddy und seiner, äh, besonderen Freundin.«
»Anya«, sagt Teddy. »Sie heißt Anya.«
»Richtig, Anya«, bestätigt Caroline und zwinkert mir zu, um mich zu ermutigen, das Spiel mitzuspielen. »Wir alle mögen Anya, weil sie mit Teddy spielt, wenn Mommy und Daddy arbeiten.«
Mir geht auf, dass Anya eine Art seltsame imaginäre Spielkameradin sein muss, und ich bemühe mich, etwas Nettes zu sagen. »Bestimmt ist es toll, Anya hier zu haben. Besonders, wenn man ein kleiner Junge in einer neuen Stadt ist und noch keine anderen Kinder kennengelernt hat.«
»Genau!« Caroline ist erleichtert, dass ich die Situation so schnell erfasst habe. »Genauso ist es.«
»Ist Anya jetzt hier? Ist sie bei uns im Zimmer?«
Teddy schaut sich um. »Nein.«
»Wo ist sie denn dann?«
»Ich weiß es nicht.«
»Wirst du sie heute Abend noch sehen?«
»Ich sehe sie jede Nacht«, erklärt Teddy. »Sie schläft unter meinem Bett, damit ich hören kann, wenn sie singt.«
Dann höre ich, wie die Haustür geöffnet wird und wieder ins Schloss fällt. Eine Männerstimme ruft: »Hallo?«
»Im Wohnzimmer!«, ruft Caroline zurück und schaut Teddy an. »Daddy ist nach Hause gekommen!«
Teddy springt von meinem Schoß und rennt zu seinem Vater, um ihn zu begrüßen. Ich gebe Caroline die Zeichnungen zurück. »Die sind … interessant.«
Sie schüttelt den Kopf und lacht. »Er ist nicht besessen, das schwöre ich. Es ist einfach nur eine echt seltsame Phase. Und viele Kinder haben imaginäre Freunde. Meine Kollegen in der Pädiatrie sagen, dass diese Fälle sehr häufig auftreten.«
Sie klingt, als wäre es ihr peinlich, und hastig versichere ich ihr, das sei völlig in Ordnung. »Bestimmt liegt das am Umzug. Er hat sie erfunden, damit er jemanden zum Spielen hat.«
»Ich wünschte nur, sie sähe nicht so komisch aus. So etwas kann ich doch nicht an den Kühlschrank hängen!« Caroline dreht das Bild um und verbirgt es dann im Stapel der anderen Zeichnungen. »Die Sache ist die, Mallory: Wenn du erst einmal hier arbeitest, vergisst er sie bestimmt. Er wird viel zu viel Spaß mit seiner neuen Babysitterin haben!«
Ich freue mich darüber, wie sie das sagt – als sei das Vorstellungsgespräch schon gelaufen, ich hätte den Job und wir müssten jetzt nur noch Kleinigkeiten absprechen. »Sicher wimmelt es auf den Spielplätzen hier nur so von Kindern«, sage ich ihr. »Ich werde dafür sorgen, dass Teddy lauter richtige Freunde findet, bevor die Schule anfängt.«
»Perfekt«, sagt Caroline. Im Flur hört man Schritte näher kommen, worauf sie sich zu mir vorbeugt. »Ich wollte dich auch noch vor meinem Mann warnen. Er fühlt sich nicht wirklich wohl, was deine Vorgeschichte angeht. Wegen der Drogen. Also wird er nach Gründen suchen, um dich abzuwimmeln. Aber mach dir keine Sorgen.«
»Was soll ich …«
»Und nenn ihn Mr Maxwell. Nicht Ted. Das wird ihm gefallen.«
Bevor ich noch fragen kann, was das alles zu bedeuten hat, weicht Caroline zurück, und ihr Mann kommt herein. Er trägt den grinsenden Teddy auf der Hüfte. Ted Maxwell ist älter, als ich erwartet hatte, gute zehn oder fünfzehn Jahre älter als Caroline, groß und schlank, graue Haare, dunkle Brille und Bart. Er trägt Designerjeans, abgewetzte Oxford Schuhe und ein Sportsakko über einem T-Shirt mit V-Ausschnitt – die Art Outfit, die lässig aussieht, aber zehnmal mehr kostet, als man sich vorstellen kann.
Caroline begrüßt ihn mit einem Kuss.
»Schatz, das ist Mallory.«
Ich stehe auf und schüttle ihm die Hand. »Hallo, Mr Maxwell.«
»Tut mir leid, dass ich so spät dran bin. Auf der Arbeit kam etwas dazwischen.« Er und Caroline tauschen einen Blick aus, und ich frage mich, ob bei ihm oft etwas dazwischenkommt. »Wie läuft das Vorstellungsgespräch?«
»Sehr gut«, sagt Caroline.
»Sehr, sehr gut!«, ruft Teddy. Er löst sich aus der Umarmung seines Vaters und hüpft wieder auf meinen Schoß, als wäre ich der Weihnachtsmann und er wollte mir verraten, was alles auf seiner Wunschliste steht. »Mallory, magst du Versteckspielen?«
»Ich liebe Verstecken«, gestehe ich ihm. »Besonders in großen, alten Häusern mit vielen Zimmern.«
»Das ist wie bei uns!« Teddy schaut sich mit vor Begeisterung weit aufgerissenen Augen um. »Wir wohnen in einem großen, alten Haus! Mit vielen Zimmern!«
Ich drücke ihn ein wenig. »Perfekt!«
Ted scheint sich unwohl damit zu fühlen, wie sich das Gespräch entwickelt. Er nimmt seinen Sohn bei der Hand und bringt ihn dazu, von meinem Schoß zu klettern. »Hör mal, Kumpel, das hier ist ein Vorstellungsgespräch. Das ist ein sehr ernstes Gespräch zwischen Erwachsenen. Mommy und Daddy müssen Mallory ein paar wichtige Fragen stellen. Deshalb musst du jetzt nach oben gehen, okay? Geh Lego spielen oder …«
»Schatz, wir sind schon alles durchgegangen«, unterbricht ihn Caroline. »Ich möchte mit Mallory nach draußen gehen und ihr das Cottage für Gäste zeigen.«
»Ich habe meine eigenen Fragen. Gib mir fünf Minuten.«
Ted gibt seinem Sohn einen kleinen Schubs und schickt ihn auf den Weg. Dann knöpft er sein Sakko auf und setzt sich mir gegenüber. Mir fällt auf, dass er doch nicht ganz so schlank ist, wie ich dachte – er hat einen kleinen Bauch –, aber die zusätzlichen Kilos stehen ihm. Er sieht gut genährt und gut gepflegt aus.
»Hast du eine zusätzliche Kopie deines Lebenslaufs dabei?«
Ich schüttle den Kopf: »Nein. Tut mir leid.«
»Kein Problem. Ich habe ihn irgendwo.«
Er öffnet seine Aktentasche und zieht eine Mappe heraus, die vollgestopft ist mit Dokumenten. Während er in der Mappe blättert, sehe ich, dass sie lauter Briefe und Lebensläufe von anderen Bewerberinnen enthält. Es müssen um die fünfzig Stück sein.
»Da haben wir ihn, Mallory Quinn.« Als er meinen Lebenslauf aus dem Stapel herauszieht, sehe ich, dass er mit handschriftlichen Notizen versehen ist.
»Central High School, aber kein College, richtig?«
»Noch nicht«, bestätige ich.
»Wirst du dich im Herbst immatrikulieren?«
»Nein.«
»Nächsten Frühling?«
»Nein, aber hoffentlich irgendwann einmal.«
Ted schaut auf meinen Lebenslauf, kneift dann die Augen zusammen und legt den Kopf schief, als könne er sich keinen Reim darauf machen. »Hier steht nicht, ob du eine Fremdsprache sprichst.«
»Nein, tut mir leid. Ich meine, außer man zählt den South Philly Slang dazu. ›Do youse guys wanna jawn of that wooder-ice?‹«
Caroline lacht. »Oh, das ist lustig!«
Ted fügt seinen Notizen einfach ein kleines schwarzes X hinzu.
»Wie sieht es mit Musikinstrumenten aus? Spielst du Klavier oder Geige?«
»Nein.«
»Bildende Kunst? Malerei, Zeichnen, Bildhauerei?«
»Nein.«
»Bist du viel gereist? Warst du im Ausland?«
»Wir waren mal in Disneyland, als ich zehn war.«
Er fügt meinem Lebenslauf ein weiteres X hinzu.
»Und jetzt arbeitest du für deine Tante Becky?«
»Das ist nicht meine Tante. So heißt bloß die Kita: Aunt Becky’s Childcare. Wegen ABC, verstehen Sie?«
Er geht seine Notizen weiter durch. »Richtig, jetzt erinnere ich mich. Das ist ein Arbeitsplatz für ehemalige Suchtkranke. Weißt du, wie viel der Staat für deine Beschäftigung zahlt?«
Caroline runzelt die Stirn. »Schatz, ist das denn von Belang?«
»Ich bin nur neugierig.«
»Kein Problem, ich kann das beantworten«, sage ich. »Der Staat Pennsylvania zahlt ein Drittel meines Gehalts.«
»Wir würden allerdings alles bezahlen«, sagt Ted und fängt damit an, Zahlen an den Rand meines Lebenslauf zu kritzeln und irgendeine komplizierte Berechnung anzustellen.
»Ted, hast du sonst noch Fragen?«, drängt ihn Caroline. »Mallory ist nämlich schon lange hier. Und ich wollte ihr noch den Garten zeigen.«
»In Ordnung. Ich weiß alles, was ich wissen wollte.« Ich komme nicht umhin, zu bemerken, dass er meinen Lebenslauf ganz nach unten in den Stapel schiebt. »Es war schön, dich kennenzulernen, Mallory. Danke fürs Vorbeikommen.«
»Mach dir nichts aus Ted«, beruhigt mich Caroline nur wenige Augenblicke später, als wir durch die Schiebetür in der Küche hinaus auf die Terrasse gehen. »Mein Mann ist hochintelligent. In Sachen Computer ist er ein Genie. Aber was das Zwischenmenschliche angeht, ist er unbeholfen, und von Suchtreha hat er keinen blassen Schimmer. Er denkt, du stellst ein zu hohes Risiko dar. Er will eine Studentin von der Pennsylvania University einstellen, so ein Wunderkind mit sechzehnhundert SAT-Punkten. Aber ich werde ihn davon überzeugen, dass du eine Chance verdient hast. Mach dir keine Sorgen.«
Hinter dem Haus der Maxwells ist ein großer Garten mit einer saftig grünen Rasenfläche, umgeben von hohen Bäumen, Sträuchern und Beeten mit vielen bunten Blumen. Herzstück des Gartens ist ein umwerfender Swimmingpool, um den Terrassenstühle und Sonnenschirme stehen, wie man sie in einem Casino in Las Vegas sehen könnte.
»Das ist ein Traum!«
»Unsere private Oase«, sagt Caroline. »Teddy liebt es, hier draußen zu spielen.«
Wir gehen über den Rasen, und das Gras fühlt sich straff und federnd an wie die Oberfläche eines Trampolins. Caroline deutet auf einen kleinen Pfad an der Außengrenze des Gartens und erklärt mir, dass er zu Hayden’s Glen hinunterführt, einem hundertzwanzig Hektar großen Naturschutzgebiet, das von Wanderwegen und Wasserläufen durchzogen wird. »Wegen der Bäche lassen wir Teddy nicht allein dort herumstromern. Aber du kannst ihn gerne mitnehmen, so oft du willst. Pass nur auf den Giftefeu auf.«
Wir haben den Garten fast durchquert, als ich endlich das Gästecottage entdecke. Es steht halb verdeckt hinter den Bäumen, als wäre der Wald dabei, es zu überwuchern. Das Cottage erinnert mich an das Lebkuchenhaus aus dem Märchen Hänsel und Gretel – es ist ein winziges, chaletähnliches Gebäude mit rustikaler Holzverkleidung, das aussieht, als bestehe es nur aus einem Dach. Wir steigen drei Stufen zu einer winzigen Veranda hinauf, und Caroline schließt die Eingangstür auf. »Der Vorbesitzer hatte hier drinnen seinen Rasenmäher abgestellt. Er hat es als Geräteschuppen benutzt. Aber ich habe es für dich hergerichtet.«
Das Cottage besteht aus nur einem Zimmer, klein, aber blitzsauber. Die Wände sind weiß gestrichen, und die Dachsparren liegen frei, dicke braune Balken durchkreuzen die Decke. Die Holzböden sind so makellos, dass ich mich genötigt fühle, meine Turnschuhe abzustreifen. Auf der rechten Seite befindet sich eine kleine Kochnische; auf der linken das am gemütlichsten aussehende Bett, das ich je gesehen habe, mit einer flauschigen weißen Steppdecke und vier riesigen Kissen.
»Caroline, das ist echt toll!«
»Ich weiß, es ist ein bisschen beengt, aber ich dachte, wenn du den ganzen Tag mit Teddy zusammen warst, würdest du die Privatsphäre zu schätzen wissen. Und das Bett ist brandneu. Probier es doch mal aus.«
Ich setze mich auf die Kante der Matratze und lege mich zurück; es ist, als würde man in eine Wolke sinken. »O mein Gott.«
»Das ist eine Brentwood-Bio-Latex-Matratze. Mit dreitausend Mikrospulen, die deinem Körper Halt bieten. Ted und ich haben die gleichen in unserem Schlafzimmer.«
Auf der gegenüberliegenden Seite befinden sich zwei Türen. Hinter einer verbirgt sich ein flacher Schrank mit Regalen, hinter der anderen das kleinste Badezimmer der Welt mit Dusche, Toilette und Standwaschbecken. Ich gehe hinein und stelle fest, dass ich gerade klein genug bin, um mich unter den Duschkopf stellen zu können, ohne mich ducken zu müssen.
Der gesamte Rundgang dauert nicht länger als eine Minute, aber ich fühle mich verpflichtet, noch etwas mehr Zeit damit zu verbringen, alles zu inspizieren. Caroline hat das Häuschen mit Dutzenden von kleinen, durchdachten Einrichtungsgegenständen ausgestattet: eine Leselampe am Bett, ein klappbares Bügelbrett, ein USB-Ladegerät für Handys und einen Deckenventilator, durch den ein Luftzug entsteht. Die Küchenschränke sind mit der Grundausstattung bestückt: Teller und Gläser, große Tassen und Silberbesteck, alles die gleichen hochwertigen Sachen, die sie auch im Haupthaus benutzen. Außerdem gibt es ein paar Grundnahrungsmittel zum Kochen: Olivenöl, Mehl, Backpulver, Salz und Pfeffer. Caroline fragt, ob ich gerne koche, und ich antworte, dass ich mich noch im Lernprozess befinde. »Ich auch«, gesteht sie und lacht. »Gemeinsam kriegen wir das schon hin.«
Dann höre ich schwere Schritte auf der Veranda, und Ted Maxwell öffnet die Tür. Er hat sein Sakko gegen ein aquamarinfarbenes Poloshirt getauscht, aber selbst in seiner Freizeitkleidung wirkt er immer noch einschüchternd. Ich hatte gehofft, das Vorstellungsgespräch beenden zu können, ohne ihn noch einmal zu sehen.
»Teddy braucht dich mal«, sagt er zu Caroline. »Ich kann sie weiter herumführen.«
Das ist mir unangenehm, weil ich alles, was es hier zu sehen gibt, schon gezeigt bekommen habe. Aber Caroline ist bereits aus der Tür, bevor ich etwas sagen kann. Ted steht einfach nur da und beobachtet mich, als ob er denkt, ich könnte die Laken und Handtücher mitgehen lassen.
Ich lächle. »Hier ist es wirklich schön.«
»Es ist ein Ein-Personen-Cottage. Keine Besucher ohne vorherige Erlaubnis. Und definitiv keine Übernachtungsgäste. Das würde Teddy zu sehr verwirren. Ist das ein Problem?«
»Nein, ich bin mit niemandem zusammen.«
Er schüttelt den Kopf, irritiert darüber, dass ich nicht verstanden habe, worum es ihm geht. »Wir können dir von Rechts wegen nicht verbieten, mit jemandem zusammen zu sein. Ich will nur nicht, dass Fremde auf meinem Grundstück übernachten.«
»Ich verstehe. Das ist in Ordnung.« Ich möchte glauben, dass das ein Fortschritt ist, so als wären wir gerade einen winzigen Schritt näher an eine funktionierende Beziehung herangekommen. »Haben Sie noch andere Bedenken?«
Er grinst. »Wie viel Zeit hast du?«
»So viel Zeit, wie nötig ist. Ich hätte diesen Job wirklich sehr gerne.«
Er geht zum Fenster und deutet auf eine kleine Kiefer draußen. »Ich erzähle dir mal eine Geschichte. An dem Tag, an dem wir in dieses Haus eingezogen sind, haben Caroline und Teddy ein Vogelküken unter diesem Baum gefunden. Es muss aus seinem Nest gefallen sein. Vielleicht wurde es auch verstoßen, wer weiß? Jedenfalls hat meine Frau ein großes, riesengroßes Herz, also hat sie einen Schuhkarton genommen, ihn mit geschreddertem Papier gefüllt und das Vogelküken mit Zuckerwasser aus einer Pipette gefüttert. In der Zwischenzeit stehen die Möbelpacker in der Einfahrt, und ich bin damit beschäftigt, im ganzen Haus alles auszupacken, damit wir einen gemeinsamen neuen Lebensabschnitt beginnen können. Währenddessen erzählt Caroline Teddy, wie sie das Vögelchen wieder gesund pflegen werden und dass es sich eines Tages hoch über die Baumwipfel erheben wird. Natürlich ist Teddy von dieser Vorstellung hellauf begeistert. Er tauft den Vogel Robert und sieht jede Stunde nach dem Rechten, behandelt den Vogel, als wäre er sein kleines Brüderchen. Aber innerhalb von achtundvierzig Stunden ist Robert tot. Und ich schwöre dir, Mallory, Teddy hat eine Woche lang geweint. Er war am Boden zerstört. Wegen eines kleinen Vögelchens. Der Punkt ist also, wir müssen besonders vorsichtig sein, wen wir dazu einladen, mit uns hier zu wohnen. Und angesichts deiner Vergangenheit befürchte ich, dass du ein zu großes Risiko darstellst.«
Wie könnte ich ihm widersprechen? Der Job wird gut bezahlt, und Ted hat eine ganze Mappe voller Bewerbungen von Frauen, die noch nie drogenabhängig waren. Er könnte eine frischgebackene Krankenpflegeschülerin anheuern, die in Herz-Lungen-Reanimation ausgebildet ist, oder eine fünffache Großmutter aus Honduras, die Spanischunterricht gibt und währenddessen selbst gemachte enchiladas verdes zubereitet. Warum sollte er bei solchen Alternativen ein Risiko mit mir eingehen?
Mir geht auf, dass meine letzte Chance jetzt darin besteht, meine Trumpfkarte auszuspielen – mein Last-minute-Geschenk von Russell, bevor ich aus seinem Auto stieg.
»Ich glaube, ich habe eine Lösung.« Ich greife in meine Tasche und hole etwas heraus, das aussieht wie eine Kreditkarte aus Papier mit fünf Baumwolllaschen unten. »Das ist eine Drogentest Dip-Karte. Die kosten bei Amazon einen Dollar pro Stück, und ich bezahle sie gerne von meinem eigenen Lohn. Sie testen auf Meth, Opiate, Amphetamine, Kokain und THC. Das Ergebnis kann nach fünf Minuten abgelesen werden, und ich werde mich freiwillig jede Woche testen lassen, und zwar an zufälligen Tagen Ihrer Wahl, damit Sie beide sich keine Sorgen machen müssen. Würden Sie sich damit wohler fühlen?«
Ich reiche Ted die Karte. Doch er hält sie weit von sich, als würde er sich vor ihr ekeln, als würde bereits warmer, gelber Urin von ihr tröpfeln. »Nein, siehst du, das ist das Problem«, antwortet er. »Du scheinst ein netter Mensch zu sein. Ich wünsche dir alles Gute, ganz ehrlich. Aber ich will ein Kindermädchen, das nicht jede Woche in einen Becher pinkeln muss. Das verstehst du doch, oder?«