Schlangengift - John Connell - E-Book

Schlangengift E-Book

John Connell

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

März 1946: Garmisch-Partenkirchen ist nicht nur ein hübscher Alpenort, der im Krieg kaum zerstört wurde, sondern auch eine Zuflucht für Kriminelle, eine geheime Lagerstätte für Nazi-Beute und der aktuelle Einsatzort für US-Officer Mason Collins. Als ihm Special Agent Winstone von dunklen Geschäften berichtet und kurz darauf ermordet wird, übernimmt Collins die Ermittlungen. Diese erweisen sich als äußerst heikel, denn er stößt auf eine Verschwörung von Nazis und hochrangigen amerikanischen Soldaten. Schon bald verstrickt sich Collins in das gefährliche Netz und weiß nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 584

Veröffentlichungsjahr: 2018

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

März 1946: Garmisch-Partenkirchen ist nicht nur ein hübscher Alpenort, der im Krieg kaum zerstört wurde, sondern auch eine Zuflucht für Kriminelle, eine geheime Lagerstätte für Nazi-Beute und der aktuelle Einsatzort für US-Officer Mason Collins. Als ihm Special Agent Winstone von dunklen Geschäften berichtet und kurz darauf ermordet wird, übernimmt Collins die Ermittlungen. Diese erweisen sich als äußerst heikel, denn er stößt auf eine Verschwörung von Nazis und hochrangigen amerikanischen Soldaten. Schon bald verstrickt sich Collins in das gefährliche Netz und weiß nicht mehr, wer Freund und wer Feind ist …

Informationen zu John Connell

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

JOHN CONNELL

Schlangengift

Thriller

Aus dem Englischen

von Jochen Stremmel

Die Originalausgabe erschien 2016

unter dem Titel »Spoils of Victory« bei Berkley,

an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

1. Auflage

Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2018

Copyright © der Originalausgabe 2016 by John A. Connell

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: Smith Collection/Gado/getty images

Redaktion: Gerhard Seidl

BH · Herstellung: kw

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-641-17976-2V001

www.goldmann-verlag.de

Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Meinem Vater und meinen Onkeln,

die im Zweiten Weltkrieg dem Ruf

ihres Vaterlands folgten.

EINS

Garmisch-Partenkirchen, Oberbayern

Amerikanische Besatzungszone

März 1946

Für diese besondere verdeckte Aktion hatte Kriminalermittler Mason Collins die Figur Kurt Wenger erfunden, einen heruntergekommenen Deutschen, der sich mit müden Schritten und dem lustlosen Blick vorwärtsbewegte, den der Hunger und die Aussicht in eine trostlose Zukunft mit sich brachten. Er trug einen fadenscheinigen Mantel aus dem Besitz eines ehemaligen Soldaten der Wehrmacht, der auf solch irdische Dinge nicht mehr angewiesen war, und auf dem Kopf einen Filzhut, der höchstwahrscheinlich durch ähnliches Kriegsgeschick verwaist war. Von einem Dreitagebart abgesehen hatte Mason keinen Bedarf an Perücken oder anderen Vorrichtungen, die den optischen Eindruck veränderten. Bei der Verwandlung in eine andere Persönlichkeit kam es vor allem auf Haltung, Einstellung, Gesichtsausdruck und Eigenarten an.

Der Mann, den er beschattete, Sergeant Carl Olsen, ging zehn Meter vor ihm. Mason behielt ihn im Auge, indem er durch die Menge vor ihm schaute und flüchtige Blicke auf seinen runden Kopf mit dem schwarzen Haar erhaschte, das von seiner kakifarbenen Dienstmütze bedeckt war. Mit seinen einsachtundneunzig und hundertzehn Kilo teilte Olsen die ihm entgegenkommende Menge wie ein Schneepflug, während Mason ihm in seinem Windschatten folgte – was kaum eine Herausforderung für Masons Beschatterfähigkeiten war, aber Tarnung vor Olsen war nicht sein vorrangiges Ziel. Masons Hauptinteresse galt den Männern, die Olsens Vorankommen aus dem Schatten und von strategischen Positionen aus beobachteten, Männern, die viel gefährlicher und schlauer als der Sergeant waren.

Masons Partner, Specialist Gil Abrams, hatte von der anderen Straßenseite eine bessere Sicht auf Olsen. Abrams war aus den Reihen der Militärpolizei gekommen, um unter Masons Anleitung als CID-Ermittler zu arbeiten. Sein scharfer Verstand und seine beharrliche Zielstrebigkeit waren Mason aufgefallen, aber er hatte immer noch eine Menge zu lernen, was die Feinheiten der Beschattung betraf, besonders bei jemandem wie Olsen, der an Mord und schwere Körperverletzung mit der gleichen Leidenschaftslosigkeit heranging wie ans Binden seiner Schnürsenkel. Nervöse Anspannung verleitete Abrams dazu, Olsen zu oft ins Auge zu fassen, wobei er dann und wann mit Fußgängern kollidierte oder knapp einem vorbeifahrenden Fuhrwerk oder Armee-Jeep auswich. Er trug einen Anzug aus grauer Wolle und einen langen schwarzen Mantel, der an seiner hoch aufgeschossenen Gestalt zu hängen schien. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren war sein Körper der eines Mannes geworden, während sein Gesicht nach wie vor etwas Engelhaftes hatte, sodass er Mason seiner Erwachsenenkleidung zum Trotz an ein zu groß geratenes Kind aus einem Roman von Charles Dickens erinnerte.

Olsen hatte sie in den ärmeren und deshalb schäbigeren Teil der Stadt geführt, eine Gegend, die zahllose kleine Gauner als Zuhause bezeichneten, wo der Schwarzmarkt blühte und der uneingeweihte Passant wegen ein paar Reichsmark überfallen und im Rinnstein liegen gelassen werden konnte. Improvisierte Stände aus Segeltuch und Holz, Zelten und Anbauten machten sich auf den Bürgersteigen breit und nötigten die Fußgängerscharen dazu, auf die Straße auszuweichen. Fuhrwerke, Karren und Fahrräder waren inzwischen die einzigen Transportmöglichkeiten, die für die meisten Deutschen erhältlich waren, und sie wetteiferten mit den Fußgängern in diesem Teil der Stadt um den verfügbaren Platz, die meisten überladen mit geborgenem Holz oder den spärlichen Habseligkeiten einer Familie. Straßenverkäufer verhökerten ihre Waren in einem Dutzend Sprachen: geklaute Kohle, verschnittenes Mehl oder aus von amerikanischen Soldaten weggeworfenen Kippen gedrehte Zigaretten. Männer und Frauen gingen vorbei und öffneten ihre Mäntel, um Uhren, Fotoapparate und Schmuck vorzuzeigen, während dann und wann eine Frau ihren Pelzmantel aufschlug, um eine sinnlichere Handelsware anzubieten.

Die Deutschen nannten jene Zeit, die unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg folgte, die Stunde Null. In jedem praktischen Sinn musste Deutschland von ganz unten anfangen. Das Land war von Luftwaffe und Artillerie zurück ins Mittelalter gebombt worden. Ganze Städte, große und kleine, waren ausgelöscht worden, und es hatte beinahe sieben Millionen Tote gegeben. Krankheiten und Unterernährung töteten so viele von den ganz Jungen und den ganz Alten wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Kein Essen, keine Feldfrüchte, keine Kohle, keine Arzneimittel. Industrie und Landwirtschaft waren zum Stillstand gekommen. Da die deutsche Reichsmark fast wertlos war, wurde das Tauschen zum einzigen wahren Handelswerkzeug. Der Schwarzmarkt florierte, und die amerikanische Zigarette regierte als Königin unter den Zahlungsmitteln. Es war eine verheißungsvolle Zeit für Gangster – oder opportunistische Soldaten wie Sergeant Olsen.

Olsen, der wegen Totschlags und schweren Diebstahls verhaftet worden war, hatte sich bereit erklärt, Mason Zutritt zu einem der erfolgreichsten Verbrecherringe in Garmisch zu verschaffen: eine Verbindung von Deutschen, ehemaligen polnischen Armeeoffizieren und rangniederen US-Soldaten, eine Gruppe, die derart dreist operierte, dass sie sogar ihr eigenes Logo und ihren eigenen Briefkopf hatte. Mit seiner Nähe zu Österreich, der Schweiz und Italien war Garmisch der ideale Ort für die Ein- und Ausfuhr illegaler Waren, wodurch diese malerische Stadt zu einem entscheidenden Zentrum für den Schwarzmarkt wurde. Und während ein großer Teil der kriminellen Aktivität von einem lockeren Bündnis kleinerer Banden absolviert wurde, war Hermann Giessens Organisation eine ganz andere Geschichte: gut gegliedert, mächtig und anscheinend von Gesetzeshütern nicht zur Rechenschaft zu ziehen – eine gefährliche Kombination.

Mason ermittelte seit zwei Monaten gegen den Ring, aber angesichts der Unverfrorenheit seiner Mitglieder waren seine Informationen nur spärlich: Gerüchte, Anschuldigungen, die Identität der Anführer, deren Namen immer im Zusammenhang mit schweren Verbrechen erwähnt wurden, aber ohne die Spur eines Beweises, mit dessen Hilfe sie ins Gefängnis geschickt werden könnten. Die einzige Methode, mit der er mehr herausfinden und an die Beweise kommen konnte, die er brauchte, bestand darin, die Bande zu unterwandern. Er hatte einen Monat gebraucht, um Kurt Wenger zu entwickeln, und die meiste Zeit damit verbracht, den heruntergekommenen Gangster zu spielen, der sich in Seitengassen herumtrieb, berüchtigte Kneipen frequentierte und gelegentlich kleinere Delikte beging. Das bedeutete auch, dass er das Rampenlicht als CID-Ermittler meiden musste. Abgesehen von formellen militärischen Anlässen trug er Zivil – was ihm nach den Dienstvorschriften gestattet war. Er ging nicht in die Offiziersmesse, sondern besuchte stattdessen deutsche Wirtshäuser und Kneipen, und da er von Natur aus ein Einzelgänger war, befand er sich selten in der Gesellschaft anderer Soldaten. Nachdem er seinen Ruf als Mietgangster verbreitet und kultiviert hatte, war das Schicksal Mason gegenüber so gnädig gewesen, ihm Olsen in den Schoß zu werfen. Und durch Olsen hatte Mason sich endlich eine Einführung verschafft.

In den letzten zwei Wochen waren zwei miteinander verfeindete Bandenführer auf grausame Weise ermordet worden, was den labilen Waffenstillstand zwischen den Banden zum Platzen brachte. Niemand schien zu wissen, wer dafür verantwortlich war, obwohl Gerüchte in Umlauf waren, dass eine brutale neue Führungsriege versuche, die Macht an sich zu reißen. Die sich daraufhin anschließenden Rachemorde und spontanen Schießereien hatten dazu geführt, dass in der Unterwelt der Stadt höchste Alarmbereitschaft herrschte. Ein Ruf nach weiteren gedungenen Schützen war ergangen, der sich als Vorteil für Mason erwies, aber mittlerweile konnte eine Kugel oder eine Klinge fast aus jeder Richtung kommen. Zur Sicherheit blieben Mason und Olsen getrennt voneinander. Ähnliche Vorsichtsmaßnahmen hatten die Bandenbosse veranlasst unterzutauchen. Das heutige Treffen würde das erste seit Ausbruch der Revierkämpfe sein, und nur die Anführer wussten, wo und wann. Olsen musste als Akteur auf mittlerer Ebene durch die Straßen in diesem Teil der Stadt gehen, bis er von seinem Kontaktmann abgefangen wurde, der ihn dann führen würde.

Abrams lenkte Masons Blick auf sich und gab ihm durch Zeichen zu verstehen, dass Olsen an der Kreuzung links abgebogen war. Kurze Zeit später folgte Mason seinem Beispiel. Er nahm an, dass sie der Sache näher kamen, weil Olsen sich zunehmend nervös verhielt, häufig stehen blieb und in beide Richtungen schaute, nur um dann weiterzugehen und den Vorgang zu wiederholen. Mason hoffte, dass der Sergeant sich an ihre Abmachung hielt und nicht kopfscheu wurde und das Weite suchte – andererseits war Olsen vielleicht auch nervös, weil er sie in einen Hinterhalt locken wollte.

Olsen blieb abrupt stehen, als ein Mann mit einem braunen Homburghut vor ihm die Straße überquerte und weiterging. Olsen nahm sich Zeit, um sich eine Zigarette anzuzünden. Ob das ein Erkennungssignal war oder ob er damit seinem Kontaktmann einen Vorsprung geben wollte, wusste Mason nicht, aber nachdem er das Streichholz zu Boden geworfen hatte, wandte Olsen sich nach links und verschwand.

Abrams eilte zur gegenüberliegenden Ecke, von wo er mit weit aufgerissenen Augen zu Mason zurückschaute. Er wurde fast von einem Fuhrwerk umgefahren, als er über die Straße lief, um Mason an der Ecke zu treffen. »Er ist gerade in den Steinadler-Bierkeller gegangen.«

»Haben Sie alles vergessen, was ich Ihnen beigebracht habe?«, fragte Mason. »Bleiben Sie locker.« Er machte eine Kopfbewegung zur anderen Straßenseite. »Sie bleiben hier draußen.«

»Ich soll Ihnen den Rücken freihalten.«

»Ich habe meine Meinung geändert. Ich kenne diese Kneipe. Die würden Sie durch den Fleischwolf drehen und als Wurst auf dem Schwarzmarkt verkaufen. Falls ich in einer Stunde nicht wieder draußen bin, rufen Sie die Kavallerie.«

»Was soll ich hier draußen eine Stunde lang machen?«

»Improvisieren Sie.«

Mason schaute zu, wie ein frustrierter Abrams auf der anderen Straßenseite Stellung bezog, und betrat den Bierkeller.

Vor dem Krieg war der Steinadler eine fröhliche Kneipe gewesen, seine Innenwände waren wie die bei einem Großteil von Garmischs Häusern mit Fresken geschmückt, und die lange Eichentheke war mit detailverliebten Schnitzereien versehen. Inzwischen war die Kneipe durch Vernachlässigung – von der finsteren Kundschaft nicht zu reden – zu einem freudlosen Ort geworden. Infolge der Stromknappheit waren Kerzen und Gaslaternen spärlich im Raum verteilt worden und sorgten allenfalls für dämmriges Licht. Den Gästen war es so vermutlich lieber, weil der Bierkeller jetzt ein bevorzugter Treffpunkt von Schmugglern, Dieben und Gangstern der unteren Ränge geworden war.

Als Mason durch den Raum ging, bemerkte er zwei muskelbepackte Bodyguards, die neben der Eingangstür standen, und drei weitere, die ihre Stellung am rückwärtigen Eingang hinter der Theke bezogen hatten. Mason hatte eine deutsche Pistole bei sich, eine Sauer 38H mit acht Patronen im Magazin, aber das wäre nicht genug, um sich seinen Weg aus diesem Lokal freizuschießen. Er würde hier nur lebend herauskommen, wenn sie ihn ließen. Der Mann hinter der Theke sah ihn misstrauisch an, bis Mason ein Bündel US-Dollar hervorzog. Er bestellte ein Bier und sah sich um. Olsen stand am anderen Ende der Theke und sprach mit dem Inhaber Kasim Aslan, einem Türken, der aller möglichen Verbrechen beschuldigt, aber keines einzigen überführt worden war. Die Gäste waren zum größten Teil Deutsche, aber es gab auch eine Mischung ehemaliger Kriegsgefangener aus Polen und Russland, Italiener und eine Handvoll amerikanischer GIs. Sie alle waren hier, um illegalen Handel zu betreiben. Sie redeten mit gedämpften Stimmen, einige spielten Karten, einige standen an der Theke, während andere an Tischen saßen, die einen diskreten Abstand voneinander hatten, damit Geschäfte besprochen werden konnten, ohne dass neugierige Nachbarn mithörten.

Hinten spielte ein blonder Mann mit einer übermäßig entwickelten Stirn in einer ruhigen Ecke Schach mit einem Partner, der mit dem Rücken zu Mason saß. Der Name des Blonden war Anton Plöbsch, und auf dem Totempfahl des Rings stand er an dritter Stelle. Er war ein ehemaliger Major der Wehrmacht mit weitläufigen adligen Verwandten, der im Verdacht stand, Vergewaltigung, Mord, Erpressungen und Bestechungen begangen zu haben, inzwischen aber eine »respektable« Rolle als Befehlshaber des Schlägertrupps der Bande spielte. Es wurde gemunkelt, er sei ein verdorbenes Genie, hochintelligent, aber grausam, ein hochgeborener Handlanger.

Plöbsch hatte Mason mehrere Male einen Blick zugeworfen. Olsen musste ihm ein stilles Signal gegeben haben, dass Mason – alias Kurt Wenger – der Mann sei, der sich der Bande anschließen wollte. Plöbsch sagte etwas zu seinem dunkelhaarigen Schachgegner. Dieser erhob sich vom Tisch und ging an die Theke, obwohl die Partie noch nicht zu Ende gespielt war. Mason verstand das als Einladung, sich zu Plöbsch zu setzen. Er durchquerte den Raum und spürte die Blicke der anderen Gäste auf sich ruhen. An dem Tisch blieb er stehen. Plöbsch schaute mit tief liegenden Augen, die völlig farblos zu sein schienen, zu Mason hoch und wartete gleichmütig.

»Er hätte Sie in sechs Zügen schlagen können«, sagte Mason in fließendem Deutsch.

»Ach, dann spielen Sie also Schach, Herr Wenger.« Er zeigte mit der offenen Hand auf den Stuhl. »Dann setzen Sie sich und stellen Sie fest, ob Sie recht haben.«

Mason hängte seinen Mantel über die Rückenlehne des Stuhls, nahm Platz und zog im gleichen Moment seinen Königsläufer. Keiner von beiden sprach, während sie spielten. Mason kam sich mit dem Rücken zum Raum verletzlich vor, aber er wusste, dass das beabsichtigt war. Da er sich nicht in der Etikette auskannte, wenn es um die Herausforderung eines rücksichtslosen und mächtigen Schlägers ging, machte Mason absichtlich zwei schlechte Züge und verlor seine Dame.

»Schachmatt«, sagte Plöbsch und lächelte. »Sie haben mich gewinnen lassen, Herr Wenger. Ich weiß die Geste zu schätzen, aber sie könnte auch ein Zeichen mangelnden Respekts sein. Ein Minuspunkt für Sie. Wir werden noch eine Partie spielen, aber diesmal spielen Sie, so gut Sie können.«

Mason griff in die Tasche seines Jacketts und legte zweihundert Dollar auf den Tisch. »Sollen wir den Einsatz erhöhen?«

»Sie sehen nicht wie ein Mann aus, der so viel Geld in der Tasche haben könnte. Woher haben Sie es?«

»Indem ich gegen Ami-Soldaten gespielt habe.«

Plöbsch schmunzelte. »Amerikaner sind schlechte Schachspieler. Sie sollten mehr als das verdient haben, wenn Sie sich für einen würdigen Gegner halten.«

»Amerikanische Schachspieler sind konservative Wetter.«

»Und Sie hoffen, dass ich großzügiger bin?«

»Man muss seinen Lebensunterhalt bestreiten.«

Plöbsch schaute Mason einen Augenblick lang an, dann zog er seinen Bauern. Nach einigen weiteren Zügen, die schweigend vorgenommen wurden, sagte Plöbsch: »Ich höre einen bayerischen Akzent. Ich habe Sie ab und zu gesehen und von Ihnen gehört, aber ich weiß wenig über Sie. Wo kommen Sie her?«

»Aus einer kleinen Stadt«, sagte Mason. »Wonneberg.«

»Und während des Kriegs?«

»Ist das wichtig?«

»Ich würde den Mann gerne kennen, der mit gegenübersitzt.«

»Im Artillerieregiment der 58. Infanteriedivision … bis ich in Schwierigkeiten geriet.«

»Was für Schwierigkeiten?«

»Wir waren an der Ostfront, und während der Kommandostab im Luxus lebte, hungerten wir. Deshalb habe ich den Stab ein wenig von seiner Last erleichtert, und es hat etwa einen Monat gedauert, bis ich erwischt wurde.«

»Es wurden Männer erschossen, die weniger auf dem Kerbholz hatten.«

»Ich hab wohl Glück gehabt.«

Plöbsch betrachtete Mason skeptisch. Der Mann hinter der Theke brachte noch zwei Bier herüber. Mason griff nach seinem Geld, aber Plöbsch sagte: »Die gehen auf mich. Ich spendiere dem Verlierer immer ein Bier.«

Die Partie wurde fortgesetzt. Plöbsch war sehr gut, aber Mason hatte die erste Partie verloren, um die Schwächen des Mannes einschätzen zu können. Plöbsch verwendete die gleiche Art aggressiver Züge und gerissener Taktiken wie in der ersten Partie, aber Mason war ihm schon auf die Schliche gekommen.

»Was haben Sie nach dem Krieg gemacht?«, fragte Plöbsch.

»Ich habe mit Rudolf Voss zusammengearbeitet. Von München aus. Kannten Sie ihn?«

»Ja …«, sagte Plöbsch, während er Mason musterte. »Es ist unglücklich, dass Sie bei einer Organisation gearbeitet haben, die es nicht mehr gibt. Wie soll man denn überprüfen, dass Sie derjenige sind, der Sie zu sein behaupten?«

»Ja, Herr Voss ist tot, und die Organisation ist zerschlagen, aber ich versichere Ihnen, dass ich die Wahrheit sage. Ich habe für Captain Wertz gearbeitet und Penicillin und Babynahrung verschnitten, Koks und Heroin verkauft, bis er festgenommen wurde und uns verpfiffen hat.«

In Wahrheit hatte Mason Voss und Wertz während seiner Zeit als CID-Ermittler in München gekannt, und er war derjenige, der Wertz mithilfe eines Spitzels festgenommen hatte. Mason hatte eine ganze Akte um seine fiktive Figur herum angelegt, wozu auch gehörte, dass ein befreundeter deutscher Kriminalbeamter in München Wengers Polizeiakte an die Behörden in Garmisch »durchsickern« ließ. Wenn man die Unterlagen an die korrupten Beamten in der Garmischer Polizei weiterleitete, war dafür gesorgt, dass Plöbsch alles über Wenger wusste, wenn Mason den Kontakt zu ihm aufnahm.

»Warum sind Sie nach Garmisch gekommen?«, fragte Plöbsch.

»Ich habe von einigen Organisationen gehört, die hier ihren Stützpunkt haben. Und Ihre Gruppe soll die mächtigste von ihnen sein. Aber das wissen Sie alles. Ich bin mir sicher, dass Sie mich schon überprüft haben, bevor ich hierherkam.«

Plöbsch lächelte nur und zog seinen Damenspringer.

Mason überlegte, ob er Plöbsch beim Wort nehmen und so gut spielen sollte, wie er konnte. Würde es die Sache besiegeln, wenn er Plöbsch mattsetzte, und diesen dazu veranlassen, ihn seinen Vorgesetzten vorzustellen? Andererseits – wenn er Plöbsch demütigte, konnte das durchaus dazu führen, dass er ihm die Kehle durchschneiden ließ. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden … Er verzichtete darauf, seine besten Züge zu machen, und opferte entscheidende Figuren, bis er seinen Gegner schließlich dazu verleitete, einen verhängnisvollen Zug zu machen. »Matt.«

»Sie spielen sehr gut«, sagte Plöbsch mit einem gezwungenen Lächeln, obwohl er den Eindruck machte, als würde er es vorziehen, Mason den Hals umzudrehen.

»Sie auch, Herr Plöbsch.«

»Sie kennen also meinen Namen.«

»Ich wäre in dieser Branche nicht sehr erfolgreich, wenn ich nicht herausfinden würde, mit wem ich es zu tun bekomme.«

»Ich kann Respekt vor einem Mann haben, der den Mut hat, mich im Schach zu schlagen, obwohl er meinen Ruf kennt.«

Mason neigte den Kopf.

»Ja, wir haben Sie überprüft«, sagte Plöbsch. »Man kann in diesen Tagen nicht vorsichtig genug sein. Sergeant Olsen sagt, Sie seien daran interessiert, sich an unserem Unternehmen zu beteiligen.«

»Das bin ich allerdings.«

Plöbsch starrte ihn eine ganze Minute lang mit geblähten Nasenflügeln an, als wolle er auf diese Weise feststellen, ob Betrug in der Luft lag. Schließlich sagte er: »Es ist nicht meine Entscheidung.«

»Dabei könnte ich mir vorstellen, dass Ihre Zustimmung viel ausmacht.«

Plöbsch grunzte. Dann nickte er jemandem hinter Mason zu. Mason war sich nicht sicher, ob das ein Zeichen war, seinen Boss zu holen oder ihm einen Stich in den Rücken zu versetzen. Er behielt einen neutralen Gesichtsausdruck bei, während er sich auf einen Angriff vorbereitete. Aber es kam kein Angreifer herbeigeeilt, sondern es wurde eine Tür hinter seiner linken Schulter geöffnet. Er hielt seine Augen auf Plöbsch gerichtet, während sich Schritte näherten – drei oder vier Männer, dem Geräusch nach zu urteilen.

Zwei Männer kamen herum, um Mason ins Gesicht zu sehen. Sie waren die Nummer eins und zwei in der Organisation, Hermann Giessen und Erich Bachmann. Giessen schien Mitte fünfzig zu sein, hatte ein grob geschnittenes Gesicht und angeklatschte Haare, die eine lange, von der Stirn bis in den zurückweichenden Haaransatz verlaufende Narbe zu erkennen gaben. Bachmann war klein und sah mit seinen sanften grünen Augen, einem bescheidenen Kinn und langen Ohrläppchen eher nach einem Gymnasiallehrer als nach einem Gangster aus.

Plöbsch erhob sich von seinem Stuhl, und Giessen nahm seinen Platz ein. Mason fühlte die Anwesenheit von zwei oder drei Männern hinter sich.

Giessen musterte Mason mit stechenden blauen Augen. »Woher soll ich wissen, dass Sie der sind, der Sie zu sein behaupten?«, fragte er.

»Ich könnte Ihnen alles Mögliche erzählen, aber es würde immer noch nicht beweisen, dass ich die Wahrheit sage. Ich mache Ihnen ein Angebot. Nennen wir es eine Methode, mich in Ihre Organisation einzukaufen. Ihnen demonstrieren, dass ich es ernst meine. Und ein gutes Geschäft ist es auch noch für Sie.«

»Fahren Sie fort.«

Mason griff mit zwei Fingern, um sie nicht zu beunruhigen, in die Brusttasche seines Jacketts und holte einen kirschgroßen gräulich weißen Klumpen heraus. »Platin«, sagte er und legte ihn auf den Tisch.

Giessen nahm ihn in die Hand und untersuchte ihn gründlich.

Mason fuhr fort: »Ich nehme an, Sie haben hier jemanden, der bestätigen kann, dass es zu neunundneunzig Prozent reines Platin ist. Ich habe vier Kisten voll davon.«

»Und wie sind Sie an einen solchen Schatz gekommen?«, fragte Giessen.

Ein merkwürdiger Geruch drang Mason in die Nase. Er schwebte gerade unter jenen von verschüttetem Bier, verschwitzten Körpern und Zigaretten: der deutliche Geruch von brennendem Tabak, den er nicht wahrgenommen hatte, seitdem … Er bemühte sich krampfhaft, die Erinnerungen zu unterdrücken, die der Duft auslöste. Nach einiger Anstrengung sagte er: »Aus einem Versteck, das die SS beim Rückzug …«

Der Geruch schien ihm in Nase und Gehirn zu kriechen, wo er eine heftige instinktive Reaktion auslöste. Sein Magen krampfte sich zusammen, als erwartete er einen Schlag mit einem Knüppel. Mason erinnerte sich jetzt deutlich an alles: Er war plötzlich wieder zurück im Winter 1944 in einem zeitweiligen Gestapo-Hauptquartier in Monschau. Er war während der Ardennen-Offensive in Kriegsgefangenschaft geraten, und weil er Captain im Geheimdienst war, fließend Deutsch sprach und sich bei der Gefangennahme hinter den feindlichen Linien befand, hatte man ihn beschuldigt, ein Spion zu sein. Zwei nicht enden wollende Wochen lang hatte ihn ein Vernehmungsoffizier gequält, ihn abwechselnd geschlagen und verschiedene seiner Körperteile mit Elektroschocks behandelt. Der Vernehmungsoffizier hatte eine bestimmte türkische Zigarettensorte geraucht, und zwar eine nach der anderen. Und dieser süßliche, penetrante Geruch türkischen Tabaks, der Mason jetzt in die Nase stieg, war es gewesen, der den Vernehmungsoffizier immer angekündigt hatte, bevor er Masons Zelle betrat und die Folter begann. Seitdem hatte Mason den Duft nie mehr gerochen.

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Herr Wenger?«, fragte Giessen.

Mason versuchte, sich wieder in den Griff zu bekommen, aber seine Gedanken rasten. Das kann nicht sein. Der Mann kann nicht hier sein. Es ist nicht möglich.

SS-Sturmbannführer Volker. Mason konnte sich genau an sein Gesicht erinnern, an die Art, wie er sich bewegte. Sie waren eingebrannt in sein Gedächtnis. Irgendein primitiver Teil seines Gehirns sagte ihm, dass der SS-Mann an seinem Tisch vorbeigegangen und in der Nähe stehen geblieben war. Er kämpfte dagegen an, von nackter Panik und Wut überwältigt zu werden.

Dann verlor er die Kontrolle.

ZWEI

Mason schoss vom Tisch hoch, aber starke Hände packten ihn an den Schultern und drückten ihn zurück auf den Stuhl. Dann hörte er das Klicken eines Revolverhahns, der zurückgezogen wurde, unmittelbar bevor ihm der kalte Stahl des Laufs gegen die Schläfe gepresst wurde.

»Hände auf den Tisch«, ertönte eine Männerstimme hinter ihm in einem Englisch mit italienischem Akzent.

Mason legte die Hände auf den Tisch und nutzte die Gelegenheit, auf seine Armbanduhr zu schauen. Fünfzig Minuten waren vergangen. Noch zehn Minuten, bis Abrams mit Hilfstruppen eintreffen würde. Zehn Minuten zu spät. Bis dahin wäre er verschwunden.

Während fleischige Hände ihn untersuchten und die Pistole aus seinem Mantel herausholten, sagte Giessen: »Ihre Tarnung ist aufgeflogen, wie Ihr richtiger Name auch sein mag.«

»Mr. Collins«, sagte der Italiener. »Ein Ermittler der amerikanischen CID.«

Giessen wurde blass, als er das hörte.

»Wenn Sie einen Ermittler des amerikanischen Militärs umbringen«, sagte Mason, »wird diese Stadt auf den Kopf gestellt werden.«

»Herr Giessen würde es nicht wagen, einen amerikanischen Cop umzubringen«, sagte der Italiener, »aber ich habe dieses Problem nicht. Garmisch ist nicht mein Firmensitz. Ich werde mich in Luft aufgelöst haben, bevor irgendjemand Verdacht schöpft, dass Sie verschwunden sind. Ihre Leiche wird man nie finden. Es wird ein paar Unannehmlichkeiten für die lokalen Organisationen geben – nichts für ungut, Herr Giessen –, aber das ist mir ziemlich egal.«

Mason konnte erkennen, dass der Mann, der sprach, auch die Waffe in der Hand hielt. Vom Winkel und vom Klang der Stimme schätzte er, dass der Mann ungefähr einen Meter siebzig groß war und sehr nah hinter seinem Stuhl stand. Das schwache Licht von der Theke wurde von mindestens zwei anderen viel größeren Männern verdunkelt. Die Leibwächter des Mannes, vermutete Mason. Das deutliche Aroma von türkischem Tabak war verflogen, wieder verdrängt von dem Gestank kalten Zigarrenrauchs und schalen Biers. Es war möglich, dass irgendjemand sonst in der Kneipe dieselbe ungewöhnliche Sorte Tabak rauchte, aber er spürte instinktiv, dass Volker sich ein paar Augenblicke lang hinter ihm aufgehalten hatte, bevor er wieder verschwunden war.

Der Mann drückte die Revolvermündung gegen Masons Schläfe. »Sie werden sich jetzt bitte zur Theke begeben.«

Die Eingangstür flog auf. Pfeifen schrillten. Uniformierte Beamte schrien: »Polizei! Hände hoch!«

Die vorübergehende Ablenkung eröffnete Mason eine Möglichkeit. Mit blitzartiger Geschwindigkeit sprang er auf, wirbelte herum, packte den Arm des Mannes mit der Revolverhand und drückte ihn nach oben. Mit der anderen Hand schlug er gegen den Ellbogen des Mannes und hörte den Knochen brechen. Der Mann schrie. Mason hielt die Revolverhand nach wie vor gepackt und richtete die Waffe auf einen der angreifenden Leibwächter, wobei er gleichzeitig auf den Finger am Abzug drückte. Der Revolver gab einen Schuss ab, der den Leibwächter in den Oberschenkel traf. Der Leibwächter brach zusammen und krümmte sich am Boden.

Der Italiener schlug nach Mason, aber ohne viel Kraft dahinter. Mason versetzte ihm einen Hieb gegen den Kiefer, zog dann die Faust durch und traf den Mann am Hals direkt über der Schlagader. Der Italiener fiel auf die Knie. Im gleichen Moment erwischte der zweite Leibwächter Mason mit seiner Pistole an der Schläfe. Masons Gesichtsfeld wurde weiß. Seine Beine verwandelten sich in Gummi, aber er schaffte es, den Arm des Leibwächters zu packen, mit dem er die Pistole hielt, und sich daran festzuhalten.

Der Leibwächter stieß Mason das Knie in den Unterleib. Mason klappte zusammen. Sein Bauch fühlte sich an wie eine Masse geschmolzenes Gestein. Er machte sich auf den Einschlag eines Geschosses gefasst, aber es kam keines. Dutzende uniformierte Beine traten in sein Gesichtsfeld. Schreie und Grunzlaute veranlassten Mason, nach oben zu schauen, und er sah zu seiner Erleichterung, dass fünf deutsche Polizisten endlich den riesigen Leibwächter überwältigt hatten.

Zwei Polizisten rissen Mason auf die Füße. Der Schmerz in seinem Unterleib flammte wieder auf, begleitet von einem Schwindelanfall. Er wehrte sich nicht. Sie hatten ihm das Leben gerettet, und er war froh, sie zu sehen. Obwohl es noch nicht allzu lange her war, dass der Anblick von mehr als dreißig Deutschen in Uniform eine völlig andere Reaktion bei ihm ausgelöst hätte.

Mason hielt die Hände hoch. »Amerikaner. CID.« Die beiden Polizisten ließen ihn los und erlaubten ihm, vorsichtig seinen Hut abzunehmen. Er zog seinen CID-Ausweis heraus, der im Futter versteckt war, und zeigte ihn den Männern. »Ich bin Amerikaner. CID. Sehen Sie?«

Die beiden Polizisten gesellten sich zu ihren Kollegen und trieben die Gäste der Kneipe vor die Tür. Mason beugte sich nach vorn und versuchte, tief durchzuatmen, um die Schmerzen in seinem Unterleib zu lindern. Er benutzte einen Tisch, um sich abzustützen, und musterte die verhafteten Kneipengäste, um festzustellen, ob sich Volker unter ihnen befand. Das war nicht der Fall.

Abrams kam mit zwei MPs zu ihm geeilt. »Alles in Ordnung?«, fragte er.

Mason nickte, als er wieder Luft bekam. »Einer der Gorillas hat mich in die Eier getreten.«

»Wenigstens haben Sie deshalb das Loch in Ihrem Kopf vergessen.«

Mason fasste sich an die Schläfe, und seine Finger waren voller Blut. Er griff sich ein Handtuch von der Theke und drückte es gegen die Wunde. »Sie sind zu früh reingekommen«, sagte er zu Abrams.

»Ich wusste, dass es Schwierigkeiten gab, als ein Schlägertyp auf die Straße rauskam und die Tür abschloss. Ich bin zur deutschen Polizei gegangen, weil die näher waren.«

»Es sind mindestens fünf US-Soldaten in der …«

»Yeah, draußen stehen ein paar MPs und sammeln sie ein. Sie sind angerannt gekommen, als sie den Trupp deutscher Polizisten durch die Straße jagen sahen. Wir werden die Nichtdeutschen von den Deutschen trennen.«

Mason und Abrams gingen zur Tür. »Es sind drei italienische Gangster in der Gruppe. Sorgen Sie dafür, dass unsere Jungs die ebenfalls erwischen. Besonders den mit dem gebrochenen Arm. Dieses Arschloch hat mir einen Revolver an den Kopf gehalten.«

»Dann habe ich gute Arbeit geleistet?«

Mason nickte. »Yeah, Sie haben gute Arbeit geleistet.«

Sie verließen die Kneipe. Menschenmengen schauten zu, während die deutsche Polizei und fünf amerikanische MPs die Festgenommenen unter sich aufteilten. Mason musterte die Deutschen unter ihnen, sah Volker aber nicht. Dann stellte er bestürzt fest, dass Giessen, Bachmann und Plöbsch auch nicht dabei waren. Und Olsen befand sich nicht unter den festgenommenen Amerikanern. »Verdammt.« Mason schnappte sich den leitenden MP-Sergeant, wandte sich wieder zur Kneipe um und sagte zu Abrams. »Einige von ihnen sind hintenraus geflohen.«

Sie liefen in die Kneipe und zum Hinterausgang hinaus. Eine Gruppe der umliegenden Gebäude bildete einen Innenhof aus Schlamm und Schnee, in dem Müll und verrosteter Schrott aufs Geratewohl gestapelt lagen. Wäschestücke hingen an einem Netz von Leinen, die an den Häusern festgemacht waren und im beißenden Wind hin und her schwangen. Mason zeigte schweigend auf die Fußabdrücke im Schnee, die grüppchenweise auf die drei schmalen Passagen zwischen den Gebäuden zu den Straßen der Umgebung führten. Er gab dem MP und Abrams ein Zeichen, die linke und rechte Gasse zu nehmen, während er diejenige nahm, die von der Hintertür aus gesehen geradeaus verlief. Mason zog die Pistole und ging mit langen Schritten vorwärts. Auf halbem Weg durch die Gasse stieß er auf ein Gewirr von Fußabdrücken. Es machte den Eindruck, als wäre eine große Gruppe vor der Doppeltür einer verfallenen Wellblechgarage zu seiner Rechten stehen geblieben. Die Abdrücke ließen erkennen, dass die größere Gruppe hineingegangen war, dass aber eine kleinere Gruppe wieder herausgekommen und zu der Straße hinter der Kneipe gegangen war. Die nicht sehr stabilen Türen schlugen hohl in einem Wind, der Mason auf einmal sehr kalt vorkam.

Er hob die Pistole und zog eine der Türen auf, so leise er konnte. Er sprang mit nach oben gerichteter Waffe hinein und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Schwaches Sonnenlicht ergoss sich durch die Löcher und Lücken in den Blechwänden. Der Geruch von Urin und fauligem Schlamm attackierte seine Nase. Die Garage schien bis auf einige Lumpen und zerbrochene Kisten leer zu sein, die sich in einer Ecke auf dem Lehmboden stapelten. Aber als sich seine Augen an das Dunkel gewöhnten, sah er zwei Leichen mit dem Gesicht nach unten zwischen den Lumpen liegen. Sie waren beide in den Hinterkopf geschossen und in die Ecke gezerrt worden. Mason hockte sich zwischen sie und drehte sie so weit um, dass er ihre Gesichter erkennen konnte. Es waren die zwei Leibwächter Giessens, die neben der Hintertür gestanden hatten.

Als er aufstand und sich umdrehte, sah er drei weitere Leichen an der gegenüberliegenden Seite der Garage. Sie lagen in einer Reihe nebeneinander, Arme und Beine von sich gestreckt. Mason näherte sich ihnen und benutzte sein Feuerzeug, um sich ihre Gesichter anzusehen. Er fluchte leise und pfiff nach Abrams und dem MP, bevor er sich hinhockte und zur Sicherheit nach dem Puls der Männer fühlte. Als er Schritte in der Gasse näher kommen hörte, rief er: »Hier drinnen.«

Abrams und der MP-Sergeant betraten die Garage und gingen zu Mason. »Alle drei Bandenführer«, sagte Mason. »Giessen, Bachmann und Plöbsch. Eine Kugel in die Stirn. Dann zwei in die Brust. Schüsse aus kurzer Distanz. Eine Hinrichtung.« Er hob eine leere Patronenhülse auf. »Neun Millimeter«, sagte er und steckte die Hülse in seine Brusttasche. »Giessen hatte drei Leibwächter, die den Hinterausgang bewachten. Zwei von ihnen liegen dort drüben in der Ecke.«

»Dann sind noch einer und Olsen übrig«, sagte Abrams. »Glauben Sie, die haben das hier getan?«

Mason schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass zwei Kerle fünf bewaffnete Profis überrumpeln. Dazu braucht es mehr. Wir werden Olsens Leiche sehr wahrscheinlich irgendwo im Wald finden. Und es gibt da noch einen Kerl …« Mason vollendete den Satz nicht, sondern sagte mehr zu sich selbst: »Ich schwöre, er war da, entweder mit Giessen oder mit den Italienern.«

»Wer?«, fragte Abrams.

Mason ging nicht auf die Frage ein, stand auf und wandte sich an den Sergeant. »Lassen Sie unsere Jungs hier zu diesem Tatort kommen und fangen Sie an, die Leute in der Nachbarschaft zu befragen. Sorgen Sie dafür, dass das als Erstes geschieht, bevor Sie der deutschen Polizei Bescheid geben, dass hier fünf Leichen für sie liegen.«

Als der MP ging, sagte Abrams: »Wer war dieser andere Kerl, von dem Sie geredet haben?«

Mason schüttelte nur den Kopf und marschierte zur Tür. Mit Abrams im Schlepptau fegte Mason durch die Kneipe und ging vorn zur Straße hinaus. Zu seiner Linken bewachten die fünf MPs die wenigen US-Soldaten, eine Handvoll Polen und Russen sowie die Italiener. Die beiden angeschlagenen italienischen Leibwächter versuchten, ihrem Boss, so gut sie konnten, Hilfestellung zu leisten. Der Boss verzog vor Schmerzen das Gesicht, schaffte es aber, Mason einen wütenden Blick zuzuwerfen.

Mason sagte zu den MPs: »Haben Sie Unterstützung angefordert?«

»Ja, Sir«, antwortete ein Corporal. »Ein Laster und ein Krankenwagen sollten jeden Moment hier sein.«

Mason zeigte auf den Italiener mit dem gebrochenen Arm. »Sorgen Sie dafür, dass der da es nicht zu bequem hat, und trennen Sie ihn von den anderen.«

Dann marschierte Mason zu den festgenommenen Deutschen. Die deutsche Polizei hatte sie an der Mauer aufgestellt und war dabei, sie zu durchsuchen. Mason ging auf den ersten Mann in der Reihe zu, packte ihn an den Schultern und schob ihn gegen die Mauer. »Wer hat Giessen und die anderen in die Falle gelockt? Wer hat sie umgebracht? Wo haben sie Sergeant Olsen hingebracht?«

Der Deutsche starrte Mason an und murmelte, er habe keine Ahnung.

»Major Ernst Volker. Ist er einer von ihnen?«

»Ich kenne keinen Ernst Volker.«

Mason ging weiter die Reihe entlang und stellte die gleichen Fragen. »Ernst Volker? Ist er der Anführer? Hat er den amerikanischen Sergeant mitgenommen?«

Ein deutscher Polizeiwachtmeister folgte Mason auf seinem Weg und protestierte gegen dessen Nichteinhaltung des Protokolls, das vorsah, dass die deutsche Polizei für die deutschen Bürger zuständig sei. Mason ignorierte den Wachtmeister und setzte die Befragung fort. Alles, was er erreichte, waren aufsässige Blicke und Unschuldsbeteuerungen.

Abrams sagte mit ruhiger Stimme: »Sir, warum untersuchen wir nicht die Kneipe. Die Deutschen sind für diese Männer zuständig.«

Mason wirbelte herum. »Nicht, wenn Olsen ermordet worden ist.« Dann wandte er sich wieder der ganzen Gruppe zu und sagte so laut, dass alle ihn verstehen konnten: »Jeder, der bereit ist, vorzutreten und die Männer zu identifizieren, die verantwortlich für die Morde an den Herren Giessen, Bachmann und Plöbsch oder für die Entführung von Sergeant Olsen sind, wird freigelassen. Jeder, der bestätigen kann, dass Ernst Volker hier war, und uns sagt, wo wir ihn finden können, wird freigelassen.«

Niemand trat vor. Mason nahm ein paar tiefe Atemzüge, um sich zu beruhigen, und beobachtete, wie die deutsche Polizei begann, ihre Schar in einen Laster mit offener Ladefläche zu treiben. Plötzlich fing einer der Männer auf dem Lastwagen an zu schreien. Ein Teil war auf Deutsch, aber der Rest bestand aus einem Dialekt, den Mason nicht erkannte. Der Mann mit dem schmalen Gesicht schrie Mason von der Ladefläche des Lasters etwas zu, während die Polizisten ihn herumschubsten. Sie ließen ihn los und schauten Mason Rat suchend an.

Abrams trat vor und sprach mit dem Mann in seiner Sprache. Da begriff Mason, dass sie Jiddisch sprachen. »Was will er?«

»Er sagt, dass er kein Deutscher sei. Dass er polnischer Jude sei. Dass er nicht mit diesen Männern zusammen sein solle.«

»Holen Sie ihn vom Laster runter und stecken ihn zu den anderen«, entschied Mason.

Abrams sagte den Deutschen, sie sollten ihn durchlassen. Der Mann sprang hinunter und redete wie ein Maschinengewehr mit Abrams. Mason konnte verstehen, dass er gegen seine Festnahme protestierte – so viel war in jeder Sprache klar. Abrams musste ihn beschwatzen, damit er sich der Gruppe mit den Amerikanern und den anderen Ausländern anschloss, die von den MPs bewacht wurde, und kehrte dann zu Mason zurück.

»Behauptet, er sei unschuldig, stimmt’s?«, fragte Mason.

»Er sagt, er wäre gerade zufällig reingegangen, um ein Bier zu trinken.«

»Kommt ein Jude in eine Bar …«, sagte ein MP und grinste. »Kapiert? Klingt wie der Anfang von einem Witz.«

Mason warf dem MP einen Blick zu. »Bringen Sie einfach alle in die Sheridan-Kaserne, okay?«

Mason und Abrams betraten wieder den inzwischen verlassenen Steinadler. Mason ging hinter die Theke, während Abrams die Tische und den Boden absuchte.

»Sie haben mir vorhin nicht geantwortet«, sagte Abrams.

»Auf welche Frage?«

»Wer ist dieser andere Kerl, von dem Sie geredet haben? Dieser Ernst Volker.«

»Ich habe ihn nicht gesehen, also weiß ich nicht genau, ob er hier war oder nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ich habe keine bessere Antwort für Sie, also vergessen Sie’s.«

»Vielleicht haben er, der dritte Leibwächter und Olsen diese ganze Sache inszeniert.«

Mason schüttelte den Kopf, während er die Registrierkasse durchstöberte. »Olsen hat weder den Einfluss noch den Grips, um so einen Coup durchzuziehen. Es macht ganz den Eindruck, als hätte eine Gruppe von vielleicht fünf Mann in der Gasse auf sie gewartet. Es hat keinen großen Kampf gegeben, also vermute ich, dass sie sich alle kannten oder überrascht wurden.«

Fragen kreisten bereits in Masons Kopf. Woher hatte die Gruppe gewusst, dass die drei Anführer ihre Richtung einschlagen würden? War es ein im Voraus geplanter Überfall? Aber woher hätten die Angreifer wissen können, wo das Treffen stattfand? War es Zufall, dass es gerade dazu kam, als Mason versuchte, die Bande zu unterwandern? Wurden sie umgebracht, weil Mason beinahe erfolgreich gewesen wäre?

Abrams Gedanken schienen in einer ähnlichen Richtung zu verlaufen, denn er fragte: »Wie hat man Sie identifiziert? So wie Sie verkleidet waren, hätte sogar ich Schwierigkeiten gehabt, Sie zu erkennen. Vielleicht hat Olsen Sie hintergangen.«

Mason dachte an den Geruch türkischer Zigaretten. »Mein Gefühl sagt mir, es war Volker. Das ist jemand, den ich im Krieg gekannt habe. Jemand, der mich fast getötet hätte, als ich Kriegsgefangener war.«

»Aber das wissen Sie nicht mit Sicherheit?«

»Ich saß mit dem Rücken zum Raum.«

»Wer hämmert mir dauernd ein, dass ich nie in eine Situation geraten soll, in der ich mit dem Rücken zum Raum dasitze?«

Mason ignorierte Abrams und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schmutz hinter der Theke zu. »Ich bezweifle, dass wir viel finden werden, was uns weiterhilft. Alle möglichen Drecksäcke haben dieses Lokal benutzt, um Geschäfte zu machen.«

»Wir werden Fußabdrücke im Schnee machen können«, sagte Abrams. »Aber davon und von den Patronenhülsen abgesehen haben wir nicht viel in der Hand.«

»Wir werden sehen, was bei der Befragung der Nachbarschaft rauskommt.«

»Chief Warrant Officer Collins?«, erkundigte sich eine Stimme am Eingang.

Mason schaute hoch und erblickte zwei Männer in zusammenpassenden schwarzen Mänteln und genauso schwarzen Anzügen, die an der Tür im Lokal standen. Er kannte sie als US-Agenten vom Counter Intelligence Corps oder CIC, aber keiner von beiden war Amerikaner. Sie hießen Werner und Hans, aber Mason nannte sie Frick und Frack nach dem berühmten Komödiantenpaar, das seine Kapriolen auf dem Eis schlug, obwohl an ihrem eisigen Gesichtsausdruck nichts Fröhliches war. Sie waren beide ehemalige deutsche Offiziere vom militärischen Geheimdienst, die jetzt für die Amerikaner arbeiteten.

Hans sagte: »Special Agent Winstone würde gern mit Ihnen reden.«

»Falls ihr beide es noch nicht bemerkt habt: Wir sind im Moment mit der Untersuchung eines Tatorts beschäftigt. Sagt ihm, ich melde mich später bei ihm.«

»Er besteht leider darauf.«

»Na, dann sagen Sie ihm, er kann sich sein Darauf-Bestehen dahin stecken, wo keine Sonne reinscheint.«

Die beiden Agenten brauchten einen Moment, um das zu verarbeiten. Schließlich sagte Werner: »Er hat gesagt, Sie hätten gerade einem alten Freund die Tour vermasselt. Er ist draußen. Es dauert nur ein paar Minuten.«

Mason hielt inne und fragte sich, wie er möglicherweise Winstone die Tour vermasselt haben könnte. Er schüttelte den Kopf und folgte dem Paar aus der Kneipe hinaus und die Straße entlang.

Es war nach Masons Meinung für das CIC zu üblich geworden, Deutsche für das expandierende Aufgabenfeld zu rekrutieren, bei dem es darum ging, die zunehmende Präsenz russischer Spionagenetze zu untersuchen, NS-Kriegsverbrecher aufzuspüren und nach dem versteckten Nazi-Gold zu suchen. Mason verstand, warum das so war: Sie waren besser als ihre amerikanischen Kollegen dazu geeignet, Einheimische einzusetzen, um potenzielle Verstecke, fanatische Nazis und Deutsche ausfindig zu machen, die inzwischen für die Russen arbeiteten. Trotzdem gefiel Mason die Vorstellung nicht, dass die amerikanische Armee ehemalige Angehörige des deutschen Nachrichtendienstes und der Gestapo beschäftigte und auf diese Weise deren Nazi-Vergangenheit unter den Teppich kehrte, um Fälle zu lösen. Die Zeiten änderten sich bereits, und die Russen waren die neue Bedrohung, aber es fiel Mason immer noch schwer, nach all dem, was er im Krieg erlebt hatte, darüber hinwegzugehen.

Frick und Frack blieben schließlich an einer langen schwarzen Mercedes 320 Stromlinien-Limousine stehen, die am Bordstein geparkt war.

»Muss bei euch Jungs eigentlich alles schwarz sein?«, fragte Mason.

Werners Gesichtsausdruck blieb eisig, als er die Hintertür des Wagens aufmachte. Mason stieg ein. Agent John Winstone erwartete ihn auf der Rückbank. Er war Ende dreißig und hatte ein rundes Gesicht, das durch seinen weit zurückweichenden Haaransatz noch betont wurde. Er war jedoch in großartiger Form und hatte die Art Sonnenbräune, die ein Skifahrer bekommt, wenn er Stunden auf den Hängen verbringt. Er trug einen maßgeschneiderten blauen Anzug und eine goldene Schweizer Uhr.

Mason hatte noch kaum Platz genommen, als er sagte: »Ich mag es nicht, herbeizitiert zu werden. Nicht mal von einem Freund.«

»Von wem lässt du dir deine Anzüge machen?«, fragte Winstone sarkastisch. »Du musst mir unbedingt seinen Namen geben.«

»Was willst du von mir? Ich muss mich um einen Tatort kümmern.«

»Du hast mir einen Strich durch meine Ermittlungen gemacht, Kumpel. Ich will wissen, was du dort drin überhaupt zu suchen hattest.«

»Deine Ermittlungen?«

»Ich bin seit Monaten dabei, Giessen und seine Kumpane zu beobachten.«

»Seit wann ermittelt das CIC gegen Schwarzmarkthändler? Habt ihr Jungs nicht mit Kriegsverbrechern und Spionen genug zu tun?«

»Diese Bandenführer oder einige der Männer unter ihrem Kommando haben eine Rattenlinie eingerichtet und Nazi-Kriegsverbrechern geholfen, aus Deutschland zu entkommen.«

»Eine Rattenlinie? Ich ermittle seit zwei Monaten gegen sie und habe nichts davon gehört, dass sie eine Rattenlinie betreiben. Und wenn das CIC Informationen weitergäbe, hätten wir diese Situation möglicherweise vermeiden können. Wir kennen einander seit drei Jahren. Seit wann sind wir Rivalen geworden?«

Mason hatte Agent Winstone kennengelernt, als sie zusammen während des Kriegs für den Geheimdienst der Army gearbeitet hatten. Winstone hatte ein Team von Analytikern beaufsichtigt, während Mason als Geheimagent im Außendienst für die Abteilung »Human Intelligence« gearbeitet hatte, indem er lokale Agenten um sich sammelte, Vernehmungen deutscher Kriegsgefangener durchführte und Einschätzungen feindlicher Wirtschaftsgüter an der Front vornahm. In jener Zeit waren sie Freunde geworden, aber nach dem Krieg hatte Mason Winstone aus den Augen verloren, als er zur CID ging und nach München versetzt wurde. Dann waren sie sich zufällig begegnet, kurz nachdem Mason nach Garmisch abgeordnet worden war. Winstone hatte sich seit jenen früheren Tagen verändert: Während er früher ein intelligenter, bescheidener Typ gewesen war, war er inzwischen für Masons Geschmack ein bisschen zu sehr von sich überzeugt und abgehoben. Sie hatten einige Male geplant, sich zu treffen, aber es war nie was daraus geworden, und Mason hatte darauf hingewiesen, dass er sich wegen seiner Undercover-Arbeit unauffällig verhalten müsse.

»Hast du je daran gedacht, bei uns nachzufragen?«, wandte Winstone ein.

»Mir war nicht klar, dass die CID bei euch Jungs nachfragen müsste, wenn es um Schwarzmarktaktivitäten und Mord geht.«

Winstone musterte Mason einen Augenblick lang. »Es kommt mir seltsam vor, dass du dich mit Giessen exakt zu der Zeit und an dem Ort triffst, wo er und seine Kumpane umgebracht werden.«

»Und du bist hier, kurz nachdem das alles passiert ist, in deinem maßgeschneiderten Anzug, mit deinem schicken Auto und zwei deutschen Schlägertypen. Sollte ich dich vielleicht unter die Lupe nehmen?«

Winstone schwieg eine Weile und lächelte. »Sieht so aus, als arbeiteten wir aneinander vorbei.«

»Sieht so aus, aber es spielt keine Rolle mehr. Die drei Anführer sind tot, und die, die wir nicht geschnappt haben, werden untertauchen.«

»Sie werden wieder auftauchen«, sagte Winstone und schaute auf Masons Kopfwunde. »Was ist dort drinnen passiert?«

»Ich habe versucht, mich in die Bande einzuschleusen. Ich hatte alles vorbereitet, aber irgendjemand hat mich auffliegen lassen. Du hast nicht zufällig mal etwas von einem ehemaligen Gestapo-Major namens Ernst Volker gehört, oder?«

»Nein, aber wenn er bei der Gestapo war, benutzt er vermutlich einen anderen Namen.«

»Hochgewachsen, schlank, grauhaarig, kantiges Kinn und spitze Nase.«

Mason glaubte, in Winstones Augen einen Funken des Wiederkennens aufblitzen zu sehen, aber dann richtete sich seine Konzentration nach innen, als sei er tief in Gedanken.

»Er arbeitet nicht für das CIC, oder?«, fragte Mason. »Ein weiterer ehemaliger Nazi, der jetzt für unsere Mannschaft spioniert und gerade meine Tarnung hat auffliegen lassen?«

»Mason, ich kenne diesen Volker nicht, und alle unsere deutschen Agenten sind einer gründlichen Sicherheitsüberprüfung unterzogen worden. Und viele von ihnen sind sehr erfolgreich gewesen. Ich will nicht sagen, vergiss, wofür wir gekämpft haben, aber am Horizont zeichnet sich ein anderer Krieg ab.«

»So leicht kann ich nicht alles vergessen.« Schon dadurch, dass er es aussprach, wurde eine Flut von Bildern ausgelöst, die sein Bewusstsein überschwemmten. »Ist das der Grund, weshalb du zum CIC gegangen bist? Der andere Horizont?«

»Für mein Spezialgebiet hat es im deutschen militärischen Geheimdienst seit dem Kriegsende keinen großen Bedarf gegeben. Außerdem dachte ich, dass ich im CIC mehr Gutes tun könnte, indem ich gegen die Drohung russischer Aggression kämpfe.«

»In Garmisch? Nichts von dem, was ich aufgedeckt habe, hat irgendwas mit russischen Spionen zu tun. Ich konnte das in Berlin, Frankfurt oder sogar München sehen, aber nicht in Garmisch.«

»Du wärst vielleicht überrascht. Ein anderes Team hat eine Gruppe von Russen aufgegriffen, die versuchten, heimlich die Grenze zu überqueren. Die Roten produzieren Tausende von deutschen Agenten und Doppelagenten, während wir uns immer noch darum bemühen, eine Demokratie auf die Beine zu stellen. Du bist ein ausgezeichneter Ermittler. Warum arbeitest du nicht mit uns zusammen? Wo die Russen sich Osteuropa unter den Nagel reißen und uns bataillonsweise Spione auf den Hals hetzen, könnten wir dich gebrauchen.«

»Mike Forester hat schon versucht, mich zu rekrutieren. Ich bin nun mal ein Cop. Da beißt die Maus keinen Faden ab.«

»Na ja, wenn Mike dich nicht überzeugen konnte …« Winstones Gesichtsausdruck wurde düster, und er schaute aus dem Fenster, als wollte er sich überzeugen, dass ihn niemand beobachtete. »Ich bin auch der Ansicht, dass die Rivalität zwischen CIC und CID ein Ende nehmen sollte. Und warum tauschen wir in diesem Sinne nicht Informationen aus? Ich habe einige Punkte, die für dich von Interesse sein könnten, und umgekehrt.«

»Nichts von dem, was ich festgestellt habe, hat irgendetwas mit Rattenlinien oder russischen Spionen zu tun.«

»Sind dir irgendwelche anderen Namen bei deinen Ermittlungen untergekommen, von Ernst Volker abgesehen?«

»Außer den drei fröhlichen Schergen Giessen, Bachmann und Plöbsch?« Mason schüttelte den Kopf. »Niemand, der über mittleren Schurkenrang hinausragt. Aber jetzt im Moment versuche ich rauszubekommen, wieso ein Gestapo-Major, der amerikanische Soldaten gefoltert hat, immer noch frei herumläuft. Es scheint ein Haufen von Deutschen dort draußen zu sein, die wegen Kriegsverbrechen hinter Schloss und Riegel gehören.«

Winstone schien über etwas nachzudenken. »Bei meinen Nachforschungen habe ich Geschichten gehört, wonach eine neue Riege von Anführern in die Stadt kommen soll. Irgendwie ist die Organisation, die die Rattenlinie betreibt, mit dieser neuen Führungsriege verbunden. Wer sie auch sein mögen, sie kommen allmählich ans Ruder, und die anderen Banden haben Angst. Ich habe ein paar Informanten unter ihnen. Wir haben es genauso wenig wie du geschafft, in die Gruppe einzudringen, aber wir haben an zwei Operationen teilnehmen können, und was ich erfahren habe, hat mich schockiert.«

»Was zum Beispiel?«

»Ich bin nicht darauf vorbereitet, irgendwas ohne stichhaltige Beweise preiszugeben.«

»Gib mir doch das, was du hast, und ich arbeite von meiner Seite weiter daran. Ich werde die Beweise besorgen.«

»Auch dazu bin ich nicht bereit.«

»Was ist denn aus dem Geist der Zusammenarbeit geworden? Falls es um ein Verbrechen geht, musst du uns deine Informationen zur Verfügung stellen.«

Winstone hatte auf einmal Schwierigkeiten, Mason ins Gesicht zu sehen, und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Fenster zu. »Ich werde es dir sagen, wenn die Zeit reif ist. Nur ich und General Pritchard kennen den Inhalt der Akten, die ich zusammengetragen habe.«

»Was hat der stellvertretende Militärbefehlshaber von Bayern mit einer CIC-Untersuchung zu schaffen?«

»Als ich eine Verbindung zwischen den Rattenlinien und den Bandenaktivitäten zu sehen begann, bekam ich den Befehl, alles, was mit kriminellen Aktivitäten zu tun hätte, direkt mit General Pritchard abzustimmen. Er interessiert sich persönlich dafür, den Saustall hier unten zu säubern.«

Mason nickte nur und ließ Winstone reden. Er kannte General Pritchard, beschloss aber, Winstone gegenüber nichts davon zu erwähnen. Er musterte das Gesicht des Mannes und seine Haltung. Was das betraf, blieb Winstone so distanziert und regungslos wie ein Standbild.

Winstone fuhr fort: »Bis ich die Information verifizieren kann, bleibt sie in meinen Händen. Es sind andere Probleme damit verbunden, von lokalen kriminellen Aktivitäten abgesehen. Ich habe gerade ein paar Dinge aufgedeckt, die ausreichen, um die Army bis in ihre Grundfesten zu erschüttern. Alles zu unterminieren, was wir hier in Deutschland zu erreichen versuchen.« Er hielt die Hände hoch, bevor Mason den Mund aufmachen konnte. »Sieh mal, ich kann nicht mehr sagen. Ich kann dir allerdings versprechen, dass ich am Ende der Woche haben werde, was ich brauche, und dass ich es dir weitergeben werde. Das heißt, wenn du wirklich bereit bist, eine scharfe Granate in die Hand zu nehmen.«

»Das ist meine Spezialität.«

Winstone versuchte vergeblich, ein zuversichtliches Lächeln aufzusetzen.

»Ich gehe besser wieder an die Arbeit«, sagte Mason und machte Anstalten auszusteigen.

»Warum gehen wir nicht mal zusammen aus?«, fragte Winstone auf einmal ganz munter. »Wie wär’s mit einem Abendessen heute? Du könntest meine Freundin kennenlernen. Wir gehen gegen acht zum Blauen Papagei.«

Noch etwas, das sich bei Winstone geändert hatte: Als Mason ihn während des Kriegs kennengelernt hatte, war er ein treu ergebener Ehemann und Vater gewesen – jetzt hatte er eine deutsche Geliebte.

»Danke. Vielleicht ein andermal. Meine Freundin kommt heute Abend mit dem Zug. Ich habe sie seit mehr als zwei Monaten nicht gesehen.«

»Bring sie mit. Wir machen einen Vierer draus.«

Mason lächelte und nickte. »Wenn alles nach Plan verläuft, habe ich heute Nacht genug zu tun.«

DREI

Als Mason und Abrams im Rathaus eintrafen, hing die Sonne tief über den schneebedeckten Bergen. Kirchenglocken verkündeten, dass es fünf Uhr war, und ihr Klang erscholl unmittelbar und voll in der dichten, eiskalten Luft. Das Rathaus lag an einem großen, offenen Platz in der Mitte der Stadt, der angemessenerweise Rathausplatz hieß. Es hatte als Sitz des Gemeinderats von Garmisch-Partenkirchen fungiert, aber jetzt beherbergte es die Büros der US-Militärregierung und das Hauptquartier der Militärpolizei und der CID-Abteilung. Das vierstöckige rechteckige Hauptgebäude hatte einen Eingang aus Steinbogen, die ockerfarbene Wände mit gemalten geometrischen Mustern trugen, und darüber ein Giebeldach mit einer Kuppel als Sahnehäubchen obendrauf.

Mason und Abrams steuerten das dreistöckige Nebengebäude an. Das Erdgeschoss und der erste Stock fungierten als eigentliche MP-Station, während das kleine Aufgebot von Garmischs CID-Ermittlern in einer Ecke des zweiten Stocks untergebracht war. Auf den Eingangsstufen trat Abrams zur Seite, um mit einem seiner MP-Kumpel zu plaudern, und Mason setzte seinen Weg in das Gebäude fort.

»Lieben Sie Ihr Land, mein Sohn?«

Mason zögerte, nicht wegen der Frage, sondern weil der Kommandeur der Militärpolizei im Landkreis Garmisch, Major Robert »Bronco Bob« Gamin, sie gestellt hatte. Der Major stand unmittelbar hinter dem Eingang und verteilte Spielkarten, auf deren Rückseite der Fahneneid gedruckt war.

»Äh, ja, Sir, das tue ich«, sagte Mason schließlich.

Bronco Bob Gamin gab Mason eine Karte. »Stecken Sie die in Ihre Brusttasche, nahe bei Ihrem Herzen. Das bringen Commies nicht über sich. Daran erkennen wir sie.« Er zwinkerte Mason zu, blickte ihn dann aber durchdringend an. »Was machen Sie ohne Uniform? Sie sehen wie ein verdammter Kraut aus.«

»Ich bin bei der CID, Sir. Ich habe verdeckt ermittelt …«

Mason brach ab, weil Major Gamin sich schon dem nächsten Mann zugewandt hatte, der zur Tür hereinkam.

Als er seinen Weg fortsetzen wollte, rief Gamin hinter ihm her: »Sie sind der neue CID-Ermittler. Hab ich recht?«

»Nun, ja, Sir. Seit bald zwei Monaten. Wir sind uns bei mehreren …«

Gamin hatte sich wieder abgewandt, um Abrams zu befragen, der einen verwirrteren Eindruck machte als Mason. Sobald Abrams sich losmachen konnte, schloss er sich Mason an. Sie begegneten ihrem leitenden CID-Officer Patrick Densmore am Fuß der Treppe. Densmore, ein ehemaliger Police Detective aus St. Louis, war ein schlanker, großer Mann. Da er auf seine Herkunft aus Oklahoma stolz war, übertrieb er seine schleppende Sprechweise und spann endlose Geschichten wie ein Cowboy, der gerade einen Viehtrieb hinter sich hatte. Bei jeder Gelegenheit stand er mit den Daumen in seinem Gürtel da und blinzelte gewohnheitsmäßig, als hätte er zu viel Zeit damit verbracht, in den weiten Horizont der ausgedörrten Ebenen zu starren. Mason und Densmore hatten denselben Dienstrang, Chief Warrant Officer 4, aber Densmore war seit August 1945 bei der Abteilung, was ihn zum dienstältesten Kriminalermittler machte. Es gab nur vier CID-Ermittler in Garmisch, und falls die Fälle überhandnahmen, wurden Ermittler aus München hergeschickt. Mit den fünfzig MPs und den vier Ermittlern kam ihnen das gesamte Polizeiaufgebot wie eine Kleinstadttruppe vor, die sich einer großstädtischen Welle der Kriminalität stellen musste.

»Was ist mit dem Major los?«, fragte Mason Densmore.

»Sie waren noch nicht dabei, wenn er einen seiner Anfälle hatte?«

Als Mason den Kopf schüttelte, sagte Densmore: »Er ist ein guter Offizier, ein guter Verwaltungsbeamter, aber von Zeit zu Zeit bekommt er einen Rappel. Manche sagen, es hätte angefangen, als seine Maschine während der Operation Market Garden abgestürzt ist und er ziemlich schwere Kopfverletzungen davongetragen hat. Andere behaupten, er hätte einen Schlaganfall gehabt. Was auch immer der Grund sein mag, er bekommt diese Anfälle wegen kommunistischer Verschwörungen.«

Mason schaute zurück auf Gamin, der mit seinen stahlblauen Augen, dem Bürstenhaarschnitt und dem stachligen Schnurrbart wie einer von diesen blutrünstigen Marineinfanteristen aussah. Mason schüttelte wieder den Kopf.

Densmore fuhr fort, während sie die Treppe hochstiegen: »Weil er ein Kriegsheld war, hat ihn die Army – in ihrer unendlichen Weisheit – zur Belohnung für seine Taten hierhergeschickt, damit er etwas zu tun hatte. In zwei Tagen wird er nichts mehr davon wissen wollen und gemeiner als eine Hornisse sein. Hat er Sie gebeten, eine Verschwörung zu untersuchen, bei der es darum geht, amerikanische Flaggen zu stehlen.«

»Nee.«

»Dann macht er das noch.«

Sie waren auf dem Absatz im zweiten Stock angekommen, von dem zwei Flure abgingen, die zu einer Reihe von Büros führten. Sie nahmen den Flur nach rechts, und Densmore blieb auf halbem Weg stehen. Mit den Nettigkeiten war Schluss, sein Gesichtsausdruck war grimmig geworden. Er wandte sich an Abrams. »Warum fangen Sie nicht damit an, Ihren Bericht zu schreiben? Mr. Collins und ich haben noch was zu besprechen.«

Abrams ging zu seinem Zimmer, und Mason folgte Densmore schweigend durch den Flur. Densmore versuchte, den harten, aber weisen Kommandeur herauszukehren, doch diese Eigenschaften schienen sich nicht mit dem Mann vereinbaren zu lassen. Dieser Schweigemarsch war dazu gedacht, Mason ein bisschen Demut und Zerknirschung einzuflößen, wie bei einem Schüler, der zum Zimmer des Direktors geführt wird, aber Demut und Zerknirschung gehörten nicht zu Masons starken Seiten.

Sie betraten ein großes Büro mit einem Fenster, durch das man den Süden der Stadt und die Berge im Hintergrund sehen konnte. Es enthielt einen großen Schreibtisch aus Eichenholz und Aktenschränke an einer Wand. Übergroße Landkarten beherrschten eine andere Wand: eine von Nachkriegsdeutschland, aufgeteilt in seine vier Besatzungszonen – die amerikanische, britische, französische und russische, eine von der amerikanischen Zone, zu der Bayern gehörte, und schließlich einen Stadtplan von Garmisch-Partenkirchen.

Zwischen die malerischen Berge der bayerischen Alpen gezwängt war Garmisch-Partenkirchen von Bomben verschont geblieben und hatte sich ergeben, ohne einen Schuss abzufeuern. Die Straßen der Stadt waren immer noch von Häusern geschmückt, die mit religiösen oder pastoralen Szenen bemalt und mit Holzschnitzereien verziert waren wie Hochzeitstorten mit Zuckerglasur – ganze Viertel von Pfefferkuchenhäusern in Hänsel-und-Gretel-Straßen, als wäre die Stadt aus einem Märchen herausgehoben worden. Aber dies war keine Märchenstadt in einem weit entfernten Land. Sie lag in der amerikanischen Besatzungszone im geschlagenen Nazi-Deutschland. Die Spuren der Olympischen Winterspiele von 1936 standen immer noch als Mahnmal für Hitlers Traum von einem Tausendjährigen Reich, aber das Meer von Nazi-Flaggen, die Schilder mit der Aufschrift »Juden raus!«, die Elitetruppen der Gebirgsjäger, die »Heil Hitler«-Rufe und die Hakenkreuzfahnen schwenkenden Fanatiker waren verschwunden. Göring war hierhergekommen, um sich nach Hitlers fehlgeschlagenem Putsch wegen einer Schusswunde behandeln zu lassen, und von den Stadtvätern mit der Ehrenbürgerwürde bedacht worden. Hitler hatte landwirtschaftliche Flächen für seinen Ruhesitz in den Bergen kaufen wollen, aber der Bauer wollte nicht verkaufen, und Adolf baute seinen Adlerhorst schließlich in Berchtesgaden. Ein veritables Who’s Who von Nazis hatte Garmisch als ihr zweites Zuhause bezeichnet. Unter dem Eis und Schnee, unter dem blassblauen Himmel verbarg die Stadt ihre Nazi-Vergangenheit gut.

Die Abordnung nach Garmisch-Partenkirchen war als Bestrafung für Mason gedacht gewesen, als Posten auf dem Abstellgleis, wo er über sein unverantwortliches Verhalten und seinen schwerwiegenden Ungehorsam während eines turbulenten Mordfalls in München nachdenken sollte. Das war Mason ganz recht gewesen. Er hatte den größten Teil seiner Nachkriegszeit in den geschwärzten Ruinen von Frankfurt und München verbracht, sodass die Versetzung auf einen bekannten Tummelplatz der Army ihm eher wie eine Belohnung und weniger als Bestrafung vorkam. Dann kam er an …

Verglichen mit dem urbanen Ödland jener beiden Städte war Garmisch ein Ort voller Ungereimtheiten.

Als das Dritte Reich zusammenbrach, war die Stadt das Endstück eines Trichters für fliehende reiche Deutsche und hochrangige Mitglieder der Nazi-Regierung, SS- und Wehrmacht-Offiziere, die alle in großer Zahl gestohlene Meisterwerke der bildenden Kunst, Gold- und Währungsreserven der Reichsbank, Diamanten, Edelsteine und Uran von gescheiterten Experimenten mit der Atombombe mit sich brachten – alles mittlerweile versteckt oder zum Erwerb auf dem Schwarzmarkt verfügbar. Da Millionen von Dollar zu verdienen waren, standen Mord, Erpressung, Bestechung und Korruption auf der Tagesordnung. Zehntausende von Vertriebenen und Überlebenden aus den Konzentrationslagern sowie ehemalige Kriegsgefangene, die umständehalber oder mit Absicht hier eingetroffen waren, ließen die Einwohnerzahlen der Stadt auf das Sechsfache der Kriegsbevölkerung ansteigen. Zu dieser brisanten Mischung kamen Zehntausende gelangweilter US-Soldaten hinzu, die bereit waren, sich bestechen zu lassen, verführt von Verruchtheit und Gier. Verbrecherbanden florierten, und niemand schien richtig hinschauen zu wollen.

Von wegen Versetzung auf ein Abstellgleis …

Densmore lehnte sich gegen seinen Schreibtisch und kreuzte die Arme vor der Brust. Mason nahm Densmores Versuch, eine Autoritätsperson abzugeben, nicht zur Kenntnis und täuschte stattdessen ein Interesse an den Wandkarten vor.

»Ich sollte Sie wegen Gehorsamsverweigerung zur Rechenschaft ziehen«, sagte Densmore.

»Und was würden Sie damit erreichen, genau besehen?«

»Dass Sie meine Befehlsgewalt nicht einfach ignorieren können und diesen Infiltrationsblödsinn durchziehen, ohne das mit mir vorab zu klären. Warum erfahre ich nur von den Einzelheiten dieses Plans, wenn das Ding den Bach runtergeht? Außerdem haben Sie sich und Abrams in Gefahr gebracht. Wenn ich von dieser Nummer in Kenntnis gesetzt worden wäre, die Sie da vorhatten, hätte ich erstens dafür gesorgt, dass es nicht dazu kommt, und zweitens, dass Sie angemessene Unterstützung gehabt hätten, wenn ich sie genehmigt hätte.«