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München im Winter 1945. Die Stadt liegt in Trümmern, die Menschen hungern und frieren. Die amerikanische Militärpolizei geht gegen Plünderungen und den Schwarzmarkt vor. Chief Warrant Officer Mason Collins jedoch hat einen ganz anderen Auftrag: Er muss einen Serienkiller jagen. Dessen erstes Opfer wurde in den Ruinen einer Fabrik gefunden – der Leichentorso aufgeschlitzt und an der Decke aufgehängt. Dann tauchen weitere Tote auf, auch ihre Körper sind grausam zugerichtet. Schnell wird klar, dass der Mörder über chirurgische Kenntnisse verfügt. Mason glaubt, dem Täter langsam näher zu kommen – doch dieser spielt ein perfides Spiel mit dem Ermittler ...
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Seitenzahl: 591
Veröffentlichungsjahr: 2016
Buch
Sieben Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs: München ist eine Ruinenstadt, die Menschen leiden unter Hunger, Krankheiten und dem eisigen Winter. Die amerikanische Militärpolizei geht gegen Plünderungen und den Schwarzmarkt vor, aber Chief Warrant Officer Mason Collins hat eine andere Aufgabe: Der frühere Detective aus Chicago muss einen Serienkiller jagen. In einer zerbombten Fabrik haben Frauen auf der Suche nach Feuerholz einen verstümmelten Toten gefunden, die Leiche wurde auf schauerliche Weise inszeniert. Bald darauf tauchen weitere Tote auf, auch ihre Körper wurden vom Mörder auf perverse Weise arrangiert. Collins sammelt fleißig Indizien, die sich allerdings auf fatale Weise widersprechen. Das Einzige, was bald feststeht, ist, dass der Täter chirurgische Kenntnisse hat. Die Inszenierung der Toten deutet hingegen auf einen religiösen Hintergrund hin. Und die Nachrichten, die der Mörder an den Tatorten hinterlässt, geben weitere Rätsel auf. Collins bleibt nichts anderes übrig, als sich auf seinen Instinkt zu verlassen. Und langsam, aber sicher scheint er sich dem Mörder zu nähern. Doch dieser treibt ein perfides Spiel mit Collins und zwingt den Ermittler zu einem grausamen Wettkampf …
Informationen zu John Connell
finden Sie am Ende des Buches.
JOHN CONNELL
Winter
der Toten
Thriller
Aus dem Englischen
von Jochen Stremmel
Die Originalausgabe erschien 2015
unter dem Titel »Ruins of War« bei Berkley,
an imprint of Penguin Random House LLC, New York.
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1. Auflage
Taschenbuchausgabe September 2016
Copyright © der Originalausgabe 2015
by John A. Connell
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016
by Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur München
Umschlagfoto: INTERFOTO/Friedrich
Redaktion: Gerhard Seidl
BH · Herstellung: Str.
Satz: omnisatz GmbH, Berlin
ISBN: 978-3-641-17975-5V001
www.goldmann-verlag.de
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Meiner Frau Janine
EINS
München: Amerikanische Besatzungszone
Dezember 1945
Kriminalermittler Mason Collins hatte den Eindruck, als würde er durch die Landschaft eines Albtraums gezerrt, während die verkohlten Knochen dessen, was einmal München gewesen war, an ihm vorbeirauschten. Sein Fahrer manövrierte den Jeep durch die Straßen, als nähme er an einer Rallye teil, kurvte um Geröllhaufen, um Pferdefuhrwerke und müde Fußgänger herum. Er drückte wieder auf die Hupe, als ein älteres Paar, das einen Holzkarren mit seinen wenigen Habseligkeiten vor sich her schob, die Straße zur falschen Zeit zu überqueren versuchte.
»Ihr blöden Krauts«, rief der Fahrer, als sie vorbeijagten.
»Corporal, Sie wissen, dass das Mordopfer schon tot ist?«, fragte Mason.
»Ja, Sir.«
»Dann gehen Sie auf eine Geschwindigkeit runter, die irgendwo unterhalb von geölter Blitz liegt.«
Der Corporal wurde langsamer, scherte aber absichtlich knapp vor zwei ehemaligen deutschen Soldaten ein, die immer noch ihre zerfetzten Uniformen trugen, und zeigte ihnen den Mittelfinger. »Sieg Heil, ihr Motherfucker!«
»Ich sage es nur noch einmal, Corporal. Sie werden diesen Scheiß unterlassen, und zwar sofort.«
»Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber tun Ihnen diese Typen leid? Erst salutieren sie vor Hitler und wollen die Welt erobern, und jetzt schauen Sie sich das mal an.«
»Yeah, schauen Sie sich das an.«
Mason wies mit dem Kopf auf die mitleiderregende Szene vor ihrem Jeep. Menschen drängten sich zusammen gegen den beißenden Wind, während sie durch eine Straße schlurften, die von den geschwärzten Fassadenresten der Häuser gesäumt wurde, welche sich aus einem Friedhof aus Ziegel und Stein erhoben. Hinter dem dichten Schleier des Schneefalls erschienen sie wie verlorene Seelen, die durch das Fegefeuer wanderten, Hüter der unter dem Schutt begrabenen Toten. Abgesehen von den Alten und den ganz Jungen bewegten sich wenige Männer unter ihnen. Frauen, lauter Frauen. Eine Reihe von Frauen erstreckte sich über mehrere Häuserblocks und wartete stundenlang in der Kälte darauf, dass ein Rot-Kreuz-Zentrum aufmachte, weil sie hofften, einen Laib Brot und etwas Schmalz in Empfang zu nehmen. Andere durchstreiften die Trümmer auf der Suche nach Holz, das noch nicht verbrannt war, um sich der Kälte zu erwehren. Sie bildeten gleichsam geflochtene Gänseblümchenketten, um Ziegel und Steine aus den Ruinen zu bergen, und schufen so die Grundlage für ein neues Wort: Trümmerfrauen.
Der Corporal war ein Junge von nicht mehr als siebzehn Jahren und kam frisch von den Straßen von New York City. Er hieß Sal Manganella, wurde aber von allen Salamander genannt. Der Spitzname passte zu ihm – nur Nase und Kinn. Er merkte, dass Mason ihn ansah, und zog die Schultern hoch, als erwarte er noch einen Rüffel. Er entspannte sich erst, als Mason wegschaute. »Es heißt, man hätte Ihnen eine Entlassung angeboten, aber Sie hätten ihnen eine Abfuhr erteilt.«
Mason wartete einen Moment, bevor er antwortete. »Die Army braucht erfahrene Cops, also hab ich verlängert.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich kein Blatt vor den Mund nehme, Sir …«
»Das scheint kein Problem für Sie zu sein.«
»Ja, Sir … was für ein Verrückter will in diesem Drecksloch bleiben, wenn er ein Cop drüben in den Staaten sein könnte?«
Mason blieb still. Auf keinen Fall würde er das Thema mit einem rotznäsigen Bengel erörtern, dessen einzige Vorstellung vom Krieg es war, sich zu betrinken und Jagd auf Fräuleins zu machen.
Das vom Krieg zerrissene Deutschland war tatsächlich ein Drecksloch. Das Land hatte vor sieben Monaten kapituliert, aber es würden weitere Millionen sterben. Krankheit, Hunger und die eisige Umarmung des Winters waren an die Stelle von Kugeln und Bomben getreten. Und Mord blühte in den Ruinen. Vergeltung, Habgier, Wahnsinn, Eifersucht und Verzweiflung fütterten alle eine hungrige Bestie. Mord geschah an jedem Tag, Hunderte in der Woche, Tausende im Monat.
Mason war von Dezember 1944 bis zu seiner Befreiung Mitte April ein widerwilliger Gast der deutschen Armee gewesen. Nach einem zweimonatigen Krankenhausaufenthalt mit Typhus und Ruhr war ihm eine Entlassung angeboten worden. Sehr zur Überraschung und zum Entzücken des Armeestabs hatte Mason sich angeboten, länger zu bleiben. Er hatte endlose sechs Monate an einem Schreibtisch im Hauptquartier der U. S. Army in Frankfurt gearbeitet, bevor seinem Antrag auf Versetzung zur Criminal Investigation Division endlich stattgegeben worden war. Und jetzt, weniger als zwei Wochen nach seiner Ankunft in München, hatte er seinen ersten Mord. Es fühlte sich gut an, wieder im Sattel zu sitzen.
Vielleicht konnte Mason hier, mitten in diesen Ruinen, einen neuen Anfang finden, Erneuerung in einer schwärenden Wunde.
Manganella machte noch eine scharfe Kurve, wobei Mason fast in seinem Schoß landete. Mason wollte ihn gerade zusammenstauchen, als der Corporal eine Vollbremsung machte. Zwei Militärpolizisten der U. S. Army hielten ihre Hände hoch, um sie zum Stehen zu bringen. Sie standen vor zwei Jeeps, die so geparkt waren, dass sie die Straße blockierten. Vier weitere MPs und zwei Offiziere bildeten eine Mauer, die Masons Blick auf das versperrte, was für den hysterischen Tumult hinter ihnen verantwortlich war.
»Sie werden umkehren müssen, Sir«, sagte einer der MPs. »Hier ist der Teufel los. Ein Haufen Einheimischer, die sich wegen eines Kellers voller Weinflaschen in die Haare bekommen haben.«
Mason stand in dem Jeep auf und schaute über ihre Köpfe hinweg. Es war das reinste Irrenhaus. Mehr als hundert Zivilisten drängten sich in der schmalen Straße und benahmen sich, als wären sie besessen. Frauen kreischten, während sie miteinander kämpften, sich an den Haaren zogen oder Weinflaschen als Keulen benutzten. Alte Männer schlugen auf jeden innerhalb ihrer Reichweite ein, während sie Flaschen vor ihrer Brust umklammerten. In der Mitte des Höllenlärms schossen abgemagerte Kinder zwischen streitenden Erwachsenen hindurch, nahmen während der Kämpfe fallen gelassene Kästen an sich und verschwanden anschließend in den Lücken der eingestürzten Häuser. Leute kamen mit Weinflaschen oder ganzen Kisten in den Armen aus etwas heraus, was wie ein einfaches Loch in dem Geröll aussah. Einige Männer standen zwischen den Kämpfenden und schenkten ihren alkoholisierten Konkurrenten keine Beachtung, während sie den Hals einer Flasche abschlugen und so viel Wein in sich hineinkippten, wie sie konnten, bevor sie die leere wegwarfen und den Hals der nächsten abbrachen.
Ein MP-Sergeant stand mit einem Megafon in der Hand auf einem Jeep und rief auf Englisch: »Auseinander! Das hier ist Eigentum der U. S. Army. Sie werden verhaftet werden. Auseinander! Das ist ein Befehl.«
Corporal Manganella lachte über das Schauspiel, während sich auf Masons rechter Seite eine kleine Gruppe Journalisten Notizen machte oder knipste. Eine von den Fotografinnen fiel Mason ins Auge, eine unerwartete Schöne unter den Biestern. Sie hatte ein breites Gesicht mit einer schmalen Stupsnase und umwerfend blaue Augen. Ihr schwarzes Haar war unter einer Schirmmütze mit einem runden Aufnäher, der sie als Kriegskorrespondentin auswies, zu einer Hochsteckfrisur mit Victory Rolls zurückgebunden. Die Reporterin knipste noch ein Foto, während ein schelmisches Lächeln um ihre Lippen spielte. Sie hatte wie der Rest ihrer Kollegen großen Spaß dabei, die Tagesversion des Tohuwabohus festzuhalten, während die hilflosen MPs zuschauten.
Mason sprang aus dem Jeep und trat an den Master Sergeant heran. »Sie kriegen die Situation hier besser in den Griff, Sergeant, sonst haben Sie es bald mit einem richtigen Aufruhr zu tun.«
Der Sergeant wirbelte herum. »Verdammt noch mal, ich bin doch …« Er brach ab, als er Masons CID-Streifen erblickte. »Wir tun alles, was wir können, Sir. Die verdammten Funkgeräte, die wir zugeteilt bekommen haben, sind nutzlos. Ich hab jemanden ins Hauptquartier schicken müssen, um Unterstützung zu holen. Die sollten in ein paar Minuten hier sein.«
Mason kletterte auf einen der MP-Jeeps, der mit einem Maschinengewehr Kaliber 30 auf einem Drehsockel bestückt war. Er zog den Durchladehebel durch und drehte das MG auf die Menge.
Der Sergeant schrie: »Sir, das ist gegen die Vorschr…«
Mason gab einen langen Feuerstoß über die Köpfe der Menge ab. Das Krachen der Schüsse war ohrenbetäubend. Unter den Geschossen splitterten Ziegel und Steine.
Die Menge verharrte im Einklang, wie vor den Kopf geschlagen von dem Mann am Maschinengewehr. Manche erstarrten mit erhobenen Fäusten oder Flaschen, die bereit zum Zuschlagen waren.
Mason rief auf Deutsch: »Hört jetzt auf damit. Macht, dass ihr wegkommt. Ihr wollt nicht, dass ich euch aufs Korn nehme.«
Es gab keine Diskussion, der Kampf war zu Ende. Diejenigen, die vor einem Augenblick noch auf ihre Widersacher eingeschlagen hatten, halfen ihnen jetzt auf die Beine. Sie fingen alle an, sich zu zerstreuen, Frauen hielten sich aneinander fest, um sich abzustützen, betrunkene Männer wankten weg, und alle ließen ihre gerade noch so geschätzte Beute auf dem Boden liegen oder krachend auf das Pflaster fallen. MP-Sanitäter eilten herbei, um sich um die Verwundeten zu kümmern, die auf dem mit Wein getränkten Boden lagen.
»Wer zum Teufel ist der Trottel an dem Maschinengewehr?«, schrie jemand auf der hinteren linken Seite der Straße. Ein Master Sergeant der MP von der Größe eines Stiers kam mit zorngerötetem Gesicht angerannt.
Der Sergeant zeigte auf Mason.
Der Master Sergeant blieb mitten im Lauf stehen, nahm steif Habacht-Stellung ein und salutierte. »Eine tolle Idee, Sir. Ich bin nicht vertraut mit dieser Methode, einen Aufruhr in den Griff zu bekommen. Ich frage mich, Sir, ob Sie Ihre Drohung wahr gemacht hätten, wenn sie nicht aufgehört hätten.«
»Ist schon mal mit einem MG auf Sie geschossen worden, Sergeant?«
»Kann ich nicht behaupten, Sir.«
»Ich schon. Es ist ein großartiger Anreiz.«
»Das werde ich mir merken, Sir. Jedes Mal, wenn ich will, dass man mir zuhört, eröffne ich das Feuer auf unbewaffnete Zivilisten.«
Die Haltung des Master Sergeant wurde noch etwas steifer, während er darauf wartete, für seine Aufsässigkeit zusammengestaucht zu werden. Stattdessen lächelte Mason und hielt ihm die Hand hin. »Mason Collins.«
Die Schultern des Sergeant entspannten sich, und er schüttelte Mason herzhaft die Hand. »Erfreut, Sie kennenzulernen, Sir. Ich heiße Vincent Wolski. Eigentlich Warrant Officer Wolski, wo ich jetzt bei der CID bin. Colonel Walton hat mir gesagt, dass ich mich mit Ihnen als Partner …«
»Ich brauche keine Partner«, sagte Mason und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Jeep.
Wolski ging hinter ihm her. »Ich befolge nur Befehle, Sir. Was Sie damit machen, ist Ihre Sache.«
Mason zeigte auf Wolskis aufgenähtes Rangabzeichen. »Was machen Sie denn mit den Streifen da, wenn Sie bei der CID sind?«
CID war das Akronym der Army für die Criminal Investigation Division, das Detektivbüro der Army.
»Ich bin erst heute Morgen von der 508th C Company zu der Abteilung versetzt worden und hatte noch keine Zeit, die Uniform zu wechseln. Ein Fahrer wollte mich zum Tatort bringen, als wir in dieses Chaos geraten sind.«
Das 508th Military Police Bataillon war für den Polizeivollzugsdienst in München und den umliegenden Bezirken verantwortlich.
Mason blieb stehen und musterte ihn einen Augenblick. Der Mann war groß genug, um als Angreifer in der National Football League zu spielen, und Mason sah den Eifer in seinem Blick. Aber Wolskis einnehmendster Charakterzug, dachte Mason, ist wohl sein subversiver Humor. »Sagen Sie Ihrem Fahrer, er soll zurück zu seinem Standort fahren. Sie können mit uns kommen.«
»Das war eine schöne Demonstration, die Sie dort hinten abgezogen haben«, sagte jemand hinter ihm.
Es lag sowohl an der samtenen Stimme wie an der provozierenden Feststellung, dass Mason sich veranlasst sah, stehen zu bleiben und sich umzudrehen. Die dunkelhaarige Reporterin reichte ihm bis zur Schulter und schaute mit einem schelmischen Lächeln zu ihm hoch. Sie hielt ihm die Hand hin. »Laura McKinnon von Associated Press.«
Mason gab ihr die Hand. »Ich rede nicht mit Reportern.«
»Warum nicht? Haben Sie Angst?«
»Ich habe Sie dort drüben mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht Fotos von einer gefährlichen Situation machen sehen. In dem Moment klingelte in meinem Kopf eine kleine Alarmglocke.«
»Ich sehe nicht jeden Tag, wie ein Soldat das Feuer auf unschuldige Zivilisten eröffnet.«
»Nun ja, Ma’am, ich berichte Ihnen gern, dass dabei ein paar Ruinen beschädigt worden sind. Und wenn ich nicht geschossen hätte, wären vielleicht ein paar Menschen ums Leben gekommen.«
»Eine ziemlich schwerwiegende Vorhersage. Ich glaube, manche Soldaten vermissen den Krieg und suchen nach einem Vorwand, ihre Waffe zu entladen.«
Auch ohne Miss McKinnons durchtriebenes Lächeln hätte Mason die Anzüglichkeit bemerkt.
»Als ich im Juni in Frankfurt stationiert war, stürmten dreihundert vor Kurzem entlassene russische Kriegsgefangene und vertriebene Polen zwei Tanklastzüge, die mit Industriealkohol gefüllt waren. Die Folge war eine Sauforgie, die sich auf die Zivilbevölkerung ausweitete. Die Zahl der Teilnehmer stieg auf zweitausend. In den dreißig Minuten, die bis zur Ankunft der MPs verstrichen, und in den zusätzlichen dreißig Minuten, die sie für die Entscheidung brauchten, in die Luft zu schießen, starben mehr als hundert Menschen durch Gewalteinwirkung oder an Alkoholvergiftung. Weitere dreihundertfünfzig mussten ins Krankenhaus. Wir werden nie erfahren, wie viele gerettet worden wären, wenn sie früher geschossen hätten. Aber darüber werden Sie nicht schreiben. Nein, ich kann es schon sehen«, Mason schwenkte die Hand durch die Luft, als enthüllte er eine Überschrift in fetten Lettern, »›CID Chief Warrant Officer eröffnet Feuer auf unschuldige Zivilisten‹. Deshalb rede ich nicht gern mit Reportern. Einen schönen Tag, Ma’am.«
Mason drehte sich um und ging entschlossen zum Jeep, bevor er noch ihren faszinierenden Augen erlag. Er sprang in den Jeep und gab Manganella das Signal abzufahren.
»Worum zum Teufel ging es bei diesem Krawall eigentlich?«, fragte Manganella, während er den Jeep wendete und auf dem Weg zurückfuhr, den sie gekommen waren.
»Scheint so, als hätte eine Gruppe Zivilisten einen großen Weinkeller entdeckt, während sie zwei Leichen aus dem eingestürzten Gebäude da rausgeholt haben«, sagte Wolski.
Sobald sie weit genug von den anderen MPs entfernt waren, zog Wolski eine Weinflasche aus seinem Mantel und wedelte damit vor Manganella und Mason durch die Luft. »Ein Château Lafitte von 1927. Der Keller war voll mit den besten französischen Weinen. Jetzt sickert die Hälfte davon in das Kopfsteinpflaster. Eine verdammte Schande. Ich bezweifle, dass viele von den Flaschen wieder im Sammeldepot landen.«
Mason ergriff die Flasche von Wolski und begutachtete sie.
Corporal Manganella sagte: »Irgendein Hurensohn von einem Nazi hat sie einem armen französischen Mistkerl gestohlen. Kriegsbeute, Sir.«
»Vielleicht hätte ich mehr tun können, um diese Leute aufzuhalten, aber sie haben mir leidgetan«, sagte Wolski. »Können Sie sich vorstellen, was eine Flasche von einem solchen Wein auf dem Schwarzmarkt bringen würde? Mindestens Nahrung für einen Monat. Oder noch besser: einen Stapel Decken und einen Karren voller Kohle.« Er schüttelte den Kopf. »Mitte Dezember und schon so kalt wie das Herz meiner Ex-Freundin.«
Als Manganella in die Hauptverkehrsstraße einbog, befahl Mason ihm, neben einer alten Frau mit zwei kleinen Kindern anzuhalten. Er hielt der Frau die Flasche hin und drängte sie ihr regelrecht auf. Die Frau streckte die Hand aus und nahm die Flasche entgegen, als hätte er ihr eine Diamant-Tiara überreicht. Mason gab Manganella das Zeichen, die Fahrt fortzusetzen. Manganella kicherte, als er Gas gab. Wolski schwieg.
Mason stellte den Außenrückspiegel so ein, dass er Wolski darin sehen konnte. Ihm gefiel, dass der Mann nicht gejammert oder sich beklagt hatte. »Sie kommen vom 508th?«
Wolski nickte.
»Haben Sie schon mal als Detective gearbeitet?«
»Drei Jahre Streife in Detroit, dann drei Jahre beim Sittendezernat, bevor ich zur Army gegangen bin. Meine Zeit bei der Polizei in Detroit war der Grund dafür, dass man mich zu Ihnen geschickt hat. Deswegen, und weil ich meinen Vorgesetzten in den Wahnsinn getrieben habe.«
»Nicht im Morddezernat?«
»Bei der Sitte geht’s nicht nur darum, Nutten und Pornodealer hochgehen zu lassen. Ich hab Beweise zusammengetragen, Verhöre durchgeführt.«
»Na, das ist besser als bei manchen Witzbolden, die sie in die CID gesteckt haben.«
Sie kamen in eine andere Straße voller ausgebrannter Mietshäuser mit verbarrikadierten Ladenfronten im Erdgeschoss.
Wolski beugte sich nach vorn. »Also, was Ihre Bemerkung zu Maschinengewehren angeht … Sie müssen an Kampfhandlungen teilgenommen haben.«
»An genug.«
»Ich hab gedacht, ihr CID-Jungs hättet nicht zur kämpfenden Truppe gehört.«
»Ich war als Geheimagent für die G2 Section dem 422. Regiment zugewiesen.«
»Ich hab gehört, sie wären in der Ardennenoffensive ziemlich übel zugerichtet worden.«
»Überrannt und umzingelt. Ich war draußen auf Patrouille und bin hinter den feindlichen Linien gelandet. Sie haben mich ganz schön in die Mangel genommen.«
»Waren Sie Kriegsgefangener?«
Mason vermied es normalerweise, mit Leuten ohne Fronterfahrung über dieses Thema zu reden, aber Wolski wuchs ihm allmählich ans Herz. »Zwei Wochen in Buchenwald, dann verlegt in ein paar Kriegsgefangenen-Stalags.«
Wolski lehnte sich in seinem Sitz zurück. »Buchenwald. Verdammt. Kein Wunder …«
»Kein Wunder was?«, fragte Mason und drehte sich zu Wolski um.
»Nichts für ungut, Sir. Sie hatten das Recht, mehr wollte ich nicht sagen.«
Corporal Manganella hielt mit dem Jeep vor einer viereckigen, siebenstöckigen Fabrik. Das Gebäude stand noch, aber es war eindeutig völlig ausgebrannt, seine Ziegel von der starken Hitze und dem Rauch schwarz verkohlt. Dicke Holzbalken, mit denen man die Außenwand diagonal abgestützt hatte, verhinderten, dass sie einstürzte. Eine Handvoll Jeeps und armeegrüne Limousinen waren vor dem Gebäude geparkt. Vier MPs hielten eine kleine Menge neugieriger Zivilisten zurück.
Mason instruierte Corporal Manganella, bei dem Jeep zu bleiben. Als er und Wolski sich ihren Weg durch die Menge der deutschen Schaulustigen bahnten, sagte Mason: »Ich bitte Sie nur darum, nicht über Ihre eigenen Füße zu stolpern. Schauen Sie hin, hören Sie zu und tun Sie, was ich sage.«
Wolski salutierte übertrieben zackig. »Jawohl, Sir.«
Am Eingang der Fabrik zeigte Mason einem der MPs sein CID-Abzeichen. Der Wachposten sagte ihnen, sie sollten gerade durch und über den Innenhof zu den Laderampen gehen. Ein Sergeant würde ihnen zeigen, wie es von dort weiterging.
Mason und Wolski kamen zu einer überdachten Zufahrt, die gerade breit genug für kleine Lkws war. Auf der linken Seite kamen sie an einem ehemaligen Versandbüro vorbei, dessen Fenster mit gekreuzten Holzlatten vernagelt waren. Irgendwo in dem dunklen Raum schrie ein Baby. Durch die Lücken konnte Mason zerknüllte Decken und einen winzigen Feldkocher sehen, wie ihn die deutschen Soldaten mit sich führten. Inzwischen lebten Menschen, die keine andere Bleibe hatten, in diesen Ruinen. Bei Schätzungen, nach denen bis zu siebzig Prozent der Häuser Münchens beschädigt oder zerstört waren, war praktisch jede Bruchbude, die Schutz gegen die Kälte und den Regen und den Schnee bot, von Obdachlosen besetzt worden.
Zehn Meter Zufahrt führten zu einem Innenhof. Hohe Haufen Schutt türmten sich überall. Zelte und Unterstände verteilten sich über den Boden; sie waren im Augenblick alle leer, weil man die »Bewohner« während der Untersuchung nach draußen gescheucht hatte.
»Was für ein Elend«, sagte Wolski.
Mason grunzte zustimmend. Er hatte in den letzten zwei Jahren so viel Elend gesehen, dass Worte nicht mehr zu genügen schienen.
Sie überquerten den Innenhof, auf dessen anderer Seite ein MP Sergeant unter einer Laderampe wartete.
»Hier entlang, Sir«, sagte der Sergeant.
Mason und Wolski kletterten hinter ihm einen Trümmerhaufen hoch und in die Versandabteilung hinein, wo Rollwagen und Transportbänder ineinander verkeilt waren oder zerdrückt unter dem Schutt des eingestürzten oberen Stockwerks lagen. Mit seiner Taschenlampe den Weg ausleuchtend, führte der Sergeant sie durch das dunkle Labyrinth. Das Geräusch fallender Tropfen geschmolzenen Schnees hallte in dem offenen Raum wider. Schneeflocken fanden irgendwie eine Öffnung, die das schwindende Licht des Nachmittags nicht fand.
»Was haben wir vorliegen, Sergeant?«, fragte Mason.
»Zwei Frauen haben die Leiche gefunden. Sie waren auf der Suche nach Feuerholz und kamen schreiend herausgerannt. Hätten fast eine Panik unter dem Rest der Leute ausgelöst, die dieses Gebäude als Zuflucht nutzen.«
»Die meisten dieser Leute hier haben viele Leichen gesehen«, sagte Mason. »Was hat sie in Panik versetzt?«
»Sie müssen sich selbst ein Bild davon machen, Sir. Ich habe eine Menge Leichen gesehen, aber so eine noch nicht.«
Sie kamen in einen kurzen Gang und dann an eine Treppe. Metallstufen führten nach oben. Schneeflocken und Wasserbäche fielen aus einem großen Loch im Dach, sieben Stockwerke über ihnen, nach unten. Wolski zögerte an der untersten Stufe. Der Sergeant sagte: »Sie trägt einen großen Mann wie Sie. Wir haben nur zwei Stockwerke zu gehen.«
Die geschwächten Treppenstufen ächzten unter ihren Schritten. Auch zehn Monate nach dem Bombenangriff, der diesen Stadtteil verwüstet hatte, stank das Gebäude noch beißend nach abgebrannten Sprengkörpern, nach Rauch und mittlerweile nach Verwesung.
Auf dem zweiten Stock kamen sie zu einem weiteren offenen Raum. Verbrannte Armeedecken, Uniformen und Segeltuchzelte waren zu langen geschwärzten Reihen verschmolzen. Der Gestank wurde penetrant wie der von verbranntem Haar.
»Sie sollten dafür sorgen, dass ein Team mit einem Generator und Arbeitslampen herkommt«, sagte Mason. »Wir werden uns eine Weile hier aufhalten.«
»Schon angefordert, Sir«, sagte der Sergeant. »Sollten jeden Augenblick hier sein. Der Fotograf ist gerade gekommen, und die Männer von der Spurensicherung sind auf dem Weg.«
Am hinteren Ende des Raums sah Mason Strahlen von Taschenlampen hinter einer Reihe am Boden liegender Türen. Er beschleunigte seine Schritte, während Wolski und der Sergeant ihm folgten. Mason stieß versehentlich mit dem Fuß gegen ein Stück Metall, das über den Boden rutschte. Das Scheppern veranlasste jemanden aus dem hinteren Raum nachzusehen. Mason wurde von dem blendenden Strahl einer Taschenlampe im Gesicht getroffen.
»Wer ist da?«, fragte der Mann, der die Lampe in der Hand hielt, mit einem Unterton von Furcht in der Stimme.
Mason schirmte die Augen vor dem Licht ab, konnte den Mann allerdings nur als Schattenriss sehen. »Leuchten Sie gefälligst woandershin.«
Der Strahl schwenkte beiseite, und Mason erkannte die eiförmige Gestalt von Havers, einem anderen CID-Ermittler. Mason hatte am ersten Tag nicht mehr als eine Stunde gebraucht, um aus Havers schlau zu werden: ein halbwegs kompetenter Untersuchungsbeamter, der so wenig wie möglich tat, um eine Aufgabe zu bewältigen, und so viel wie möglich, um die Stiefel seiner Vorgesetzten zu lecken.
»Als ob wir nicht schon genug Leute hier rumlaufen hätten«, sagte Havers, der die Tür zur Hälfte blockierte und Mason böse anfunkelte. »Das hier ist meine Untersuchung. Ich war als Erster am Tatort.«
»Reden Sie mit dem Colonel, falls Sie ein Problem haben«, erwiderte Mason, als er sich an Havers vorbeischob.
Weil der Raum außerhalb des Lichtkreises der Taschenlampen fast pechschwarz war, konnten nur die Echos der schlurfenden Füße und des leisen Gemurmels eine Ahnung von seiner ungeheuren Größe vermitteln. Mason knipste seine Taschenlampe an, Wolski ebenfalls. Eine Wand von Männern stand vor ihnen, sechs MPs, die Mason nicht sofort erkannte, und Havers’ CID-Partner, der immer einen gequälten Eindruck machte, weil er mit Havers in Verbindung gebracht wurde. Sie alle machten grimmige Gesichter, und ein paar sahen so aus, als wollten sie jeden Moment in eine dunkle Ecke rennen, um den Inhalt ihres Magens von sich zu geben.
»Möchte mich jemand ins Bild setzen?«, fragte Mason.
Havers trat in die Mitte der Gruppe, als wolle er Anspruch auf sein Territorium erheben. In dem grellen Licht der Taschenlampen konnte Mason an Havers’ angespanntem, bleichem Gesicht erkennen, dass er zutiefst erschüttert war von dem, was in der Dunkelheit hinter ihm wartete. Ohne hinzuschauen, zeigte er in das dunkle Zentrum des Raums. »Da oben an dem Pfeiler …«
Keiner der anderen schien darauf erpicht zu sein, wieder hinzuschauen. Mason und Wolski gingen nach vorn und richteten ihre Taschenlampen auf die Mitte des riesigen Raums. Ein großer Teil der oberen beiden Stockwerke über ihnen war eingestürzt, hatte ihren Boden mit sich genommen und war zehn Meter weiter unten aufgeschlagen. Mason und Wolski standen jetzt am Rand einer Spalte von knapp sieben Meter Tiefe. Mit den Strahlen ihrer Taschenlampen fanden sie den dicken Stützpfeiler aus Beton und Stahl. Ihre Blicke folgten den Strahlen an dem Pfeiler nach oben und verharrten dort.
Wolski schnappte nach Luft und machte einen schnellen Schritt zurück. »Sagt mir nicht, dass das mal ein Mensch war.«
ZWEI
Mason erinnerte sich daran einzuatmen, nachdem sein Magen seinen Veitstanz beendet hatte. Auf halber Höhe von ihrem Niveau aus gesehen hing an dem Pfeiler festgebunden eine Leiche ohne Arme und ohne Beine. Nur der Kopf war an dem ausgeweideten Rumpf befestigt geblieben, der in der Mitte aufgeschnitten worden war. Ein Y-förmiger Schnitt begann an beiden Schultern und traf sich am Brustbein, von dem ein einzelner Schlitz nach unten ging und unmittelbar über der Leiste des Mannes endete. Seine Rippen waren zurückgezogen worden und entblößten seine Organe, sein Gesicht war in Qual und Entsetzen erstarrt. In seinen zwei Jahren in Kampfgebieten hatte Mason zerrissene und verstümmelte Leichen gesehen; er hatte die Gräueltaten in Buchenwald erlebt. Aber dieser Mann hier war feierlich geschlachtet worden.
Ein Blitzlicht flammte auf und erschreckte Mason. Weitere Blitzlichter gingen los und ließen den ausgebluteten Torso völlig weiß vor dem schwarzen Raum erscheinen.
»Allmächtiger«, sagte Wolski.
Mason stieß einen Seufzer aus, um seine Entrüstung abklingen zu lassen. »Willkommen bei der Mordermittlung.« Er schwenkte mit dem Strahl seiner Taschenlampe um den Rumpf herum. »Wer immer diesen Menschen getötet hat, hat eine Art Netz um den Körper gelegt, damit die Organe nicht herausfallen können.« Er schaute Wolski an, der blass geworden war. »Sie haben doch bemerkt, was fehlt, oder?« Mason stellte Wolski die Frage, weil er ihm dabei helfen wollte, sich zu konzentrieren und von diesem grauenhaften Anblick Abstand zu gewinnen.
»Sie meinen, von seinen Armen und Beinen abgesehen?«
Mason richtete seinen Lichtstrahl auf die Stelle. »Ihm fehlt der Darm.« Dann redete er, ohne die Gruppe anzuschauen, laut genug, damit der Rest ihn hören konnte. »Ich hoffe, dieser Bereich ist nach Hinweisen untersucht worden, bevor irgendjemand von Ihnen darauf rumgestapft ist.«
Havers stürmte auf Mason zu, während er vermied, die Leiche anzuschauen. »Hören Sie, Collins, ich weiß, was ich tue. Bis jetzt haben wir nichts außer den Fußabdrücken der beiden Frauen gefunden, die den Toten entdeckt haben. Was wir noch nicht rausgekriegt haben, ist, wie irgendjemand diese Leiche da oben hingekriegt hat.«
»Die richtige Frage lautet: Warum?«, sagte Mason. Er suchte den Schutt um den Fuß des Pfeilers herum mit seinem Taschenlampenstrahl ab, bevor er sich dem Bereich über dem Rumpf zuwandte. »Gehen Sie zum dritten Stock hoch und schauen Sie sich um«, sagte Mason zu Wolski. Er wandte sich an die MPs. »Ich möchte, dass vier von euch nach unten gehen. Fangt an, die Leute zu befragen, die in diesem Gebäude und in der Umgebung wohnen. Die anderen beiden von euch gehen nach unten an den Fuß des Pfeilers und suchen nach Anhaltspunkten. Und verwischt keinen von den Fußabdrücken.«
Havers rückte Mason auf die Pelle. »Wir haben alle davon gehört, dass Sie Ihre Polizeikollegen in Chicago verpfiffen haben. Niemand will mit Ihnen arbeiten. Sie können diesen Männern keine Befehle erteilen. Das hier ist mein Fall.«
»Warum haben Sie dann nicht oben und unten gesucht? Oder sich eine Methode überlegt, wie man diese Leiche runterbekommt?«
»Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Das Opfer ist wahrscheinlich ein Kraut, der jemanden auf dem Schwarzmarkt übers Ohr gehauen hat, und das hier ist ein Rachemord. Tote Krauts gibt’s an jeder Straßenecke. Sie interessieren mich nicht, und das hier wird den Colonel nicht interessieren. Also lassen Sie meinen Fall in Ruhe.«
»Woher wollen Sie das wissen? Das Opfer ist nackt. Nach allem, was wir wissen, könnte er ein Amerikaner oder ein Brite sein.«
Havers konnte als Antwort nur die Wangen aufblasen.
»Das sollte keine Rolle spielen. Niemand sollte derartige Grausamkeit ertragen müssen.« Mason holte tief Luft und versuchte einen versöhnlicheren Ton anzuschlagen. »Hören Sie, Frank, Colonel Walton hat mir gesagt, ich solle hierherkommen und den Fall übernehmen, und ich könnte Ihre Sachkenntnis brauchen. Wie wäre es, wenn Sie Mr. Wolski dabei helfen, auf dem nächsten Stock nachzusehen?«
»Lecken Sie mich am Arsch«, erwiderte Havers und stürmte davon.
Jemand näherte sich Mason von hinten und murmelte: »Du lieber Himmel.«
Als Mason sich umdrehte, erkannte er Major John Treborn, den leitenden Gerichtsmediziner. Mason hatte ihn kurz kennengelernt, stellte sich aber noch einmal vor.
»Sie sind der Kriminalermittler, der vor etwa zwei Wochen zu uns gestoßen ist.«
Mason nickte.
»Na, dann willkommen im Zoo«, sagte Treborn und trat bis an den Rand des Spalts. Mason stellte sich neben ihn. Treborn ließ den Strahl seiner Taschenlampe über die Leiche wandern. »Eines kann ich Ihnen von hier aus verraten«, sagte Treborn. »Man hat ihn an einem anderen Ort getötet, verstümmelt und ausbluten lassen, bevor er hier aufgehängt wurde wie ein geschlachtetes Tier. Und sehen Sie sich die Schultergelenke und die Hüften an. Saubere, chirurgische Schnitte.« Er schaute Mason an. »Was glauben Sie? Ein Rachemord? Will da jemand anderen eine Botschaft schicken?«
»Wenn das ein Rachemord wäre, hätte man die Schlachtung nicht so akribisch durchgeführt und ihn dann wie eine Trophäe aufgehängt.«
»Ich kann mir vorstellen, dass dieser Fall wirklich hässlich wird«, sagte Treborn. »Vielleicht hätten Sie Havers ihn übernehmen lassen sollen.«
Wolski rief von der Kante des Lochs im dritten Stock herunter. »Sir, Sie müssen sich ansehen, was es hier oben gibt.«
Als Mason zu der Treppe ging, begegneten ihm vier Männer, die den Generator und die Lampen brachten. Er sagte ihnen, sie sollten die Lampen im nächsten Raum aufstellen und sich darum kümmern, die Leiche abzunehmen, ohne den Tatort zu kontaminieren. »Major Treborn wird die Aufsicht führen.«
Sobald Mason allein die Treppe hochging, projizierten sich Bilder der Leiche auf seine dunkle Umgebung, als wären sie seinen Augen eingebrannt. Im dritten Stock kam er in einen Raum voller verbrannter Nähmaschinen und Webstühle. Weiter vorn stand Wolski nahe am Rand des eingestürzten Bodens und hatte seine Taschenlampe auf etwas gerichtet, was Mason nicht sehen konnte.
»Sieht so aus, als hätte unser Freund uns eine Art verrückter Botschaft hinterlassen«, sagte Wolski. »Kein Blut auf dem Boden. Sieht so aus, als habe er sie wie den Rumpf ausbluten lassen.«
Der Anblick war einer der seltsamsten, die Mason je gesehen hatte. Auf dem Boden, anderthalb Meter von dem abgebrochenen Rand entfernt, lagen die Arme und Beine des Opfers. Der Mörder hatte die Glieder in Form eines X arrangiert, sodass die Stümpfe sich in der Mitte trafen. Vier zusätzliche Latten bildeten ein primitives Holzkreuz dazwischen.
»Ich will verdammt sein, wenn ich weiß, was das bedeuten soll«, sagte Wolski.
»Ich glaube nicht, dass diese Botschaft für uns gedacht ist.«
Sie gingen beide bis zum Rand des eingestürzten Fußbodens und schauten zu dem Pfeiler hinab, dann zu dem Stockwerk über ihnen.
»Eine Sache steht fest«, sagte Wolski, »er hatte entweder Unterstützung, oder er ist ein verteufelt guter Ingenieur.«
»Entweder das oder vielleicht ein Bergsteiger.«
»Bergsteiger wissen, wie man Leichen aufhängt, nicht wahr?«
»Sie haben auch für alles eine klugscheißerische Bemerkung, nicht wahr?«
Wolski lächelte und zuckte mit den Achseln.
»Wie ist Ihr Deutsch?«, fragte Mason.
»Ich bin in Pommern geboren, aber die Familie ist nach Wisconsin ausgewandert, als ich fünf war …«
»Das ist wirklich faszinierend, aber ich will nur wissen, wie Ihr Deutsch ist.«
»Jetzt holt er den Sarkasmus heraus.«
Mason wollte etwas sagen, aber Wolski kam ihm zuvor: »Fließend. Mein Deutsch ist fließend. Tut mir leid, ich hab nur ’ne Menge Kritik einstecken müssen, weil ich es sprechen konnte.«
»Sagen Sie dem Fotografen und dem Doc, dass sie hier hochkommen sollen. Dann möchte ich, dass Sie den anderen bei der Befragung helfen. Die Leiche an dem Pfeiler da anzubringen und aus den Extremitäten eine Art Kunstwerk zu machen hat Zeit in Anspruch genommen und muss Lärm verursacht haben. Irgendjemand muss irgendwas gehört oder gesehen haben.«
Wolski ging, und Mason suchte nach irgendwelchen Anzeichen dafür, dass der Mörder da gewesen war. Eine breit angelegte Begehung des Areals ergab nichts, keine Schuhabdrücke, keine Beweise für irgendeine Aktivität, die erklären könnte, wie der Mörder es geschafft hatte, die Leiche aufzuhängen oder an der Säule zu befestigen. Alles schien so zu sein, wie es gewesen war, seitdem ein von Brandbomben verursachtes Feuer das Gebäude verwüstet hatte. Er suchte die bloßgelegte Kante des Betons um den eingestürzten Teil des Fußbodens im Licht seiner Taschenlampe langsam und sorgfältig ab. Nach einem Viertel des Wegs funkelte auf der gehämmerten Oberfläche etwas, das er für einen freigelegten Bewehrungsstab gehalten hatte, der in den Betonboden eingelassen war. Er ließ sich auf die Knie nieder und musterte es aus der Nähe. Es war ein Nagel. Durch einen Schwenk mit seiner Taschenlampe entdeckte er drei weitere. Der Mörder hatte Nägel in einem Abstand von neunzig Grad um das Loch herum in den Boden geschlagen, wie bei den vier Himmelsrichtungen an einem Kompass. Der Mann musste eine Art Flaschenzug-System entwickelt haben, um sich abzulassen und die Leiche anzubringen.
Warum diese ganze Mühe?
Mason bemerkte noch etwas: Aus seiner knienden Position konnte er das schwache Relief von Abdrücken in der Asche sehen. Sie stammten nicht von Schuhen oder nackten Füßen. Aber von was? Von Lappen? Wie geisterhafte Störungen folgten sie von einem Abdruck zum nächsten keiner bestimmten Form. Jetzt, wo er wusste, worauf er achten musste, erkannte er, dass sie sich um den Rand des Lochs herum fortsetzten. Er folgte ihnen, und auf der gegenüberliegenden Seite führte die Spur zu dem Loch und von ihm weg, erstreckte sich nach außen in die Dunkelheit. Und während er den Abdrücken nachging, bemerkte er noch eine Reihe von Markierungen. Der Mörder hatte irgendetwas Schweres gezogen, einen Sack etwa … oder einen verstümmelten Rumpf. Seltsam, dachte Mason, der Mörder war so sorgfältig darauf bedacht gewesen, seine Spuren zu verwischen, und jetzt dies? Vielleicht ist er ja doch nicht unfehlbar.
Mason kam an einer Reihe abgeteilter Büroräume vorbei, die mit verkohlten Nachbildungen ehemaliger Büromöbel gefüllt waren. Die Spur flocht sich um Schutthaufen und heruntergefallene Leuchtkörper herum, bevor sie am anderen Ende des Raums schließlich an einer Panzertür endete. Auf dem Boden waren Asche und vereinzelte Bruchstücke in einer Bogenform weggewischt worden, ein Beweis dafür, dass die Tür vor Kurzem geöffnet worden war. Der Ruß auf der Türklinke war ebenfalls abgerieben worden. Er griff nach einem Taschentuch in seiner Gesäßtasche, und während er das tat, glitt der Lichtkreis der Taschenlampe weg von der Tür. In dem Moment bemerkte er, dass ein sehr schwacher Lichtschein aus dem Spalt unter der Tür hervorschimmerte.
Er erstarrte und lauschte. Er zog seine M1911 Selbstladepistole Kaliber .45 heraus und drückte langsam auf die Türklinke, um so wenig Geräusch wie möglich zu machen.
Die verrostete Klinke kreischte. Mason drückte sie ganz durch und riss die Tür auf.
Obwohl die Abenddämmerung längst eingesetzt hatte, war die Helligkeit dennoch ein Schock für seine Augen. Im gleichen Moment hörte er ein Knacken und ein metallisches Klirren. Ein schwarzer Schatten flog auf sein Gesicht zu. Er tauchte zur Seite ab. Irgendetwas schnitt durch den Ärmel seines Mantels, während er fiel. Er stützte sich schnell auf einem Ellbogen ab und zielte mit der Pistole, bereit zum Schuss. Aber es war kein Mann, der mit dem Messer auf ihn losging. Der bewegte Gegenstand war ein dickes Metallrohr, an dessen Ende ein Skalpell festgebunden war. Es war so über dem Türrahmen angebracht worden, dass es nach unten schwang, wenn die Tür geöffnet wurde.
Mason stand auf, hielt das Rohr fest und trat durch die Tür auf die Feuertreppe. Metallstufen gingen hinunter zu einer Gasse. Er untersuchte die improvisierte Falle – ein technisch gewitztes Arrangement. Der Mörder hatte die Fußabdrücke absichtlich hinterlassen, um jemanden in die Falle zu locken. Sie war nicht dazu bestimmt, jemanden zu töten, es sei denn, die kurze Klinge drang durch Zufall in den Hals oder das Herz ein. Aller Wahrscheinlichkeit nach wollte er eine Botschaft vermitteln: Wer mir auch folgt, tut dies auf eigene Gefahr.
Und Mason war bereitwillig direkt hineingelaufen.
Er drehte sich um, weil er wieder hineingehen wollte, und blieb stehen. Auf der äußeren Seite der Tür verkündeten unbeholfene Buchstaben in roter Farbe eine Botschaft auf Deutsch:
DIEJENIGENDIEUNTERMIRGELITTENHABENWERDENHEILIGE
UNDSIEWERDENMICHVONDERHÖLLEEMPORHEBEN.
DREI
»Süße Träume, meine Damen«, sagte Corporal Manganella, als Mason und Wolski aus dem Jeep kletterten.
Mason grunzte, während Wolski ihm den Mittelfinger zeigte. Manganella ließ den Motor aufheulen und raste davon, womit er sie im Dunkeln stehen ließ. Ein großer Teil des städtischen Stromnetzes wartete immer noch darauf, wieder instand gesetzt zu werden, und sogar die vom Militär requirierten Gebäude wurden nur unregelmäßig mit Strom versorgt. Mason schaute die Straße entlang. Verschwommene Häuserskelette waren im Mondlicht sichtbar. Er dachte an den Mörder, der irgendwo dort draußen in dieser Ruinenstadt Jagd auf Opfer machte, eine Stadt im Chaos mit Legionen von leichten Opfern.
Die Außenstelle der 13. CID-Abteilung in der Sophienstraße 6 war einmal das bayerische Oberfinanzpräsidium des Nazi-Regimes gewesen. Der monumentale Stil des Gebäudes war durch den geschwärzten Granit von den wütenden Bränden sogar noch trostloser geworden. Die erste Welle der US-Streitkräfte, welche die Stadt besetzten, hatte das allgegenwärtige Hakenkreuz der Nazis abgeschlagen, hatte aber den Adler des Dritten Reichs aus irgendeinem Grund verschont und stattdessen Graffiti in den rauchgeschwärzten Stein gekratzt.
Mason und Wolski gingen durch die Säulenvorhalle mit den vielen Bogen und näherten sich dem Eingang. Zwei Wachposten auf beiden Seiten salutierten.
»Die armen Mistkerle frieren sich den Arsch ab«, sagte Wolski.
»Wenigstens schießt niemand auf sie.«
»Wenn ich das jemand anderen sagen hörte, würde ich meinen, er konzentriert sich auf die positive Seite. Aber bei Ihnen sehe ich ein Problem, was das Erbarmen mit Ihren Mitmenschen angeht.«
»Von meinem Erbarmen wird ihnen kein bisschen wärmer.«
Als sie das Haus betraten, fühlte Mason sich nach so vielen Stunden in der Dunkelheit und der Kälte der zerstörten Fabrik erleichtert, von Licht und Wärme umgeben zu sein. Eine Reihe von Schreibtischen und dahinter ein Trakt von Büros füllten die offene Eingangshalle. Ein paar Schreibmaschinen klapperten; ein Telefon klingelte. Abgesehen davon, dass jeder Armeegrün statt Blau trug, erinnerte Mason der Ort an ein großes Polizeirevier und erfüllte ihn immer mit Nostalgie.
Als sie auf die Treppe auf der anderen Seite der Eingangshalle zugingen, schaute der leitende Wach-Sergeant von seinen Papieren hoch. »Mr. Collins. Colonel Walton möchte Sie sofort sprechen.«
Als stellvertretender Kommandeur der Militärpolizei von München hätte Colonel Walton einen Chief Warrant Officer der CID zur Überwachung der Abteilung abstellen können, aber Walton hatte die Zügel der ganzen Show gerne fest in der Hand, und das schloss auch den Trupp der CID-Ermittler ein. Manche würden sagen, er wäre ein Typ von der zupackenden Sorte, während andere ihn für eine überhebliche, machthungrige Nervensäge hielten.
»Es ist fast neun«, sagte Mason zu Wolski, während sie die Treppe hochgingen. »Was macht Walton hier so spät noch?«
»Kann nur Ärger bedeuten.«
Das nächste Stockwerk bot das gleiche Arrangement von Schreibtischen und Büros, die gleichen verblassten beigefarbenen Wände und die gleichen schwarz-weißen Bodenfliesen. Die meisten Ermittler waren auf diesem Stockwerk, wo ein paar Gefreite und Corporals sich an einer Ansammlung von Schreibtischen im vorderen Teil des Raums um Verwaltungsarbeiten kümmerten. Wolski ging zu einem Bereich in der Mitte des Raums, der den unteren Chargen von Ermittlern zugewiesen war. Mason ging weiter zum Vorzimmer des Colonels, wo ein Staff Sergeant vor sich hin tippte, der nur lange genug aufschaute, um Mason durchzuwinken.
Auf einer Bank gegenüber vom Schreibtisch des Sergeant saß ein älterer, schwarz gekleideter Mann mit einem grau melierten Kinnbart und einer Lesebrille auf der Nasenspitze. Er hatte ein hageres Gesicht mit tief eingegrabenen Falten und durchdringenden haselnussbraunen Augen. Mason hatte keine Zeit, sich zu fragen, wer der sonderbare Mann sein mochte. Er hatte größere Sorgen, von denen eine hinter der nächsten Tür wartete. Er klopfte.
Eine kräftige Stimme dröhnte durch die Tür: »Herein.«
Was einmal das Büro eines hohen Nazi-Finanzbeamten gewesen war, diente inzwischen dem Vergnügen Colonel Waltons. In dem großen Raum erschien der Schreibtisch, der vorn in der Mitte stand, winzig. An der Wand hinter dem Colonel hingen mehrere Landkarten: die Stadt München, das in seine vier Besatzungszonen – die amerikanische, britische, französische und russische – aufgeteilte Nachkriegsdeutschland und die amerikanische Zone, zu der Bayern gehörte. Links vom Schreibtisch standen ein dick gepolstertes Sofa und Ledersessel mit hohen Rückenlehnen. Nicht zum ersten Mal tauchten vor Masons innerem Auge Bilder von einem Nazi-Beamten auf, der hinter demselben Schreibtisch sitzt und die Finanzierung mit plant, die für die Vernichtung der einen oder anderen ethnischen Gruppierung erforderlich ist. Havers stand mit der Mütze in der Hand auf der einen Seite des Schreibtischs und schaffte es irgendwie, Mason einen hasserfüllten Blick zuzuwerfen, während das anbiedernde Lächeln für den Colonel intakt blieb. Zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort wäre Havers in einem Nazireich ausgezeichnet zurechtgekommen.
Mason blieb vor dem Schreibtisch stehen und salutierte. »Sie wollten mich sehen, Sir?«
»Ich wollte Ihren verdammten Bericht. Havers ist seit mehr als einer Stunde hier.«
»Ja, Sir. Ich habe gewartet, bis der Gerichtsmediziner Major Treborn mir seine ersten Untersuchungsergebnisse geben und die Leiche … die Leichenteile mit ins Labor nehmen konnte.«
»Das ist gerade erst passiert?«, fragte der Colonel, der einen raschen Blick in Havers’ Richtung warf. »Das Opfer – Alliierter oder Deutscher?«
»Das ist noch nicht entschieden. Wir haben keine Kleidungsstücke oder Dokumente gefunden, aus denen das eine oder andere hervorgeht. Sein Kopf und sein Körper sind rasiert worden. Keine physischen Kennzeichen, die der Rede wert wären, abgesehen davon, dass er nicht beschnitten war. Ich will Mr. Wolski bei den verschiedenen Divisions- und Bataillonshauptquartieren anrufen lassen, um zu überprüfen, ob irgendwelche Soldaten vermisst werden.«
»Havers glaubt, das Opfer ist deutsch.«
»Bis jetzt gibt es keine Anhaltspunkte, die das eine oder andere bestätigen. Mr. Havers hat diesen voreiligen Schluss auf eigene Faust gezogen.«
Havers mischte sich ein. »Ich habe meine Ermittler bereits alle Berichte über vermisste Armee- oder amerikanische Zivilangehörige überprüfen lassen, und keiner von ihnen entspricht dem Opfer.«
»Mr. Havers sollte sich darüber im Klaren sein, dass es zwei Tage dauert, bis jemand als vermisst gemeldet wird. Dann zwei Tage, bis die Berichte die Runde machen. Außerdem werden dabei keine Personen in Betracht gezogen, die im Urlaub sind oder auf Dienstreise oder andere erweiterte Pflichten geschickt wurden.« Er wandte sich direkt an Havers. »Und wenn Sie auf Major Treborns Bericht gewartet hätten, wüssten Sie, dass der Zeitpunkt des Todes seiner Ansicht nach nicht mehr als anderthalb Tage zurückliegt, höchstens.«
»Sie arroganter Hurensohn«, sagte Havers.
Der Colonel schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Das reicht.« Er zielte mit dem Zeigefinger auf Mason. »Ich werde keine respektlosen Bemerkungen gegenüber Ihren Ermittlerkollegen dulden. Wir arbeiten zusammen oder gar nicht. Und jetzt machen Sie mit Ihrem Bericht weiter.«
»Ich nehme an, Mr. Havers hat Sie über den Zustand der Leiche unterrichtet.«
»Ja, aber ich will Ihre Version hören.«
Mason berichtete dem Colonel über den an den Pfeiler befestigten Rumpf, das Netz um die Organe und die Zurschaustellung der Glieder auf dem Stockwerk darüber. Colonel Walton ließ keine Reaktion erkennen, obwohl Masons Magen sich zusammenzog, während er die Details wiederholte. »Wir konnten keine frischen Fingerabdrücke finden. Alle Abdrücke, die man von Fingern oder Händen entdeckt hat, weisen darauf hin, dass der Mörder vermutlich Handschuhe ohne Fasern anhatte. Fußabdrücke lassen erkennen, dass der Mörder auch eine Art Tuch über seinen Schuhen oder Stiefeln getragen hat. Wir schätzen seine Schuhgröße auf zehn bis elf. Ich würde gern morgen zum Tatort zurückgehen, aber ich bezweifle, dass wir mehr finden werden. Dieser Kerl war sorgfältig und hinterließ nur Spuren, die er uns finden lassen wollte.«
Colonel Walton nickte.
»Die Befragung hat nichts erbracht. Niemand behauptet, irgendetwas gesehen oder gehört zu haben. Wir werden die Befragungen morgen in einem weiteren Umkreis fortsetzen.«
»Man hat mir gesagt, dass Sie knapp dem Anschlag einer von ihm gebastelten Falle entgangen sind«, sagte Colonel Walton.
Mason nickte und steckte einen Finger durch den Schlitz im linken Ärmel seines Mantels, bevor er seinen Notizblock herauszog und die Botschaft vorlas, die der Mörder auf der Tür zur Feuertreppe hinterlassen hatte.
»Also nicht das Werk rivalisierender Banden?«, fragte Walton.
Mason schüttelte den Kopf. »Das hier ist ein psychopathischer Mörder. Ich glaube, das ist nicht sein erstes Opfer, und es wird nicht sein letztes bleiben.«
Colonel Waltons diensthabender Sergeant kam mit einem großen braunen Briefumschlag herein. »Das hier wurde gerade vom Fotolabor abgegeben, Sir, für Mr. Collins.« Er gab Mason den Umschlag und ging wieder hinaus.
»Die Fotos vom Tatort«, sagte Mason.
»Nicht jetzt. Ich bin zu einem späten Abendessen verabredet und will mir nicht den Appetit verderben.«
Ohne Zweifel wartete auch ein schönes junges Fräulein auf Colonel Walton. Mason hatte von der Ansammlung junger hübscher Frauen gehört, über die der Colonel zu verfügen schien. Seit die US-Streitkräfte in Deutschland einmarschiert waren, existierte eine Verordnung, wonach es allen alliierten Militärangehörigen verboten war, mit der feindlichen Zivilbevölkerung zu fraternisieren – »fratting«, nannten es die Männer. Es dauerte nicht lange, bis das Fraternisierungsverbot ignoriert wurde, besonders wenn junge Damen betroffen waren. Bis Ende Juli hatte die Army die unpopuläre Verordnung mehr oder weniger aufgegeben. Für zwei Päckchen Zigaretten bekam man einen Abend. Und wenn es eine Sache gab, wovon die Army jede Menge hatte, waren es Zigaretten.
Unter Masons wissendem Blick stieg eine leichte Röte in die Wangen des Colonels. »Das wäre dann alles, meine Herren.«
Collins und Havers machten sich auf den Weg zur Tür, als der Colonel sagte: »Mr. Collins, nur noch ein paar Fragen.« Mason drehte sich um, was auch Havers tat, aber der Colonel entließ ihn mit einer Handbewegung. »Sie können gehen.«
Colonel Walton lehnte sich in seinem Sessel zurück und musterte Mason. »Havers ist ein guter Ermittler, er hat nur wenig Erfahrung mit Mordfällen. Das haben nicht viele meiner Ermittler. Deshalb habe ich Sie dorthin geschickt, damit Sie sich diesen Mord anschauen. Deshalb habe ich Ihren Versetzungsantrag akzeptiert – mit leichtem Widerstreben, möchte ich hinzufügen.« Er zog eine Akte von seinem Schreibtisch und schlug sie auf. »Sie sind hier seit, was? Zwölf Tagen?«
Mason antwortete nur mit einem leichten Nicken; er wusste, was jetzt kam.
»Wir hätten dieses Gespräch an Ihrem ersten Tag führen sollen«, sagte Colonel Walton zu der aufgeschlagenen Akte. »Ich weiß darüber Bescheid, dass Sie vom Chicago Police Department wegen Bestechung und Erpressung entlassen wurden …«
»Colonel, das waren erfundene Anklage…«
Der Colonel riss den Kopf hoch und funkelte Mason böse an. »Sie werden mich ausreden lassen. Ich habe Ihre Einlassungen zu der Affäre vorliegen. Ich bin mir der Auseinandersetzungen bewusst, die Sie umgeben.« Er legte eine Pause ein und wandte seine Aufmerksamkeit wieder der offenen Akte zu. »Ich bringe das nur zur Sprache, weil es zwischen Ihnen und anderen Geheimagenten zu Spannungen gekommen ist, während Sie bei der G2 Section gearbeitet haben. Ich brauche das nicht, und ich erwarte von Ihnen, dass Sie die Situation entschärfen. Sie haben beispielhafte Noten für Ihre Ermittlungsarbeit bekommen, aber es wurde bemängelt, dass Sie zu unabhängig seien, alles andere als herausragenden Respekt vor Autoritätspersonen hätten und so weiter, und so weiter. Diese Art von Ansichten möchte ich von Ihnen in dieser Einheit nicht erleben, sonst werde ich dafür sorgen, dass Sie an Ihren Schreibtisch in Frankfurt zurückkehren. Sie glauben, wenn Sie zur CID gehen, wäre das ein neuer Anfang für Sie. Nun ja, ich sage, es ist das Ende der Fahnenstange. Sie sind zu Hause abgelehnt worden. Kein städtisches Police Department wird Sie einstellen. Wenn Sie es hier vermasseln, war’s das. Verstanden?«
Mason stimmte zu.
Colonel Walton erhob sich von seinem Sessel und ging zu einem Aktenschrank. Der Colonel, ein gut aussehender Mann mit einem kantigen Gesicht, war einen Kopf größer als Mason, und Mason war ein Meter dreiundachtzig. Er öffnete eine Schublade und holte eine Flasche Cognac und zwei Gläser heraus. Mason hatte nichts gegen einen Drink – vielleicht zwei oder drei, nach dem, was er in der Fabrik mitbekommen hatte. Aber diese Geste war weder ein Friedensangebot noch ein Toast unter Waffenkameraden, sondern eher ein Mittel zur Beruhigung für das, was gleich kam.
Der Colonel bot Mason eines der Gläser an. »Ein im Jahr 1870 destillierter VSOP. In den Staaten müssten Sie das Sechsfache Ihres Monatsgehalts dafür ausgeben. Hier habe ich ihn von einer wohlhabenden Hausfrau für einen geräucherten Schinken und fünf Pfund Kaffee bekommen.« Er hielt sein Glas hoch. »Cheers.«
Sie nahmen beide einen Schluck, und dann fragte Colonel Walton beiläufig: »Was macht der Zugüberfall für Fortschritte?«
»Sir, Sie haben meinen letzten Bericht, deshalb bin ich mir nicht sicher, was Sie mit dieser Frage beabsichtigen.« Obwohl er eine ziemlich gute Vorstellung davon hatte.
»Ich muss damit nichts beabsichtigen. Beantworten Sie die Frage.«
»Nachdem die Bande eine Zugladung Armeenachschub und Waren für PX-Läden erbeutet hatte, konnte ich sie nach Augsburg verfolgen. Ich habe das 385. Zugsicherheits-Bataillon der MP alarmiert. Sie stellten der Bande am Augsburger Bahnhof eine Falle, aber sie schossen sich ihren Weg frei – Maschinenpistolen, Granaten, das volle Programm – und entkamen.«
»Das stimmt wohl. Und diese Bande von rund zwanzig US-Deserteuren und weiteren ungefähr vierzig DPs zieht dort draußen plündernd durch die Lande.«
DP stand für »Displaced Person«. Als das Deutsche Reich kapitulierte, gab es in Deutschland mehr als zehn Millionen Displaced Persons: ehemalige Kriegsgefangene, ehemalige Konzentrationslager-Häftlinge und Menschen aus jedem von den Nazis besetzten Land, die man als Zwangsarbeiter hereingeholt hatte. Jahrelang waren sie gezwungen worden, in den Fabriken, auf den Bauernhöfen oder als Hausangestellte zu arbeiten. Der größte Teil der zehn Millionen, die inzwischen aus ihrer Gefangenschaft befreit waren, hatten bereits nach Hause gefunden, aber Hunderttausende blieben in Deutschland, und einige von ihnen hatten beschlossen, das Chaos eines vom Krieg zerrissenen Landes auszunutzen, und Banden gebildet, die durch die ländlichen Gegenden streiften, um zu vergewaltigen, zu stehlen und zu morden.
Colonel Walton fuhr fort: »Zwei MPs und zwei Zivilisten wurden schwer verwundet. Der Fall verdient ernsthafte Aufmerksamkeit, finden Sie nicht?«
»Wegen ihrer großflächigen Aktivität betrifft die Untersuchung inzwischen die gesamte Besatzungszone. Ich spreche mich mit drei MP-Bataillonen und ihren CID-Abteilungen in Frankfurt, Stuttgart und Mannheim ab. Ich bin für die Münchener Seite zuständig, aber im Moment scheint die Bande sich nach Westen in andere Befehlsbereiche begeben zu haben.«
Colonel Walton kippte seinen Cognac hinunter und bot Mason noch einen an, was der aber ablehnte. Er brauchte einen klaren Kopf für das, was kam.
Der Colonel zuckte mit den Achseln und goss sich selbst noch ein Glas ein. »Sie wissen, in welcher Situation wir uns befinden. Es gibt mehr als sechshunderttausend Soldaten und ziviles Verwaltungspersonal in der amerikanischen Zone, die meisten von ihnen krank vor Heimweh und verärgert, weil man sie nicht nach Hause schickt. Wenn Sie schlechte Moral, Langeweile und einen unbegrenzten Vorrat an Nahrungsmitteln, Alkohol und Zigaretten hinzunehmen, wofür Millionen von hungernden und verzweifelten Einheimischen ihnen alles geben würden – und ich meine alles –, dann haben Sie eine wirksame Mischung für Bestechung, Trunkenheit, Rauschmittel, Vergewaltigung und Mord. Es ist ein gottverdammtes Irrenhaus. Die MP-Bataillone und die CID-Abteilungen sind überlastet mit Fällen. Mehr als die Hälfte unserer Männer haben nie Polizeiarbeit geleistet. Und so schnell, wie wir sie ausbilden können, schickt die Army sie nach Hause.«
Colonel Walton stieß einen erschöpften Seufzer aus. Mason lauschte dem entfernten Klappern einer Schreibmaschine und dem Summen des elektrischen Heizgeräts, während er darauf wartete, dass der Colonel wieder auf Touren kam. Er musste nicht lange warten.
»Ich will mit alledem auf Folgendes hinaus: Ich kann es mir nicht leisten, dass Sie sich ohne Anhaltspunkte und ohne Beweise mit diesem Mordfall aufhalten, bei dem es sich – ich muss hier ganz offen mit Ihnen sein – aller Wahrscheinlichkeit nach darum handelt, dass ein Deutscher von einem anderen umgebracht wurde. Sie können diesen Fall allerdings in Ihrer Funktion als Dienstvorgesetzter weiter verfolgen. Stellen Sie fest, was der Rechtsmediziner nach seiner Autopsie sagt, aber dann will ich, dass Sie anderen Fällen Ihre volle Aufmerksamkeit widmen. Es mag vielleicht gefühllos klingen, aber es gibt zu viele andere Fälle, die für die Army von größerer Bedeutung sind als das, was zwischen Deutschen vor sich geht.«
»Wir wissen nicht, ob das Opfer Deutscher ist. Und selbst wenn er es wäre, was ist, wenn es sich bei dem Mörder um einen Amerikaner handelt? Und, Sir … Mörder wie der hier? Sie hören nicht unbedingt von selbst auf. Dieser Kerl bezog sich sogar auf ›diejenigen‹, die unter ihm leiden. Was ist mit seinem nächsten Opfer?«
Der Colonel schlug mit einer Hand auf den Schreibtisch. »Darf ich Sie daran erinnern, Mr. Collins, dass der eigentliche Job der CID – Ihr Job – darin besteht, Verbrechen zu untersuchen, die von amerikanischen Militärangehörigen oder gegen sie begangen werden.«
Einige Sekunden verstrichen, in denen keiner von beiden etwas sagte. Mason wusste, dass der Colonel ihn taxierte, sich an die Beschwerden darüber erinnerte, dass Mason die Grenzen seiner Befugnisse überschritt. Bemerkungen von Kollegen und Vorgesetzten würden zweifellos darauf hinweisen, dass Mason kein Teamplayer sei, was den Colonel überdenken lassen würde, ob es sich lohnte, solche Kämpfe zu ertragen, um von Masons Erfahrungen als Ermittler zu profitieren.
Schließlich sagte der Colonel: »Ich werde mit Ihnen einen Handel machen. Solange Sie andere Fälle zu meiner Zufriedenheit bearbeiten, einschließlich dieses Trauerspiels mit dem Zugüberfall, werde ich Sie und Wolski alle Spuren nachgehen lassen, die sich in diesem Fall ergeben. Ich garantiere Ihnen, dass Sie meine volle Unterstützung zur Verfolgung des Mörders haben werden, falls wir herausfinden, dass das Opfer oder der Mörder Amerikaner ist oder einer anderen Besatzungsmacht angehört.« Er stand von seinem Schreibtisch auf. »Bleiben Sie hier.«
Colonel Walton ging zur Tür, steckte den Kopf hinaus und sagte etwas, das Mason nicht verstehen konnte. Dann trat er zur Seite, um jemanden eintreten zu lassen. Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht, der draußen gewartet hatte, trat ein. Er schaute Mason mit ernstem Gesicht an. Der Colonel gab dem Mann ein Zeichen, dass er ihm folgen solle.
»Chief Warrant Officer Collins«, sagte der Colonel. »Dies ist Herr Oberinspektor Becker von der Münchner Kriminalpolizei.«
Mit einem leichten Frösteln begriff Mason, warum ihm der Mann vorhin ins Auge gefallen war: Er erinnerte ihn an seinen in Deutschland geborenen Großvater. Er trug den gleichen Kinnbart und hatte die gleichen eiskalten Augen. Sein Großvater war ein gottesfürchtiger Lutheraner und der Familientyrann gewesen. Als Kind war Mason vor ihm zurückgescheut und hatte ihn gemieden, wann immer er konnte. Als er älter wurde, verwandelte sich Angst in Verbitterung. Und jetzt sah er sich jemandem gegenüber, der eine lebendige, atmende Inkarnation des alten Bussards zu sein schien. Und obendrein ein deutscher Cop.
Becker machte eine leichte Verbeugung mit einem angedeuteten Lächeln. »Ich bin sehr glücklich, Ihre Bekanntschaft zu machen«, sagte er auf Englisch mit einem starken deutschen Akzent und einer tiefen Baritonstimme.
Mason trat einen Schritt vor, und sie schüttelten sich die Hand. Beckers Hand war warm und trocken, und für jemanden, der anscheinend Mitte sechzig war, hatte er einen überraschend festen Griff. Wie Masons Großvater hatte er ein grimmiges Gesicht aufgesetzt und hielt sich kerzengerade.
Colonel Walton trat zwischen sie, um zu verhindern, dass sie sich länger anstarrten. »Gentlemen, kommen Sie bitte mit«, sagte er und führte sie zurück zu dem Schreibtisch. »Setzen Sie sich.« Er nahm seinen Platz hinter dem Schreibtisch ein, während Mason und Becker sich in den Sesseln niederließen, die ihm gegenüberstanden. »Inspektor Becker ist unser wichtigster Verbindungsmann zur Münchener Polizei.«
In seiner Zeit als Assistent im Frankfurter Generalstab war Mason unmittelbar Zeuge der Hinterzimmerpolitik geworden, die eine Erklärung dafür bot, wie die Besatzungsmächte vom Standpunkt des reinen Arbeitspotenzials die Bevölkerung des gesamten Landes nur mit ihrer Militärpolizei überwachen konnten. Wenn sie sich auch nur Hoffnungen darauf machen wollten, die Ordnung aufrechtzuerhalten, mussten sie sich an die existierende einheimische Polizei wenden. Das Problem war, dass die deutsche Polizei von Heinrich Himmler der SS eingegliedert worden war und die meisten Polizisten Mitglieder der NSDAP hatten werden müssen. Die Alliierten demontierten jeden Tag mehr und mehr Teile des Systems der NS-Zeit, aber es wäre unpraktisch und sogar gefährlich gewesen, jeden deutschen Polizisten zu entlassen. Um zu gewährleisten, dass sie keine fanatischen Nazis oder brutale Mitglieder der Gestapo in verantwortlicher Position einstellten, überprüften die Geheimdienste kontinuierlich die Polizeiakten der NS-Zeit. Trotzdem hatte Mason den Verdacht, dass viele faule Äpfel wieder ihren Weg zurück in die Polizeireviere und Polizeipräsidien fanden.
Becker räusperte sich und sagte zu Mason: »Colonel Walton und Kriminalermittler Havers haben mich darüber informiert, was Sie in der Mannstein-Fabrik entdeckt haben. Ich kann Ihnen versichern, dass ich und meine Kollegen unser Möglichstes tun werden, um die Ermittlungen fortzusetzen.«
Mason wandte sich an den Colonel. »Übergeben Sie den Fall an die Kriminalpolizei?«
»Die Kriminalpolizei wird die Ermittlungen ausweiten. Sie wissen, dass wir uns immer mit ihnen absprechen, wenn Fälle deutsche Zivilisten betreffen. Wir kümmern uns um die eigentliche Untersuchung, übergeben aber deutsche Gesetzesübertreter den deutschen Behörden.«
»Niemand hat gesagt, der Täter wäre Deutscher.«
»Ich bin einer Meinung mit Ermittler Collins«, sagte Becker. »Scheint nicht Amerika besonders fruchtbar zu sein, was die Produktion von Psychotikern betrifft, die mehrere Morde begehen?«
»Niemand hat von mehreren Morden gesprochen«, sagte der Colonel.
»Und es scheint, Inspektor«, sagte Mason, der die Ausdrucksweise Beckers nachahmte, »als sei Deutschland besonders fruchtbar, was die Produktion von Massenmördern betrifft.«
Der Colonel versteifte sich in seinem Sessel, als stünde er kurz davor, einen Herzinfarkt zu bekommen. »Jetzt warten Sie einen Moment, Collins …«
Mason starrte Becker weiterhin wütend an, aber dieser neigte leicht den Kopf und lächelte. »Touché.«
Mason wandte sich an Colonel Walton. »Sir, wir können das ohne die Hilfe des Inspektors erledigen. Falls sich herausstellt, dass der Mörder ein Deutscher ist, übergeben wir ihn den deutschen Behörden.«
Becker ergriff das Wort, bevor der Colonel antworten konnte. »Ich und meine Kollegen sind in München geboren. Wir kennen die Stadt und ihre Bewohner besser als Sie. Und während Ihre erfahrenen Ermittler in die Vereinigten Staaten zurückkehren, gewinnen wir jeden Tag qualifizierte Beamte hinzu. Vielleicht sollten wir die Untersuchung leiten. Wir können sehr viel überzeugender sein, wenn es darum geht, Zeugen zu motivieren …«
»Yeah, wir haben alle davon gehört, wie überzeugend die Gestapo sein konnte«, sagte Mason.
Der Colonel sprang auf. »Das reicht! Ich habe Sie wegen Ihrer Einstellung gewarnt. Dieser Krieg ist ausgefochten worden. Wir werden ihn hier nicht noch einmal ausfechten. Ist das klar?«
Mason nickte.
»Das gilt auch für Sie, Inspektor.«
Becker verbeugte sich. »Meine Entschuldigung, Colonel. Meine Beamten und ich arbeiten gern mit Ihnen zusammen.«
»Schön. Und jetzt machen Sie beide, dass Sie hier rauskommen.«
VIER
Mason rauschte an der Ansammlung von Schreibtischen vorbei und betrat sein Büro. Er schaltete die Deckenlampe ein und klatschte die Aktenordner auf seinen Schreibtisch. Bevor er sich hinsetzen konnte, klopfte Becker an seiner offenen Tür.
Mason seufzte. »Yeah, kommen Sie rein.«
Wenige Deutsche riefen bei Mason in diesen Tagen Unbehagen hervor. Als sie auf ihn geschossen und ihn gefangen genommen hatten, schon, aber nicht nach ihrer verheerenden Niederlage. Aber Becker personifizierte nicht nur seinen verstorbenen tyrannischen Großvater, sondern weckte in ihm auch Erinnerungen an die brutalen deutschen Militärpolizisten und den Terror der Lagerwachen, und Mason nahm ihm das übel.