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Bernd, Student der Betriebswirtschaft, verliebt sich in die Romanistik-Studentin Martina. Über der jungen Liebe schwebt ein störender Schatten. Denn Martina ist davon überzeugt, schon mehrmals in anderen Körpern auf der Erde gelebt zu haben. Sie berichtet von Feindseligkeiten unter mongolischen Reitervölkern. Erzählt, wie sie im Mittelalter verbranntes Fleisch bei einer Hexenverbrennung roch. Und beschreibt, wie sie ums Überleben nach einem Indianerangriff im Wilden Westen kämpfte. Für Bernd sind Martinas Schilderungen nicht glaubwürdig. Er hält die Seelenwanderung für Unfug und will seine Geliebte davon überzeugen, dass es keine Reinkarnation gibt. Die Untersuchungen von Martinas sogenannte ehemalige Leben sind schwierig. Um seine Behauptung zu beweisen, lernt Bernd Hypnotisieren. Er führt Martina in Trance in die Zeit vor ihrer Geburt. Dabei tauchen unerwartete Fakten auf, die Martinas Leben bedrohen.
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Seitenzahl: 288
Veröffentlichungsjahr: 2019
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In der Pizzeria
Vor 22 Jahren
Fahrt zur Uni
Nach dem Seminar
Beobachtungen im Kaufhaus
Bei Martina
Ein neues Ziel
Im Steakhaus I
Beim Reitervolk
Im Steakhaus II
Rolf
Kritik
Die Braut des Teufels
Gespräch mit Rolf
Im Wilden Westen
Erinnerungen
Hypnose in Worms
Alles Täuschung?
Martina und Karin
Hypnose I
Heidelberg
Hypnose II
Morgengedanken
Martina unauffindbar
Bei Giuseppe
Analyse I
Bad Dürkheim
Freinsheim
Fahrt nach Dortmund
Onkel Paul
Das Geständnis
Hypnose III
Vor zwanzig Jahren
Paul Baum in Mannheim
Der Mord
Analyse II
Martina überlebt
Der Anruf
Paul Baum im Büro
Bei der Kriminalpolizei
Ein Indiz
Der Spieler
Im Luisenpark
Anruf aus Dortmund
„Du willst also millionen Buddhisten ins Unglück stürzen. Mal abgesehen von den übrigen Anhängern der Seelenwanderung in der westlichen Welt.“ Rolf lehnte sich zurück. Sein Bauch quoll hervor und der Gürtel seiner hellen Jeans drohte zu platzen. Er trank einen Schluck und stellte sein Colaglas auf den Tisch der Pizzeria zurück.
Ihm gegenüber saß Bernd, sein Freund. Sie hatten bestellt und warteten darauf, dass der Pizzabäcker die belegten Fladen aus dem Ofen zöge. Keine Nobelhütte, aber preiswert.
„Quatsch!“, sagte Bernd. „Jeder soll glauben, was er will. Mich überzeugt das Getue um frühere Leben nicht. Reinkarnation, Seelenwanderung, alles Unfug.“
Er streckte sein beiden Arme links und rechts von sich, als wolle er unsichtbare Gegenargumente wegstoßen. Nachdem er die Arme wieder angewinkelt hatte, streckte er seinen schlanken Körper, bis die Füße gegen Rolfs Schuhe stießen.
„Aber millionen Inder glauben daran. Nein, milliarden wenn man die Verstorbenen mitrechnet. Mehr noch, sie sind davon überzeugt. Und die Tibeter erst, mit ihrem Dalai-Lama.“ Rolf streichelte mit dem rechten Zeigefinger den hellblonden Stoppelbart unter seiner Nase.
Bernd lehnte sich zurück. Die vorderen Stuhlbeine hoben vom Boden ab, aber nur wenige Zentimeter. Dann beugte er sich vor, strich sein dunkelblondes Haar aus der Stirn und sah seinem Freund Rolf tief in dessen blaue Augen.
„Rein rechnerisch geht das nicht auf. Dafür braucht man nicht einmal Adam und Eva zu bemühen, die ersten Menschen laut Bibel. Die Menschheit wächst ständig. Allein vor hundert Jahren gab es noch nicht so viele von uns wie gegenwärtig. Wenn die alle schon mal gelebt haben, wo kommen dann die neuen Menschen her?“
„Die Seelenwanderung beschränkt sich nicht allein auf Menschen“, wandte Rolf ein und strich über seinen Bauch, als ob er dessen Hunger beruhigen müsse. „Die Seele kann auch in einem Tier weiterleben. Oder von einem Tier in einen Menschen schlüpfen.“
„Dann warst du früher wohl ein Delphin.“
„Wie kommst du darauf.“
„Wohl genährt, aalglatt und unheimlich schlau.“ Bernd grinste.
„Ha, ha“, sagte Rolf trocken. „Aber falls es die Seelenwanderung gibt, waren die jetzt zusätzlichen Menschen früher womöglich Ameisen oder Moskitos. Und dann ist deren Seele in einen Menschen geschlüpft.“
„Dann müsste die Anzahl der Ameisen und Moskitos zurückgehen.“
Bernd hob seine dunklen Augenbrauen und griff nach dem Cola-Glas vor sich. Er nahm einen kräftigen Schluck und sah sich in der Pizzeria um.
„Der da drüben zum Beispiel, dessen Seele steckte dann früher offensichtlich in einem Mistkäfer.“
Rolf folgte seinem Blick zur Bar, wo ein einzelner Kerl in einem schmuddeligen T-Shirt saß, das aus einem früheren Leben sein leuchtendes Weiß nur noch erahnen ließ. Der Mann stierte in das fast leere Bierglas vor sich.
„Du Pupsunterdrücker musst nicht gleich alles ins Lächerliche ziehen“, tadelte Rolf. „Respekt bitte. An das, woran abermilliarden Menschen geglaubt haben und immer noch glauben, muss doch etwas dran sein. Außerdem, seit ein paar Jahren gibt es bei uns weniger Insekten als früher. Das ist wissenschaftlich belegt.“
„Aha, Pestizide sorgen dafür, dass die Seele von Bienen und Co. in neue Menschen wandern können.“ Bernd grinste breit: „Ein Hoch auf die Chemiker der Pharmaindustrie. Ob die von ihrer religiösen Bestimmung wissen?“
„Reinkarnation, Seelenwanderung, Wiedergeburt. Gehört das jetzt zum Studium der Wirtschaftswissenschaft? Du Religionsverweigerer, bist du nicht ausgelastet?“ Rolf erwartete keine Antwort auf seine Fragen.
„Es tut gut, gelegentlich über den Tellerrand zu schauen“, sagte Bernd. „Du beschäftigst dich neben dem Germanistikstudium ja auch mit allem Möglichen und häufst Wissen an, das mit Literatur nichts zu tun hat.“
Rolf öffnete den Mund, um zu protestieren. Doch ein schlankes Mädchen in dunkelblauen Jeans, um die sechzehn, trat an den Tisch. Sie stellte vor jeden eine duftende Pizza. Die beiden Studenten machten sich sofort darüber her. Nachdem die ersten Happen verschlungen waren, nahm Rolf den Gesprächsfaden wieder auf.
„Ich stimme zu. Der Blick über den Tellerrand kann recht nützlich sein. In deinem Fall kann ich den Nutzen allerdings nicht erkennen. Worin soll der liegen?“
„Wenn Leute an groben Unfug glauben, muss man etwas dagegen tun“, sagte Bernd knapp.
„Willst du ein Buch darüber publizieren?“
„So weit bin ich noch nicht.“
„Wie willst du denn vorgehen? Öffne dein Gehirn und lass mich teilhaben.“
„Es sollte leicht sein“, begann Bernd. „Man muss nur nachweisen, dass sich die Leute die frühere Existenz ausgedacht haben. Irgendwo lasen oder hörten sie, was vor tausend Jahren jemand erlebt hat. Und nun behaupten sie, das wären sie gewesen. Sie hätten schon einmal gelebt. Ich versteh gar nicht, wieso sich noch niemand ernsthaft damit beschäftigt hat, um diesen Blödsinn aus der Welt zu fegen.“
„Da muss ich widersprechen. Es haben sich schon Leute mit dem Phänomen beschäftigt. Aber die Beweisführung ließ zu wünschen übrig. Letztlich hat sich niemand wirklich dafür interessiert. Deshalb frage ich mich, wen du überzeugen willst.“
„Okay, sie heißt Martina, studiert Romanistik und glaubt an Reinkarnation. Sie ist überzeugt, schon mehrere Male gelebt zu haben. Das heißt, ihre Seele in verschiedenen Körpern. Übermorgen treffe ich sie zu einer Übung.“
„Übung?“ Rolf grinste breit. „Verstehe, auf der Matratze oder im Auto?“
„Quatsch! Im Kaufhaus.“
„Wow!“
„Wir treffen uns zu einer Beobachtung. Die gehört zu einem Seminar der Fakultät Erziehungswissenschaft. Wir sollen eigene Erfahrungen sammeln und bewerten, nicht nur alles anlesen.“
Er war schneller als sonst hinauf gestiegen, als gelte es, einen neuen Rekord aufzustellen. Mit dem Handrücken wischte der junge Mann die Schweißtropfen von der Stirn. Seine Brust hob und senkte sich sichtbar, er atmete durch den leicht geöffneten Mund. Hastig, in langen Schritten steuerte er auf den flachen Stein zu, der wie eine Bank am Felsvorsprung lag. Obschon von der Sonne beschienen, war er noch kühl und lud nicht zum Verweilen ein. Dennoch blieb der junge Mann darauf sitzen und riss sogleich das Fernglas an die Augen. Er suchte über das tiefe Tal hinweg den gegenüberliegenden Gebirgshang ab. An einem hellblauen Punkt stoppte er. Mit einem Fernglas zehnfacher Vergrößerung hätte er den blauen Punkt sicher als Audi identifiziert. Doch sein Feldstecher hatte nur eine siebenfache Vergrößerung, die das Fahrzeug höchstens erahnen ließ. Es stand noch neben der Berghütte, die sich in ihren dunkelbraunen Bohlen kaum von der Umgebung abhob.
Nichts bewegte sich drüben. Der junge Mann schaute auf seine Armbanduhr. In der Blockhütte frühstückte man vermutlich noch. Er sah wieder durch das Fernglas und meinte, eine dünne Rauchfahne aus dem Schornstein der Hütte aufsteigen zu sehen, als entwiche das Leben aus dem Gebäude.
An diesem Sommermorgen strahlte die Sonne bereits recht warm und tauchte die Alpen in ein herrliches Licht. Doch das nahm der junge Mann nicht wahr. Er interessierte sich nur für den hellblauen Punkt und für die Berghütte auf der anderen Seite des riesigen Tals. Er blinzelte. Eine winzige Fliege hatte in seinem rechten Augen landen wollen.
Als er wieder hinübersah, bemerkte er, wie sich der hellblaue Punkt bewegte. Das Auto fuhr los, den Berghang hinab, verschwand hinter einem Felsen und tauchte kurz darauf wieder auf. Nun näherte es sich dem Waldrand und wurde von den Bäumen verschluckt, wie von einem grünen Drachen, der dort still auf der Lauer gelegen hatte.
Der junge Mann hatte den Augenblick verpasst, als jemand in den Audi stieg. Er ärgerte sich darüber. Durch das Fernglas hatte er nicht einmal erkennen können, wie viele Personen im Wagen saßen.
„Grüezi!“, ertönte plötzlich eine Stimme hinter dem jungen Mann. „Großartige Aussicht hier.“
Er zuckte zusammen, setzte das Fernglas ab und schaute sich um. Vier Wanderer standen freundlich lächelnd wie eine himmlische Erscheinung hinter ihm, zwei Männer und zwei Frauen in seinem Alter.
„Entschuldigung, wir wollten sie nicht erschrecken“, sagte der eine mit Schweizer Akzent, als er die aufgerissenen Augen des jungen Mannes sah.
Der schüttelte den Kopf. „Ich habe Sie gar nicht kommen gehört.“
Es war ihm nicht unangenehm, von den Wanderern angesprochen zu werden. Sie kamen vom Pass und konnte später gut bestätigen, dass sie ihn hier getroffen hatten, falls es notwendig sein sollte. Gerne gab er ausführlich Auskunft über den Abstieg und den Weg hinunter ins Dorf.
„Ui, was ist denn da passiert!“, rief unvermittelt die eine Frau. Alle Augen folgten ihrem ausgestreckten Arm und schauten ins Tal hinunter. Zwischen den Baumwipfeln stieg eine schwarze Rauchwolke auf.
„Das ist aber kein Lagerfeuer“, stellte der erste Sprecher nüchtern fest. „Hoffentlich brennt der Wald nicht. Das ist doch die Richtung, wo wir vermutlich vorbei kommen.“
„Wer weiß“, meinte der andere Mann. „Vielleicht wird dort ein Ochse gegrillt.“
„Dann sollten wir nicht trödeln“, sagte wieder der Erste. „Ein saftiger Braten zum Mittag, da lass ich glatt meine Brote stecken.“
Die schwarzen Wolken auf der anderen Seite des Tales wurden dicker, stiegen aber konzentriert aus einem kleinen Brandherd auf. Das Feuer schien sich nicht auszubreiten. Die vier verabschiedeten sich und eilten davon. Sie wollten schnell wissen, was dort unten geschehen war.
Der junge Mann schaute noch eine Weile auf die Rauchwolken, bis sie verblassten. Mit langsamen Schritten begann er den Aufstieg zum Gipfel. Erst spät abends erfuhr er, dass eine Frau und ein Mann in dem in die Klamm gestürzten Auto den Tod fanden. Polizei und Rettungskräfte konnten sich den Unfall nicht erklären. Nur der junge Mann wusste, was ihn verursacht hatte. Über zwanzig Jahre blieb es sein Geheimnis.
Über zwanzig Jahre später, nachdem der junge Mann in den Alpen den Berg bestiegen hatte, saß ein anderer junger Mann, der Student Bernd Kemmler, in seinem Auto und fuhr Richtung Mannheim. Er lenkte automatisch. Seine Gedanken nahmen die Autobahn kaum wahr, weshalb er fast einen Unfall verursachte.
Plötzlich spürte Bernd sein Herz im Kehlkopf. Nun war er wieder im wirklichen Leben. Hastig wischte er mit dem Ärmel seiner Jacke die Seitenscheibe frei, um in den Außenspiegel sehen zu können. Auch wenn die Seitenfenster des alten Opels nicht beschlagen gewesen wären. Bernd Kemmler hätte den roten Sportwagen nicht gesehen, der zum Überholen angesetzt hatte. Immer noch hupend zog jener auf der linken Fahrspur der Autobahn schnell vorbei.
„Blöde Weiber“, knurrte Bernd leise. Es tat gut, die Schuld für sein bedenkenloses Ausscheren beim Überholversuch jemandem zuschieben zu können. Er beruhigte sich augenblicklich, glaubte er jedenfalls. Auch auf der Windschutzscheibe wischte er mit den Fingerrücken umher, obwohl sie nicht beschlagen war. Sein Auto hatte geschleudert, als er automatisch das Lenkrad herumriss. So etwas wie „oh, oh“, war ihm durch den Kopf gegangen. Keine Angst, keine Furcht. Hellwach hatte er registriert, wie er seinen Wagen rechts herum riss, etwas zu heftig. Und schon hatte er dagegen gelenkt, nach links und wieder nach rechts. Jetzt rollte das Auto ganz ruhig.
„Scheiß Weiber!“, fluchte er nun lauter.
Erst nach und nach wurde ihm bewusst, wie es hätte ausgehen können. Mit 140 Sachen auf der Autobahn, seitlicher Aufprall mit schnellerem Sportwagen. Bernd blickte auf das Feld rechts der Fahrbahn. Gut, Bäume gab es hier nicht, aber die Leitplanken. Ob er darüber hinweggeschossen wäre? Oder abprallend wieder auf die Autobahn zurück, und dann Zusammenstoß mit den nachfolgenden Fahrzeugen? Solange er sein Herz hämmern fühlte, kam ihm nicht der Gedanke, erneut zu versuchen, den langsamen LKW vor ihm zu überholen. Nein, so blöde wollte er sein Leben nicht beenden. Unfall auf der Autobahn. Er hatte noch viel vor.
„Ausgeflippte Tussi“, schimpfte Bernd erneut leise vor sich hin.
Die ausgeflippte Tussi wollte nun nicht mehr in Bernds Auto sitzen. Sie hatte auch nicht den schnellen Sportwagen gelenkt. Sie war überhaupt nicht auf der Autobahn. Bernd sah auf seine Armbanduhr: Viertel nach neun. Jetzt begleitete sie diesen verdammten Oberarzt wahrscheinlich bei der Visite. Mit seinen Gedanken war er wieder bei Petra. Ein ganzes Jahr waren sie zusammen gewesen. Und dann tauchte dieser bescheuerte Oberarzt auf. Was bildete die blöde Nudel sich eigentlich ein. Krankenschwestern waren für die Ärzte doch nur kleine Affären. Flirts, um den stressigen Krankenhausalltag erträglicher zu gestalten. Aber nein, er sei etwas Besonderes, auch menschlich. Blöde Ziege.
Nun begann es auch noch zu regnen. Die Scheibenwischerblätter verschmierten die Scheibe, anstatt sie zu säubern. Sie hätten längst ausgewechselt gehört. Aber als Student balancierte Bernd stets um den Nullpunkt seines Kontos. Neue Scheibenwischer, ja, zu Weihnachten, vielleicht. Er strich sein dunkelblondes Haar zurück und rieb sich den Nacken.
Merkwürdig, den Augenblick höchster Gefahr, hatte er nicht als gefährlich empfunden. Bernd ging in Gedanken noch einmal zurück. Er hörte noch einmal das schrille Hupen, fühlte, wie er über sein Auto die Kontrolle zu verlieren drohte, wie es hinten herumschleuderte. Und wie er dann wieder ruhig dahin rollte. Erst dann hatte er das Herzklopfen gespürt. Erst dann hatte er nervös um sich geblickt, ihm war furchtbar heiß geworden. Dabei war die Gefahr längst vorbei.
Wahrscheinlich stimmte es, was Bernd von Leuten über den Tod gehört hatte. Leute, die nicht wirklich gestorben waren, aber an der Schwelle gestanden hatten. Allesamt berichteten sie, dass sie den Tod als etwas Natürliches ohne Angst und Schmerzen in Erinnerung hätten. Früher hatte er diese Todesnäheerlebnisse als Traum abgetan. Einen Traum, den das sterbende Gehirn abspult, damit der Tod erträglich wird. Jetzt wunderte er sich über seine Empfindungen. Zwar war er während des Schleuderns nicht klinisch Tod gewesen und hatte sich nicht einmal verletzt. Auch hatte er nicht in irgend ein Jenseits geblickt. Aber noch nie zuvor hatte er das Gefühl gehabt, dem Tod wirklich nahe zu sein. In der so genannten Schrecksekunde, hatte es keinen Schrecken gegeben. Wenn der Tod wirklich so war -- aber was kam danach? Ein anderes Leben?
Kurz dachte er an die Studentin Martina mit ihren verrückten Ideen von der Seelenwanderung. Dann war Petra wieder präsent. Petra, die sollte nur kommen, wenn der menschliche Oberarzt mit ihr fertig war. Bernd würde sie eiskalt stehen lassen. Genau so, wie sie es mit ihm gemacht hatte. Nicht einmal einen Streit hatten sie gehabt. Alles war bestens gewesen. Dann der Anruf. Am Telefon hatte sie ihm schlicht gesagt, dass sie ab jetzt mit Tobias, dem Oberarzt ausgehe. Dem Oberarzt, wie sie das betont hatte. Als ob Oberärzte zu einer Klasse besserer Menschen zählten. Bernd hatte nicht gleich begriffen. Der Schmerz hatte erst eingesetzt, nachdem sie aufgelegt hatte. Sogleich hatte er zurückgerufen. Aber sie legte auf, als er sich meldete. Verdammte Weiber. Da sollte sie nur ruhig anrufen, wenn der menschliche Oberarzt sich eine neue Gespielin angelacht hatte. Dann würde er auch gleich auflegen. Das stand fest.
Bernd fuhr über die Rheinbrücke. Rechts leuchtete kurz das gelbe Schild mit der Aufschrift „Mannheim“ auf. Das Mannheimer Schloss jenseits des Flusses hüllte feiner Nieselregen ein. Die hohen Bäume im Park verloren gerade ihr Laub.
Bernd überlegte, ob er sich die Uni heute schenken sollte. Welchen Sinn hatte das Leben noch? Keine Petra, grauer Himmel, Regen und der Tod schien wirklich einfach zu sein, ohne Angst und Schrecken. Wenn er jetzt von der Brücke in das eiskalte Wasser des Rheins spränge? Er horchte in sich, suchte nach Angst. Aber dort war keine. Lediglich ein unangenehmes Gefühl beim Gedanken an das kalte Wasser. Wahrscheinlich würde er sich bei diesem Selbstmordversuch nur eine kräftige Erkältung einhandeln. Denn er war ein guter Schwimmer.
Wenige Minuten später ging Bernd Kemmler traumwandlerisch auf den Vorlesungssaal im östlichen Schlossflügel zu. Wer sich links und rechts neben ihn in die Reihe setzte, registrierte er nicht. Automatisch legte er den Schreibblock vor sich.
Bernd Kemmler nahm sein Studium ernst, jedenfalls meistens. Täglich fuhr er von Freinsheim in der Pfalz, wo er in einer Wohngemeinschaft ein Zimmer belegte, zur Universität, die im Mannheimer Schloss ihren Hauptsitz hat. Er saß in Vorlesungen und Seminaren, suchte die verschiedenen Bibliotheken auf, blätterte in verstaubten Büchern und schrieb und kopierte wichtiges daraus. Er studierte Betriebswirtschaft und beabsichtigte, mit Doktor abzuschließen. Nichts weiter. Nur gelegentlich dehnte er seine Studien in andere Bereiche aus.
In Petra hatte er eine attraktive Freundin gefunden, die ein erfolgreicher Student braucht, wie er meinte. Sie war eine Krankenschwesterschülerin mit viel Gefühl. Das hatte er jedenfalls noch vor wenigen Tagen geglaubt. Heute hätte sie ihm beinahe das Leben gekostet. Bernd dachte wieder an den Beinahezusammenstoß auf der Autobahn. Ein leichtes Schmunzeln glitt über seine glatten Gesichtszüge. Das wäre etwas gewesen, wenn man ihn schwerverletzt ins Städtische Krankenhaus eingeliefert hätte, vielleicht sogar in die Station, in der Petra arbeitete.
Bernd stellte seine Pupillen neu ein, erblickte den Referenten und schaute ernst auf das Blatt Papier vor sich. Dort stand noch kein Wort. Die Uhr an der Wand des Vorlesungsraums zeigte drei Minuten nach halb. Es waren fast zwanzig Minuten vergangen und Bernd hatte nicht einmal das Thema der Vorlesung erfasst. In kleinen Buchstaben schrieb er „Petra“ in die rechte untere Ecke des Notizpapiers und strich den Namen sogleich energisch aus. Mit der war jetzt Schluss. Er fühlte sich besser. Petra war abgehakt, ab sofort und für immer.
Auf der Heimfahrt von der Uni hatte Bernd Petra fast völlig aus seinem Gehirn verbannt. Unscheinbar schlich sich Martina ein und wollte offenbar ihren Platz einnehmen. Er dachte an ihr erstes Zusammentreffen vor fast einer Woche. Das hatte sich nach dem Seminar ergeben. Zuhause legte er sich auf das Bett, schloss die Augen und versuchte, sich genau an die erste Begegnung mit Martina zu erinnern. Erstaunlich klar spulte sich der Film ab.
„Sag bloß, daran glaubst du?“ Er hatte der jungen Studentin neben sich tief in die blauen Augen geschaut.
„Ja sicher, warum denn nicht?“ Sie sagte es so selbstverständlich, als hätte sie auf dem Speiseplan der Mensa gelesen, dass es Gulasch gäbe. Ihre blauen Augen sahen ihn freundlich an. Obwohl er sich zurücklehnte, die Distanz zwischen ihnen vergrößerte und sie erneut musterte, die Augen ein wenig zusammenkneifend, blieb sie selbstsicher. Sie musste jetzt fühlen, dass er an ihrem Verstand zweifelte. Aber das schien sie gewohnt zu sein. Nicht der geringste Schatten trübte ihre sympathische Miene.
„Ich bin Martina“, hatte sie sich nach dem Seminar vorgestellt. Während sich die übrigen Studenten bereits erhoben, war sie neben ihm sitzen geblieben. Reichlich steif hatte auch Bernd Kemmler seinen Namen genannt.
„Kemmler, klingt fast wie ein Kämmerchen, in dem du gerade stecktest“, schmunzelte sie ihn an. Denn offenbar war ihr seine Geistesabwesenheit längst aufgefallen.
„Aha, bist du immer so gut drauf?“
Sie strahlte ihn an: „Erbstück, aus einem früheren Leben.“
Aus einem früheren Leben? Ach du Scheiße, wem hatte man ihm da zugeteilt? Bernd Kemmler behielt seine Gedanken für sich. Es gab nur ein Leben; und das fand jetzt statt. Basta!
Frau Dr. Seitz, die Seminarleiterin, hatte Bernd und Martina zum Paar für empirische Beobachtungen definiert. Als es darum gegangen war, Pärchen für die Untersuchung zu bilden, hatten sich einige Kommilitonen spontan gefunden. Die Übrigen stellte sie dann zusammen. Bernd war in Gedanken gerade mit Petra beschäftigt gewesen und hatte geistesabwesend nicht mitbekommen, wie sich die anderen Studenten zu Paaren für die Kinderbeobachtungen fanden. Vor drei Tagen hatte Petra ihm gesagt, dass es mit ihnen aus sei. Es war für Bernd überraschend gekommen, denn sie hatte nie angedeutet, dass es jemand anders gäbe.
Mit einem Kopfnicken, als wolle er etwas bekräftigen, hatte Bernd sich gewaltsam in das Seminar zurück katapultiert. Er hatte sich umgesehen, um zu hören, worüber man sprach. Einige Studenten standen bereits mit gepackten Taschen unter dem Arm an der Tür. Es war offenbar Schluss.
Bernd Kemmler hatte den Schnellhefter zugeklappt und mit den flachen Fingern unsichtbaren Staub vom blauen Deckel gewischt. In steiler Blockschrift hatte er darauf geschrieben: „Elterliche Erziehungsstile II, Empirische Untersuchungen, Eigene Beobachtungsergebnisse, Dr. A. Seitz.“ Bernds glatte und feingliederige Hand, die Haut noch etwas gebräunt vom Sommer, hatte nach dem Druckbleistift mit Radiergummi gegriffen und ihn in einer kleinen Mappe verschwinden lassen. Er hatte sein dunkelblondes Haar zurückgestrichen und sich mit Daumen und Zeigefinger an der Nasenwurzel gerieben. Kein einziger Pickel hatte sich aus der glattrasierten Haut getraut. Unmerklich hatte er seinen sportlichen Körper gestreckt und zur Referentin hinüber geschaut.
Frau Dr. A. Seitz war in den mittleren Jahren, von kleinem Wuchs und kräftig gebaut. Sie hatte zwar noch am anderen Ende des kleinen Seminarraumes gesessen, schob aber schon die letzten Schriftstücke in ihre braune Kollegmappe.
„Noch Fragen?“, hatte Frau Dr. Seitz gefragt. Das fragte sie immer am Schluss der Seminarstunde. Es hatte keine Fragen gegeben. Frau Dr. Seitz hatte bereits vorher alle beantwortet, wie immer. „Dann bis nächste Woche.“ Auch das sagte sie immer zum Schluss. Und schon war sie an der Tür und auf den großen Fluren des Schlosses verschwunden.
Worum war es eigentlich gegangen? Trotz seiner Liebe zum Studium, hatte Bernd Kemmler fast nichts von der vergangenen Stunde mitbekommen. Immer wieder Petra, immer wieder war sie in seinem Kopf. Beobachtungen im Kaufhaus. Eltern und Kinder. Bernd versuchte, sich zu erinnern, wie die Diskussion geendet hatte. Dass Martina Kolbe neben ihm saß und ihn still anblickte, hatte er nicht wahrgenommen.
Die Seminarleiterin, Frau Dr. Seitz, hatte die Familiennamen der Studentenpaare für die Beobachtung notiert. Wieso brauchte er überhaupt eine Partnerin dazu? Kinder konnte er auch alleine beobachten. Ach ja, bereits zu beginn der Seminarstunde hatte Frau Dr. Seitz ausgeführt, dass die Beobachtungen zu zweit gemacht werden, wegen der Objektivität. Dem konnte man kaum widersprechen.
Zufällig hatte Martina an diesem Tag neben Bernd gesessen. Etwa zwanzig Studenten und Studentinnen nahmen an dem Seminar teil. Martina war ihm noch nie aufgefallen. Das Semester hatte gerade erst begonnen. Es gab viele neue Gesichter. Die Gruppe hatte sich soeben zum zweiten Mal getroffen.
Martina trug ihr glattes Haar kurz geschnitten. Ihre hellblauen Augen und die makellose, weiße Haut standen in deutlichem Gegensatz zu den schwarzen Haaren. Tiefgründig, dachte Bernd. Oder war es das genaue Gegenteil, was da in ihrem Blick lag, ein wenig Irrsinn? Eine Studentin, die an Übersinnliches glaubt? Unschlüssig verweilten Bernds Augen etwas länger auf ihrem Gesicht, als notwendig gewesen wäre. Doch dann riss er sich energisch los und kramte in seiner Mappe, aus der er schließlich ein winziges schwarzes Büchlein hervorzog.
„Wann wollen wir denn los?“ Er schlug den kleinen Taschenkalender auf. „Mir würde es am Mittwochnachmittag passen.“
„Ja, Mittwoch ist gut. Und wo?“
Sie verabredeten sich vor dem Eingang eines großen Kaufhauses in Mannheim, nicht weit vom Schloss entfernt.
„Ich habe aber nur ein altes Handy. Das spinnt manchmal. Aufnahmen klappen nicht immer. Keine Ahnung woran das liegt.“
„Kein Problem. Wir können alles mit meinem Smartphone aufnehmen. Gibt‘s noch was zu klären?“
„Nö, ich glaube, das wär‘s.“
„Dann bis Mittwoch um drei.“
Als sich beide von ihren Stühlen erhoben, sah Bernd, dass Martina fast einen Kopf kleiner war als er. Sie lächelte noch einmal, warf den Kopf zurück und verschwand schnell durch die Tür auf den Flur. Ihr wohlgeformter Po zeichnete sich deutlich im Jeansrock ab, nicht zu groß, nicht zu klein, schlicht und einfach reizend.
Das war also eine Studentin, die glaubte, schon einmal gelebt zu haben. Bernd schüttelte den Kopf. Als hätte sie vom kalten Regenwetter draußen gesprochen, so hatte sie hinzugefügt: „Vielleicht sind wir uns bereits in einem früheren Leben begegnet.“ In einem früheren Leben begegnet, so ein Quatsch. Wie konnte eine Studentin mit Hochschulreife im einundzwanzigsten Jahrhundert an den Hokuspokus mit früheren Leben glauben?
Auch am Mittwoch nieselte es immer noch vom kühlen Oktoberhimmel. Als Bernd zwei Minuten vor drei Uhr um die Ecke bog, sah er Martina bereits im überdachten Haupteingang des Kaufhauses stehen. Pünktlich ist sie ja, dachte er. Offenbar hatte sie sich nicht warm genug angezogen. Denn sie klemmte ihre Arme an den Körper, die Hände tief vergraben in den Anoraktaschen.
„Hallo“, begrüßte sie ihn fröhlich und mit leicht blauen Lippen. „Alles klar bei dir? Handy dabei?“
„Hier in der Tasche.“ Bernd klopfte auf seine rechte Brusttasche. „Wir tun einfach so, als würden wir telefonieren. Tatsächlich sprechen wir jedoch unsere Beobachtung drauf.“
„Perfekte Tarnung“, sagte Martina.
„Ich dachte mir, dass wir so nicht auffallen und unentdeckt bleiben.“
„Ne, wenn du nicht zu laut quatscht, kriegt keiner was mit.“ Martina lächelte. „Du fängst an.“
„Das Mikrophon ist sehr empfindlich. Selbst Geflüster wird aufgenommen.“
„Supi.“
Bernd und Martina standen immer noch im überdachten Kaufhauseingang. Das Nieseln hatte sich in Regen verwandelt. Für ihre Beobachtung war es kein idealer Tag. Denn nur wenige Leute trauten sich aus dem Haus. Doch da kamen tatsächlich drei Personen, die wie eine Familie aussahen. Der Vater vorweg, die Mutter folgte mit einem kleinen Jungen an der Hand.
„Was hältst du von denen?“, fragte Bernd leise.
„Ideal, los fang an.“
Bernd zog sein Smartphone hervor und tippte ein paarmal auf das Display. Der Rekorder war eingeschaltet. Die Familie ging an ihnen vorbei durch die Glastüren ins Kaufhaus. Bernd und Martina folgten in wenigen Metern Abstand. Leise sprach Bernd seine Beobachtungen ins Mikrophon:
„Vater, zirka achtundzwanzig Jahre alt. Mutter etwa fünfundzwanzig Jahre alt. Kind zwischen vier und fünf Jahren. Vater und Mutter bleiben am Wühltisch stehen. Mutter zieht einen Pulli aus dem Haufen. Vater spricht mit ihr. Das Kind will weitergehen, wird aber von der Mutter an der Hand festgehalten. Das Kind sagt irgendetwas. Die Eltern achten nicht darauf. Der Mann hält jetzt seiner Frau einen roten Pulli vor den Busen. Das Kind zieht an der Hand der Mutter. Sie ruckt einmal kurz mit der Hand an und sagt, sei still.“
Bernd und Martina gingen an den anderen Wühltisch, auf dem sich irgendwelche Stoffe türmten. Sie stand dicht neben Bernd und begann, sich die Textilreste anzusehen.
Bernd sprach weiter in das Mikrophon: „Das Kind ist jetzt ruhig und schaut umher. Der Mann greift sich einen anderen Pulli aus dem Wühltisch. Die Frau schüttelt den Kopf und lässt den kleinen Jungen los. Sie langt jetzt mit beiden Händen in die Pullis. Der Kleine steht neben der Mutter und blickt zur Rolltreppe. Jetzt rennt er los. Die Frau hat es aber gesehen. Nach wenigen Schritten hat sie ihn eingeholt und fängt an zu schimpfen. Der Junge bekommt einen Klaps auf den Hintern. Ich kann leider sein Gesicht nicht sehen. Weint er?“
Martina kam zurück. Als der Junge zur Rolltreppe rannte, eilte sie ebenfalls schnell in die Richtung, um ihn im gegebenen Moment von der Treppe zurückzuhalten.
„Nein, er weint nicht“, sagte Martina.
„Die Eltern gehen jetzt mit dem kleinen Jungen auf die Rolltreppe“, sprach Bernd weiter ins Mikrophon. „Die Mutter hält ihn fest an der Hand. Wir folgen. Im ersten Stock ist die Spielwarenabteilung. Der Junge zerrt wieder an der Hand der Mutter. Er will in Richtung des großen Teddybären. Die Mutter reißt ihn an der Hand herum. Sie gehen auf die Rolltreppe ins nächste Stockwerk zu. Der Junge ist wieder still und schaut auf die rollenden Stufen. ‘Kannst du nicht aufpassen?‘, höre ich oben die Mutter sagen. Der Kleine war am Ende der Rolltreppe gestolpert. Die Frau stürmt nun auf einen Kleiderstand mit Blusen zu. Der kleine Junge rennt unwillig hinterher. Der Vater folgt mit einigen Schritten Abstand. ‘Und dass du mir ja nicht zur Rolltreppe rennst!’, höre ich die Mutter sagen. Sie lässt den Kleinen jetzt los. Er steht da und schaut unschlüssig umher. Der Vater nimmt ihm die Pudelmütze ab und streicht über sein blondes Haar.“
Bernd ließ die Familie nicht aus den Augen. Martina schaute umher, als suchte sie etwas. Aber auch sie blickte aus dem Augenwinkel immer wieder zur Familie. Nach dem Blusenstand bewunderte die Mutter des kleinen Jungen die Kostüme auf der Stange. Vater und Sohn folgten ihr gelangweilt. Sie fuhren wieder die Rolltreppen hinunter und verließen das Kaufhaus, nicht, ohne dass der Kleine in der Spielwarenabteilung sich beinahe den Kopf abgedreht hätte.
„Na ja“, sagte Bernd, als sie wieder am Haupteingang des Kaufhauses angekommen waren. „Die wollten wohl nur mal kucken.“ Er drückte auf die Pausentaste am Smartphone. „Bei der nächsten Familie bist du dran.“
Martina war einverstanden und drückte das Gerät ans Ohr. Wenig später näherte sich ein großer, sportlicher, junger Mann mit einem kleinen Jungen an der Hand. Martina tippte schnell auf den Aufnahme-Button und begann, ins Mikrophon zu sprechen.
„Wir beobachten jetzt einen jungen Vater mit seinem Sohn. Den Vater schätze ich auf fünfundzwanzig Jahre, den kleinen Jungen auf vier. Die beiden sprechen kein Wort miteinander. Es wird eisern geschwiegen, als habe der kleine Sohn etwas ausgefressen. Er sieht sehr unschuldig aus. Der Vater geht zielsicher auf die Rolltreppe zu und zieht den Jungen hinter sich her, wie einen Hund an der Leine. Vielleicht war der kleine Junge in einem früheren Leben mal ein Sklave. Denn er folgt widerstandslos und tappt sorglos auf die Rolltreppe. Er steht mit den beiden Füßen auf dem Spalt zwischen zwei Stufen. Das merkt er jetzt und schaut auf seine Füße. Die Distanz zwischen den Stufen wird größer. Der arme kleine Junge schreit. Er hängt mit der einen Hand in der eisernen Faust des Vaters, der ihn herzlos daran hochzieht. Jetzt steht der Junge mit beiden Füßen auf derselben Stufe. Oben angekommen, schwenkt der Vater gleich scharf rechts und betritt die nächste Rolltreppe. Auch diesmal achtet er nicht darauf, ob sein kleiner Sohn richtig auf einer Rolltreppenstufe zu stehen kommt. Der Vater könnte in einem früheren Leben ein brutaler Gladiator gewesen sein. Er hat einen mächtigen Körperbau und sicher starke Muskeln. Den kleinen Jungen könnte er mit Leichtigkeit zerquetschen. Ich kann leider nur die Rücken der beiden sehen, stelle mir aber vor, dass der Junge ein ängstliches Gesicht macht. Als er auf die Rolltreppe treten sollte, zögerte er, wurde jedoch von der eisernen Hand seines Vaters mitgerissen.“
Während Martina ihre Beobachtung ins Mikrofon sprach, hatte Bernd sich dich neben ihr gehalten. Entsetzt lauschte er ihren Worten. „Armer, unschuldiger, kleiner Junge, Sklave im früheren Leben, vermutlich ein ehemaliger Gladiator.“ Verdammt, was sprach Martina da ins Smartphone? Wie konnte sie so etwas sagen? Derartige Kommentare gehörten doch nicht in den Text einer wissenschaftlichen Beobachtung. Er wollte sie unterbrechen, darauf hinweisen, dass es hier um eine empirische Untersuchung ging, wo nüchtern, sachlich und objektiv zu berichten sei. Doch Martina beachtete seine fassungslose Miene nicht. Sie konzentrierte sich voll auf den Vater mit seinem Sohn und deutete und kommentierte weiterhin unbekümmert alles, was bei den beiden geschah.
„Okay, soll sie machen“, dachte Bernd. „Die Dr. Seitz wird ihr schon den Kopf waschen. Unvorstellbar, wie Frauen die Welt sehen.“
Dem kleinen Jungen lief die Nase. Der Vater griff in seine Hosentasche und holte ein farbiges Stofftaschentuch hervor. Während er das Taschentuch heraus zog, fiel ein kleiner grüner Zettel aus der Hosentasche zu Boden, ohne dass der junge Vater es merkte. Als beide weiter gingen, hob Bernd den Zettel auf. Es handelte sich offenbar um eine Einkaufsliste. Bernd steckte den Zettel in seine Jackentasche und wollte sie am Schluss der Beobachtung dem Vater des Jungen geben.
Entrüstet und doch fasziniert lauschte Bernd sprachlos den subjektiven Worten, die Martina ins Mikrophon plapperte. Erneut redete sie von einem früheren Leben des kleinen Jungen. Das hat nichts mit einer objektiven Beobachtung zu tun, urteilte Bernd im Stillen.
Nachdem Martina mit ihrer Beobachtung fertig war und der junge Vater mit seinem Sohn das Kaufhaus verlassen hatte, setzte Bernd dann doch zu einer Belehrung an.
„Glaubst du nicht, dass wir etwas sachlicher berichten sollten?“, fragte er vorsichtig.
„Wieso, ich war doch sachlich.“ Martina strahlte ihn zufrieden an.
„Na ja, das mit dem früheren Leben. Musste das sein?“
„Wieso nicht? War das nicht ein treffender Vergleich? Trotz aller Sachlichkeit darf man die Anschaulichkeit nicht vernachlässigen.“
Bernd schwieg. Eine neue Familie war ins Kaufhaus getreten. Nun war er wieder dran, in das Smartphone zu sprechen.
Auf diese Weise beobachteten Bernd und Martina sechs Kinder mit deren erwachsener Begleitung im Kaufhaus. Bernd sprach seine Beobachtungen nüchtern und sachlich ins Mikrofon. Martina kommentierte mitfühlend und interpretierend das Geschehen. Sie sagte nichts zu Bernds kühler Sachlichkeit und er wollte es der Seitz im Seminar überlassen, Martinas Beobachtungstext akademisch in der Luft zu zerreißen.
„Ich glaube das reicht“, sagte Bernd kurz vor fünf Uhr zu Martina.
„Wenn die anderen auch so viel machen, haben wir genug für die empirische Untersuchung“, stimmte Martina zu. „Komm, ich mach uns einen Tee.“
„Wo denn?“
„Bei mir. Ich wohne gleich da drüben.“
Während der Beobachtungen im Kaufhaus hatten Bernd und Martina zwar ständig geredet, aber nur ins Mikrophon und kaum miteinander. Bernd nahm sich erst jetzt die Zeit, Martina richtig anzuschauen. Ihre schwarzen Haare steckten unter einer bunten Strickmütze. Sie trug schwarze Jeans und einen dunkelgrünen Anorak darüber. Make-up konnte er in ihrem Gesicht nicht finden, war auch nicht nötig. Ihre Haut war noch heller als im Seminar. Nicht nur ihr Mund lächelte, auch ihre hellblauen Augen. Bernd überlegte, ob er die Einladung ablehnen sollte, doch er hörte sich zustimmen.
„Seit ich hier studiere, wohne ich in einem kleinen Appartement“, begann Martina zu erzählen. „Es ist großartig. Ich bin schnell an der Uni und mitten in der Stadt. Wo wohnst du?“
„Ich hab‘ ein Zimmer in Freinsheim.“
„Wo ist das denn?“
„Drüben, in der Pfalz, zirka fünfundzwanzig Kilometer von hier. Bei Bad Dürkheim.“
„Gehen wir?“
Bernd stimmte zu und schlenderte neben ihr über die Straße.
Das Wohnhaus, auf das Martina nach den Beobachtungen im Kaufhaus zusteuerte, glich einem alten Kasten, wie man in den Mannheimer Quadraten noch viele findet. Grau verputzt mit einem rötlichen Schimmer, an den Hausecken und Fenstern eingefasst mit grob behauenem Sandstein. Im Erdgeschoss gab es ein Café, welches von einem Eckeingang betreten wurde. Im Sommer stellte der Café-Wirt vor dem Haus Tische und Stühle auf. Martina schloss jedoch die Tür an der Breitseite des Gebäudes auf. Im Treppenhaus roch es nach frischer Farbe. Bernd tippte vorsichtig mit dem ausgestreckten Zeigefinger an die Wand. Sie war trocken. Die Renovierung musste wohl doch schon ein paar Tage zurückliegen. Einen Fahrstuhl konnte Bernd nicht erblicken. Steinerne Stufen führten hinauf. Im zweiten und dritten Stockwerk prangten die Schilder drei verschiedener Arztpraxen. Ein HNO-Arzt, ein praktischer Arzt und ein Zahnarzt. Fast schon eine Klinik. Zum vierten und fünften Stock gelangte man über eine etwas schmalere Treppe aus Holzdielen, wovon einige unüberhörbar knarrten.
Martina wohnte ganz oben im fünften Stock. „A. Schneider/G. Kolbe“ stand auf dem Schild über der Klingel neben der Wohnungstür. Sie betraten einen kleinen Flur mit vier weiteren Türen. Martina öffnete die eine und ging in ein geräumiges Zimmer. Ein Bett in der einen Ecke, ein Kleiderschrank in der anderen. Vor dem Fenster ein einfacher Tisch. Er diente als Schreibtisch, wie die aufgetürmten Bücher und Mappen verrieten. Rechts neben dem Fenster ein großes Regal, nur mit wenigen Büchern gefüllt. Vor dem Bett stand ein kleiner niedriger Tisch und an dem Tisch zwei bunte Polstersessel.