Schluss mit der Meinungsfreiheit! - Florian Schroeder - E-Book

Schluss mit der Meinungsfreiheit! E-Book

Florian Schroeder

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Beschreibung

Debattiert! Das macht uns Menschen aus Das wird man ja wohl noch sagen dürfen! Wutbürger hier, politisch korrekte Diskurs-Schiedsrichterinnen dort, Sprechverbote für alte Männer auf der einen Seite, pöbelnde VerschwörungstheoretikerInnen auf der anderen Seite, egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund, jeder brüllt, alle scharen ihre Claquere um sich, die sozialen Medien glühen vor Erregung, doch keiner hört zu und selbst die Talkshows wirken überfordert. Plötzlich ist jeder Opfer, niemand ist verantwortlich. Die Beispiele sind zahllos, die Folgen für unser Zusammenleben gefährlich. Ist dies das Niveau, auf dem wir unsere Positionen austauschen möchten? Florian Schroeder, als Kabarettist ist er Pfeilewerfer und Zielscheibe zugleich und weist die Pöbler aller Lager zurück in ihre Ecken und zeigt, wie man lustvoll und produktiv streitet und hinterher miteinander ein (alkoholfreies) Bier trinken kann.

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Florian Schroeder

Schluss mit der Meinungsfreiheit!

Für mehr Hirn und weniger Hysterie

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

»Das wird man ja wohl …« Was ist überhaupt los hier?

Stuttgart 2020 – Das Ende meines Doppellebens

Heute, am Samstagnachmittag, soll es endlich enden, dieses Doppelleben. Ich will nicht mehr. Will nicht mehr lügen, vertuschen, blenden. Und am Ende selbst nicht mehr wissen, wer ich eigentlich bin. Seit Wochen mache ich das jetzt, bin zwei Menschen, wie sie gegensätzlicher kaum sein könnten: Der eine ist Komiker, hat gerade nicht so viel zu tun, weil Pandemie ist, und er weiß, was auf dem Spiel steht. Der andere ist auch Komiker, aber er will aussteigen, den öffentlich-rechtlichen Meinungskanal verlassen, sich endlich frei auf die Seite der Wahrheit stellen, er will sich den Querdenkern anschließen. So habe ich nun über einen Monat gelebt.

Angefangen hatte alles mit einer Satiresendung im NDR-Fernsehen. Darin spielte der erste Schroeder den zweiten – einen Verschwörungsideologen. Ich vermischte journalistische Fakten und verschwörungsideologische Fiktionen. Ich wollte den schmalen Grat zeigen zwischen Recherchiertem, das zum Instrument von Mythen werden kann, und Mythen, die sich als Fakten verkleiden.

Nur so, indem ich die Rolle des Verschwörungsideologen ernst nahm, ihn verkörperte bis zur Kenntlichkeit, war die Wanderung an der Grenze zwischen Satire und Überzeugung möglich, aber für einige Leute verwischte diese Grenze auch. Ein User stellte diesen Monolog auf YouTube, er wurde begeistert gefeiert: Endlich ein Systemclown, der es verstanden hat! Dass es so was noch gibt in den gesteuerten Medien! Das war wohl sein letzter Auftritt! Die Querdenker luden mich ein, bei ihnen aufzutreten. Es sollte mein Coming-out werden, der Beginn meines neuen Lebens.

Aus Schroeder eins sollte endgültig Schroeder zwei werden. So spielte ich – Schroeder eins – ihnen gegenüber den Aussteiger Schroeder zwei, der rauswollte aus dem verachteten Mainstream, den Überläufer und Verstoßenen, der der Enge des Systems entkommen wollte. Meine Facebook-Seite stellte ich um und postete nur noch semi-satirischen Verschwörungskram und setzte viele rote Ausrufezeichen hinter meine in Versalien geschriebenen Nachrichten. Der Applaus von der ehemals falschen Seite, also von Querdenkern und Co, kam wie geplant. Zum Teil stritten sich alte Fans von Schroeder eins mit neuen Fans von Schroeder zwei, welche Interpretation meiner Beiträge denn nun die richtige sei. Die neuen Fans unterstellten den alten, gar nicht zu wissen, mit wem sie es hier zu tun haben. Selten hatte ich so viel Spaß mit meiner eigenen Facebook-Seite.

Und nun, an diesem schwülen Samstagnachmittag im August 2020 in Stuttgart ist der Moment gekommen, die Rolle des Doppelagenten abzulegen. Es ist heiß, die Luft im Unteren Schlossgarten steht. Ich komme im Backstage-Bereich an, werde freundlich begrüßt. Nur einzelne Querdenken-Organisatoren wissen, dass ich auftreten werde. Ich hatte zur Bedingung gemacht, dass mein Auftritt geheim bleibt. Wenn ich schon die Katze aus dem Sack lasse, so sollte das eine Überraschung sein. Das war kein Problem, die Querdenker sicherten mir absolute Verschwiegenheit zu, auch werde ich nicht allein sein. Vor mir werde der frühere Fußballweltmeister Thomas Berthold reden, der ebenfalls zur Vernunft gekommen sei und sich der Bewegung anschließen wolle. Das werde DER Tag der Querdenker-Bewegung, so hatte ich es nun tagelang gehört. Ich werde Teil von etwas Großem sein, so das Versprechen.

Vor Ort bin ich erstaunt, mit welch erfreuten Blicken ich begrüßt werde. Thomas Berthold steht ein paar Meter von mir entfernt, er hat es hinter sich, sieht zufrieden aus, er scheint angekommen in der neuen Welt. Bertholds Outing wird in den darauffolgenden Tagen das Land schockieren. Selbst die ›Bild‹, bei der er bis dato eine Kolumne hatte, wird diese einstellen. Es muss schon einiges zusammenkommen, ehe man der ›Bild‹ zu radikal wird. Zwischen mir und Berthold, der nun ein wenig abgeschlagen, aber doch zufrieden hinter der Bühne rumtigert und sich auf die breiten Fußballerschultern klopfen lässt, spricht noch ein als Arzt apostrophierter Mann, der wirkt wie ein Schamane aus Nürtingen. Er hält selbst gemalte Bilder in die Luft, die belegen sollen, dass die 5G-Strahlung uns alle umbringen wird.

Danach bin ich dran. Ich komme auf die Bühne und erlebe Liebe, viel Liebe, werde frenetisch begrüßt. Damit hatte ich nicht gerechnet. Diesen Applaus hatte ich mir jahrelang von Leuten gewünscht, die Eintritt bezahlt haben. Hier gibt es alles umsonst – meinen Auftritt und den Applaus. Es hätte auch anders kommen können: Von Buhrufen über fliegende Dosen bis hin zu kaltem Schweigen war alles möglich. Das kenne ich schon: Vor zwanzig Jahren hatte ich einen meiner ersten Soloauftritte im Rahmen einer Sneak Preview in einem Kino – auch hier in Stuttgart. Es war irgendwann nach 23 Uhr – den Film, der nach mir kommen sollte, und mich verband die Tatsache, dass niemand im Saal uns kannte. Ich stand am Anfang, ich war Parodist und ahmte zu Beginn meines Sets Udo Lindenberg nach, was schon damals, im Jahr 2000, nicht zum Originellsten gehörte, was man auf einer Bühne darbieten konnte. Der Moderator im Kino begrüßte mich mit den Worten: »Hier kommt Udo Lindenberg.« Der Saal tobte, viele offensichtlich belastbar alkoholisierte Zuschauer waren sicher, dass sich der Meister am Samstag um 23 Uhr in ein Stuttgarter Kino verirren würde, um hier a cappella vor ein paar hundert Leuten zu verrecken. Der Auftritt ging genau zweieinhalb Minuten, dann flogen die ersten Flaschen auf die schmale Bühne vor der Leinwand. Ich floh über den Notausgang, der direkt vor mir war, und schwor mir, nie wieder auf eine Bühne zu steigen.

Aber was wäre, wenn das hier wieder passierte? Zweieinhalb Minuten vor Querdenkern? Und dann weg? Was würde bleiben? Man würde nicht wissen, wer ich nun bin? Schroeder eins, der Komiker, der seinen Job so schlecht beherrscht, dass sie ihn von der Bühne jagen können, ohne dass jemand verstanden hätte, was seine Botschaft ist – oder Schroeder zwei, wieder einer, der ins Querdenker-Lager übergetreten ist – und das, obwohl er beim Fußball in der Schule nicht einmal das Tor getroffen hat! Die letzten zwanzig Jahre zwischen Stuttgart I und Stuttgart II wären in wenigen Minuten ruiniert gewesen, und ich hätte mich wieder für ein Taschengeld ins Kino stellen oder Möbelhäuser eröffnen und wieder schließen können.

Ich mache also zunächst ein paar sichere Gags, von denen ich ahne, dass sie dem Publikum gefallen. Tatsächlich, sie funktionieren. Mein Blick schweift über das weit verteilte Publikum im Schlossgarten. Es sind sehr unterschiedliche Leute hier, das fällt auf. Eine Woche zuvor in Berlin waren Reichkriegsflaggen zu sehen, Nazis, aggressive Leute. Das ist hier anders. Hier könnten ein paar Altachtundsechziger genauso stehen wie ein paar Ökos mit Wildwuchs bis hin zu beinharten Corona-Leugnern.

Nach ein paar Minuten setze ich an zum entscheidenden Teil: Ich halte einen kleinen Vortrag über Meinungsfreiheit, denn hier, bei den Querdenkern, hält man sich für den letzten Ort, an dem diese noch lebendig ist. Das Refugium, in dem die Wahrheit noch einen Platz hat. Ich konfrontiere die Demonstrierenden mit meiner Meinung: dass es Corona gibt, dass es eine gefährliche Krankheit ist, dass Maskentragen und Abstandhalten sinnvoll sind. Es gibt Buhrufe. Ich versuche, den Zeitgenossen hier klarzumachen, wie eng die Grenzen ihrer Meinungsfreiheit sind, da sie meine nicht oder nur sehr bedingt hören wollen.

Ich stelle die Frage: »Wollt Ihr die totale Meinungsfreiheit?« Das ist eine bewusst gesetzte Botschaft: zum einen der Flirt mit dem abgewandelten Goebbels-Zitat, das einem das Blut in den Adern gefrieren lässt. Zugleich stehe ich vor Menschen, deren Lieblingsbegriff die Corona-Diktatur ist. Drittens ist es eine Parodie auf die falsch verstandene Freiheit, jederzeit alles herauszubrüllen, was man spontan für richtig hält, egal ob es verletzend, beleidigend oder strafrechtlich relevant ist. Meinung ist nicht Hass, das wäre die Pervertierung von Meinungsfreiheit und zugleich ihr Ende. Dann wäre Schluss mit der Meinungsfreiheit. Nach zwölf Minuten endet der Auftritt mit einem 80:20-Verhältnis: 80 Prozent des Publikums buhen, 20 Prozent scheinen zu applaudieren.

Nach der Kurzshow laufe ich von der Bühne und sehe Querdenker neben den Absperrungen stehen. Sie schauen mich an, manche schockiert, andere wütend, wieder andere kalt, ein paar lächeln anerkennend. Michael Ballweg, der damalige Kopf der Bewegung, macht seinen Job, geht auf die Bühne und betont, auch ein solcher Auftritt gehöre dazu, auch dafür stünde die Bewegung. Fair enough.

Dialektik der Meinungsfreiheit

Ich habe diesen Auftritt, der durchaus mit Risiken verbunden war, angenommen, weil ich zeigen wollte, was Meinungsfreiheit bedeutet – nämlich, dass wir einander zuhören. Dass ich mich einschleusen konnte, habe ich der Leichtgläubigkeit der Querdenker zu verdanken. Es wäre aber zu einfach, wenn wir nun annähmen, dass diese Leute eben Idioten seien, dass sie gar nichts verstanden haben und nicht einmal Freund von Feind unterscheiden können, geschweige denn dazu in der Lage seien, Satire zu verstehen.

Ich komme nur dann weiter, wenn ich sie als das Zerrbild des Mainstreams wahrnehme, also von uns allen. Ihre Leichtgläubigkeit ist unsere, gerade dann, wenn wir uns für besonders kritisch, aufmerksam und aufgeweckt halten. Wir alle folgen oft schnell und leichtgläubig Ansichten. Wir suchen Bestätigung und sind glücklich, wenn wir glauben, sie endlich gefunden zu haben. Das Internet ist nicht Ursache, aber Brandbeschleuniger dieser Entwicklung. Ich wollte zeigen, was passiert, wenn wir einer Zuspitzung, einem Ausschnitt folgen, wenn wir dem Schein glauben, in diesem Falle meiner Verwandlung zum Verschwörungsideologen.

Es ging mir ebenso darum, aus den vorgezeichneten Bahnen auszusteigen. Der Sinn meiner Arbeit als Komiker besteht darin, mich und die Menschen, die mir zuschauen und zuhören, aus ihren Gewohnheiten zu werfen, sie zu irritieren, sie zu schockieren, mindestens aber mehr Fragen als Antworten zu hinterlassen. Das war das Ziel dieses Auftritts. Es bedeutete aber auch, den eigenen berechenbaren Raum zu verlassen, mir nicht nur den vorhersehbaren Gesinnungsapplaus der Zuschauer abzuholen, sondern herauszutreten ins Feld des Gegners, dessen Kleider ich mir übergeworfen hatte.

Dialektisches Denken, wie ich es versucht habe aufzuzeigen und für das ich auch hier werben möchte, wird oft verwechselt mit einer biederen Erörterung aus dem Schulaufsatz im Deutschunterricht: mit These, Antithese und Synthese irgendwann zu einem mittelmäßigen Kompromiss kommen, der alle Seiten einbezieht und mit dem alle irgendwie leben können. Darum geht es gerade nicht. Dialektik ist keine Ministerpräsidentenkonferenz.

Sie ist das Gegenteil: Sie bedeutet, sich auf den anderen einzulassen. Der Gegner ist nicht der Feind, er ist jemand, der anders denkt als ich, mit dem ich mich im besten Sinne auseinandersetzen kann. Sich auf ihn einzulassen heißt, vorübergehend mein eigener Gegner zu werden. Wer die fremde Position bis in die letzten Fasern in sich aufnimmt, sie versteht, nachvollziehen und sogar übernehmen kann, ist in der Lage, auch die eigene Position zu hinterfragen und eine bessere, höhere, vorsichtigere oder auch entschiedenere Flughöhe zu erreichen. Nur, indem wir uns selbst erschüttern, uns selbst fremd werden, nicht mit uns identisch sein wollen, können wir wachsen.

Was wir derzeit häufig erleben, stimmt dagegen eher traurig: Die Verpanzerung in der scheinbaren Sicherheit der eigenen Meinungen, die wirkt, als wären wir Gefangene unserer Überzeugungen. Das führt schnell zu reflexhaftem Denken, statt zu reflektierendem: »Ich habe recht, und ich möchte eine Bestätigung dafür, dass ich das Recht habe, diese Bestätigung zu bekommen, eben weil ich recht habe« – so die ernüchternde Tautologie dieser Haltung. Das ist nicht nur langweilig, sondern auch gefährlich, weil es am Ende blind macht für all die anderen Eindrücke und Positionen, die in dem Graubereich liegen, der Leben heißt. Gesellschaftlich ist es Gift.

Das spüre ich auch als Satiriker in meiner Arbeit jenseits von Querdenken: Von mir wird gemeinhin erwartet, dass ich provoziere, dass ich böse und direkt bin, dass ich das sage, was sonst keiner sagt, das ausspreche, was untergeht, in den klassischen Medien angeblich unterm Radar durchfliegt oder sonst unter die Räder kommt. Zugleich aber ist die Bereitschaft vieler Menschen, sich irritieren zu lassen, erstaunlich gering. Auch als Komiker werde ich häufig eher an dem gemessen, was ich – angeblich authentisch gemeint – sage, und weniger an der Funktion, die das Gesagte hat, dem Zusammenhang, dem Umfeld, der Verkleidung, in die es gehüllt ist. Ein Halbsatz reicht, und aus Zuneigung wird Abneigung, aus einem Helden ein Gefallener, aus einem Verteidigten ein Verurteilter. Mit anderen Worten: Was hier als Kunst dargeboten wird, wird immer weniger ästhetisch, dafür immer stärker moralisch beurteilt.

Ich lebe also in einer Paradoxie, die jener der Politik verwandt ist: Während dort der Wunsch groß ist nach charismatischen Figuren, die ehrlich, eigensinnig, originell, schräg, nonkonformistisch, radikal und unverfroren sind, werden sie doch, wenn sie diese von ihnen erwünschte Rolle einnehmen, schnell gestutzt. »In verantwortlicher Position kann man doch so nicht auftreten«, heißt es dann schnappatmend. Dann sollen sie bitte wieder so sein wie die verachteten stromlinienförmigen, durchgecoachten Langweiler, denen zwar keiner mehr zuhören will, die dann aber doch irgendwie noch besser in die zugedachte Rolle passen als die ungezogenen Flegel.

Übertragen auf die Satire bedeutet das: Wir wünschen uns den, der alles sagt, vor allem das, was sich sonst keiner traut, der kurzweilig ist, Spitzen setzt, anderen auf die Füße tritt – aber wehe, es geht gegen die eigenen Überzeugungen oder gar die eigene Kohorte oder eine, die wir meinen verteidigen zu müssen. Noch schlimmer, geradezu entsetzlich wäre es, wenn die Veranstaltung ambivalent, uneindeutig und ohne klare Antwort oder Perspektive wäre und sich die Unverfrorenheit herausnähme, das Publikum in einem Raum jenseits von Gut und Böse mit den eigenen Abgründen zu konfrontieren und darin sich selbst zu überlassen. So viel Amoralismus kann das moralistische Zeitalter schwer aushalten.

Ein Satz, den ich immer wieder höre nach Bühnenshows, lautet: »Man muss bei Ihnen schon sehr aufpassen, wie es wirklich gemeint ist.« Für einen Satiriker aber sollte das nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein.

Warum wir so besonders sein wollen – und es doch nie schaffen

Woher kommt es, dass das Zweideutige und Amorphe so sehr unter Verdacht geraten ist? Ich möchte dazu einen Schritt zurückgehen und zwei Begriffe einführen, die in meinen Augen entscheidend sind für unser Thema: Einmaligkeit und Eindeutigkeit. Was verbindet sie, was trennt sie, und warum sind sie so wichtig? Einmaligkeit hat das Moment des Besonderen.[1] Wir erleben es in der Kunst, im Sport, beim Sex, beim Feiern, im Casino, im Internet. Das Einmalige kann erfreuen, schockieren, irritieren, uns an Grenzen bringen. Es ist multidimensional, vielschichtig, differenziert, nicht festlegbar, nicht greifbar, atemlos und schwebend wie der Mensch in seiner Vielfalt. Aus dem Einmaligen kommen wir anders heraus, als wir hineingegangen sind. Es ist darum auch ein Risiko: Sicher ist im Einmaligen einzig seine Unwiederholbarkeit, es entlässt uns ins Ungewisse.

Die Suche nach dem Einmaligen ist alt, begleitet uns über alle Zeiten hinweg. Was heute hinzukommt, ist die Suche nach dem Einmaligen nicht nur im Spektakel draußen, sondern die Suche nach dem Einmaligen in unserem eigenen Leben. Das ist das Versprechen und die Forderung der Gegenwart: Sei einmalig, fahre an einmalige Orte, am besten dahin, wo wenige waren, aber alle hinwollen – oder dorthin, wo alle waren, aber nichts von dem gesehen haben, was nur du gesehen hast; und halte das fest – einmalige Motive, festgehalten von einer einmaligen Kamera aus einem einmaligen Winkel. All das wirkt oft auch wie der leicht verzweifelte Versuch einer Befreiung aus einem Leben, in dem wir uns immer ähnlicher werden: Wir alle schauen dieselben Serien auf Netflix, fahren an ähnliche Orte, die gerade einen »irren Hype« erleben, und hören ähnliche Musik auf Spotify. Je ähnlicher wir einander werden, umso mehr strampeln wir, um uns als einmalige, singuläre Individuen zu präsentieren.

Dazu gehört auch, dass wir unsere Distinktionsgebote stetig verbessern – vor allem, damit wir uns von denen absetzen, die unter unserer Würde sind: Sei achtsam und aufmerksam. Ernähre dich gesund. Sei ausgeglichen. Fordere alles und gib alles und noch mehr. Bewege dich ausreichend. Liebe deinen Körper wie dich selbst und definiere deine Muskeln. Kleide dich besonders, aber auf jeden Fall fair trade. Kenne die richtigen, besonderen Leute. Erziehe deine Kinder einmalig, erkenne ihre Fähigkeiten – wenn du nur genau genug hinguckst, sind sie entweder hochbegabt oder hochsensibel oder beides. Fördere sie.

Übe einen spannenden Job aus, der dich erfüllt und sinnvoll ist, auch in Zukunft und für die Zukunft. Wohne und lebe einmalig. Lass jede Faser deines Körpers, deiner Wohnung, deiner Freunde eine Spur deiner Besonderheit sein. Zeige das auch sprachlich: Wenn du begeistert bist, dann war das, was du erlebt hast, »der Hammer«, »zum Niederknien« oder einfach »sensationell« – nicht etwa, weil es das immer ist, sondern weil du es dazu machst, weil alles, was du erlebst, auf jeden Fall der supergeile Megahit ist. Wenn du etwas erlebst, was deine Gefühle anspricht, bist du »unglaublich berührt« oder »unfassbar betroffen«. Sei nie gewöhnlich. Hinterlasse etwas. Hinterlasse dich in deiner Einmaligkeit. Und wenn dir das nicht gelingt, dann rede es dir so lange ein, bis es sich so anfühlt. Die Leere, die Zweifel und die Unsicherheit, die du im Innersten spürst, werden so zwar nicht kleiner, aber du kannst sie dir besser ausreden.

Dieses Streben nach dem Einmaligen bereitet gleichermaßen Stress wie Erfüllung, es kann Freiheit genauso bedeuten wie Zwang, kann Lust verschaffen oder Verzweiflung. Es ist im besten Sinne ambivalent.

Alles muss eindeutig sein!

Die Eindeutigkeit dagegen hat klare Konturen, sie stellt keine Fragen, sie hat Antworten; sie steht für Sicherheit und Kontrolle; sie sichert das tägliche Überleben und bildet eine Struktur, die uns durch den Alltag hilft. Eindeutigkeit steht für das Verlässliche, das Feste. Ohne sie wären wir verloren. Das ist ihre produktive, ihre existenziell wichtige Seite. Für unser Thema interessiert mich die andere, die dunklere Seite hier mehr. Eindeutigkeit steht nämlich auch für das Harte und Kalte, für die klare Grenze, für das Unumstößliche, Richtende, Urteilende, Vernichtende. Ihr Kennzeichen kann auch Erbarmungslosigkeit sein. Das Eindeutige garantiert uns, im abgesicherten Modus zu funktionieren. In ihm gleiten wir risikolos durch risikominimierte Kanäle, in denen unsere eigenen Meinungen lauter widerhallen als die fremden, irritierenden.

Meine These ist: Je einmaliger wir sein müssen, desto eindeutiger wollen wir sein. Je mehr wir uns darüber definieren, wie besonders wir sind, desto deutlicher brauchen wir den Halt des Eindeutigen von außen. Wir wollen wissen, was wahr ist und was fake, was richtig ist und was falsch, wer dafür ist und wer dagegen. Wir sind auch Ordnungsfanatiker, bitte keine Unruhe in der Einmaligkeit. Selbst der Kommentar in den »Tagesthemen« heißt jetzt ganz eindeutig »Meinung«, weil die Redaktion das Risiko für zu groß hielt, dass Zuschauer nicht mehr verstehen, dass ein Kommentar nichts weiter als eine persönliche Meinung ist.

Das, was wir für Chiffren des Einmaligen halten, sind oft nur Spuren der Eindeutigkeit: Schließlich wohnen wir doch nur mit und neben Leuten, die genauso leben und wohnen wollen wie wir. Wir verachten dieselben Leute, die noch immer nicht konsequent auf Bio setzen, sondern Billigfleisch kaufen. Wir verachten Amazon, es sei denn, bei Prime Video gibt es eine wirklich anspruchsvolle, sehenswerte Doku, die es einmalig nur dort gibt, dann machen wir eine einmalige großzügige Ausnahme. Wir minimieren das Risiko und bestärken uns in unseren guten Absichten und übersehen dabei schnell, dass wir es uns bequem gemacht haben in unseren Meinungen, die längst zu Dogmen geworden sind, die uns helfen, in doch ziemlich engen Räumen, die wir für groß hielten, ruhig zu schlafen.

Ich könnte mich damit begnügen, so viele Beispiele wie möglich dafür zu bringen, dass unsere Meinungsfreiheit bedroht oder dass das Gegenteil der Fall ist – nämlich, dass auch das Unsagbarste längst sagbar geworden ist und wir dringend neue Regeln brauchen. An beide Punkte werden wir später kommen. Es wird um die Rolle der Meinungsfreiheit im Internet gehen, um Ursachen und Bedeutung des Hasses, aber auch um die problematische Kultur der Likes und was sie in uns anrichten kann. Es wird um die Bedeutung von Lüge und Wahrheit gehen in einer Zeit, in der diese zu verschwimmen drohen. Ich werde versuchen, mich der Frage anzunähern, ob Medien wirklich einseitig berichten und nur bestimmte Meinungen zulassen. Ist es richtig, Statuen zu stürzen, Autoren zu verbannen und im Zweifel beleidigt zu sein? Für diese und viele andere Fragen sind die kommenden Kapitel da.

Ich meine aber, ich würde es mir zu einfach machen, wenn ich mich darauf beschränkte. Meine Prämisse ist: Jeder Streit, jede Frage, jedes große, bewegende Thema hat seine Zeit und fordert die Menschen heraus, die in ihr leben. Darum stelle ich zur Diskussion, warum wir heute so erbittert streiten über die Frage, wer angeblich noch was sagen, zeigen oder denken soll, darf oder muss – oder eben gerade nicht. Warum ist die Meinungsfreiheit gerade jetzt ein so großes Thema? Woher kommt dieser Wunsch nach Eindeutigkeit und Berechenbarkeit ausgerechnet heute in dieser Heftigkeit? Ausgerechnet in einer Zeit, in der wir doch so viele Möglichkeiten und Plattformen der Kommunikation und des Meinungs- und Informationsaustauschs haben wie nie zuvor? Könnten wir nicht einfach zufrieden sein, dass gefühlt alle überall jederzeit sprechen können?

Es wäre ein eigenes Buch, die historische Tiefe aller Entwicklungen auszuleuchten, die hierhin geführt haben. Mir geht es darum, unsere Situation heute besser zu verstehen. Darum möchte ich mich auf das Jahr 1989 beziehen. Ein Jahr des Epochenbruchs, ein Jahr, das uns bis heute verfolgt in seiner Einmaligkeit, gerade nicht in seiner Eindeutigkeit.

Es sind vier Ereignisse, deren Fäden an unterschiedlichen Punkten, Orten und Sphären scheinbar unabhängig voneinander beginnen, sich im Lauf der Zeit kreuzen, wieder voneinander entfernen und heute auf sowohl produktive als auch zerstörerische Weise miteinander verschmelzen. Sie alle beeinflussen die Meinungsfreiheit und unseren Blick darauf. Alle vier haben nur eines gemeinsam: ihre Gleichzeitigkeit. Und sie begründen unsere Epoche, die mindestens bis heute andauert, eine, wie ich sie nennen möchte, »Epoche der Einstürze«. Machen wir also eine kleine Reise, um unseren Gegenstand, die Meinungsfreiheit und ihre Bedeutung heute, genauer kennenzulernen:

1989 oder: der Anfang vom Ende der Meinungsfreiheit?

In Genf hat ein Mann ein Papier zusammengestellt. Es trägt den bieder-technokratischen Titel: »Information management: A Proposal.« Informations-Management: Ein Vorschlag. Die wenigen Leute, denen er es vorstellt, sind eher mäßig angetan. »Vage, aber durchaus spannend«, schreibt der Chef als Bewertung drunter. Der Autor des Papiers lässt sich nicht abhalten und macht sich an die Arbeit. Er verfolgt seine Idee, alle Informationen, die isoliert auf irgendwelchen Computern gespeichert sind, miteinander zu verbinden. Vier Jahre später, im Jahr 1993, wird das Forschungszentrum CERN die Software für das WorldWideWeb der Welt übergeben. Der Mann heißt Tim Berners-Lee und hat hier das Internet erfunden, den Ort, der alles zum Einsturz bringen sollte, was wir kannten, und der zugleich ein Paradies schaffen sollte, ein Paradies der globalen Vernetzung zum Austausch von Meinungen und Informationen.

In Teheran sitzt ein Mann, der einen anderen tot sehen will – wegen ein paar Worten. Er schickt seine Truppen, Millionen Menschen, um ihn zu finden und umbringen zu lassen. Der Mann, um den es geht, ist Salman Rushdie, indisch-britischer Autor. Er hat ein Buch geschrieben, ›Die satanischen Verse‹. Zehn Jahre nach der Iranischen Revolution verhängt Ayatollah Khomeini 1989 eine Fatwa gegen den Autor – damit ist weltweit jeder Moslem aufgerufen, Rushdie zu suchen und zu töten.

In Peking wittern sie Morgenluft im Morgenland – Panzer rollen durch die Stadt, auf dem Weg zum Platz des Himmlischen Friedens, um eine Meinungsäußerung zu beenden: Dort demonstrieren seit Wochen Zehntausende Studierende für ein liberaleres China, für mehr Demokratie und Selbstbestimmung. Am 4. Juni lässt die regierende Kommunistische Partei die Proteste gewaltsam niederschlagen, Tausende sterben. Im selben Jahr erklärt die Staatsführung die »Steuerung der öffentlichen Meinung« zu einem offiziellen Staatsziel. Dazu zählt auch, dass der Toten bis heute nicht gedacht wird. Das Massaker von Peking ist der Startpunkt des chinesischen Staatskapitalismus. Der Pakt mit dem Volk lautet von nun an: Wir holen euch aus der Armut, und ihr haltet die Klappe. Mit Erfolg: Mehreren hundertmillionen Chinesen geht es ökonomisch heute bedeutend besser, China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Wenige Monate später: Morgenluft im Abendland. In Berlin sagt ein Mann: »Nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich.« Er ist der SED-Spitzenfunktionär Günter Schabowski. Diese Worte lösen den Sturm auf die Berliner Mauer und ihren Fall aus. Die Demonstrationen der vergangenen Monate sind nicht niedergeschlagen, sondern erhört worden. Die Sowjetunion ist am Ende, es entstehen so viele Demokratien wie vielleicht noch nie. Als Wessi mit süddeutschem Migrationsvordergrund sitze ich damals, gerade zehn Jahre alt, vor dem Fernseher und ärgere mich, dass das A-Team ausfällt und die ganze Familie mit offenem Mund komischen Leuten mit seltsamen Frisuren, eigenartigen Autos und einem vernuschelten Dialekt zuguckt, wie sie hupend durch die Gegend fahren. Der Fall der Berliner Mauer symbolisiert das Ende des Kalten Krieges, das Ende des Wettrüstens zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Die Demokratie hat gesiegt, so scheint es. Die Ehe zwischen Kapitalismus und liberaler Demokratie ist besiegelt – global, now and forever. Eine neue Ordnung ist hergestellt, sie wird die ganze Welt umspannen. Die Freiheit scheint grenzenlos. Francis Fukuyama schreibt ein Buch, es heißt ›Das Ende der Geschichte‹, sein zugleich bester Titel und größter Irrtum.

Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs ist der größte Feind passé, oder – je nach eigenem Standpunkt – auch die letzte Utopie, der real existierende Sozialismus. Es folgen die 1990er-Jahre, eine berauschend leichtfüßige Zeit: »One World, One Future« wird das Motto der Love Parade, die zum ersten Mal mit etwa hundert versprengten Teilnehmern im Jahr 1989 (!) geradezu verdächtig unauffällig über den Berliner Ku’damm zieht. Ihre große Zeit aber kommt ein paar Jahre später: Es wird »eine Mischung aus Demonstration, Party und Kirchentag.«[2] Millionen tanzen zu Techno, haben Sex und nehmen Drogen, bei der jährlichen Love Parade in Berlin ebenso wie auf Raves in ganz Europa, die bald zu Großveranstaltungen mutieren. Techno wird der Klang des Jahrzehnts, eine Musik »absoluter Unmittelbarkeit und reiner Physik«[3], radikales Jetzt, Gemeinschaftsgefühl »ohne den Entwurf einer Utopie«[4].

 

Angemeldet ist die Love Parade als politische Veranstaltung, die nicht politisch sein will, jedenfalls nicht so, wie man das Politische bis dahin im Kalten Krieg verstanden hat – mit Freund-Feind-Dichotomien. Die Love Parade ist das Gegenteil, eine »sprachfreie Demonstration«[5], die sich ganz den Beats und Bildern der Freiheit überlässt. Alle Mauern und Vorhänge sind gefallen, die Bühne ist frei: Es geht nicht mehr um einengende Worte und Begriffe, das gemeinsame Medium ist die Musik, die sich dem Sagbaren entzieht und der sich alle im gemeinsamen einmaligen Rausch überlassen können – vereint im Verschiedensein. Eine Parade, die das Verbindende sucht, nicht das Trennende; Liebe statt Hass.

Ich bin pickeliger Teenager in dieser Zeit, und sowohl Love als auch Paraden sind weit weg. Für Techno bin ich nicht cool genug, ich bin schon froh, dass ich die Münchener Freiheit hinter mir gelassen habe und nun Tina Turner und Joe Cocker für angesagt halte. Ich denke vor allem an mich und bereite eine Karriere in den Medien vor, zunächst als Klassenclown, dann auch mal als Journalist, um seriöser zu erscheinen, aber eigentlich als Entertainer – ich überschätze mich maßlos, aber auf eine infantile Art. Früh erlebe ich, dass ich mich nur auf mich selbst verlassen kann, aber damit sollte alles möglich sein.

Klar, es gibt auch Probleme in Deutschland: Ihre Namen sind Solingen, Mölln, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen. Der Osten will nicht mitfeiern bei der Party und driftet ab nach rechts. Das ist nicht schön, aber der Widerstand ist groß: BAP und viele weitere würden die Nazis in Grund und Boden singen. Gegen so viel gutgemeinten Protest kämen die Glatzen auf Dauer sowieso nicht an. Akklimatisierungsprobleme mit einer neuen demokratischen Betriebstemperatur – das würde schon wieder vergehen, wenn unsere Brüder und Schwestern erst einmal verstehen würden, wie gut sie es doch bei uns haben. Dass sich hier mehr von den Konfliktlinien der Zukunft zeigen sollte als in unseren tanzgymnastischen Lockerungsübungen zwischen Mayday und Love Parade, das können wir uns beim besten Willen nicht vorstellen.

Auch die Arbeitslosigkeit ist hoch, verbunden mit der Aussicht, als Teil der Generation Praktikum in einer Art Dauerwerbesendung eines ausbeuterischen Arbeitgebers hängen zu bleiben, der außer guten Worten wenig zu bieten haben könnte. Aus der Familie höre ich, dass ich das schon verhindern würde. Wenn ich mich anstrengte, wäre alles möglich, die Multioptionsgesellschaft, dieses technokratische Wortungetüm, das uns den Himmel auf Erden verheißen soll, wartet mehr denn je auf die Besten. Die Sparkasse wirbt mit »Mein Haus, mein Auto, mein Boot« und gibt einem Jahrzehnt seine janusköpfige Überschrift: Die Selbstentfaltung wird zur neuen Norm, Authentizität ihr höchster Wert.

Unsere neue Religion scheint der Kapitalismus zu sein, gerade so, wie es Walter Benjamin im Jahr 1921 vorhergesehen hatte, denn dieser »dient essentiell der Befriedigung derselben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die einstmals die sogenannten Religionen Antwort gaben«.[6] Statt eines Gottes beten wir nun unsere Optionen an, die wir nicht einmal Wirklichkeit werden lassen müssen, es reicht schon, dass sie als Waren im Regal stehen und jederzeit verfügbar sind. Der ironischste Beweis für den Kult des Kapitalismus in seiner neoliberalen Ausprägung ist die New-Economy-Blase, die sich bald bildet und genauso schnell wieder platzt. Alle wollen an die Börse, sogar die Uncoolsten wie die Telekom, das Konzern gewordene Besetztzeichen; »Liebling Kreuzberg« Manfred Krug wirbt für die »Volksaktie«, das ist der Anfang ihres Endes. Alles ist ein großes Spiel: Der Gameboy kommt, das Tamagotchi löst den Hamster als Spielzeug ab, und das Arschgeweih zeugt von großer Freiheit – Freiheit von Geschmackssinn.

Nichts ist peinlich, nicht einmal die Musik: Whigfield, Mr. President, Ace of Base. Akustischer Plastikmüll, soweit das Ohr reicht. Immerhin kann er unsere Meere nicht verschmutzen und das wäre uns damals auch wurscht gewesen. Asien ist weit weg, aber unsere Gelbe Tonne werden sie doch wohl haben, oder? Sind wir nicht Exportweltmeister? Das Zentralorgan der Aufklärung, die »Bravo«, fragt 1998 in gewohnt besorgter »Schwanger durch Schwimmbad?«-Manier: »Online gehen – lohnt sich das?«[7] Die Junge-Leute-Darsteller auf dem Foto daneben äußern sich skeptisch. Das schallende Lachen, das nun zu hören war, kann nur aus Genf kommen.

Wir traumwandeln durch die Trümmer von Religionen und Ideologien, keiner hat uns mehr was zu sagen, außer wir uns selbst. Alles, was uns ein Dach über dem orientierungslosen Kopf bieten könnte, haben wir als Mauern um uns herum zum Einsturz gebracht. In transzendentaler Heimatlosigkeit, die wir mit neuer Freiheit verwechseln, tanzen wir taumelnd mit uns selbst um uns selbst. Und wenn uns schwindelig wird und wir zu lange getanzt haben, brauchen wir zur Entlastung keinen Beichtstuhl mehr, sondern einen Psychotherapeuten.

9/11 – Überwachung statt Sicherheit

Unsere größte Angst: Zur Jahreswende 1999/2000 könnten über Nacht ein paar Computer zusammenbrechen, und wir wissen nicht mehr, wie viel Uhr es ist. Ich mache in dieser Zeit Zivildienst, das WWW ist auch in meiner kleinen Welt angekommen. Ich habe ein erstes Handy und eine Mailadresse, an die keiner schreibt. Zu meinen Aufgaben als Zivi gehört es, Beiträge an Radiostationen zu verschicken. Die Sender bestellen anfangs noch per Fax, ich brenne den Beitrag auf CD und verschicke ihn per Post. Im Lauf des Jahres läuft die Bestellung dann per Mail, verschicken darf ich weiterhin. Wir sind stolz, wie schnell wir in der digitalen Welt angekommen sind. Die Zukunft würde großartig.

Erst am 11. September 2001 wachen wir unsanft wieder auf – und alle wissen heute noch, wo sie damals waren. Ich sitze in einem Tai-Chi-Übungsraum, den ich zum Probenraum umfunktioniert habe, und denke über erste kleine Shows nach. Der Einsturz des World Trade Center ist der heftigste Einsturz einer scheinbar eindeutigen Weltordnung, dominiert vom Westen und seinen vorgeblichen Werten. Der radikale Islam ist in der Lage, den gesamten Westen vor sich herzutreiben: Die Terroristen des 11. September haben instinktsicher die verletzlichste Stelle des Westens gefunden. US-Präsident Bush tut das Übrige: Er erklärt im Handumdrehen die halbe Welt zu einer Achse des Bösen, zieht in einen ineffizienten Krieg gegen den Terror, erfindet Massenvernichtungswaffen, um Saddam Hussein aus dem Erdloch ziehen zu können.

Der Ernst der Lage hat der Traumtänzergesellschaft der 1990er-Jahre ein donnerndes Ende bereitet: Sicherheit! Vorbeugung als letzte Chance. Das Zeitalter des Strebens nach Eindeutigkeit hat begonnen. Wo stehst du? Auf der Seite der neuen Barbaren oder auf der Seite der alten Freiheit? Ist diese alte Freiheit vielleicht schuld daran, dass die Barbaren erst zu Barbaren werden konnten? Zwölf Jahre ohne Feind sind genug, das Taumeln hat ein Ende, die Musik ist aus, das Licht ist an. Wenn wir nun die Tür aufmachen, steht nicht mehr der Russe davor, sondern der Moslem. Oder der Amerikaner. Beide sind ein anderes Kaliber. Heimlich sind wir auch ein wenig neidisch: Dort, bei den Islamisten, sterben sie noch für etwas, sie haben, was uns fehlt, einen Glauben, ein ordnendes System. Sie haben, was wir zum Einsturz gebracht haben: ein Dach über dem Kopf. Sie haben Normen, Werte, wenn auch die falschen, aber sie haben immerhin welche.

Wir müssen aufholen und wissen doch nicht, wie. In ihrer Hilflosigkeit schnüren Regierungen in aller Welt eilig Pakete mit Anti-Terror-Gesetzen – sie gelten natürlich nur, bis die Gefahr vorüber ist! Die Geheimdienste mutieren zu einer Art zweiter Polizei, ohne so kontrolliert zu werden wie die Polizei. Sie dürfen jetzt Informationen einholen – bei der Lufthansa genauso wie bei der Telekom und der Sparkasse. Vorbeugung heißt: Jeder ist verdächtig. Die Anti-Terror-Gesetze jener Zeit werden viermal um je fünf Jahre verlängert. Sie gelten bis heute. Sie gehören dazu, keiner schert sich mehr um sie. Wir wollten Sicherheit und bekamen Überwachung. Hatten wir das nicht ein für alle Mal hinter uns gelassen? Trotz aller Gesetzesverschärfungen kommen die Anschläge näher: Madrid, London, Paris, Nizza, Berlin. Zwar haben sich die Waffen der islamistischen Terroristen verändert: Sie nehmen jetzt nicht mehr das Flugzeug, sondern steigen erst vorübergehend auf öffentliche Verkehrsmittel um – U-Bahnen wie in Brüssel –, schießen sich schließlich doch bevorzugt auf das Auslaufmodell des Verbrenner-Autos ein: Oft sind es Transporter, ab und zu auch ganz normale Personenkraftfahrzeuge, mit denen sie als radikalisierte Einzeltäter auf Weihnachtsmärkte und Strandpromenaden brettern.

Salman Rushdie ist zum Glück bis heute am Leben, wenngleich er sich selbst nachvollziehbar als »gefangen und geknebelt« bezeichnet, sein japanischer Übersetzer dagegen wurde erstochen, sein italienischer und sein norwegischer Verleger bei Attentaten verwundet.[8]

Beim Terroranschlag auf die französische Satirezeitung ›Charlie Hebdo‹ im Januar 2015 ruft zwar die ganze Welt eifrig »Je suis Charlie«, um sich zu solidarisieren, was so nett wie folgenlos ist. Ehrlicher ist da die Äußerung eines britischen Journalisten, der schreibt: »Ich bin nicht Charlie, ich bin nicht mutig genug.«[9]

Heute wissen wir: Das vielbeschworene Ende der Geschichte war ein grandioser Neustart. Die Einstürze haben zu neuen Mauern geführt, der Tanz auf den Trümmern war nicht die Stopptaste der Weltgeschichte, sondern nur der Mute-Knopf. Der Zerfall der Sowjetunion hat nicht mehr Demokratie gebracht, im Gegenteil: In Zentralasien wächst der Einfluss des radikalen Islam, von Russland über Kasachstan bis nach Aserbaidschan haben sich autoritäre Regierungen durchgesetzt, in Osteuropa ist der Trend in Ungarn und Polen ähnlich. Weltweit erstarken Rechtspopulismus und Provinzialismus, wie Trumpismus und Brexit gezeigt haben. Die Eindeutigkeit ist mit voller Wucht zurückgekehrt.

Zensurqueen China – unsere heimliche-unheimliche Geliebte

Am fulminantesten zeigt sich der Neustart nach dem Ende der Geschichte in China: 2019 besiegelte das Land die kommende Weltordnung vorerst symbolisch, indem es die neue Seidenstraße einweihte – ein Netz von Handelswegen von China nach Asien, Afrika und Europa. Fukuyama, der Prophet von gestern, war geladen als Festredner und Claqueur.

Vom Massaker des 4. Juni 1989 ist in China indes nichts geblieben. Alles, was damals passierte, ist gelöscht. Internetseiten, die aufklären könnten, hat die Staatsführung gesperrt. Das World Wide Web, dieses riesige Versprechen der grenzenlosen Meinungsfreiheit, ist fest in den Händen seiner Manipulatoren: In den USA in denen der Tech-Konzerne, in China in denen der Regierung.

Viele junge Menschen in China wissen gar nicht, was in der Nacht des 4. Juni 1989 passiert ist. Vielen der 20000 bis 50000 Menschen, die in China als Zensoren arbeiten, musste die Führung erst beibringen, dass sie ein Ereignis zensieren sollen, von dem sie nicht wissen, dass es dieses gibt, weil es ja angeblich nicht stattgefunden hat.[10] Die Regierung nennt das: die Informationssouveränität garantieren. Faktisch bedeutet es: Die Partei entscheidet, was die Menschen zu sehen bekommen. Die Zensur in China ist in der Weltgeschichte einmalig.[11]

China kennt kein Google, kein Facebook und kein Twitter. Dort heißen die drei Baidu, RenRen und Sina Weibo. Nicht zu vergessen das chinesische WhatsApp, das WeChat heißt und anders als bei uns eine App für alles ist: Sie können damit Sprachnachrichten schicken, Videotelefonate führen, Fotos, Videos, Kontaktinformationen und Aufenthaltsorte teilen, Taxis, Lebensmittel oder Essen bestellen, Restaurant- und Stromrechnungen bezahlen, Jobs oder Leute in der Nähe suchen, Arzttermine buchen, Visa beantragen, Spiele spielen und eigene Mobile-Stores betreiben. Die App ist pflichtgemäß mit Ihrem Bankkonto verbunden. Strafen werden direkt vom Konto des Täters abgebucht. Das Tracking der Standorte lässt sich nicht ausschalten.

Chinesische Onlineredakteure berichten, dass sie manchmal Texte ins Netz stellen, von denen sie wissen, dass diese nach zehn Minuten gelöscht werden. Aber besser zehn Minuten Meinungsfreiheit als gar keine. Der Erfolg Chinas beruht darauf, dass niemand so genau weiß, was der Kontrollapparat gerade zulässt und was nicht. Die neuen Mauern sind härter und beweglicher zugleich. So entstand ein Klima der Angst und Selbstzensur.[12]

Das Sozialkreditpunktesystem tut das Übrige: Für alles, was Sie tun, bekommen Sie Plus- oder Minuspunkte. Wenn Sie bei Rot über die Straße laufen, bekommen Sie einen Minuspunkt. Wenn Sie einer Oma über die Straße helfen, bekommen Sie einen Pluspunkt. Wenn die Oma auch wirklich über die Straße wollte, bekommen Sie noch zwei Punkte. Fallen Sie unter ein bestimmtes Punktelevel, bekommen Sie keine Flüge, Hotels oder Kredite mehr. Hier kriegt der Begriff Payback-Punkte eine ganz neue Bedeutung. Alle privaten und staatlichen Datenbanken sind dabei, sich vollständig zu vernetzen, um Sie zu bewerten: Von AAA für »sehr gut« bis D für sehr schlecht. Der Mensch wird bewertet nach seiner Effizienzklasse – wie ein Kühlschrank.

Das Erstaunliche ist: Trotz ungeheurer Einschränkungen der Meinungsfreiheit ist China zu einem Sehnsuchts- und Fluchtpunkt vieler insbesondere linker und linksliberaler Mitteleuropäer geworden. Eine krude Mischung aus Yin-Yang-Morgensonne-Yogamatten-Begeisterung, gepaart mit großer Bewunderung für die ungeheure Effizienz hat Einzug gehalten.

Der Frankfurter Philosoph Axel Honneth konnte immerhin noch eingestehen, dass seine eigenen Worte zynisch klingen vor dem Hintergrund immenser Demokratiedefizite, was ihn aber nicht davon abhielt, diese zu formulieren: China sei für ihn »ein interessantes Projekt, in dem die Staatspartei aus dramatischen Verbrechen Konsequenzen gezogen hat und die Verzahnung von Markt und Gleichheit zu erproben versucht.«[13] Das war 2013 – das Jahr, in dem ein spannendes Papier der Kommunistischen Partei den Weg an die Öffentlichkeit fand: Es hieß ›Dokument Nr. 9‹ und warnte Regierungsmitglieder vor verschiedenen gefährlichen Konzepten des Westens: Dazu zählten unter anderem der demokratische Rechtsstaat, die Zivilgesellschaft und die Unterstützung von freiem westlichem Journalismus. Verboten ist seitdem die Aussage, dass Freiheits- und Menschenrechte westlichen Typs universal und ewig sind.[14] Wo genau sind da die Konsequenzen, die von der Staatspartei gezogen wurden? Habe ich was verpasst?

Deutsche Politiker in China: »aber diese großartige Effizienz!«

Während ich in Deutschland Applaus bekam mit einer Parodie auf Stoibers Transrapid-Rede – »Sie steigen in den Hauptbahnhof in München ein in zeeeeehn Minuten« –, fuhr eine Delegation rund um den damaligen Bundeskanzler Schröder zum Jahreswechsel 2002/03 nach Shanghai, um sich anzugucken, wie ein Transrapid aussieht, der schneller gebaut ist, als Stoiber einen Satz beenden konnte. Der Zug verbindet Shanghai mit dem Flughafen Pudong – Höchstgeschwindigkeit: 430 km/h, Fahrzeit für die 35 Kilometer: acht Minuten.

Mit im Gepäck hatte Schröder ein paar Manager der am Bau beteiligten Konzerne thyssenkrupp und Siemens. Vor Ort traf die Truppe einen Herrn, der sich Commander Wu nannte. Commander Wu war dafür zuständig, das Projekt zackig fertigzustellen. Zu seinen Aufgaben zählte auch, den Menschen, die an der Strecke lebten, mitzuteilen, wann sie die Koffer zu packen hätten, um sich umsiedeln zu lassen. Das passierte schon, bevor auch nur ein Vertrag unterschrieben war. Wie Teilnehmer berichten, waren die Konzernchefs schwer angetan und frohlockten eher sehnsüchtig als ironisch: Einen Commander Wu bräuchten wir bei Bauprojekten in Deutschland auch. Planungsprozesse, Verwaltungsgerichte, Einbeziehung von Anwohnern, alles lieb und nett, aber auch teuer und umständlich. Klar, die Sache mit der Demokratie ist ein bisschen schwierig in China, aber die Effizienz ist schon klasse. Beschwipst von dieser Erkenntnis, feierte die Delegation anschließend auf dem Rückflug fünfmal Silvester – einmal in jeder Zeitzone.

 

Im Lauf der COVID-19-Pandemie hörte ich staunend, wie die Stimmen nach einem Corona-Commander Wu noch einmal deutlich lauter wurden: Je chaotischer das Management der Bundesregierung in der Pandemie wirkte, desto häufiger wurde neben Südkorea und Taiwan auch auf China als Erfolgsmodell im Kampf gegen das Virus verwiesen. Ein Land, das einfach besser und schneller durch die Pandemie komme, weil es eben auch nicht diesen lästigen Datenschutz im Weg habe, der eine effiziente Corona-Warn App und ähnliche Maßnahmen verhindere. »Da muss der Datenschutz dann mal hintenanstehen in einer solchen Ausnahmesituation«, riefen streckenweise dieselben Leute, die sonst bei jeder WhatsApp-AGB-Änderung laut »Meine Daten gehören mir« brüllen und hektisch ihre Kontakte umleiten auf unverdächtigere Plattformen, auf denen der Datenschutz noch was gilt.

Der Wunsch nach einer politischen Instanz, die eindeutig ist und klare Entscheidungen trifft, wächst gerade in schwer kontrollierbaren, weil unvorhersehbaren Ausnahmesituationen, gefährlich an. Woran liegt das? Vielleicht ist es so, weil »es gerade in den wichtigsten Dingen wichtiger ist, dass entschieden werde, als wie entschieden wird«. Wichtig dabei: »Keinem Irrtum unterworfen zu sein und keines Irrtums angeklagt werden zu können.«[15] So formulierte es der Staatsrechtler und Kronjurist der Nazis, Carl Schmitt – geradeso, als hätte er Jens Spahn persönlich gekannt.

Spahn hatte im Zuge der Pandemie das Handy-Tracking ins Infektionsschutzgesetz schreiben wollen – nicht freiwillig, sondern gesetzlich verpflichtend. Das Ziel: Nicht nur Sozialkontakte, sondern auch Aufenthaltsorte und Bewegungen von Menschen via Smartphone lückenlos nachverfolgen zu können. Der Staat sollte Zugriff auf die Verkehrs- und Standortdaten von Corona-Infizierten haben. Aufgrund massiver Kritik zog Spahn sein Vorhaben zurück – vorerst. Aber hey – die nächste Pandemie kommt bestimmt.[16]

Das Robert Koch-Institut hat eine App entwickelt, in der Nutzer ihre Daten aus Fitnesstrackern und Smartwatches freiwillig spenden können. Die Daten, um die es geht, sind die Herzschlagraten, die auch Emotionen widerspiegeln. Gut möglich, dass irgendwann die Daten einer Corona-App mit denen von Fitnesstrackern zusammengeführt werden, beispielsweise um damit auch eine Quarantäne digital zu überwachen – mit einer Art elektronischer Pandemie-Fußfessel. Spätestens wenn es so weit ist, sollten wir uns überlegen, statt des 9. November 1989 vielleicht doch den 4. Juni 1989 zu unserem großen historisch wegweisenden Gedenktag zu machen.

Meine Meinung ist meine Festung!

Damit zurück nach Stuttgart: In den letzten Minuten meines Querdenken-Auftritts erlag auch ich der Verführung der Eindeutigkeit. Gegen Ende erging die unmittelbare Aufforderung »Maske tragen, Abstand halten, nachdenken« ans Publikum. Das war nicht mehr das Moment des Einmaligen, das seine Kraft aus der Uneindeutigkeit zwischen Schroeder eins und Schroeder zwei bezog, sondern des Eindeutigen. Es ist eine Reverenz an die Bühne, die ich als Bühne einer Demonstration für eine Weile okkupieren und nutzen konnte für das Spiel mit dem Uneindeutigen, die aber in letzter Konsequenz keine Bühne der Kunst, sondern eine des Bekenntnisses ist.

Zweifellos ist das meiste, was Querdenker vom Stapel lassen, irrig. Wie so oft bei Verschwörungsideologien gibt es aber einen wahren Kern. Ihre Intuitionen sind zwar nicht abgesichert, aber auch nicht komplett falsch. In ihrer völligen Paranoia vor Überwachung und Zwang haben sie aber einen Punkt, und Jens Spahn gibt alles, damit dieser Treffer wirkt. Auch ihre Autoritätsskepsis hat einen produktiven Teil: Die Verführung zum schnellen Durchgreifen ist da, insbesondere in einer Ausnahmelage wie einer Pandemie. Sobald die Maxime, es sei wichtiger, dass entschieden werde, als wie, sich durchsetzt, sind wir autoritären Verführungen wieder einen großen Schritt näher gekommen. In der eiligen Verteidigung von schnellen Ministerpräsidentenkonferenzen-Entscheidungen war dies auch in Deutschland immer wieder zu beobachten. Es ist wichtig zu betonen, dass wir auf einem gefährlichen Weg sind, wenn wir von »Sonderrechten für Geimpfte« sprechen oder von Grundrechten als »Privilegien« oder »neuen Freiheiten«, wie es die Kanzlerin getan hat.[17]

So zu tun, als seien Grundrechte ein Luxus, verkehrt das Verhältnis von Normalzustand und Ausnahmezustand. Die Einschränkung der Grundrechte ist der Ausnahmezustand, nicht die Rückerlangung alter Freiheiten, für die wir als angeblich neue Freiheiten dankbar sein müssen. Als ich dies so ähnlich getwittert habe, war ich für die Hälfte der Kommentatoren unter dem Tweet in der Ecke der Verschwörungserzähler. »Das passt nicht so recht zur Rede in Stuttgart«, hieß es da überrascht. Oder von der anderen Seite: »Nun schau an: Jetzt fällt es auch dem Satiriker ein.«[18]

Das ist das vorhersehbare, langweilige Muster: Ein Gedanke steht nicht für sich, wird angeschaut, gewendet und befragt, sondern sortiert nach der Frage: Gehört sein Urheber zum eigenen oder zum fremden Lager? Spricht hier ein Unverdächtiger oder ein heimlicher Abtrünniger? Das bringt Gedanken auf das Niveau von Hämorrhoiden, die nur noch da sind, um verödet zu werden.

Ich meine, es ist wichtig, diese Probleme der sprachlichen Verrückung anzusprechen, gerade um dieses berechtigte Kritikfeld nicht den Querdenkern zu überlassen, sondern sie zu formulieren aus der Position des mit vielen Maßnahmen der Bundesregierung weder in pauschaler Zustimmung noch in pauschaler Ablehnung, sondern in kritischer Solidarität Verbundenen.

Es ist das Gefühl einer überbordenden Unübersichtlichkeit der Welt, ihrer Ausdifferenzierung und Vielschichtigkeit, die uns zu zwingen scheint, ihr Eindeutigkeit entgegenzustellen. Das Leiden an dieser Situation hat Jan Delay in seinem Song »Scorpions Ballade« in selten erreichtem näselndem Weltschmerz zusammengefasst: »CSU ist Kernkraft-Gegner, während Nazis für Palästina demonstrieren. Die Faschos hören 2Pac, die Bullen Bob Marley. Wo sind meine Freunde? Wo sind meine Feinde? Wo ist mein Zuhause? Ich fühl mich so alleine!«

Die transzendentale Heimatlosigkeit, die sich wie eine Welle der Befreiung anfühlte und uns durch die Jahre 1989 bis 2001 getragen hat, überrollt uns heute und drückt uns zu Boden. Um es mit einem Begriff der Pandemie zu sagen: Wir konnten nicht auf Dauer vor der Welle bleiben. Der Kapitalismus als Religion ist zwar weiterhin aktiv wie ein dauerhaft alles veränderndes, aber kaum bemerkbares Software-Update im Hintergrund eines Betriebssystems, aber er ist erweitert worden. Im Zuge unserer Einmaligkeits-Einberufungsbefehle haben wir uns zugleich selbst vergöttlicht: Wir haben uns befreit von Adel, Klerus, Staat und Ideologie und finden uns wieder als die mutmaßlich letzten Schöpfer unseres eigenen Universums. So machen wir uns unsere Welt untertan. Unsere Allmacht erstreckt sich auf unseren Körper, den wir uns unterwerfen, indem wir seine Definition, Vermessung und Potenz täglich zu steigern versuchen. Ebenso zeigt sie sich in unserem Geist, indem wir die Meinungsfreiheit wie eine Monstranz vor uns hertragen: Unsere Worte, die wir benutzen, und unsere Bilder, die wir von uns und der Welt machen, sind heilige Schriften, niemand darf sie jemals infrage stellen. Darum wollen wir nur das hören, was wir selbst sagen, und nur das sagen, was wir selbst gerne hören, und nur das sehen, wo wir selbst zu sehen sind. Du sollst dir ein Bildnis machen. Wir sind Apostel und Inquisitoren in einer Person.

Oder, um es etwas säkularer zu sagen: Eine englische Floskel heißt My home is my castle. Mein Zuhause ist mein Schloss. Das bedeutet: Dort, wo ich zu Hause bin, bin ich sicher, dort kann ich machen, was ich will. Heute müssten wir sagen: Meine Meinung ist meine Festung. Hierhin habe ich mich zurückgezogen, hier kann ich sagen, was ich will, hier kann ich scharf schießen und doch die Zugbrücken hochziehen, wenn es mir passt und andere Meinungen mir auf die Pelle rücken. Hier bin ich ganz mit mir identisch und garantiert davor gefeit, wachen zu müssen. Hier bin ich einmalig und eindeutig zugleich. Meine Meinung ist das letzte Haus, das nicht vom Einsturz bedroht ist – und wenn doch, dann werde ich es mit Klauen und Zähnen verteidigen. Auch wenn es Tote gibt.

Wie gefährdet ist die Meinungsfreiheit?

Inquisitoren gegen Märtyrer – die Geschichte von Helen und Hans-Peter

An einem ganz normalen Morgen macht Hans-Peter Schluss. Endlich Herr statt Sklave! Hans-Peter, Mitte-Ende fünfzig und einer von uns, so gewöhnlich, dass es fast schon wieder ungewöhnlich ist. Er schnürt seine Turnschuhe, geht morgens aus dem Haus, mit einem Vorsatz noch fester als sein Schuhwerk. Er wird dem Affen, der behauptet, sein Chef zu sein, mal ins Gesicht sagen, was er von ihm hält – nämlich, dass er ein hirnverbranntes Arschloch ist. Hans-Peters Frau, die er in einem Zustand geistiger Umnachtung einst geheiratet hat, fragt ihn noch im Gehen: »Warum die Turnschuhe im Büro, Happi?« Happi nennt sie ihn seit Jahren, obwohl er es hasst. »Happi wie Schappi, das Hundefutter«, hatte sie mal auf dem 60. Geburtstag eines Freundes von ihm gesagt. Seitdem war der Ofen aus.

Um 10 Uhr ist sein Termin beim Chef. Die Tippse mit den aufgesetzten Nägeln im Vorzimmer grinst ihn schon wieder so blöd an, wie sie immer grinst, wenn er in ihrer Vorhölle aus Billigparfum fast erstickt. Als die Tür zur Hölle aufgeht, geht Hans-Peter aufrecht hinein. Er muss jetzt stark sein. Durchhalten und im richtigen Moment die Bombe platzen lassen. Die Tür fällt vielversprechend hinter Hans-Peter ins Schloss.

Ziemlich weit weg und doch so nah, in einer unheimlichen Nachbarschaft, wacht Helen auf. Ende zwanzig, Anfang dreißig, auf jeden Fall woke, also erwacht, nicht nur jetzt, sondern immer, Tag und Nacht. Unsanft geweckt von ihrem Smartphone, das sie schon die halbe Nacht wach gehalten hat. Sie braucht keinen Wecker, sie hat Benachrichtigungen. Push-Nachrichten, die den biologischen Rhythmus großzügig ignorieren. Das kalte Licht des Displays leuchtet grell und erlaubt dem Typen neben ihr, mit dem sie seit einiger Zeit schläft, im Dunkeln zu bleiben. Na ja, was heißt schläft? Meist bläst sie sich rechtzeitig aus der Nummer raus. Wenn er in ihrem Mund kommen kann, ist er happy und hört ihr nachher brav zu. Das ist wichtiger, schließlich hat sie eine Menge zu erzählen. Ein bisschen anstrengend ist er, Marke Schoßhündchen, aber wenn er nervt, lässt er sich ganz gut abwimmeln und geht brav zurück in sein Körbchen. Und heute früh ist kein Platz mehr für ihn und seinen widerlichen morgendlichen Mundgeruch, Helen muss die Welt retten.

Sie öffnet die Twitter-App und hat schon vorher eine tierische Wut im Bauch. Eine Wut, wie sie nur die Diskriminierten und Unterdrückten kennen. Sie sieht, es war viel los in den Stunden ihres Schlafs – und der Grund ist sie: Gestern, im Halbschlaf, hatte sie Nico, einen deutschen Comedian, im Fernsehen gesehen, irgendeine lustig gemeinte Plapperrunde, in der weiße Menschen mit weißen Menschen über Dinge reden, die weiße Menschen einfach nichts angehen, wie sie, als Person of Color, klar definieren kann.

Es hatte sie fucking unfassbar wütend gemacht, als Nico, der Comedian, irgendwas von Sprachwächtern und Gedankenpolizei und Orwell laberte und davon, dass er mittags Mohrenköpfe esse und abends Zigeunerschnitzel und dass er sich nicht verbieten lasse, morgens einen schwarzen Kaffee zu trinken und anschließend als Schwarzfahrer in den Schwarzwald zu reisen, wobei er schwarz auf eine dermaßen penetrant rassistische Weise betonte, dass ihr ganz schlecht wurde. Den Ausschnitt hatte sie zack zack herausgeschnitten und auf Twitter gepostet. Drüber schnell noch der Hinweis: »Deutsches Fernsehen 2021? Wie lange noch???«

Jetzt, sieben Stunden später, war der Clip viral gegangen. Tausendfach geteilt, noch viel häufiger geliked. Die Welt ist in Ordnung. Wären da nicht die ganzen Hater und Rassisten, die ihr, der Kämpferin für Respekt und Toleranz, jetzt vorwerfen, sie habe dieses Zitat gar nicht im Kontext gesehen, sondern bösartig verkürzt, aus dem Zusammenhang gerissen und Nico, den Comedian, vollkommen verfälscht dargestellt und so ans Messer geliefert. »Wo soll bei einer solchen rassistischen Kackscheiße schon der Zusammenhang sein?«, twittert sie zielgenau in die digitale Unendlichkeit. Noch bevor sie sich einen Kaffee macht, retweetet sie jede Beleidigung, die ihr entgegengeschleudert wird, bringt sie in Umlauf, macht sie so groß wie ihre Wut darüber. Die Welt soll sehen, wie scheiße die Welt ist. Manchmal retweetet sie mit einem schnippischen Drüko, wie der versierte Twitter-User sagt. Nein, keine Drückerkolonne, ein Drüberkommentar über dem eigentlichen Tweet – um diesen für die Nachwelt ins rechte Licht zu rücken. Der angegriffene Spaßmacher schweigt. »Der eierlose Lurch«, schreibt sie in einem weiteren Post, nachdem sie zuerst Schwanz schreiben wollte, aber dann festgestellt hatte, dass das Bild schief war, denn wo keine Eier sind, da ist auch kein Schwanz, oder? Klar, wenn’s ans Eingemachte geht, schweigen sie, die weißen Macho-Männer.

Es gelingt Helen gerade noch, die Followerzahlen ihres Twitter-Accounts zu checken und zu sehen, dass ihr Account um 4897 Follower reicher ist. Bei einer Zahl von bislang 50000 eine anständige Ausbeute für eine Nacht. Im letzten Moment schafft sie noch das Wichtigste an diesem denkwürdigen Morgen: dem Comedian Nico zu entfolgen, der diesen Rotz von sich gegeben hat. Sie war ihm erst vor drei Wochen gefolgt, als er im Fernsehen einem dieser reaktionären alten Politikersäcke verbal richtig in die Fresse gehauen hatte. »Ich könnte gerade sterben vor Begeisterung! Ich möchte dich heiraten!«, hatte sie damals geschrieben. Jetzt ist er eben Rassist. So ändern sich die Zeiten.

Sie muss noch schnell ans Telefon, weil ihre Redaktion anruft. In der linken Tageszeitung, in der sie eine Kolumne hat, ist man ganz aufgeregt. Sie müsse heute unbedingt was liefern, man müsse ein großes Stück von ihr im Blatt haben, einen Aufmacher zu Rassismus, Sexismus und Misogynie. Mit viel Gefühl und ein bisschen Witz, so, wie man es von ihr kennt. Ganz wichtig: Vor allem müsse es darum gehen, wie es jetzt für sie sei, Opfer zu sein. Ob sie sich nach alldem überhaupt noch aus dem Haus traue. Ja, sagt Helen, sie traue sich noch aus dem Haus, und verlässt es wie zum Beweis live am Telefon, in der Annahme, der nächste Anruf müsse vom Bundespräsidenten kommen, um ihr das Bundesverdienstkreuz umzuhängen. Und wenn nicht, dann wäre der eben auch ein Rassist.

»Sie können die Tür offen lassen«, hat der Chef gesagt, als Hans-Peter sein Büro verlassen hat. Hans-Peter folgt der Aufforderung, so wie er eigentlich immer allen Aufforderungen gefolgt ist. Die Tür fällt jetzt nicht mehr ins Schloss. Er steigt in seinen Fiat Panda und fährt erst mal in den Wald, um seine Wut herauszuschreien. Seine unfassbare Wut auf seinen Chef, der so verdammt freundlich war, dass das Wort Arschloch während des gesamten Gesprächs in etwa so weit weg war wie der heutige Joschka Fischer von einer Backpacker-Tour durch Südostasien. Warum nur war er so ein Versager, ein Weichei, ein Schlappschwanz, der immer dann versagt, wenn es drauf ankommt?