Hätte, hätte, Fahrradkette - Florian Schroeder - E-Book

Hätte, hätte, Fahrradkette E-Book

Florian Schroeder

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Beschreibung

Die Welt ist verdammt unübersichtlich: Haben wir die Wahl zwischen 26 Sorten Marmelade, kaufen wir Honig. Suchen wir nach Gründen für unsere Entscheidung, sind wir unzufrieden mit ihr. Aber Leben ist entscheiden. In jeder Sekunde. Florian Schroeder will lernen, Entscheidungen zu fällen. Und beschäftigt sich ganz nebenbei mit den großen Fragen der Menschheit: Entscheiden wir überhaupt selbst? Oder tut es unser Bauch? Ist vielleicht doch unser Kopf der Entscheidungsträger? Das Hirn? Und was machen dann die mit Kopf, aber ohne Hirn?

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Seitenzahl: 414

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Florian Schroeder

Hätte, hätte, Fahrradkette

Die Kunst der optimalen Entscheidung

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Vorwort«Nur wer alle Optionen kennt, kann optimale Entscheidungen treffen!»AlltagSnooze Alarm – einmal richtig aufstehenGegen den Uhrzeigersinn – warum wir kaufen, was wir nicht brauchenBrust oder Keule – warum falsche Entscheidungen besser sind als gar keineDer PsychotestBerufIm Auge des Assessment-Centers – von Entscheidern, die nicht entscheiden wollenSicheres Geld oder warum Geld und Sicherheit nie in einen Vertrag passenWer bietet weniger? Warum Frauen und Männer immer noch unterschiedlich viel verdienenMehr oder weniger ist mehr? Der Stress mit den ewigen VergleichenFeierabend!PartnerschaftWenn die Zahlen entscheiden – von der Partnersuche im InternetWer riecht denn hier? Entscheidungen beim ersten MalKings and Queens – was unsere Matratzen über unsere Beziehungen erzählenWenn Schmetterlinge eingemottet werden – vom richtigen SchlussmachenGeldDas Kaninchen vor der Schlange – warum wir schlechte Geldentscheidungen treffenMietest du noch, oder kaufst du schon? Von effektiven Jahreszinsen und anderen Mietdschungel-PrüfungenVon Bullen und Bären – erfolgreiche Geldanlage ist kein StreichelzooBetrügen geht über probieren – von Zalando-Zockern und HoeneßbrüdernGesundheitHeavy Metal oder wie ich Handlesen lernteGlanz und Elend der IntuitionDer frühe Vogel fängt den Krebs – was bringen Screenings?OP or not OP? Wie Sie sich noch schneller ins eigene Fleisch schneidenBasic, Smart und Flexi – was Organspender mit Billigfliegern gemeinsam habenAlways check six – warum jeder gute Arzt auch Pilot sein sollteDoktorspielchen – wenn Arzt und Patient gemeinsam entscheiden sollenDr. Außer House – von Pharmapfeifen und TransplantationstricksernKinderDie Guten ins TöpfchenIce Ice Baby – von der Abschaffung der WechseljahreKevin allein zu Haus – von richtigen Entscheidungen und falschen NamenOhne Rohmilchkäse und garantiert glutenfrei – Notizen aus der optimalen KindheitNachsitzen! Wenn NSA-Eltern Lehrer spielenPolitikDie offenen Geheimnisse der Autokratie, oder wollen wir wirklich wählen?WählerentscheidungenDas Unheil der Politastrologen – warum Meinungsforscher meistens danebenliegenWählen, ohne zu wählen – wie Politiker entscheidenEinbahnstraße – woran Großprojekte scheiternAber nur mit Helm! Warum wir Verbote so liebenExitNora und ich ...Nachwort150 Millisekunden oder von den Chancen der gelassenen EntscheidungLektüretippsLösungen

Vorwort

«Nur wer alle Optionen kennt, kann optimale Entscheidungen treffen!»

Das Haus, das meiner Wohnung gegenüberliegt und eine Weile leer stand, ist wieder bezogen worden. Eine hippe Internet-Werbeagentur ist der neue Mieter. Der Claim der Firma heißt «Nur wer alle Optionen kennt, kann optimale Entscheidungen treffen». Auf der Homepage der Firma steht er unter «Philosophie».

Es handelt sich hier um einen Mobilatsatz. Er muss einwirken. Ich nehme mir vor, ihn nicht gleich in die Tonne der dummdreisten 08/15-Slogans zu kloppen, sondern ihn wie ein Brause-Bonmot auf der Zunge der Aphorismen zergehen zu lassen. Es gibt diese Momente, in denen ein Satz, eine Formulierung einen Punkt trifft. Der Moment, in dem das Lächerlichste, Übersehenswürdigste vielleicht die eigene Zukunft bestimmen wird. «Nur wer alle Optionen kennt, kann optimale Entscheidungen treffen …» Der Satz hallt nach: Ausreichend Optionen habe ich; oft mehr, als mir recht sind. Und entscheiden kann ich mich oft trotzdem nicht. Ich gehöre zur schorlifizierten HUGO-Generation. Von allem etwas, aber nichts richtig. Ausgehen oder zu Hause bleiben, Sex oder Liebe, Orangen- oder Apfelsaft? Andauernd fühle ich mich überfordert, hadere, zaudere und scheitere an den kleinen Fragen des Alltags – und laufe durchs Leben wie ein Hamster in seinem Rad. Am Ende kaufe ich eine Rhabarbersaftschorle und fühle mich schlecht. Will ich in den Urlaub fahren, weiß ich zwar sehr zielsicher, wohin ich nicht will: in die Berge, dahin, wo’s kalt ist, und in die Berge, in denen es kalt ist. Daraus lässt sich geschwind ableiten, was ich will: alles, wo man wenig anhaben muss. Aber sobald es um die Wahl der Unterkunft geht, ist meine Entschiedenheit dahin, wie ein Feuer unter einem feuchten Handtuch. Die Frage «Appartement oder Hotel» bekommt schnell die Qualität höherer Mathematik. Sobald ich mich grundsätzlich entschieden habe, bin ich schon mit einer Hand im Internet, während die andere noch immer voller Zweifel zittert. Wer mich loswerden will, muss mich nur auf eines der unzähligen Vergleichsportale loslassen. Für Tage bin ich verschollen, gefangen zwischen Preisen, Sternen und Qualitäten unterschiedlicher Unterkünfte. Mehrere Wochen widme ich mich den sprachlich hingerotzten, von chronischem Legasthenie-Schimmelpilz befallenen Kommentaren der Nutzer, die das Mobiliar vor Ort womöglich so hinterlassen haben, wie sie hier schreiben: vollgekotzt und zugeschissen. Wenn ich sehe, dass das privat reisende Swingerpärchen «Knuddelknautschzone69» aus Bad Oldesloe mein erwähltes Appartement negativ bewertet hat («In der Dusche war kaine Badevanne!»), will ich da schon nicht mehr hin. Eine Spur Selbstverachtung mischt sich dann schnell in mein Tun, schließlich verachte ich Menschen, die im Internet schlecht gelaunt und frei von Takt und Ton irgendetwas kommentieren, so sehr wie sonst nur Leute, die Pilze am Wegesrand mit dem Spazierstock zertrümmern. Und jetzt lese ich freiwillig, was diese Leute schreiben, lasse mich von ihnen leiten, spreche ihnen Kompetenz und Autorität zu? Das ganze Unterfangen ist so heuchlerisch wie ein Sparkassendirektor, der sein eigenes Geld in Liechtenstein bunkert. Ich tue das alles nur, weil ich mich nicht entscheiden kann. Und warum kann ich das nicht? Wahrscheinlich, weil ich stets das Beste will.

«Nur wer alle Optionen kennt, kann optimale Entscheidungen treffen.» Wollen wir wirklich alle Optionen kennen? Und können wir uns darum besser entscheiden? Das Leben als permanente Pro-und-Contra-Liste? Eher nicht. Psychologen haben herausgefunden, dass die Depressionsrate dort am höchsten ist, wo die Freiheit am größten ist. Ist Pjöngjang am Ende doch das bessere New York?

Ist das auch der Grund, warum wir uns von der Politik, ohne mit der Wimper zu zucken, vorschreiben lassen, wie wir zu leben haben, was gut ist und was schlecht? Rauch- und Trinkverbote, Lebensmittel-Ampeln in Supermärkten, Tempolimits offline (auf Straßen) und online (sobald ich es wage, die Grenzen meines Heimatlandes zu verlassen und mir, kaum über die Grenze spaziert, für ein Schweinegeld einen Roaming-Pass zulegen muss, der angeblich einen Tag gilt, aber nach einem Besuch bei Spiegel Online irgendwie schon wieder aufgebraucht ist). Der Weg zum Eingang in die selbstverschuldete Unmündigkeit ist gedrosselt, beschränkt und ausgeschildert. Lethargisch lassen wir uns leiten und sind froh, wenn es Leute gibt, die uns eine Entscheidung abnehmen. Auch wenn es «die da oben» sind, die wir eigentlich verachten. Vor lauter Möglichkeiten sehen wir die Wirklichkeit nicht mehr.

Ich beschließe an diesem kalten Morgen: Ich werde an mir selbst und an allen, die ich kenne, überprüfen, ob dieser Satz stimmt: «Nur wer alle Optionen kennt, kann optimale Entscheidungen treffen.» Ich werde jeden Winkel des Lebens ausleuchten: vom Aufstehen bis zum Schlafengehen, vom Einkauf über den Arztbesuch bis zur großen Politik. Kaufen oder mieten? Geld oder Liebe? Kopf oder Zahl? Wie entscheiden wir? Mit dem Bauch? Oder doch für den Arsch? Ich betreibe fortan Seelen-Feng-Shui: Alles wird neu ein- und wieder ausgerichtet, irgendwie Richtung Fenster. (Schwierig ist das nur, wenn man mit seinem Ich in einer WG im Souterrain lebt. Dann ist man im inneren Pjöngjang angekommen. Ich muss nur lernen, damit klarzukommen.) Und das heißt im ersten Schritt: nie mehr Jein, nie mehr Rhabarbersaftschorle, nie mehr zwischen allen Stühlen, sondern einfach auch mal Platz nehmen und einen Zitronensaft trinken. Frisch gepresst.

Mein morgendliches Ritual ist das Radio. Richtig schöner kulturloser Dudelquasselfunk mit vielen Gewinnspielen und ab und zu ein paar leichtverdaulichen Infohäppchen, damit ich weiß, welche Sau heute durchs Dorf gejagt wird, um später im Mittagsmagazin geschlachtet, in den Tagesthemen verspeist und morgen früh in den Zeitungen noch einmal halbverdaut in die Dorfkloake geklatscht zu werden. Längere Gespräche mit Vizefraktionsvorsitzenden aus der Politgockel-Legebatterie ertrage ich um diese Zeit nur unter Schmerzen. Ich frage mich: War das Radioeinschalten ausgerechnet dieses Senders schon eine Entscheidung, oder lasse ich diese Sitte einfach so halbzufrieden laufen wie andere Leute ihre Ehe? Zu meiner Eigenerbauung beschließe ich, dass es sich hier um eine Entscheidung handelt, und zwar eine ganz bewusste.

Warum muss ich überhaupt optimale Entscheidungen treffen, denke ich so vor mich hin. Ist fürs Erste nicht mehr gewonnen, wenn ich mich überhaupt einmal entscheide? Woher kommt diese Sehnsucht nach dem Optimum? Was löst es aus? Bessere Entscheidungen oder doch eher Angst vor Entscheidungen?

Während ich so dasitze, serviert mir das Radio den Song «Echt» von Glasperlenspiel, der neuen Band von Hermann Hesse, dem alten Narziss. Aus Langeweile höre ich zum ersten Mal auf den Text dieses Songs: «Ich erwart’ nicht viel von diesem Moment. Ich will, dass er perfekt ist, dass er echt ist.»

Ich muss spontan an die Internetwerber denken: Wer einen perfekten Moment will, muss zuvor eine optimale Entscheidung treffen. Ob Glasperlenspiel den Jungs ihren Claim verpasst haben? Vielleicht stecken die unter einer Decke. Ich bin kurz vor dem Entwurf einer Weltverschwörungstheorie. Aber Verschwörungstheoretiker müssen auch Vizefraktionsvorsitzende im Radio ertragen. Darum verbiete ich mir diese Idee und denke weiter auf Glasperlenspiel herum: Dass ich von einem Moment nicht viel außer Perfektion erwarte, ist – vorsichtig ausgedrückt – ein Widerspruch, der argumentationslogisch zum Himmel schreit. Das ist so, wie wenn ein Fußballspieler sagt: Wir erwarten von dieser Begegnung nichts, nicht einmal Tore – nur den Sieg. Wenn ich Perfektion erwarte, erwarte ich schon sehr viel – möglicherweise zu viel. Als Mann kann ich ein Dudelfunklied davon singen: Will ich meiner Freundin den absolut perfekten Abend mit 4-Gänge-Menü, Kerzenschein, Kamin und Kerzen im Kamin bescheren, ist die Gefahr recht groß, dass gerade die Erwartung die Stimmung tötet. Große Erwartungen und große Enttäuschungen sind Nachbarn in der monokulturellen Hausgemeinschaft der Optimierung.

Dennoch ist es das große Ziel heute: Optimale Entscheidungen treffen, um ein perfektes Leben zu führen. Aber optimale Entscheidungen haben einen Haken: Es finden sich immer Gründe, warum sie noch nicht ganz optimal waren. Das Optimum ist ein Wert, dem man sich zwar annähern, ihn aber nie erreichen kann. Das Optimum ist die Fata Morgana unter den Entscheidungen, in ihm wohnt die Melancholie des Vollendeten, das sich immer entzieht. Das bringt mich in den Kreislauf der Optimierung: Ich muss mich mit jeder Entscheidung weiter optimieren, um noch optimalere Entscheidungen zu treffen und immer so weiter. Optimierung ist das Heroin des Perfektionsjunkies.

Während ich so versonnen auf den Rosinen meines Müslis herumkaue, höre ich die Glasperlenspiel-Zeile zum vierten Mal: «Ich erwart’ nicht viel von diesem Moment. Ich will, dass er perfekt ist, dass er echt ist.» Der zweite Widerspruch ist der Anspruch an Echtheit: Das Perfekte ist selten echt und das Echte selten perfekt. Perfekte, makellos schöne Frauen haben zumeist ja alles Echte verloren. Sie sind im schlimmsten Falle künstlich, im besten einfach nur glatt. Charakter dagegen, Ausstrahlung, speist sich aus dem Unperfekten: aus Brüchen und Wunden, aus Spuren, die das Scheitern hinterlassen durfte. Scheitern aber ist in unseren Breitengraden nicht vorgesehen. Wie auch, wenn es stets ums Optimale geht.

Den Gesetzen des modernen Chartplastik-Hits folgend, müsste der Song innerhalb der nächsten dreißig Sekunden zu Ende sein. Ich erwarte nichts mehr von ihm, erst recht nichts Echtes, geschweige denn etwas Perfektes. Aber dann – Überraschung – kommt unverhofft ein wenig Sinn aus den Zwischenräumen der Zeilen gestolpert: «Für diesen einen Augenblick sind alle meine Zweifel weg», singt das Stimmchen da und ahnt nicht, welch große Wahrheit es hier gelassen vorträllert. Der Zweifel ist die andere Seite der Optimierungsmedaille. Mit jedem Schuss Optimierung, den ich mir setze, steigt die Angst, zu scheitern, nicht optimal genug zu sein, und mit der Angst das Bedürfnis, sich noch weiter zu optimieren. Je weiter ich die Spirale drehe, umso größer wird die Angst vor dem, was nicht vorgesehen ist: dem Absturz. Vielleicht müsste ich, statt entscheiden zu lernen, besser scheitern lernen. Ich beschließe spontan, zum Innovationsführer zu werden, und möchte die Scheiter-App entwickeln. Mit einem lustigen Scheiterhaufen als Bild. Als interaktives Element bekommt der Käufer das Spiel «Lücke im Lebenslauf» mitgeliefert, eine Art «World of Warcraft» für ewige Studenten. Wer dreimal hintereinander reinfällt, hat verloren und wird mit der Höchststrafe des Smartphone-Users bestraft: Das Handy schaltet sich für mehrere Stunden aus.

Snooze Alarm – einmal richtig aufstehen

Aufstehen ist die erste Entscheidung des Tages, finde ich. Ich neige dazu, früh und vor allem schnell aufzustehen. Es gab schon Tage, da bin ich erst aufgewacht, als ich mir schon die Zähne geputzt hatte. Warum das so ist, kann ich nur bedingt beantworten. Wahrscheinlich will ich wenigstens am Anfang des Tages eine optimale Entscheidung getroffen haben. All die anderen Optionen, von mehrmaligem Umdrehen bis zur Frühlektüre der Zeitung auf dem iPad, sind nur Aufschieben für Anfänger.

Meist erwache ich, blinzle und schaue auf die Uhr, um zu sehen, wie lange ich noch habe, ehe das Weckerzertrümmern rechts neben mir seinen unheilvollen Lauf nimmt. Meine Freundin Nora ist bekennende Snoozerin. Der Wecker klingelt bis zu zehnmal, bis sie endlich aufsteht. Und das Schlimme: Von Klingeln zu Klingeln wird ihr Ärger über das Ding auf ihrem Nachttisch größer. Sie hat schon ganze Tage damit verbracht, alle drei Minuten auf die Snooze-Taste zu hämmern, um danach zu behaupten, sie habe endlich mal wieder richtig ausgeschlafen. Gäbe es Amnesty International für Haushaltsgeräte, müsste sie sich vor dem Internationalen Gerichtshof für Elektrorechte verantworten – wegen Verbrechen gegen die Häuslichkeit.

Verschlafene Tage im Bett sind mir ein Grauen. Einmal habe ich zu Nora gesagt: «Während du snoozt, werden in China ganze Großstädte aus dem Boden gestampft. Selbst die Kanzlerin sitzt schon seit mindestens 1 ½ Stunden in Amt und Würden und hat, während du selig vor dich hin schlummerst, schon drei Hilfspakete geschnürt, achtzehn Rettungsschirme aufgespannt und vierunddreißig Staatssekretären ihr vollstes Vertrauen ausgesprochen.» Die Müllabfuhr war schon da, und der Postbote irrt auch schon seit Stunden verzogenen Mietnomaden hinterher. Und Madame? Liegt weiter im weiblichen Wachkoma. Nora hingegen meint, mein Stehaufmännchen-Gehabe sei präsenile Bettflucht mit neurotischen Zügen. Auch wenn ich erst um 6 Uhr ins Bett gekommen bin, wache ich zweieinhalb Stunden später wieder auf, pünktlich wie jeden Tag.

Ist Aufstehen wirklich eine Entscheidung? Oder einfach eine Notwendigkeit? Irgendein schlauer Kopf hat doch mal gesagt, Freiheit sei Einsicht in die Notwendigkeit. Dann wäre mein täglicher Entschluss, die Augen aufzumachen und den Tag in meine Welt hineinzubitten, schon ein Akt der Freiheit und damit eine Entscheidung. Der Philosoph Isaac Berlin unterschiedet zwei grundsätzliche Arten von Freiheit. Freiheit von etwas und Freiheit zu etwas. Freiheit von bezeichnet Freiheit von Zwängen. Wenn ich in einem Land lebe, in dem ich nicht drangsaliert und nicht schikaniert, nicht geschlagen und nicht getreten werde, bin ich zwar frei von Unterdrückung, aber ich habe mich noch nicht entschieden. Ich habe meine Freiheit noch nicht genutzt. Das geschieht erst, wenn ich die Freiheit zu etwas gebrauche. Zum Beispiel dazu, in ein anderes Land zu fahren, eine Beziehung einzugehen oder es bleibenzulassen, aufzustehen oder eben liegen zu bleiben.

Verdammt schwere Gedanken für den Start in einen Tag und zu einem Zeitpunkt, als die grellgrünen Digitalziffern meines Weckers erst die Zahlen 08:16 anzeigen. Wenn ich eine Entscheidung treffen will, brauche ich mindestens zwei Optionen, nur dann habe ich die Wahl. Wenn die Kanzlerin also sagt, es handele sich um eine «alternativlose Entscheidung», ist das geistiger Dünnpfiff, der die Luft vernebelt, ein Fall fürs Sprachendlager: Es ist ein Oxymoron, wie der Hobbygermanist sagt, das rhetorische Rauschmittel der Hadernden und Zaudernden, die aus Hassliebe zu sich selbst Eile mit Weile bevorzugen und danach auf dem Trockenen schwimmen.

Forscher sagen, dass wir bis zu 100000 Entscheidungen am Tag treffen, von denen wir die allermeisten gar nicht mitkriegen. Der Weg zur Arbeit läuft nach Schema F, wir können uns auf andere Dinge konzentrieren, wie das Radio rechtzeitig umzuschalten, wenn überraschend Glasperlenspiel aus den Boxen jault.

Das menschliche Gehirn sucht nach dem Bekannten und Gewohnten, um den kognitiven Aufwand in Grenzen zu halten. Der Psychologe und Wirtschaftsnobelpreisträger Daniel Kahneman unterscheidet zwei mentale Systeme: System 1 ist das intuitive, ich nenne es die Bauchwelt. Sie arbeitet automatisch und schnell. Sie kommt zum Einsatz, wenn Nora entdeckt, dass ich den Müll nicht heruntergebracht habe. Innerhalb von Millisekunden erkenne ich, wie sich ihr Gesicht verfinstert, sehe die Wut, die ihre sonst so sanft geschwungenen Gesichtszüge schlagartig zu einem kaum bezwingbaren Bergmassiv der Aggression macht. System 2, die Kopfwelt, dagegen ist zuständig für komplexe Aufgaben, die unsere Konzentration beanspruchen. Wenn es darum geht, jemandem meine Telefonnummer zu nennen, nur blonde Frauen in einer Menschenmenge zu finden oder meine Steuererklärung zu machen, dann bin ich gefordert, muss den intuitiven Autopiloten ausschalten und die manuelle Bedienung hochfahren.

Die Bauchwelt ist zwar effektiv, aber auch abhängig von Erfahrungen und Assoziationen und entsprechend anfällig für Fehler. Die Kopfwelt dagegen ist genauer, erfordert aber viel Aufmerksamkeit und Selbstkontrolle. Menschen, die Entscheidungen treffen müssen, die hohe Selbstkontrolle erfordern, neigen deutlich stärker zu Erschöpfung: Das Ergebnis einer Studie mit Bewährungsrichtern in Israel zeigt, dass satte Richter zwei Drittel aller Anträge auf vorzeitige Entlassung bewilligten, hungrige Richter nur halb so viele. Ein niedriger Blutzuckerspiegel sorgt also dafür, dass sie auf die Standardoption, nämlich Ablehnung der Anträge, zurückgreifen. Wenn Sie also ein Verbrechen planen und bald vor Gericht stehen, schauen Sie, dass Ihr Prozess nach dem Mittagessen stattfindet. Sollte er vorher angesetzt sein, bringen Sie ausreichend Traubenzucker mit.

Wenn wir schon beim Essen sind: Auch im Restaurant treffen wir zunächst stereotype Entscheidungen, die unseren geistigen Stress in Grenzen halten. Vorspeise oder nicht? Fisch oder Fleisch? Am Ende nehmen wir doch immer das Gleiche, weil wir es kennen. Experimente haben gezeigt, dass Figuren, die Menschen häufiger gezeigt wurden, ihnen auch besser gefallen. Damit dürfte auch die seltsame Prominenz zahlreicher hauptberuflicher Show- und Hochglanzrandbegabungen entzaubert sein: Wer sowohl in bunten Blättchen als auch auf roten Teppichen und in Talkshows Präsenz zeigt, wird, wenn er sich nicht kolossal danebenbenimmt, früher oder später eine Fangemeinde um sich scharen. Boris Becker verdankt seinen Status nach dem Ende seiner Tenniskarriere entsprechend ausschließlich der Faulheit unserer Gehirne.

Ist Aufstehen wirklich eine stereotype Entscheidung? Augen auf, Wecker aus, einen Fuß vor den anderen, und los geht’s? Mein Morgen sieht anders aus: erst Wecker aus, dann Handy an, dann Augen auf, dann Mails checken. Ich küsse mein Handy wach und frage Facebook, wie es geschlafen hat. Und schon ist das Aufstehen im Handumdrehen zu einem hochkomplexen Akt geworden, der den ganzen Menschen fordert.

Zum Glück kriegt Nora das alles nicht mit. Snoozen hat eben doch Vorteile, würde sie jetzt sagen. Ich habe ihr einmal vorgeschlagen, sie solle den ganzen Tag so angehen, wie sie aufsteht. Zehnmal alle zehn Minuten die Dusche eiskalt laufen lassen und sich beim elften Mal dann bei warmem Wasser drunterstellen. Oder zwanzig verschiedene Zahnpasta-Sorten auf die Zahnbürste drücken, von denen sie schon vorher weiß, dass sie sie nicht benutzen wird. Oder das Notebook hundertmal hintereinander an- und wieder ausschalten, einfach, um die Arbeit noch nicht beginnen zu müssen. Säßen an den Schaltstellen der Macht nur Snoozer – das Bruttosozialprodukt wäre am Boden.

Die Entscheider und Leistungsträger unserer Gesellschaft sind mehrheitlich Frühaufsteher. Manager und andere Firmenlenker stehen zwischen 5.30 Uhr und 6 Uhr auf. In einer Umfrage erzählte eine Mehrheit von ihnen, dass sie die frühen Morgenstunden nutzt, um langfristige Strategien ungestört zu planen. Klar, sie müssen die wichtigen Entscheidungen treffen, solange keiner da ist, der ihnen widersprechen kann. Entscheider sind Lerchen, Menschen, die morgens besser arbeiten können. Man sagt, Entscheider seien sorgfältiger, korrekter, bürokratischer. Während die Eulen, die abends zur Hochform auflaufen, eher kreativ sind. Der Gedanke, dass mich mein Frühaufstehen zum Bürokratieverwalter werden lässt, macht mich direkt ungeheuer müde.

Der große Philosoph Immanuel Kant war zeit seines Lebens ein sehr origineller, und gleichzeitig hochpräziser Denkarbeiter. Jeden Morgen soll er um 5 Uhr aufgestanden sein. Bevor er an die Arbeit ging, trank er einen Tee und rauchte eine Pfeife. Helmut Schmidt behauptet bis heute, dass Kant sich das bei ihm abgeguckt hat. Wahrscheinlich musste er so früh aufstehen, damit er auf die epochalen Gedanken kommen konnte, für die er heute verehrt wird. Nach Kant heißt die positive «Freiheit zu» Autonomie – ein Wort, das auf seiner langen Reise von der Antike ins 21. Jahrhundert mittlerweile irgendwo zwischen radikallinken Hausbesetzern und radikalkorrekten Jack-Wolfskin-Eltern gegen die Wand gefahren worden ist. In ihrer ursprünglichen Bedeutung heißt «Autonomie» Selbstgesetzgebung. Wir können es heute mit Selbstbestimmung übersetzen. Ihre Grundformel liegt in Kants Satz, mit dem seit Generationen junge Ethikschüler gequält werden, sobald sie dem bilingualen Kitajoch entkommen sind: «Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit.» Sein Ziel muss es sein, sich seines eigenen Verstandes «ohne Leitung eines anderen zu bedienen».[1] Dank meines freien Willens bin ich jederzeit frei zu entscheiden. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist: Entscheidungen sind ein verdammt beschwerliches Unterfangen, ein Ankämpfen gegen den inneren Schweinehund, ein Akt der Befreiung vom Gängelband der eigenen Bequemlichkeit und bedürfen der permanenten Arbeit an sich selbst. Welche Qual das bedeuten kann, sehe ich jeden Morgen, wenn Noras Wecker wieder knapp an der Nahtoderfahrung vorbeischrammt.

Autonomie ist der Ankerpunkt unseres Denkens, wenn wir über die Bedingungen freier Entscheidungen sprechen – und sie erzählt uns etwas über den Anspruch der Optimierung unserer Zeit, denn Kant sagt: «Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.»[2] Aha. Oder wie man bei McClean sagt: «Verlassen Sie die Toilette so, wie Sie diese vorfinden möchten.» Wer einmal die Toilette eines Regionalexpress von innen gesehen hat, weiß, wie schwer das oft ist.

Im Handumdrehen ist aus Kants freiem Wollen ein Sollen geworden, die Neigung ist jetzt eine Pflicht. Alles, was ich tue, soll stets allgemeines Gesetz werden können. Zwischen mich und die Menschheit darf kein Blatt Papier passen. Meine Entscheidung muss ich stets vor der gesamten Gattung rechtfertigen können. Das ist ein Ziel, das nie wirklich erreichbar ist, es bleibt also beim Einzelnen stets ein Moment des Ungenügens zurück. Ein Gefühl, das wir aus dem Alltag kennen: Je mehr Autonomie uns am Arbeitsplatz zugesprochen wird, desto größer wird die Verantwortung, je selbstbestimmter wir arbeiten sollen und dürfen, desto größer wird das Gefühl, nicht standhalten zu können. Unter dem Vorzeichen der Autonomie kippt das Unterfangen in Selbstausbeutung. Herzlich willkommen, Burnout. Je kleiner die Maßstäbe sind, die von außen angelegt werden, desto größer müssen die inneren sein. Autonomie wird zum Placebo für eine dauernde Optimierung der eigenen Möglichkeiten. «Die Dialektik der Freiheit besteht darin, dass sie neue Zwänge entwickelt», schreibt der Philosoph Byung-Chul Han.[3]

Wie einem rumänischen Hütchenspieler gelingt es Kant, das Leistungsprinzip in seine Ethik unter der Hand einzuschleusen. Selbstbestimmung wird zur dauerhaften Selbsterziehung und Selbstdisziplinierung. Und was ist das Klingeln eines Weckers anderes als ein Peitschenhieb fürs Trommelfell?

Der Frühaufsteher Kant muss einen besonders brutalen Wecker gehabt haben, der ihn zu Zeilen wie diesen inspirierte: «Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch einen inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt gehalten, und diese in ihm wachende Gewalt ist seinem Wesen einverleibt.»[4] Der Feind ist also in uns selbst, wir sind immer eine gespaltene Persönlichkeit, in der Angeklagter und Richter wohnen. Hoffentlich haben beide gut gegessen, bevor sie aufeinandertreffen.

Kant entpuppt sich so als früher Globalisierer, bei dem die Selbstbestimmung zum privaten Projekt wird. Von der Selbstermächtigung des Einzelnen bei Kant zum Phänomen des Burnouts und der Depression in der Gegenwart führt, wie ich meine, ein ziemlich direkter Weg. Oder – einfacher gesagt – Kant ist das Glasperlenspiel des 18. Jahrhunderts.

Meine Freundin meint, all die Entscheider-Lerchen seien auch nur frühe Vögel, die sich ein Wettrennen um den Wurm liefern, übersehen aber in ihrer Verbissenheit, dass sie ihn vor allem deshalb nicht fangen können, weil er noch gar nicht anwesend ist.

Es heißt, man solle darauf achten, immer zur gleichen Zeit aufzustehen. Menschen dagegen, die unter der Woche um 7 Uhr, am Wochenende aber erst um 16 Uhr hochkommen, haben ein Problem: Sie leben im Dauerjetlag. Im Lauf der Woche schlafen sie ein dermaßen großes Schlafdefizit zusammen, dass sie dann am Wochenende nur noch pennen. Diese Leute fliegen innerhalb von fünf Tagen einmal nach Sydney und wieder zurück, obwohl sie nur eine viertel Stunde im Bus saßen. Menschen im Dauerschlafjetlag sind unzufriedener und rauchen häufiger. Man erkennt sie daran, dass sie direkt nach dem Aufstehen die Zigarette danach brauchen, obwohl sie gar keinen Sex hatten.

Im Kern also machen Entscheider alles richtig mit ihrem Frühaufsteh-Wahn. Erwachsene, die früher aufstehen, leiden seltener unter Depressionen, weil sie der REM-Schlafphase aus dem Weg gehen, die vor allem in den Morgenstunden auftritt. REM-Schlafphasen aber können Depressionen fördern. Das verbindet sie mit der Musik der gleichnamigen Band.

Meine erste Entscheidung lautet also: Ich stehe noch früher auf. Schnell, ohne Umdrehungen und noch vor Noras Snooze-Phase. Um 5.30 Uhr winke ich all den anderen Entscheidern zu und schnappe ihnen den frühen Wurm vor der Nase weg. Die REM-Phase habe ich damit quasi komplett abgeschafft. Nachdem sich die Band aufgelöst hat, war das auch ein Gebot bedingungsloser Fan-Solidarität.

Gegen den Uhrzeigersinn – warum wir kaufen, was wir nicht brauchen

Mein Notebook hat den Geist aufgegeben. Aber Krisen sind Chancen, sagt man im Fernen Osten. Und wer sich, wie ich, entschieden hat, Seelen-Feng-Shui zu betreiben, muss auch den ganzen restlichen Kult von da drüben a priori Hammer finden. Außerdem ist «Krisen sind Chancen» ein wunderbar überflüssiger Smalltalk-Satz, der einem so schnell herausrutscht wie ein Aal aus einem Bärenmaul, während man Signale interesselosen Wohlgefallens zu seinem Gegenüber schubst.

Die Reparaturkosten würden die Kosten eines neuen Gerätes bei weitem übersteigen, sagte man mir. Ich habe mir dann eine Weile überlegt, was ich mache: der Macht der Gewohnheit ihren Triumph gönnen und das Teil trotzdem reparieren lassen – und in ein paar Monaten vor dem gleichen Problem stehen? Oder gleich ein neues aussuchen, wozu mir alle rieten, die etwas verstanden von der Materie Notebook. Schweren Herzens entschied ich mich für den Neustart. Von einem Freund hatte ich mir sagen lassen, dass ich ein Macbook kaufen solle. Er habe damit gute Erfahrungen gemacht. Bislang war ich Windows-Kunde. Ich weiß nicht genau, warum, aber ich bin es seit Jahren. Ich meine, der Grund für meine gesammelten Windows-Treueherzen war ganz profan: eine recht hübsche Mitarbeiterin bei der Vertragswerkstatt in meinem Viertel. Vertragswerkstätten in der Nähe sind mir sehr sympathisch. Bei einem so wichtigen Werkzeug wie einem Notebook braucht man einen Ansprechpartner um die Ecke. Nichts ist mir verhasster als die Vorstellung, dass das Ding um die halbe Welt fliegt, bis es irgendwann von schlecht bezahlten Kinderhändchen in Bangladesh wieder zusammengeflickt wird.

Ich nehme den Tipp des Freundes dankend an. Im Media Markt würde ich alle Optionen haben und somit eine optimale Notebook-Entscheidung treffen können. Mein Markt ist Teil einer riesigen Höllenmall, die damit wirbt, dass ich in 180 Shops auf fünf Floors konsumtechnisch Party machen kann, bis der Insolvenzverwalter kommt. Gezielt laufe ich also in die Notebook-Abteilung, in der Hoffnung auf eine schnelle Entscheidung, um das Ungeheuer der Auswahl schnell und effizient zu besiegen. Ich nehme mir vor, erst zu ruhen, wenn ich hier mit einem neuen Gerät unter dem Arm hinauslaufen kann.

Vor mir habe ich 122 Notebooks der Firmen Acer, HP, Toshiba, Sony und Asus, dazu kommen 53 Ultrabooks und ein knappes Dutzend Netbooks, 18 Macs und 66 Tablets. Ausgestattet mit i3, i5 oder i7-Prozesoren, mattem oder spiegelndem Full-HD, mit jeweils 14-, 15-, 16-, 17- und 18-Zoll-Bildschirm, mit Ultrabay-Einschubschacht und ohne, eines mit Gorilla Glass (ich hätte lieber Schimpanse!), mit und ohne Turbo-Boost-Technik (fliegt das dann wie K.I.T.T. aus Knight Rider über Bahnübergänge und durch Häuserfluchten?), ultraleicht und hammerleicht, verdreh-, verstell-, auf- und abbaubar. Ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll, und flüchte überstürzt in eine andere Abteilung, um mich abzulenken. Aber hier ist es noch schlimmer: Bei den Smartphones erwarten mich 105 verschiedene Geräte, dazu 677 Cases und Taschen, 39 Headsets und 40 Lautsprecher. Bei Fernsehern habe ich die Wahl zwischen 148 Geräten und zusätzlich 483-D-Screens. Ich bin komplett überlastet. Ich muss hier raus, denke ich.

In meiner Optionsparanoia laufe ich in einen Subway. Habe ich Hunger? Keine Ahnung. Der kommt ja oft auch erst beim Essen, also anstellen. Als ich mitkriege, dass die Frau vor mir ein Dutzend Entscheidungen treffen muss, ehe sie etwas im Mund hat, verlasse ich auch diesen Laden.

Vielleicht mal eben Wasser kaufen, Mineralwasser. Das gleiche wie immer. Classic? Ja, genau, Classic. Es gibt aber auch Medium, Naturell und Sanft. Verdammt! Die Serie «Activ» wartet auf mit Zitruskirsche, Pinkgrape und Zitrusgrape, Tropical und Vital. «Activ Vital» – bei Kindern nennt man das ADS.

In der Drogerie nebenan bin ich froh, dass ich keine Frau bin: Über 100 Lippenstifte und fünf Eyeliner und sicher an die 500 Shampoos, Schaumfestiger und Hautcremes. Allein die Firma L’Oréal teilt ihre Shampoos ein in Bedarf und Marke. Unter Bedarf habe ich die Wahl zwischen coloriertem, trockenem Haar im Alter, dünnem und krausem Haar – und ganz unten, so als wäre es das Seltenste und Unwahrscheinlichste: normalem Haar. Wahrscheinlich muss ich meinen Friseur bitten, meine Haare dahingehend zu ruinieren, dass sie danach den «Bedarf» der Firma L’Oréal befriedigen.

Die Liste wird noch länger, für jede Minderheit ist etwas dabei: Color Glanz (für Leute mit glänzenden Full-HD-Bildschirmen), Energie (für Aktiv-Vital-Wassertrinker), Anti-Bruch (für gebrochene Herzen), Anti-Schädigung (für Hobby-Schadensersatz-Kläger), Glatt-Intense (für Geliftete und anderweitig Operierte), Haar-Auffüller (für Getränkeabteilungs-Mitarbeiter), Multivitamin (für die Saftjunkies unter den Getränkeabteilungs-Mitarbeitern), Nutri-Gloss (für Lipgloss-Chicks), Nutri-Gloss-Chrystal (Für Lipgloss-Chicks, die sich irrtümlich für Lipgloss-Ladys halten), Öl Magique (klingt wie eine Massage mit Happy End), Re-Nutrition (mit Ion drin? Nur was für AKW-Betreiber, ergo: Sammlerstück!), Revitalisierend (für Verstorbene), Total Repair 5 (wo sind denn I–IV abgeblieben? Habe ich die verpasst? Oder ist das ein Daily-Soap-Shampoo, bei dem ich jederzeit ein- und wieder aussteigen kann?), Repair Extreme (für Extremsportler), Volume-Collagen (für Künstler), EverRich (für alle oberhalb der 50000 brutto – monatlich) und EverPure (für Hartz-IV-Empfänger).

Ich habe ein schlechtes Gefühl: Bin ich der Einzige, der das Gefühl hat, in der Hölle zu sein, während die anderen es hier paradiesisch finden?

Auswahl und Möglichkeiten sind die Bibel, auf der wir schlafen. Wir leben in der Multioptionsgesellschaft. Man hört dem technokratisch-kühlen Wortungetüm an, wie sehr es dem verkrusteten Standesdünkel der deutschen Universitätselite genügen musste. Lassen wir den akademischen Hochnebel etwas verziehen, wird der Blick frei für eine fruchtbare Einsicht in die Tiefenstrukturen unserer alltäglichen Erfahrung.

Im Jahr 1887 schrieb Friedrich Nietzsche den Satz, der sich heute erst langsam selbst zu verstehen scheint: «Gott ist tot! … Und wir haben ihn getötet!»[5] An dieser Stelle sagen viele: «Stimmt! Aber gibt’s das auch als App?» Gott ist bei Nietzsche nicht nur der Schöpfer einer durchgeknallten Glaubensgemeinschaft, die für sich beansprucht, das Universum erschaffen zu haben. Es ist auch keine bekloppte Bande, die sich im Namen des Chefs auf Marktplätzen in den siebten Himmel katapultieren will. Gott ist ein Bild, ein Synonym für eine Ordnung der Welt, für einen Rahmen, eine Instanz der Orientierung. Oben und unten, rechts und links, Gut und Böse – das waren bis dahin Haltepunkte, Sammelpunkte der Selbstgewissheit von Epochen. Nach dem Tod Gottes sind alle Werte relativ.

Der Soziologe Zygmunt Bauman bemerkte, dass Gott zwar vom Thron gestoßen worden sei, der Thron aber noch stehe. Unwiderstehlich und geheimnisvoll, anziehend wie eh und je, wirkte er «für Visionäre und Abenteurer wie eine Einladung». Die ausgeschriebene Stelle verlangt unfehlbare Führerqualitäten, kein Mittelbauhüsteln. Die Voraussetzung ist grenzenlose Selbstoptimierung.

Das durchschnittliche optionsgestresste Ich, das sich nach Leitung und Orientierung sehnt, statt nach Autonomie, ist nun plötzlich allein an den Hebeln der Macht über das eigene Leben. Lokomotivführer ohne Ausbildung. Gefangen in der Freiheit der permanenten optimalen Entscheidungen. Die einzigen Welterklärer, die einen Boxenstopp beim Grand Prix des täglichen Im-Kreis-herum-Fahrens garantieren, sind die Hirnforscher, eine Art serienmäßig eingebauter Atempausen-Airbag in der säkularisierten Welt, der den Aufprall beim Crash mit der totalen Freiheit ein wenig abfedern soll. «Nein», sagen die Hirnforscher, «du bist nicht für alles alleine verantwortlich, es gibt etwas in dir, das mehr weiß als du.» Wo Sigmund Freud noch eine Menge Hirnschmalz aufs Über-Ich verwenden musste, jagt uns der Hirnforscher heute einmal durch den Kernspintomographen und gut.

So haben wir diesen Hirnis die beruhigende Erkenntnis zu verdanken, dass wir zwei Drittel unserer Kaufentscheidungen gar nicht planen können, im Gegenteil: Wir treffen sie spontan. Der Supermarkt ist das Spinnennetz, in das Konsumenten wie Fliegen hineingeraten sind. Hier sind wir so anfällig für Manipulationen wie ein Sportwetten-Büro. Das haben die ALDI-Brüder und LIDL-Schwestern vom Orden der Konsumtempelritter längst verinnerlicht.

So werden wir stets gegen den Uhrzeigersinn durch Kaufhäuser geschleust, weil das zehn Prozent mehr Umsatz bringt. Darum geht der Einkauf in vielen Geschäften von rechts nach links. Letztlich ist das eine Allegorie auf das Leben. Die meisten Leute betreten das Leben in den Jugendjahren mit linken Visionen und werden im Alter rechts aus der Kurve getragen. Schon am Ladeneingang werden wir aber recht schnell ausgebremst vom jungen Gemüse, das nur darauf wartet, ausgepackt zu werden. Auf Augenhöhe ist später das, was nervt und keiner braucht, während Taschentücher, Klopapier und andere Teile des täglichen Bedarfs immer am Boden sind. Damit, wer älter ist und noch keinen Hexenschuss hat, sich spätestens hier einen einfängt. Preisschilder am Wegesrand sollen uns auf Abwege bringen – sie werben für Schnäppchen, indem sie den normalen Preis in Signalfarben zeigen. Und die Auswahl der Musik beeinflusst uns maßgeblich dabei, welchen Wein wir kaufen werden für die Stunden nach Sonnenuntergang. Französische Chansons lassen den Absatz französischer Weine steigen, Glasperlenspiel nur den von Abführmitteln.

Dann ist Zahltag, und wir sehen, dass sich der Kreis wieder geschlossen hat. Die Kasse rechts ist direkt neben dem Eingang links. Anfang und Ende, linke Vision und rechte Enttäuschung am Ende sind Nachbarn. Wie schrieb schon der Apostel Paulus: «Im Kreise laufen die Gottlosen.» Bis zum Ladenschluss.

Bei Kaufentscheidungen sind wir in etwa so selbstbestimmt wie ein Mönch bei der Wahl seiner Klamotten. In einem Experiment ließen Psychologen Konsumenten Coca-Cola und Pepsi mit verbundenen Augen trinken. Beide Getränke schnitten gleich gut ab. Sobald die Forscher den Probanden sagten, was sie tranken, schnitt Coca-Cola bedeutend besser ab. Die Präsentation des Markenlogos von Coca-Cola rief mehr Assoziationen im Gedächtnis hervor. Und bevor Sie jetzt rufen: «Ich trinke gar keine Cola, ich trinke nur Bier, und da erkenne ich mein Beck’s sofort!», rufe ich zurück: Irrtum! Nur mit Etikett auf der Flasche schmeckte das Lieblingsbier tatsächlich besser als die Konkurrenz, wie Studien gezeigt haben. Selbst beim Preis sind wir Gefangene. Ließ man Versuchspersonen einen Wein zweimal probieren, schnitt er in dem Moment besser ab, in welchem man ihnen sagte, dass er 40 Euro koste statt fünf. Und das, obwohl es keinen Unterschied gab zwischen dem, was jeweils ausgeschenkt worden war. Ein hoher Preis ist für uns gleichbedeutend mit höherer Qualität.

Im Jahr 2014 gilt: «Namen sind das A und O.» Markenprodukte sind nicht teurer, weil sie besser sind, sondern weil sie das ganze Geld wieder in die Kassen spülen müssen, das sie für nervtötende Werbung in die Luft geblasen haben, um so bekannt und vertraut zu werden, dass sie dann wiederum den Preis verlangen können, den sie jetzt aufrufen. So verwechseln wir Penetranz mit Qualität.

Es ist also Schwachsinn, die Vielfalt der Optionen für den Heiland zu halten. Am Ende bleibt es ein vielfältiger Einheitsbrei. Und wir treffen in den multiplen Möglichkeiten alternativlose Entscheidungen. Gruß an die Freunde des Oxymorons.

Auf der linken Seite der Mall ist eine Buchhandlung. Ich schmökere ein wenig. Wie zufällig entdecke ich ein Buch, das nur für mich hier zu stehen scheint. Es trägt den wundervollen Titel «Anleitung zur Unzufriedenheit». Ich stelle den gesamten Laden auf den Kopf, um zu schauen, ob es nicht noch irgendwo ein anderes, besseres, dickeres, tieferes, vielsagenderes oder sonstwie besondereres Buch zum Thema gibt. Aber nein, es ist das einzige und letzte Exemplar. Das ist ein Zeichen! Es gibt EIN Buch zu EINEM Thema in EINEM Buchladen. Verwundert laufe ich zur Kasse und dann mit dem Buch nach Hause. Alle Wassershampoolaptopsorgen sind wie weggeblasen.

Ich lese, der Autor, Barry Schwartz, ein US-Psychologe, unterscheidet zwei Menschengruppen: Ich nenne sie Optimierer und Gelassene. Optimierer sind Leute, denen auch das Beste nicht gut genug ist, immer unruhig, immer auf der Suche nach etwas, das noch besser ist, noch mehr kickt, gefangen in der Wahl zwischen unendlichen Alternativen. Leute wie ich, die morgens früh aufstehen und sich noch vor dem Bett stehend fragen, ob sie nicht vielleicht noch besser hätten aufstehen können. Leute, die auch nach dem Kauf eines Notebooks noch die Kundenbewertungen bei Amazon lesen und mit den anderen Notebooks vergleichen, gegen die sie sich nach langem Hickhack entschieden haben. Der Gegensatz dazu ist der Gelassene: Leute, die sich einfach zufriedengeben mit dem, was gut genug ist. Der Gelassene sucht und findet dabei durchaus das Ausgezeichnete, während der Optimierer endlos weitersucht, um das absolut Beste zu bekommen.

Die Paradoxie besteht nun darin, dass Optimierer zwar häufig tatsächlich die besseren Produkte kaufen, im Schnitt auch mehr bekommen als Gelassene, aber am Ende doch unzufriedener sind. Optimierer sind pessimistischer, grüblerischer, niedergeschlagener und weisen häufiger depressive Tendenzen auf als Gelassene. Das kenne ich: Wenn ich die Amazon-Bewertungen meines Notebooks noch einmal lese, fange ich immer mit den dreien an, die einen Stern vergeben haben, statt mit einer der 300, die 5 Sterne verteilten.

Es spricht wohl vieles dafür, dass eine Zeit, die Optionenvielfalt zum Maß aller Dinge erhoben hat, auch mehr Optimierer hervorbringt und ein Gefühl der Hektik, des «nie genug» erzeugt und unterstützt. Zum ersten Mal habe ich Zweifel: Ist es wirklich gut, alle Optionen zu kennen? Treffe ich dann wirklich optimale Entscheidungen? Sorgt der Zwang zur Freiheit vielleicht am Ende für einen neuen Zwang zur Befreiung? Zur Befreiung von Entscheidungen? Barry Schwartz beschreibt ein Experiment, bei dem Psychologen in einem Delikatessgeschäft Probiertische aufstellten. Auf einem Tisch standen 24 Marmeladengläser, auf dem anderen sechs. Der Tisch mit den 24 Gläsern hatte mehr Besucher, am Tisch mit den sechs Marmeladen wurden zehnmal so viele verkauft.

Vielleicht ist meine Aufgabe weniger, mich entscheiden zu lernen, als vielmehr mal einen Gang runterzuschalten und ein wenig mehr Gelassener und ein bisschen weniger Optimierer zu werden. Ein erster Schritt in diese Richtung scheint mir gelungen: Ich schreibe diese Zeilen auf meinem neuen Microsoft-Laptop, obwohl mir der Media-Markt-Verkäufer bei meinem zweiten Besuch nachdrücklich abgeraten hat. Ich habe mich dafür entschieden, weil es mir schon gereicht hat, dass das «x», mit dem ich eine Datei schließe, bei Apple links und nicht wie ich es gewohnt bin, rechts oben ist. Was rechts ist, muss rechts bleiben. Man könnte sagen, ich bin faul. Ich sage: Ich bin konsequent. Und bevor ich am Ende Office kaufe und es mir auf den Mac spiele, kann ich es auch gleich auf einem Windows-Rechner laufen lassen. Office auf einen Mac spielen – das ist wie Nuspli in Nutella mischen. Außerdem würde ich das tägliche Schließen von Sicherheitslücken sehr vermissen. «Nur Reklamationen!» habe er. Also, nicht er, denn er habe diesen Rechner gar nicht im Programm, aber Kollegen früherer Kollegen hätten das vom Hörensagen gemeint, gewusst zu haben. Oder so. Na dann. Ich aber habe allen Preis-Leistungs-Core-Intel-Prozessoren- und Turbo-Boost-Bewertungsvergleichen widerstanden und bin dem Tipp eines Freundes gefolgt. Nächste Woche werde ich ihn fragen, ob er mir auch ein gutes Haarshampoo empfehlen kann. Er ist da Experte: Er trägt Glatze.

Brust oder Keule – warum falsche Entscheidungen besser sind als gar keine

Ich muss gestehen, ich habe Hemmungen, die Bilanz des gestrigen Abends zu erzählen. Sie als fatal zu beschreiben wäre maßlos untertrieben. Im Grunde ist alles schiefgegangen, was schiefgehen konnte. Dabei hatte alles so harmlos angefangen.

Ich hatte, ganz Gentleman, Nora zum Essen ausgeführt. Drei Restaurants standen zur Auswahl, die ich allesamt für gut – nein, welch niederträchtiger, entspannter Wellness-Satz –, die ich alle für die Besten hielt.

Ich wollte an diesem Abend auf keinen Fall in der Pizzeria um die Ecke landen, dort waren wir in der Woche zuvor schon mehrfach gewesen. Jedes Mal hatte ich die Nummer 7 mit doppeltem Käse bestellt, denn das war das definitiv Beste, was ich dort bekommen konnte. Meine Freundin sagt, ich sei ein langweiliger, einfallsloser Kumpan, wenn es um die Essenswahl in der Pizzeria geht, aber damit kann ich leben. Meine Meinung war: Wir könnten mal was Neues ausprobieren.

Ich hatte von einem neuen Restaurant gehört, das sehr angesagt sein soll, obwohl es sich nicht entscheiden kann, was es sein will, und darum irgendwo zwischen BarLoungeClubCaféRestaurant mit Take-away-Möglichkeiten firmiert. Kurz: eine Rhabarbersaftschorle unter den Lokalitäten der mittelbaren Nachbarschaft. Und wahrscheinlich darum genau das Richtige für uns. Wie in bilateralen Beziehungs-Verhandlungen üblich, machte die Gegenseite leider sofort von ihrem Vetorecht Gebrauch und wandte ein, ihr sei der Weg ausgerechnet heute zu weit. Sie neigt zu möglichst entspannten Entscheidungen, wofür ich sie in stillen Momenten ein wenig beneide. Ist der Weg zu weit, optiert sie eben für ein mittelmäßigeres Restaurant in der Nähe, mit dem sie dann auch erstaunlich zufrieden sein kann.

Auf meinen zweiten Vorschlag, den schicken Italiener mit den bayerisch anheimelnden weiß-blau karierten Tischdeckchen, hatte Nora keine Lust, sie wollte easy in Jeans weg. Beim dritten Restaurant waren wir schnell beim Totschlagargument: Das war ihr zu teuer. Das war meine Chance: Um es perfekt zu machen, entschied ich kurzerhand, sie einzuladen und damit der Diskussion ein Ende zu bereiten. Mit Erfolg.

Wie immer hatten wir nicht reserviert. Das hätte ja vorausgesetzt, dass wir einen Plan gehabt hätten, der wiederum eine Entscheidung im Vorfeld notwendig gemacht hätte. Die einen nennen es Naivität, die anderen Hybris, aber ohne Reservierung in ein unbekanntes Restaurant, das ist Risiko, das ist Action, das ist ungeschützter Sex mit Risikogruppen für Hungrige. Jedenfalls gingen wir mit dem allergrößten Selbstüberschätzungs-Selbstbewusstsein davon aus, in diesem von allen Szeneblättchen hochgeschriebenen Restaurant einen Platz am Fenster zu bekommen. Aber, Achtung, achtes Weltwunder! Es gab zahlreiche Zeitgenossen, denen dieses Lokal auf unbekannten Wegen – wahrscheinlich per Flaschenpost oder Rauchzeichen – ebenfalls zu Ohren und Augen gekommen war und die dazu noch die Dreistigkeit besessen hatten, vor uns Platz zu nehmen. Wahrscheinlich hatten sie reserviert, diese Spießer!

Das wäre uns in der Pizzeria Nummer 7 nicht passiert. Niemals. Erstens ist sie näher, zweitens gemütlicher, das Design weniger gebotoxt und die Leute nicht so aufgespritzt. Kurz: ein ruhiges Restaurant für Entspannte. Hier aber waren wir in einem Optimierungs-Laden allerschlimmster Güte gelandet, dessen Insassen den Hals nicht vollkriegen konnten, weshalb sie Nora sofort zu ebendiesem raushingen. Und mir auch ein bisschen.

Ich haderte mit den Möglichkeiten, die ich jetzt hatte. Nach Hause gehen, warten, einen schlechteren Platz annehmen? Der Tisch am Fenster ist der Platz an der Sonne des Schlemmerfürsten. Ein Platz in der Mitte oder gar am Rand des Raums, irgendwo vor den Kühlkammern der Weißweine, das war unannehmbar für so ein Optimierungs-Hochleistungsmännchen wie mich. Wir suchten zusammen mit dem Oberkellner nach Lösungen. Und ja, kurzzeitig standen unsere trilateralen Verhandlungen kurz vor dem Bruch und die Welt am Abgrund, als er uns in den hintersten Winkel seines Schuppens verbannen wollte. Ausgerechnet in unmittelbarer Nähe zu einer krawattierten Firmen-Neujahrsfressorgie. Meine Freundin stimmte, ohne zu zögern, für den drittklassigen Tisch. Zum ersten Mal tat es mir leid, dass ich mich durchgesetzt hatte. Und ich musste an den Psycho-Reue-Test denken, den ich neulich durchgespielt hatte.

Sozialpsychologen haben ihn entwickelt, und wer ihn beantwortet, muss hart mit sich ins Gericht gehen wollen. «Nach jeder Entscheidung, die ich getroffen habe, frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich mich anders entschieden hätte», heißt eine der Antwortmöglichkeiten dort. Oder: «Wenn ich über mein Leben nachdenke, kommen mir oft verpasste Chancen in den Sinn.» Der Test hat Erstaunliches zutage gefördert. Volle Punktzahl bei drei von fünf Fragen: Nach jeder Entscheidung frage ich mich, was passiert wäre, wenn ich anders entschieden hätte, zu welchen Ergebnissen die anderen Alternativen geführt hätten, und selbst die beste Entscheidung empfinde ich als Misserfolg, wenn sich im Nachhinein eine bessere Möglichkeit zeigt. Hätte ich im Mathetest in der Schule nur annähernd eine so hohe Punktzahl erreicht wie hier, wäre ich heute Nobelpreisträger und würde mir solche Reuetests ausdenken.

Studien haben gezeigt, dass Optimierer wie ich überdurchschnittliche Reuewerte haben. Sie bedauern mehr und sind insgesamt schlechter drauf. Zugleich sind sie das Vorbild unserer Zeit: Sie wollen optimale Entscheidungen treffen, immer und überall. Sie wollen vorab so viele Informationen wie möglich über ihre Optionen einholen, um die beste zu finden. Barry Schwartz schreibt, der Grund, warum Menschen überhaupt erst zu Optimierern werden, sei die Angst vor der falschen Entscheidung, die Reue mit sich bringt wie der Sturm die entwurzelten Bäume. Meine These ist: Die ungeheure Zahl an Optionen und das unausgesprochene Verbot zu scheitern sorgen dafür, dass wir nervöse, gierige Perfektionisten werden und entsprechend mehr Reue erleben, weil uns im Grunde nichts mehr genügen kann. Entspannteren Naturen dagegen gelingt es, aus den vorhandenen, notwendigerweise immer unzureichenden Informationen das Beste zu machen. Offenbar hat die Evolution im Eifer des Gefechts vergessen, mich auf mich vorzubereiten. Optimierung war im Plan der Natur nicht vorgesehen. Schließlich waren die Entscheidungen, die unsere Vorfahren treffen mussten, wesentlich einfacher: Sind die Beeren giftig oder nicht, ist der Schlafplatz sicher, könnten nachts Tiere im Wigwam stehen? Die Zahl der Informationen, die man damals brauchte, um zu entscheiden, waren überschaubar. Die Masse der Optionen unserer Zeit sind die vergifteten Beeren der Gegenwart. Heute stehen wir vor den Möglichkeiten wie das Kaninchen vor der Schlange. Paralysiert und überfordert, entscheiden wir lieber gar nicht als falsch.

So romantisch es sein mag, sich semisentimental in Weltfluchtphantasien zu ergehen und sich, wie der Philosoph Michel de Montaigne sagte, «in die eigene Haut zusammenzuraffen»[6], so wenig zielführend ist es doch im Alltag: Entscheidungen, die sich im Nachhinein als falsch herausgestellt haben, bereuen wir nur kurzfristig. In einer weiteren Perspektive, im Hinblick auf Monate, Jahre oder ganze Lebensabschnitte, sind die nicht getroffenen Entscheidungen viel schwerwiegender: All die Momente der Ohnmacht und der Lethargie, des Zweifelns und Zügel-aus-der-Hand-Gebens, des Hoffens darauf, dass die Zeit, das Schicksal oder der Lauf der Dinge entscheiden werden, ohne dass wir es merken; all die verpassten Gelegenheiten, zu denen Mut, Entschlossenheit oder Kraft gefehlt haben. Zu Hause geblieben und vor dem Fernseher eingeschlafen zu sein, würden Nora und ich uns noch in zehn Jahren an den Kopf knallen. Mein falsches Restaurant dagegen wird schon bald vergessen sein. Ein paar Tage werden wir noch daran vorbeilaufen und allen, die es nicht wissen wollen, erzählen, wie schlecht es dort war und dass niemand dorthin gehen sollte. In ein paar Monaten werden wir darüber lachen, und in einem Jahr wird der Besitzer wechseln, und aus dem stylishen Barlounge-wasweißichwas-Lokal wird ein bayerisches Trachten-und-Dirndl-Stübchen mit Bierbänken und Weißwurscht-Diktatur auf der Speisekarte, weil irgendein Marketing-Heinz meinte, das sei eine Marktlücke. Spätestens dann ist der Abend sowieso Geschichte. Fest steht: Der falsche Abend wird uns immer zu einer launigen Anekdote verhelfen.

Warum sind falsche Entscheidungen besser als gar keine? Walter White, die Hauptfigur der US-Serie Breaking Bad, bekommt kurz nach seinem 50. Geburtstag die Diagnose Lungenkrebs. Lebenserwartung: ein Jahr. Innerhalb dieses Jahres entwickelt er sich vom biederen Chemielehrer zum ebenso genialen wie rücksichtslosen Crystal-Meth-Koch und Drogenbaron. Als ihm im letzten Drittel der Geschichte eine dreistellige Millionensumme im Drogengeschäft in Aussicht steht, erklärt er in einem vielsagenden Monolog seine Motivation weiterzumachen: Als Student hatte er mit ein paar Freunden eine Firma gegründet. Zwischen den drei Gründern gab es Streit, und White verkaufte seine Anteile für 5000 Dollar an seine beiden Partner. Heute ist die Firma 2,16 Milliarden wert. Die falsche Entscheidung des jungen Studenten hilft dem Älteren, sein Leben als Schwerkrimineller zu rechtfertigen. Auch wenn diese Begründung moralisch mindestens zwielichtig ist, entscheidend ist: Er hat eine Geschichte dazu. Und das ist schon viel wert. Bei einer Nichtentscheidung (Abwarten mit anschließendem Rausschmiss ohne jede Abfindung) gäbe es auch keine nachträgliche Begründung.

Wir lieben Geschichten, genauer, unser Gehirn liebt Geschichten. Sie machen die komplexe Realität fassbar und lassen unser Leben sinnvoll erscheinen. Wir sind nicht gemacht für eine schwierige Welt voller Zahlen und Statistiken. Nora versuchte sich an diesem Restaurantabend die Nummern ihrer Gerichte auf der Speisekarte zu merken. Es gehört offenbar zum eigenartigen Verständnis von Originalität dieser Lokalität, sich Zahlenfolgen in vierstelliger Höhe auszudenken, die damit eher an eine Aktennotiz im Amt für öffentliche Ordnung oder einen Onlinebanking-Zugang erinnern als an eine Speisekarte. Beim Onlinebanking hat sich Nora mittlerweile fünfmal den Zugang zuschicken lassen, weil sie gesperrt worden war, nachdem sie mehrfach die Zahlenkombination des Passwortes falsch eingegeben hatte. Inzwischen hat sie sich eine Eselsbrücke mit Tieren gebaut. Jedes Tier steht für eine Zahl. Affe-Giraffe-Schildkröte-Eidechse-Ratte-Möwe-Affe-Affe. Oder so. Vor mir ist ihr Konto jetzt sicher, ich kann mir nicht einmal die Hälfte aller Tiere merken. Ein phantasievolles Brainstorming über mögliche Tiere, die zum Zwecke der Bestellung zum Einsatz kommen könnten, ersticke ich im Keim. Meine Sorge ist zu groß, dass sie am Ende Pferd bestellt und das dann überraschend sogar auf der Karte ist.

Mit nachträglichen Geschichten hingegen betrügen wir uns oft nur selbst: Der Dichter Charles Baudelaire verglich unser Gehirn einmal mit einem antiken Stück Pergament, auf dem der alte Text getilgt und immer wieder mit Neuem überschrieben wird. Dabei selektiert unser Gehirn. Wir erzählen uns selbst immer wieder die gleichen Geschichten und verändern sie mit jeder neuen Wiedergabe in ebendie Richtung, die uns zu entsprechen scheint. Das menschliche Hirn ist wie ein schlechtes Boulevardblatt: Hat es einen Promi einmal auf dem Kieker, hat der verloren: Egal, was er tut oder sagt, alles wird auf der Folie des Schwachsinns zu einer weiteren Idiotie. Oder, um schnell wieder aus der Gossip-Gosse rauszukommen: «Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält», heißt es bei Max Frisch, dem Franz Josef Wagner für Leute, die auch bei Nebensätzen an Bord bleiben.[7]

Als Nora und ich neulich einmal vor Freunden beschreiben sollten, wie wir uns vor fünf Jahren kennengelernt hatten, gaben wir nach einer halben Stunde entnervt auf, weil wir das Gefühl hatten, zwei komplett verschiedene Geschichten von zwei Menschen zu erzählen, die garantiert nie zusammengekommen wären. Ich nenne dieses Problem das Guido-Knopp-Dilemma: Zeitzeugen erinnern sich im Nachhinein haargenau an Dinge, von denen sie nichts mehr wissen.

Zugleich können wir unsere Neigung zu Geschichten nach falschen Entscheidungen auch nutzen: Menschen, die unter schweren Schuldgefühlen leiden, sollten jeden Tag 15 Minuten lang ihre Geschichte aufschreiben – egal, ob das Schuldgefühl berechtigt ist oder nicht. Mit der Zeit bekommt das Geschehene so den Charakter des Zwangsläufigen.