Schmetterling aus Staub - Anna Palm - E-Book

Schmetterling aus Staub E-Book

Anna Palm

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Beschreibung

Die Stadt, in der die 16-jährige Mika lebt, gleicht dem Paradies: Blumen blühen überall, die Menschen lächeln einander freundlich an und die Sonne scheint 365 Tage im Jahr. Dennoch ist Mika nicht glücklich. Seit sie vor acht Jahren am staatlich angeordneten Persönlichkeitstest teilnehmen musste, ahnt sie, dass die Realität außerhalb von Seelenheide ganz anders aussieht, als sie das Fernsehen glauben machen will. Ihre Vermutung bestätigt sich, als eines Tages ein fremder Junge auf der Mauer in ihrem Garten sitzt. Aaron gehört zu den 'Risikos', die als Kinder von ihren Eltern getrennt werden, weil sie sich zu Freidenkern entwickeln könnten. Die Regierung hat Angst vor ihnen, nennt sie Verbrecher ? und sperrt sie ein. Aaron konnte fliehen und will nun das System stürzen, das ihn und Tausende andere aussortiert hat. Mika ist vom ersten Moment an fasziniert von Aaron und begibt sich mit ihm auf die gefährliche Mission. Doch schon bald muss sie sich nicht nur mit Kopfgeldjägern auseinandersetzen, sondern auch mit Janna, die bei dem Test zum 'Machtmenschen' erkoren wurde.

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Seitenzahl: 422

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ANNA PALM

SCHMETTERLING AUS STAUB

Roman

1. KAPITEL

DIE SELEKTION

Ich hatte mein schönstes Kleid an. Es ist rosa, mit einem steifen, rosa Kragen und einer fliederfarbenen, um den Bauch geschnürten Schleife. Ich habe das Kleid immer noch, es hängt ganz hinten in meinem Schrank. Und ich werde diesen einen Tag, an dem ich es trug, niemals vergessen. Rosa und fliederfarben, das sind die Vorgaben für uns Harmoniemenschen. Rosa ist auch der kleine Mobile Chip in meinem Ohrläppchen.

Ich war aufgeregt. So aufgeregt, dass ich vergaß zu atmen, schon leicht blau anlief, und die Luft dann in riesigen Schwallen ausstieß.

Mama hatte mir meine dunkelroten Haare zu Fischgrätenzöpfen geflochten, wie ich es mir gewünscht hatte. Ihre Finger hatten dabei gezittert. Ihre Finger zitterten auch, als sie nach meinem Handgelenk griff und mich ein bisschen zu ruckartig aus dem Glasschlitten zog. Ich stolperte und ihre schweißnasse Hand rutschte an meiner ab. Ich schlug mir das Knie auf, aber ich war so aufgeregt, dass es nicht wehtat. Ich berührte nur kurz mit meinem Daumen das Blut. Mama wollte mich behalten. Aber es konnte sein, dass sie mich verlieren würde. Ich war erst acht, aber die Wichtigkeit dieses Tages war mir absolut bewusst. Dieser Tag entschied über alles. Dieser Tag meißelte meine Zukunft unauslöschlich und für immer und ewig in Stein.

Mama half mir abwesend auf, ihre fliederfarbene Bluse war auf der Brust zerknittert und ihre Augen versanken in tiefvioletten Schatten.

»Mama?«, fragte ich leise, aber meine Stimme schallte viel zu laut von den dunklen Wänden des Tunnels wider.

Hinter uns hielt ein weiterer Glasschlitten, aus dem sich der schlanke Schatten meines Vaters löste.

»Es ist schon gut, Amelie. Es wird alles gut«, sagte er und küsste meine Mutter auf die Stirn. Sie schloss die Augen. »Reiß dich zusammen. Du machst ihr Angst«, hörte ich sein Flüstern und schaute mit großen Augen zu ihnen hinauf.

Dann wandte mein Vater sich mir zu, er lächelte mich an. Es war ein komisches Lächeln, seine Augen mit den vielen Fältchen lachten gar nicht mit. Er bückte sich zu mir herunter und hob mich hoch. »Du bist wunderschön, mein Schatz«, sagte er. »Und alles wird gut.« Dann küsste er auch meine Stirn.

Ich grub meine Nase in sein fliederfarbenes Hemd, es roch nach dem Waschpulver vom Checkpoint, so wie mein Kleid, so wie Mamas Bluse.

Die gläsernen Schienen sirrten, als die beiden Glasschlitten davonglitten und in einer dunklen Öffnung verschwanden. Mama, Papa und ich waren nun vollkommen allein im Tunnel und es wurde von uns erwartet, dass wir den Aufzugknopf drückten und uns im Selektionswartezimmer anmeldeten. Mein Vater setzte sich in Bewegung und ich legte meinen Kopf auf seine Schulter und umklammerte seinen Nacken.

Ich sah zu, wie ein weiterer Glasschlitten das Ziel erreichte. Die polierten Kufen glommen im bläulichen Licht und kamen zum Stillstand, der brummende Motor verstummte. Aus dem ovalen, schalldichten Gewölbe sprang ein Mädchen. Es war allein, hatte wohl nicht auf dem Schoß seiner Mutter gesessen.

Ich starrte es mit aufgerissenen Augen an. Es trug ein leuchtend rotes Kleid und rote Stulpen und hatte einen riesigen, grinsenden roten Mund. Ich hatte noch nie eins gesehen, aber ich wusste, dass es ein Machtmädchen war.

Aus dem nächsten Schlitten stieg ihr Vater aus und setzte sich sofort in Bewegung, das Machtmädchen folgte ihm in schnellem Schritt. »Wir dürfen keine Zeit verlieren, Janna«, sagte er. »Das muss zügig ablaufen. Und mach uns stolz.«

Sie betraten mit uns den Aufzug. Die Knöpfe funkelten in einem gruseligen, grünen Licht.

»Ich werde dich stolz machen, Louis«, sagte Janna und grinste mich an, mit ihrem furchtbaren, roten Mund. Ich fragte mich, wo ihre Mama war. Und warum sie ihn Louis nannte, wo er doch ihr Vater war. »Glotz nicht so«, bellte das Mädchen mich an.

Ihr Vater warf meinem Vater einen schnellen Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. »Ist Ihre Tochter nicht bereits acht?«, fragte er spöttisch, während er ein Taschentuch aus seiner Jacketttasche zog und einen Manschettenknopf polierte.

»Das ist sie«, sagte mein Vater ausweichend.

»Funktionieren ihre Beine nicht? Hat sie Koordinationsstörungen? Oder warum tragen Sie sie?«

»Ich trage sie, weil ich sie liebe«, erwiderte mein Vater sanft.

»Ich glaube, das ist etwas, was Sie nicht verstehen«, sagte ich laut und fest.

Meine Mutter erwachte aus ihrer Starre und warf mir einen überraschten Blick zu.

Der Mann ging um meinen Vater herum, um mir in die Augen zu sehen. Ich sah zurück.

Er hatte schmale, graue Augen. Raubvogelaugen. Machtaugen. Ich blinzelte nicht. Kein einziges Mal.

Und da lächelte er. Ich würde erst viel später verstehen wieso.

Die Aufzugtüren glitten lautlos auf und Janna und ihr Vater preschten hinaus. Mama, Papa und ich folgten ihnen langsam einen weißen Flur entlang. Janna schmiss sich mit ihrem gesamten Gewicht gegen eine Flügeltür am Ende des Ganges. Ein Fetzen lauter Musik schallte durch den Flur, ehe die Tür sich hinter Janna und Louis schloss. Der schwere Bass bebte in meinem Herzen und schüttelte es hin und her.

»Es wird alles gut«, sagte Papa noch einmal, während Mama mit ihren zitternden Fingern ein Pflaster auf mein blutendes Knie klebte. Auf dem Pflaster war ein rotes, kleines, lächelndes Herz. Es lächelte mich an. Ich lächelte zurück.

»Ja, alles wird gut«, stimmte ich meinem Vater zu und auch wir betraten das Selektionswartezimmer.

*

Ich hatte wahnsinnige Kopfschmerzen von der lauten, grellen Musik. Eine schlanke Frau mit einer akkuraten Hochsteckfrisur und einem riesigen Bündel roter Luftballons in der Hand bahnte sich ihren Weg zu mir durch, löste einen Ballon und hielt ihn mir vor die Nase. »Feier die Selektion! Egal was passiert, es ist das Beste für Alemania!«

»Danke«, sagte ich und nahm den Luftballon entgegen.

»Wir überleben durch die Selektion. Wir verdanken ihr alles. Deswegen solltest du dich mehr freuen«, beschloss die Frau. »Freu dich!«

»Ich freue mich«, antwortete ich. »Ich trage mein schönstes Kleid.«

Die Frau hob ihren Daumen auf groteske Art und Weise und ging davon.

»Mama?«, fragte ich. »Warum ist mein Ballon nicht rosa oder fliederfarben? Alle Ballons sind rot.«

Meine Mutter verschluckte sich so heftig, dass mein Vater ihr auf den Rücken klopfen musste. »Mika, du darfst nicht solche Fragen stellen«, flüsterte er währenddessen.

Die Wände waren bunt. SELEKTION hatte man daran gemalt, in so schönen, bunten Buchstaben, als wäre diese das Paradies. Ich ließ meinen roten Luftballon unauffällig los. Er war mit Helium gefüllt und stieg bis an die Decke.

Das Mädchen neben mir, das eine viereckige Brille auf der Nase und ein schweres Buch auf den Knien hatte, starrte mich an. »Was bist du?«, fragte es plötzlich.

»Harmonie«, erwiderte ich.

»Halte ich für erlogen«, entgegnete das Mädchen ungerührt und wir schauten beide meinen roten Luftballon an der Decke an.

»Mikaela Anders«, verkündete eine Stimme aus dem Lautsprecher jubilierend. Ich wusste, dass ich jetzt allein gehen musste. Ich ging, ohne mich umzusehen, denn sonst würde ich vielleicht anfangen zu weinen. Auf meinem Weg musste ich einen Tanzkreis aus Kindern durchqueren und mich an einer Fotowand mit strahlenden Kindergesichtern vorbeidrängen. Meine Füße fühlten sich an, als klebten sie auf dem Boden. Komm schon, Mika, dachte ich und krallte mich an meinem schönsten Kleid fest. Dann trat ich durch die schwere Tür, die sich mir von selbst öffnete. Als sie sich hinter mir schloss, war alles still.

Eine Frau mit dunkelroter Tunika und einer Brille aus neuestem Diamantglas kam mir entgegen, nahm mein Handgelenk und zog mich hinter sich her, ohne mir auch nur einmal in die Augen zu sehen. Ich schaute auf das lächelnde Herzchen auf meinem Knie, während meine Füße über den Boden geschliffen wurden. Durch zwei Türen hindurch, dann wurde ich neben drei andere Kinder auf eine Ledercouch geschoben. Die Tür schloss sich mit einem kaum hörbaren Klicken. Die Falle hatte zugeschnappt.

Ich legte meine Hände auf meine Knie, damit man das Herzchenpflaster nicht sah. Es war mein geheimer Glücksbringer. Wenn ihn jemand sehen würde, würde er an Kraft verlieren. Ich sank in das schwarze Polster der Couch ein. Vielleicht würde ich vollkommen darin versinken und nie wieder herausfinden. Nur meine Zehenspitzen berührten den Marmorboden, er war eiskalt. Das spürte ich sogar durch meine Schuhe. Gegenüber von mir, in ungefähr drei Meter Entfernung, spannte sich eine Leinwand über die ganze Wand und einen Teil der Decke. Die Frau, die mich hergebracht hatte, blieb vor mir stehen und hielt mir eine schwarze, quadratische, verdunkelte Brille hin. Ich zögerte, hob den Blick. Sie sah mir auch jetzt nicht in die Augen.

»Meine Güte, bei Harmoniemenschen habe ich immer häufiger das Gefühl, dass ihre Lebensmittel zu viel Glutamat enthalten, die ihnen die Gehirnzellen wegfressen.« Sie schob mir die Brille energisch auf die Nase und reichte dem Jungen neben mir die nächste Brille. Er hob sein Kinn und schaute mich mit zuckenden Augenbrauen an. Dann faltete er die Hände hinter seinem Kopf, streckte seine Beine, bis sie knackten, und gähnte mir ins Gesicht. Ich hätte ihm sehr gerne etwas in die leere Mundöffnung hineingestopft, aber das passte überhaupt nicht zu meiner Persönlichkeit, also rückte ich nur von ihm ab und starrte auf die Leinwand, bis sich goldene Buchstaben abbildeten. SELEKTION.

Die Buchstaben begannen, auf dem Schirm zu tanzen, das S zwirbelte wie eine Schlange, die E’s rotierten, das K hüpfte auf einer unsichtbaren Sprungfeder. Dies geschah so lange, bis alle Buchstaben miteinander verbunden waren, als hätte jemand sie in uralter Schönschrift geschrieben. So etwas kannte ich nur aus dem Geschichtsunterricht.

»Selektion«, flüsterte eine Männerstimme. Und ich wusste, diese Stimme war von Caesar, dem Diktator.

Der Junge neben mir nahm die Hände hinter seinem Kopf hervor und legte sie ehrfürchtig in seinen Schoß.

»Meine lieben Kinder«, sagte die Stimme und erfüllte den ganzen Raum, schien von überall und nirgendwo zu kommen, durchdrang jede Pore meines Körpers. Ich wäre gern aufgesprungen, hätte geschrien, seine Stimme rausgeschüttelt, erbrochen, aber ich blieb ruhig und friedlich sitzen. »Ihr tut dies für Alemania. Ihr tut dies für eure Zukunft, die eurer Kinder und der Kinder eurer Kinder. Gleich und gleich funktioniert. Ungleich tötet. Wenn wir nicht getrennt wären, wären wir alle jetzt tot. Ihr wisst in eurem kleinen Herzen, dass ich recht habe. Deswegen gibt es die Selektion. Seid ehrlich. Oder versucht ruhig zu lügen. Ich werde es rausfinden. Wollt ihr mich enttäuschen?«

»Nein«, flüsterte der Junge neben mir.

»Die Selektion beginnt mit den Cinematicos. Ihr bekommt vier Filmsequenzen zu sehen. Wählt die, die euch am meisten anspricht.«

Seine Stimme verblasste, schmolz wie Schnee.

SELEKTION löste sich auf, dann erschien das Bild einer asphaltierten Straße. Ich hatte schon ein paar Mal einen Cinematico sehen dürfen, aber es war jedes Mal wieder eine atemberaubende Erfahrung. Die Kamera bewegte sich auf einen Punkt in der Mitte der Straße zu, immer schneller, bis sie ihn erreichte. Dann verharrte das Bild kurz, aber nur für zwei Sekunden, schon setzte es sich wieder in Bewegung, und ich sah jetzt durch virtuelle Augen und lief virtuell die Straße entlang. Ich wusste nicht, wie so etwas möglich war. Aber es war schön. Die auf meinen Knien verkrampften Hände entspannten sich. Ich ging zügig, aber entspannt die Straße hinunter, die sich schließlich in vier Abzweigungen gabelte.

Es ertönte ein Geräusch, als würde man eine Münze fallen lassen. Ein großes, goldenes A blendete vor meinen Augen auf, kurz und grell. Da setzte mein virtuelles Ich sich in Bewegung und wählte die erste Abzweigung, und kaum hatte es die Grenze übertreten, löste sich die Straße auf. Ich saß auf einem Stuhl, aus … aus Holz, ja. Mit einem blauen Bezug. Um mich herum reihten sich hohe Türme. Ich legte den Kopf in den Nacken. Die Türme hatten kein Ende. Ich erhob mich von meinem Stuhl, ging auf einen Turm zu und zog ein schweres, blaues Buch mit samtenem Einband und einem vergilbten Lesezeichen hervor. Bücherregale. Ich war umzingelt von Bücherregalen. Was mich ein wenig beängstigte, gab es überhaupt einen Weg hier raus? Leider hatte ich – Mika – das nicht zu entscheiden. Mein virtuelles Ich schlug das Buch auf, eine Staubwolke stob ihm ins Gesicht. Es strich mit den Händen über die uralten Seiten, die bedeckt waren mit verschlungenen Buchstaben.

Dann löste das Bild sich auf. Ich stand wieder auf der Straße, bewegte mich zur zweiten Abzweigung. Ein B blendete auf, gleichzeitig mit dem Münzgeräusch. Und schon saß ich wieder, diesmal allerdings auf einem schöneren Stuhl. Ja, auf einem Thron. Groß, schwer und golden. Die Finger meines Ichs befühlten die golden spiegelnden Armlehnen. Neben mir war jemand und wedelte mir mit einem Papierfächer Luft ins Gesicht. Und zu meinen Füßen … lagen Menschen. Abertausende von Menschen lagen auf den Knien vor mir, verbargen ihre Gesichter auf dem Boden und beteten mich an. Ich – Mika – stieß ein entsetztes Schnauben aus, wäre jetzt wirklich gern aufgestanden und hätte ihnen aufgeholfen. Der Junge neben mir keuchte begeistert. Zum Glück wurde das Bild wieder von der Straße überblendet und zur dritten Abzweigung, ein klirrendes, goldenes C erschien. Plötzlich bewegte sich alles, ruckelte auf eine vertraute Art und Weise auf und ab. Ich saß auf einem Pferderücken – und unterdrückte ein Strahlen. Ich – Mika – liebte Pferde. Ich hatte zu Hause eine kleine, schokobraune Stute, die Coco hieß. Allerdings ritt ich sie immer nur mit Sattel, mein virtuelles Ich ritt ohne. Das Pferd galoppierte durch Sanddünen hindurch, mit nicht zu zügelnder Lebensfreude. Mein Herz fing an zu rasen. Ich war noch nie mit Coco galoppiert, das durfte ich nicht. Meine Freundinnen und ich ritten einen gemäßigten, sanften Schritt. Aber es fühlte sich fantastisch an. Meine Fingerspitzen wurden feucht. Das Pferd trug mich über immer nasser werdenden Sand bis hin zum uralten, ewig schäumenden Meer, dort sprang mein virtuelles Ich behände ab, klopfte ihm den schweißnassen Hals und watete in die Wellen. Es fehlte nicht viel, und ich hätte die Kühle des Wassers gespürt. Was passierte jetzt? Wo sollte es hingehen?

Diese Frage wurde mir beantwortet. Vor meinen Augen erschien ein altes Segelschiff. Das weiße Tuch schlug wild im Wind hin und her, der Mast knarrte wie Holz im Kamin. Ich watete begeistert darauf zu und ließ mich an Bord ziehen, Gischt sprühte durch die salzgetränkte Luft, eine Möwe stieß einen Schrei aus. Und das Bild verblasste. Mein Herz setzte aus. Warum? Diese Reise war noch nicht zu Ende, es hatte gerade erst angefangen. Ich wollte dabei sein. Ich hätte fast wütend aufgeschrien. Mein virtuelles Ich wählte die vierte Abzweigung und das goldene D klirrte. Dann fand ich mich in grünem, von goldener Sonne beleuchtetem Gras wieder. Auf den Grashalmen sprossen helle Blumen und eine Hummel summte um mein Gesicht. Ihr folgte ein rosa Schmetterling. Er setzte sich auf meine Fingerspitze, und mein virtuelles Ich durfte die Flügel berühren, zart wie Rosenblätter, zerbrechlich wie Glas. Die Sonne schien. Weiter hinten im Gras spielten zwei Kinder mit einem Seil, sie lachten. Es war hübsch hier, durchaus. Friedlich, entspannt, harmonisch. Ich mochte es. Aber in meinem Hinterkopf war das Schiff, in meinem Hinterkopf fragte ich mich, ob wir ein Ziel hatten oder eins suchten.

Und als das Bild sich auflöste, da wusste ich, es war falsch. Es war falsch, das Schiff und das Meer zu wollen. Dann würde ich Mama und Papa nie wiedersehen. Ich wollte die schwarze Brille aufbehalten, um diese Erkenntnis zu verstecken, aber die Frau, die mir nicht in die Augen sah, riss sie mir grob von der Nase.

Die Leinwand war wieder weiß und leer. Ich schluckte. Natürlich hatte mir D am besten gefallen. Da gehörte ich hin. An einen Ort, wo die Sonne nie unterging und keine Träne vergossen wurde.

Ich zuckte heftig zusammen, als die Frau meine Hände griff und mir schwarze Kabel um die Zeigefinger schlang. Sie behandelte meine Finger wie leblose Fremdkörper.

»Der Lügendetektor vom Diktator«, sagte ich tonlos. Sie stockte.

»Wie nennen wir ihn?«, fragte sie.

Wie nennt er sich, hätte ich gern gesagt. »Caesar«, sagte ich brav.

»Caesar, der Retter der Menschheit«, ereiferte sich der Junge neben mir, was ihm einen wohlwollenden Blick der Frau einbrachte.

»Was spricht dich am meisten an?«, fragte sie mich daraufhin. »Bei welcher Szene hast du am meisten gespürt? Lügen ist sinnlos. Versuch’s gar nicht erst.«

»Harmonie«, sagte ich.

»Warum?«, fragte sie und zog die schwarzen Kabel enger.

»Harmonie ist alles, was ich brauche. Ich möchte Sonne in meinem Leben. Meine Familie, eigene Kinder, Blumen, Schmetterlinge. Alles andere macht mir Angst und stößt mich ab. Ich bin ein Harmoniemädchen.«

Ich glaubte das. Sie glaubte es. Der Detektor glaubte es auch.

Nachdem diese Prozedur bei uns allen abgelaufen war, scheuchte die Frau uns durch eine andere Tür hinaus und holte die nächsten vier Achtjährigen herein. Ich erhaschte einen letzten Blick auf Janna. Sie stieß zwei Kinder beiseite und platzierte sich mitten auf der Ledercouch. Ihr Grinsen war riesig und breit und rot. Ich schloss die Augen und drehte mich weg.

Uns empfing ein hagerer, fast kahlköpfiger Mann, der uns in einen Kreis von vier Stühlen dirigierte.

Ich setzte mich, verdeckte mein Pflasterherz und senkte die Wimpern.

»Ihr werdet ein Spiel spielen«, sagte der Mann sachlich und geübt. »Ihr seid vier Kinder in einem Heißluftballon. Und er sinkt. Einer von euch muss raus, damit die anderen drei überleben können. Ihr müsst das zusammen entscheiden und abstimmen. Redet.«

»Ich bin der Anführer«, sagte der Junge mit den zuckenden Augenbrauen. »Ohne mich habt ihr gar keine Chance. Das ist wohl klar.«

Ich hätte ihn sehr gern aus dem Heißluftballon geschmissen. Ich hätte ihn auch überall sonst raus- und runtergeschmissen. Aber das war nicht mein Part. Ich war erst acht, aber ich kannte meine Rolle sehr gut. Noch nichts sagen. Noch schweigen.

»Du bist überhaupt nicht der Anführer«, sagte ein anderer Junge. »Das kannst du nicht einfach so entscheiden. Ich halte mich für den besseren Chef.«

Das Mädchen neben mir lächelte plötzlich. Sie warf ihren mausbraunen Haarschopf nach hinten. »Es kann nicht zwei Anführer geben. Einer von euch muss raus. Sonst gibt es Streit. Ich bin für den mit den Augenbrauen. Der andere hat bessere Führungsqualitäten.«

Jetzt mein trauriger Satz: »Ist schon gut, ich gehe.« Harmonisch, aufopfernd, ein Märtyrer.

»Na, wenn du willst. Ich bin dafür«, sagte der bessere Chef.

»Ich auch«, lachte der Augenbrauenjunge erleichtert.

»Okay.« Das Mausmädchen zuckte die Achseln. »Wenn du unbedingt sterben willst.«

Ich nickte leicht.

»Gut«, sagte der Mann. »Du kannst direkt zur medizinischen Untersuchung gehen, Mikaela.« Er nahm meinen Stuhl aus dem Viererkreis. »Weiter geht’s. Drei sind im Heißluftballon. Er ist immer noch zu schwer.«

»Zum Glück ist sie raus. Rosa und Rot beißt in den Augen«, sagte der Augenbrauenjunge.

»Macht’s gut«, sagte ich und tapste zur hinteren Tür, kaute auf einem meiner Zöpfe herum. Ich hätte den blöden Jungen gern gebissen, in die Hand, sodass er meine Zahnabdrücke auf der Haut hatte, aber ich war ein Harmoniemädchen und musste mich mit meinem Zopf begnügen.

*

Ich saß auf dem weißen Stuhl und wischte mir die hervorquellenden Tränen hastig aus den Augenwinkeln. Allein der Anblick der in Weiß gekleideten Ärztin, die die Nadel präparierte, brachte mich fast dazu, mich in der nächsten Ecke zu verstecken.

Ich wischte mir unauffällig die tropfende Nase an dem Kragen meines schönsten Kleides ab und starrte an die Wand, bis ich bunte Punkte sah. Ich hatte es fast geschafft. Ich hatte alles richtig gemacht. Die Ärztin kam mit der Spritze zu mir. Ich hatte Gänsehaut auf den Armen und schmeckte bittere Galle auf meiner Zunge.

»Bitte seien Sie vor…«, sagte ich, da hatte sie mir auch schon die Nadel in den Arm gerammt. Ich stieß einen leisen, kläglichen Schrei aus. Als ich sah, wie das dunkle Blut in das durchsichtige Röhrchen gezogen wurde, warf ich den Kopf nach vorn und erbrach mich auf den weißen Boden. Ich schüttelte mich. »Bitte ziehen Sie sie raus! Bitte bitte!«

Die Ärztin gab mir eine Ohrfeige, die auf meiner Wange brannte, zog die Nadel heraus und wischte dann den Boden sauber. Ich starrte auf den kleinen, blutenden Punkt an meinem Oberarm.

»Erstaunlich wenig Cholesterin für ein Harmoniemädchen, das steht für ein höheres Aggressionspotenzial, als du haben solltest«, sagte sie.

Ich wusste nicht, was Cholesterin war. Aber ich wusste, dass dieser Satz nicht gut für meine Zukunft war. Ich hörte auf zu weinen, vergaß meinen kleinen, blutenden Punkt und starrte sie mit panikgeweiteten Augen an. Dies nahm sie zum Glück nicht wahr, weil sie sich mit ihrem Stethoskop beschäftigte.

Cholesterin war plötzlich mein Feind. Cholesterin wollte mich von meinen Eltern trennen. Für immer. Ich dachte an meine Mama. Ich dachte an ihren Vanillekuchen, an ihre nach Blumenerde riechenden Hände und ihre Gutenachtküsse. Ich dachte daran, wie sie mich beruhigte, wenn ich einen Albtraum hatte. Im Schneidersitz auf dem Bett sitzen, einatmen, an etwas Schönes denken, ausatmen, und alles loslassen. Schöne Dinge einatmen und den Albtraum ausatmen.

Ich schloss die Augen und atmete ein.

Mama, Coco, Sonnenblumen, Schäfchenwolken, Schlagsahne, Papa, Lachfältchen, Kitzeln, für immer glücklich sein. Ausatmen. Alles verlieren, Spritze, Kotze, Ohrfeige, Janna, Jannas Mund, Augenbrauenjunge, Frau-die-einem-nicht-in-die-Augen-gucken-kann.

»Herzschlag passt«, sagte die Ärztin, die ihn in dieser Zeit gemessen hatte. »Hast du heute Morgen keine Butter auf dein Brötchen geschmiert?«

»Ich mag Butterbrötchen nicht so«, entgegnete ich schnell. »Meine Mama sagt immer, ich soll sie drauftun, deswegen warte ich, bis sie wegguckt, und esse es dann doch ohne.«

»Ah«, murmelte die Ärztin. »Das erklärt alles. Dein Cholesterinwert widerspricht dem Rest deiner Ergebnisse vollkommen. Das musst du ändern, du musst jeden Tag ein Butterbrötchen essen. Es ist für die Zukunft von uns allen, nicht wahr?«

Das klang so albern, dass ich fast auf sie gezeigt und sie ausgelacht hätte, aber ich nickte ruhig. Ich mochte Butter, es war also nicht wirklich traurig.

Und dann war ich fertig. Ich ging leise hinaus in den folgenden Raum und sah mich vorsichtig um. War alles gut gegangen?

Auf einmal hörte ich einen Schrei. Ich klammerte mich am Türrahmen fest. »Nein!«, schrie eine weibliche Stimme. »Ihr Schweine, ihr miesen Schweine, sie ist meine Tochter! Ihr werdet sie mir nicht wegnehmen! Klara! Ich werde euch alle umbringen! Eigenhändig.«

Dann sah ich ihr vor Tränen blindes, bleiches Gesicht. Es war völlig aufgequollen. Ich fragte mich, ob meine Mama auch so geweint hätte. Ich musste sie trösten. Es war gewiss nicht alles verloren, solange man die Hoffnung nicht aufgab.

Ich machte einen ersten Schritt auf die Mutter zu, die einen angrenzenden Flur entlangstürmte und gegen die Wände schlug, mit den Fäusten, mit dem Kopf, bis das Blut von der Tapete tropfte. Sie rutschte an der Wand hinunter, umschlang ihre Knie und weinte, zuckte und weinte.

Bevor ich auch nur blinzeln konnte, waren sie da. Sie gaben ihr eine Spritze. Ich hielt mir schnell die Augen zu, schaute dann aber doch durch die Fingerspalten. Ihre Glieder erschlafften einzeln, ihre Finger kratzten an der Wand entlang, ihre Lider sackten herab.

»Mika?«

Da war plötzlich meine Mutter und dann war ich in ihren Armen und wir waren plötzlich wieder bei den Glasschlitten und sie streichelte mir immer wieder über den Kopf und Papa sagte: »Ich hab’s doch gesagt, es wird alles gut.« Und auch er sagte das immer wieder.

Ich sah über Mamas Schulter und erblickte ein kleines, erstarrtes Mädchen mit einer runden Eulenbrille und blauen Augen. Sie hatte Tränen in den Augen, aber sie weinte stumm, als hätte jemand den Ton aus Langeweile abgedreht.

»Klara?«, fragte ich. Und sie antwortete nicht, aber sie sah mich an und natürlich war sie Klara. Ich fragte mich, ob sie mich hasste, weil ich meine Eltern behalten durfte. Ob ich überhaupt das Recht dazu hatte.

»Komm schon, Klara«, sagte ein verwirrt aussehender Mann und zog an ihrer kleinen, verlorenen Hand. Sie schaute mich an, bis ihr Glasschlitten im Schacht verschwunden war.

Ich saß auf Mamas Schoß und wir fuhren nach Hause und in genau diesem Moment war ich mir sicher, dass ich für immer nur ein Harmoniemädchen sein würde.

2. KAPITEL

DER JUNGE AUF DER MAUER

8 Jahre später

So wie jeden Morgen werde ich von der Sonne geweckt. Während der Wind sanft in meinen Seidenvorhängen spielt, schlüpfe ich in meinen fliederfarbenen Morgenmantel und meine Pantoffeln. Ich kämme mir mein dunkelrotes Haar und lausche dem Vogelgesang. Ich kann sie alle voneinander unterscheiden. Das Rotkehlchen singt mir jeden Morgen meine Lieblingsmelodie vor, begleitet von der Blaumeise. Der Specht untermauert dies, indem er seinen gebogenen Schnabel kräftig an den Ahornbaum schmettert.

Wie immer wasche ich mir das Gesicht mit lauwarmem Wasser, während mein Körper sich schon nach Schokoletta und Fruchtquark verzehrt. Der Duft dringt durch das ganze Haus, sowie das freundliche Klirren vom Frühstücksgeschirr.

Schokoletta ist eine Getränkemischung aus geschmolzener Schokolade, Kakao und Kräutern und eine optimale Nahrungsergänzung für unsere Persönlichkeit. Wir alle wissen, dass unsere Frühstücksschokoletta mit der hundertfachen Dosis Phenethylamin angereichert wurde. Aber das ist nicht schlimm, Phenethylamin ist eine Vorgängerverbindung der Glückshormone und Harmoniemenschen sind dazu da, um glücklich und friedlich zu sein. Ich fixiere für zwei Sekunden mein Spiegelbild. Meine hellblauen, kindlichen Augen betrachten mich prüfend. Ich seufze und mache mich auf den Weg, um Nora zu wecken.

Nora ist meine Schwester, allerdings nicht leiblich. Sie wurde an ihrem achten Geburtstag von ihren Ehrgeizeltern getrennt und unserer Familie zugeteilt. Manchmal denke ich, dass ein Kind, welches in eine Harmoniefamilie selektiert wird, es leichter hat als andere. Nur in Seelenheide gibt es Familien, Macht-, Ehrgeiz- und Risikomenschen organisieren sich in Lebensgemeinschaften. Sie nennen ihre Eltern beim Vornamen und haben kaum eine emotionale Bindung. Sie leben zusammen, um zu einem verantwortungsvollen Erwachsenen mit ausgereiften Normen und Werten erzogen zu werden. Nicht um geliebt zu werden. Nur Harmoniemenschen dürfen lieben. So sagt man es. So ist es also.

Und dann, wenn ich Nora ins Gesicht sehe, ist es anders. Sie hat braunes, kinnlanges Haar. Ihre blauen Augen sind zweimal so groß wie meine. Ihre schmalen Lippen hat sie immer zusammengepresst. Sie liebt meine Eltern, über alles. Meine Eltern sind gute, ehrwürdige Menschen und behandeln Nora so wie mich. Aber es ist nicht richtig.

Es ist nicht richtig, das sagen Noras zusammengepresste Lippen. Das ist ihr kleiner, stummer Rebellionsakt.

Ich betrete Noras Zimmer. Wenn sie schläft, ist ihr Mund entspannt. Sie hat winzige Schlafkrümelchen in ihren Wimpern und ist fast vollständig unter ihrer Decke versteckt. Ich gebe ihr einen Kuss auf die Stirn. »Guten Morgen, Nora. Es gibt Frühstück.«

Sie blinzelt sofort, presst ihre Lippen zusammen und lächelt dann mit zusammengepressten Lippen.

»Guten Morgen, Mika.« Sie klettert aus ihrem Bett. Ich richte ihren abstehenden braunen Pony, der wie eine kleine Palme in die Luft steht.

»Danke«, sagt sie mit einem weiteren Lächeln und nimmt meine Hand. Wir gehen zusammen die Treppe herunter.

»Guten Morgen, meine Mädchen«, begrüßt uns meine Mutter und richtet den altmodischen Teekessel.

»Guten Morgen«, sagen wir. Nora setzt sich mit angezogenen Knien auf ihren Stammplatz auf der Heizung und rührt mit einem Löffel in ihrem Fruchtquark. Ich nehme meine geblümte, mit Schokoletta gefüllte Tasse und leere sie in einem kräftigen Zug.

Wie immer habe ich einen schokobraunen Rand um den Mund, der Nora zum Lachen bringt. Wie immer sehe ich die Freude in den Augen meiner Mutter, wenn Nora lacht. Wie immer öffne ich summend die Terrassentür, nehme die kleine Gießkanne und laufe durch Mamas Blumengarten, um die Pflanzen zu bewässern. Gern würde ich eine Sonnenblume pflücken, aber dann wäre sie übermorgen verwelkt und hätte jeglichen Glanz verloren, also streiche ich nur gedankenverloren lächelnd über ihre samtigen Blütenblätter, lausche noch einmal der Melodie des Rotkehlchens, umrunde das Haus und öffne schließlich die Klappe der Postbox.

Der kleine, schräg gerichtete und mit einer senkrechten Stange gestützte Flachbildschirm erwacht sirrend zum Leben. »Guten Morgen, Familie Anders«, wünscht mir Caesars Computerstimme aus dem Apparat heraus.

»Guten Morgen, Caesar«, sage ich schnell, mein durch Schokoletta angeregtes Glücksgefühl verdampft wie kochendes Wasser.

»Hallo, Mikaela«, sagt er dank Spracherkennung. Zwischen Amelie, Sander und Nora leuchtet mein Name auf, dann öffnet sich meine Inbox.

Zwei neue Nachrichten habe ich. Eine von meiner Freundin Joana und eine vom Checkpoint. Ich klicke erst auf Joanas.

»Kommst du nachmittags mit Coco vorbei?«, fragt ihre Stimme. »Melanie kommt auch und Marisa hat einen der schönsten Sonnentage angekündigt.«

Bei der Erwähnung von Marisa verdrehe ich unwillkürlich die Augen. Sie ist Caesars heiß geliebte und allseits verehrte Tochter. Marisa hat platinblondes Haar, saphirblaue Augen und Porzellanpuppenhaut. Ihr Gesicht ist absolut symmetrisch, schon fast gruselig symmetrisch. Sie macht im Sender Ale1 das Wetter und liebt es, Wetterprinzessin genannt zu werden. Außerdem besucht sie ab und zu auf einem weißen Pferd die einzelnen Bezirke, wobei alle vollkommen durchdrehen und sie mit rosa und fliederfarbenen Rosenblüten bewerfen. Außerdem ehrt Marisa unterschiedliche Menschen, die Alemanias Zukunft irgendwie unterstützt oder »unser gesamtes Dasein gerettet« haben.

Ich seufze und lege meinen Daumen auf Antworten.

»Ja, ich komme«, sage ich nur.

Coco ist alt geworden, ihre Augen sind traurig verschleiert, ihr Schritt ist nur noch schleppend. Aber ich weiß, dass sie die Ausritte mit Joana und Melanie und ihren Stuten Aja und Luna genauso liebt wie ich. Ich wähle meine zweite Nachricht aus.

»Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Ihren Zeitungsartikel mit dem Titel ›Persönliche Beobachtungen zu unserem Sonnensystem‹ nicht im Alemanier veröffentlichen können und dürfen. Als Harmoniemensch steht es Ihnen nicht zu, in diesem Bereich schöpferisch tätig zu sein, und das müsste Ihnen eigentlich bewusst sein. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und bitte gehen Sie den für Sie vorgegebenen Weg. Es ist für die Zukunft Ihrer Kinder und der Kinder Ihrer Kinder.«

Im Anhang befindet sich mein Artikel, eingeleitet mit den Worten: »Wussten Sie, dass man den Jupiter nachts manchmal mit bloßen Augen sehen kann?«

Ich halte kurz die Luft an. Es ist, als würde alles stillstehen, als würden die Vögel verstummen, die Bäume vereisen, als würde mein Nachbar Chris, der Erdbeeren in seinem Vorgarten pflückt, in der Bewegung erstarren. Dann schlage ich die Postboxklappe wuchtartig zu und stürme ins Haus.

Chris zuckt zusammen und lässt seine mit reifen Erdbeeren gefüllte Plastikschüssel vor Schreck fallen. »Mikaela?«, fragt er verunsichert, während die Erdbeeren über seine Füße kullern, und verzieht besorgt sein sowieso schon dauerbesorgtes Gesicht.

Ich antworte ihm nicht und schlage die Haustür hinter mir zu. Nora steht mit großen, erschrockenen dunkelblauen Augen auf der sauber gefegten Türmatte und starrt mich fragend an.

Meine Mutter kommt um die Ecke geeilt. »Mika, was machst du für einen Lärm, was ist denn los?«, fragt sie mit einer beunruhigten, steilen Falte zwischen ihren Augenbrauen.

»Diese … diese …«, ich suche nach einem Wort und schwenke meine Arme in hilflosen Schleifen durch die Luft.

Nora greift nach meinen Händen und hält sie sanft, aber bestimmt fest.

»Beruhig dich erst mal, Mika. Trink eine Tasse Schokoletta und beruhig dich. Es ist sicherlich alles in Ordnung. Denk doch mal darüber nach. Sei mein vernünftiges, liebes Mädchen«, sagt meine Mutter.

Aber ich bleibe zornig stehen, stampfe einmal mit dem Fuß auf dem Boden auf und fauche zähneknirschend: »Ich habe mir verdammt viel Mühe gegeben mit dem Artikel und das weißt du! An jedem Wort habe ich gedreht, damit niemand mehr etwas daran auszusetzen haben konnte. Und er war gut, Mama. Er war gut!«

Tränen der Wut steigen mir in die Augen, ich entreiße meine Hände Noras Griff.

»Und diese … diese … sie sagen, er wird nicht veröffentlicht, weil ich Harmonie bin. Und nicht Ehrgeiz, oder was? Ich habe nicht weniger Recht darauf! Was erwarten sie von mir? Dass ich ihnen Kuchen backe und hübsche Kinder mit dunkelroten Haaren produziere? Wann soll ich anfangen? Seelenheide ist ein einziges verschissenes Zuchthaus!«

»MIKA!« Die Stimme meiner Mutter bebt.

»Reiß dich zusammen. Wir sind harmonisch. Wir reden nicht so. Du bist als harmonisch selektiert, Mikaela, erinner dich.«

Und ich erinnere mich an den Lügendetektor und mein schönstes Kleid und an den uns allen unbekannten Ort, zu dem wir auf Glasschlitten gebracht wurden, und verharre.

»Ja, du hast recht«, sage ich dann leise. »Aber es ist so … unfair, Mama.«

»Es tut mir leid für dich, Mika«, sagt Nora mit zusammengepressten Lippen, als ob ihr noch viel mehr leidtäte.

*

Coco ist glücklich, wenn sie von Aja und Luna flankiert wird. Die Sonnenstrahlen fallen durch den lichten Laubwald und reflektieren sich in Joanas und Melanies dunklen und meinen roten Haaren. Meine geliebte Stute geht ihren typischen ein wenig hüpfenden Schritt, der immer noch verspielt wirkt, auch wenn sie alt ist. Ich kraule ihr den schokobraunen Hals und halte mich mit der anderen Hand am Sattel fest.

»Herrlich, solche Tage. Marisa hat nicht zu viel versprochen«, sagt Joana und reckt ihre kleine, weiße Nasenspitze in Richtung Sonne.

»Ich liebe diese Tage«, stimmt Melanie ihr lächelnd zu.

Beide warten nun auf meine Zustimmung und schauen mich mit fragenden Augen an. Sie sehen sich ähnlich. Melanies Haare sind etwas lockiger als Joanas, sie ist ein Stückchen kleiner und hat enger zusammenliegende, braune Augen, aber sie werden sehr häufig verwechselt. Ich wurde noch nie mit jemandem verwechselt.

»Mika?«, fragt Mel jetzt tatsächlich.

Ich drehe zögernd an meinem rosa Mobile Chip. Er sieht aus wie ein Bonbon. Ich frage mich, ob kleine Kinder schon mal Mobile Chips gegessen haben, weil sie fanden, dass sie lecker aussahen.

»Mika?«, echot Joana nun.

Ich sehe auf. »Ich habe einen Artikel für den Alemanier geschrieben«, sage ich. »Über Planeten. Insbesondere über den Jupiter. Wusstet ihr, dass wir nicht leben würden, wenn es den Jupiter nicht gäbe? Dann würde alle hunderttausend Jahre ein Asteroid einschlagen.«

Joana und Melanie werfen sich einen verständnislosen Blick zu.

»Warum hast du das gemacht, Mika?«, fragt Joana. »Das ist nicht unsere Aufgabe.«

Ich sehe auf. »Wer bestimmt, was unsere Aufgabe ist, Jo? Warum darf ich das nicht selbst entscheiden?«

Melanie sieht sich unbehaglich um.

»Hast du Angst, dass uns jemand hört, Mel?«, frage ich, zu meinem Erstaunen ziemlich scharf.

»Ja«, sagt sie schlicht.

»Ich verstehe dich nicht, Mika«, zögert Joana. »Wir haben doch Menschen, die über so was nachdenken. Es ist doch alles geregelt. Es ist wichtig, das wir das Richtige tun. Es ist für die Zukunft unserer Kinder und …«

»Der Kinder unserer Kinder?«, frage ich sie verächtlich. Luna wiehert unruhig und scharrt mit den Hufen im Gras. »Glaubt ihr ihnen jedes Wort? Dürfen wir keine Träume haben? Keine Träume, die aus uns kommen, aus unserer Seele? Dürfen wir nicht selbst unseren Weg suchen, auch wenn wir dabei auf Hindernisse treffen, auch wenn wir manchmal stehen bleiben, oder rückwärts gehen, oder hinfallen? Ist es nicht unsere Entscheidung? Das hier ist nicht mal ein Weg … Das ist ein Fließband, ein kollektives Fließband, bis in den Tod.«

Ich verstumme. Joana und Melanie sind schockiert. Ich bin nicht weniger schockiert. Ich weiß gar nicht, was ich sage, ich weiß nicht, warum diese Worte aus meinem Mund kommen.

»Was passiert mit dir, Mika?«, flüstert Joana.

Ich habe keine Worte mehr. Ich öffne die Lippen und schließe sie wieder, krampfe meine Finger in Cocos mit aschgrauen Strähnen durchzogene braune Mähne.

Eigentlich wollte ich ihnen noch sagen, dass sie sich keine Sorgen machen müssen. Dass mein Artikel nicht veröffentlicht wird, dass man schon darauf achtet, dass ich schön harmonisch bleibe. Aber meine Stimmbänder sind betäubt. Ich sehe abwechselnd in Joanas und Melanies fassungslose braune Augen, und dann macht Coco etwas Wunderbares.

Sie galoppiert einfach davon.

Ich dürfte nicht galoppieren. Harmoniemenschen reiten Schritt. Coco ist sowieso zu alt zum Galoppieren. Eigentlich. Aber als ich mich in den Sattel ducke, ist sie kein bisschen alt, das Blut pulsiert genauso fiebrig in ihren Adern wie in meinen. Ich lege meine Wange an ihren Hals, ich erinnere mich an das Schiff und das Meer.

Und es reißt mich auseinander, weil ich nicht mehr weiß, wer oder was ich bin. Wir lassen Joana und Melanie weit, weit zurück und reiten auf die Sonne zu, die beständig über den Himmel gewandert ist. Sie sieht aus wie ein großer Pfirsich, und ich frage mich sofort, ob die Sonne in Sturmbruch anders aussieht, ob sie dort vielleicht brennt, und dann komme ich mir albern vor, klein und albern. Wie komme ich auf die Idee, das System infrage zu stellen?

Und Coco wird langsamer, glitzernder Schweiß rinnt aus ihrem Fell, sie schnaubt.

»Alles gut, mein Mädchen«, sage ich, schwinge mich aus dem Sattel und führe sie nach Hause. »Wir sind in einem Dorf, wo alles gut ist.«

*

Ich bringe Coco zurück zum Hof, striegele ihr Fell und gebe ihr eine Belohnungsmöhre, dann mache ich mich auf den Weg nach Hause. Joana hat recht. Was passiert mit mir? Warum kann ich mich nicht mit meinem Leben zufriedengeben? Ich hätte eine der Gondeln nach Hause nehmen können, aber ich gehe lieber zu Fuß. Über Seelenheide spannt sich eine Gondelbahn. Ich habe gehört, dass es in Machthall nur Glasschlitten gibt. Bei uns ist das anders. Ich mag die dunkelbraunen, gemütlichen Gondeln. Trotzdem muss ich mich jetzt bewegen. Ich ziehe mir die Lederschuhe und Socken von den Füßen und laufe barfuß weiter, vorbei an den symmetrischen, weißen Häusern mit den roten Ziegeldächern und den identischen Vorgärten, geziert mit Blumen- und Erdbeerbeeten. Ich mag es hier. Nein – ich liebe es hier. Ich bin ein Harmoniemädchen. Ich liebe die friedlichen, warmherzigen Menschen, die dir alles geben, bevor du auch nur darüber nachdenkst, danach zu fragen. Wirklich, ich schwöre, dass ich es liebe. Ich könnte ohne meine Familie nicht leben. Warum also bin ich so komisch? Warum ist bei mir irgendwas kaputt und bei allen anderen ist es heil und herrlich harmonisch? Ich schüttele über mich selbst den Kopf und ertappe mich dabei, dass ich schon wieder auf meinen Haaren rumkaue. Ich spucke sie trotzig aus, dann drehe ich das kleine Rädchen an meinem Mobile Chip auf Uhrzeit. »Neunzehn Uhr vierundfünfzig«, flötet es harmonisch in mein Ohr hinein, und ich frage mich, ob sie es bei den Risikos auch so flöten. Oder ob die Uhrzeit da geschrien wird.

Sollte ich in meinem Leben je einen Risiko treffen, werde ich ihn fragen. Ich kann nämlich nicht damit rechnen, je einem zu begegnen. Es ist uns untersagt, unser Heimatdorf zu verlassen. Die Selektion ist die einzige Ausnahme. Aber das ist okay für die Menschen. Ich meine, das ist okay für uns. Niemand von uns denkt daran, Seelenheide zu verlassen. Wir sind glücklich, bis wir sterben. Deswegen wird unser Zuhause auch nur durch eine niedrige Mauer von leeren Ländereien abgegrenzt.

Das, was wir über die anderen erfahren, stammt aus dem Fernsehen. Wir haben alle eine Plasmo-Leinwand zu Hause, und am Checkpoint gibt es die X-Plasmatica. Es wird gern gesehen, wenn man dort mit den anderen Harmoniemenschen zusammen guckt, und nur dort gibt es manchmal als Überraschung einen Cinematico. Ich gehe extra einen Umweg, um den Checkpoint nicht zu passieren. Hier läuft alles harmonische Leben zusammen und genau das möchte ich gerade vermeiden. Ich muss morgen sowieso zum Psychocheck. Wenn ich daran denke, kriege ich schon Magenschmerzen. Die Psychologin sieht aus wie ein vertrockneter Alligator mit Lesebrille und eines Tages wird sie mir den Kopf abbeißen und meine Innereien harmonisch verspeisen.

Ich stutze. Warum denke ich so was? Ich laufe verstört durch unseren Vorgarten und komme meinem Vater entgegen, der gerade von der Obstplantage nach Hause gekommen ist.

Wir in Seelenheide sind sozusagen die Bauern Alemanias, allerdings mit dem Schwerpunkt auf Früchten. Mein Vater arbeitet dort zehn bis zwölf Stunden am Tag, hat das Wochenende aber immer frei und sogar jeden zweiten Freitag.

»Mika, Mädchen, wo kommst du denn her?« Er gibt mir einen Kuss auf die Stirn und legt seinen Daumen auf den Schlüsselscanner. Sein Fingerabdruck wird abgeglichen, dann öffnet die Tür sich nach innen. Mein Vater schiebt sie weiter auf.

»Ich war mit den Mädels ausreiten«, sage ich mit einem überdeutlichen Grinsen.

»Wie schön«, sagt er und geht mit einem Beutel in Richtung Küche.

»Ich habe Äpfel vom Checkpoint mitgebracht, die Grünen magst du am liebsten, stimmt’s?«

»Ja, stimmt«, sage ich leise. »Danke, Papa.«

Papa füllt die weiße Keramikschale mit den herrlich grünen Äpfeln und legt mir den letzten in die Hand. »Ich guck jetzt Nachrichten, guckst du mit?«

Er schaltet die Plasmo-Leinwand ein, die sich über die Wand gegenüber dem gemütlichen Sofa spannt, gähnt leise und setzt sich. Müde, aber zufrieden.

»Danach wird das Schachfinale aus Machthall ausgestrahlt«, ergänzt er noch.

»Nein danke«, sage ich etwas zu schnell und etwas zu demonstrativ. »Ich gehe noch kurz in den Garten«, hänge ich so sanft wie möglich an und öffne die Glasschiebetür.

Der Garten ist ruhig, friedlich, für immer harmonisch. Hier wird sich nie etwas ändern. Ein identischer Sommer, Vögel, Sonnenblumen, Ahorn, das eigens von Papa gezimmerte Vogelhäuschen und hinter dem Garten, nach ein paar Metern Heide, die Mauer. Ich beiße in den Apfel, er zerplatzt zwischen meinen Zähnen, süß, oder sauer, ich kann mich nicht entscheiden. Da ist die Mauer. Keine zwei Meter hoch, aus hellen, runden Steinen. Es wäre nicht schwer, über den Gartenzaun zu klettern, ein bisschen durch die Heide zu laufen, dann die Mauer zu erklimmen. Da ist ein vorgeschobener Stein, der ziemlich stabil aussieht. Es wäre leicht. Von hier sieht es so aus, als wären nur leere Felder hinter Seelenheide. Aber vielleicht, wenn ich darüberklettere, wenn ich ein bisschen gehe, vielleicht sehe ich eine Rauchzunge von Sturmbruch. Zumindest würde ich mir vorstellen, dass es da Rauchzungen gibt. Als mir auffällt, dass meine Füße schon begeistert loslaufen, schleudere ich den Apfel schockiert von mir. Er fliegt in einem kuppelförmigen Bogen durch den Garten, über die Heide und landet hinter der Mauer.

Was für eine Verschwendung.

*

»Mika, holst du mir noch schnell etwas Schnittlauch aus dem Garten? Der Salat schmeckt dann viel besser!«, sagt meine Mutter, während sie Tomaten würfelt.

»Klar.« Ich schnappe mir ein Küchenmesser und gehe ein weiteres Mal in den Garten. Es dämmert schon und ist ein wenig kühl geworden, der Wind pustet mir die Haare in die Augen. Ich werfe den Kopf nach hinten, um etwas sehen zu können, und gehe in die Knie. Gerade als ich die Halme in der Hand halte und mich zum Gehen wende, erklingt plötzlich eine Stimme.

»Dürfen Harmoniemenschen galoppieren?«

Ich zucke zusammen. Das Messer rutscht mir fast aus der Hand. Meine schlotternden Finger krallen sich am Griff fest. Es sind nicht die Worte, obwohl sie schlimm genug sind, es ist der Klang der Stimme. Tief, rau, knisternd. Ein gefährliches Knistern, wie das einer Feuerwerksrakete, die jede Sekunde explodiert. Ich fahre herum.

Auf der Mauer hinter unserem Garten sitzt ein Junge. Er hat dunkles Haar und ein vollkommen zerrissenes T-Shirt. Und er hält etwas Grünes in den Händen. Er isst meinen Apfel. Den Apfel, den ich vorhin über die Mauer geschleudert habe.

»Harmoniemädchen, ich hab dich was gefragt. Dürft ihr galoppieren? Ich glaube nicht, oder?«

Er beißt schmatzend in meinen Apfel, was mich abermals zusammenzucken lässt.

Ich muss ins Haus. Ich muss sofort ins Haus. Er ist gefährlich. Ich weiß, wer er ist. Wir dürfen uns nicht sehen. Wir dürfen nicht miteinander reden. Das ist verboten.

Er ist ein Risiko.

Oh Gott, er ist ein Risiko.

»Haaaaaarmoooooonieeeeeeemädchen?«, ruft er.

Um Gottes willen, wenn ihn jemand hört.

Ich versuche, etwas zu sagen, bringe aber nur eine Reihe unverständlicher Laute heraus, während mein Herz zerspringt, als wäre es aus Glas. Ich muss ins Haus. Warum gehe ich nicht? Warum?

»Bist du dumm?«, fragt er. »Ernsthaft, bist du gehirnkrank?«

»Du musst leise sein!«, flüstere ich kaum vernehmbar, während meine Knie hin und her wackeln.

Er hört es trotzdem. »Wow, du kannst sprechen«, lacht er und wirft den Kopf in den Nacken. »Kannst du auch Fragen beantworten?«

»Ich bin nicht galoppiert«, sage ich leise.

»Dürfen Harmoniemenschen lügen?«, fragt er spöttisch, wirft den Apfel in die Luft und fängt ihn wieder. »Ich glaube nicht. Ich hingegen darf lügen. So viel ich will, weißt du? Man will sogar, dass ich lüge. Du müsstest jetzt ein Reuegebet sprechen.«

Ich komme nicht mehr mit, bin total durcheinander – und vergesse zu atmen. Das habe ich das letzte Mal bei der Selektion getan. Hastig stoße ich die Luft wieder aus, was in einen Hustenschwall übergeht.

»Ich glaube, du bist krank«, erklärt er.

»Nein, ich habe Angst«, sage ich und schlinge die Arme um meinen Körper.

»Ich nicht«, erwidert er. »Ich habe nie Angst.« Er beugt sich auf der Mauer nach vorn. Das aufkommende Mondlicht blitzt in seinen Augen.

»Ach stimmt«, sage ich wie von selbst. »Du darfst ja lügen.«

Eine Pause entsteht. Ich verschlucke mich fast an meinem Atem.

Er stößt einen gedehnten Pfiff aus. »Heeey, du möchtest mitspielen.«

»Nein«, sage ich schnell und mit hoher Stimme. »Egal was, nein.«

»Soll ich runterkommen, Harmoniemädchen?« Er wirft das Kerngehäuse des Apfels über seine Schulter nach hinten.

»NEIN«, zische ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und strecke ruckartig die Hand mit dem Küchenmesser nach vorn. »Siehst du? Ein Messer«, sage ich. »Ich bin bewaffnet.«

»Leg es besser hin«, sagt er lachend. »Du zitterst so sehr, dass du dir gleich die Zehen damit abhackst. Verdammt hart, wie viel Angst du vor mir hast. Einfach nur, weil sie das wollen. Eigenartig, nicht wahr?«

»Daran liegt es nicht«, sage ich und versuche, die zuckende Messerspitze zu kontrollieren. »Du bist ein fremder Mann. Das ist alles.«

»Und du bist ein Harmoniemädchen«, sagt er. »Und trotzdem bist du galoppiert.«

»Das macht doch nichts«, sage ich mit dünner Stimme.

»Aber du gibst zu, dass du es gemacht hast, ja?«

»Nein!«, rufe ich verzweifelt. »Woher weißt du das überhaupt? Wer bist du?«

»Ich bin Aaron«, sagt er. »Nenn mich Ron. Ich habe dich von der Mauer aus beobachtet. Und wer bist du?«

»Sag ich nicht!«, rufe ich wütend, im gleichen Augenblick rutscht mir das Messer aus der schweißnassen Hand. Ich mache einen Riesensatz zurück, das Messer bleibt senkrecht im Rasen stecken.

»Hab ich doch gesahaaagt«, singt Aaron von der Mauer.

»Bitte geh weg«, flehe ich. »Das ist verboten. Du wirst sterben.«

»Ich bin sowieso schon tot«, erwidert er, in verächtlichem Tonfall. »Sie haben mich schon umgebracht. An meinem achten Geburtstag.«

Ich schüttele mich, spüre die Gänsehaut auf meinen Armen.

»Die Selektion ist wichtig …«, sage ich mit brüchiger Stimme.

»Für die Kinder unserer Kinder, nicht wahr?«, fragt Aaron. »Puh, ist mir warm.«

Ich schaue ihn unschlüssig an. Er fängt an, an sich herumzuzupfen. Was macht er? Vorsichtig gehe ich noch einen Schritt zurück. Aaron rollt sein zerschlissenes T-Shirt hoch und zieht es über seinen Kopf.

Ich erstarre.

»Schon besser«, sagt er mit knisterndem Lachen. »Möchtest du es haben?« Er holt aus und zielt auf mich.

Und da drehe ich mich um, lasse den Schnittlauch fallen und das Messer in der Wiese stecken und laufe, laufe zurück ins Haus, bloß zurück.

»Du bist eine Heuchlerin!«, ruft er mir nach. »Und das weißt du!«

Ich schlage die Tür hinter mir zu, meine Hände zittern, meine Halsschlagader pocht panisch.

Ich schaue durch die Scheibe, im Garten liegt das T-Shirt, es ist ein dunkles, gefährliches Knäuel. Er ist ein Risiko. Er ist gefährlich. Sie haben es uns immer gesagt. Die Risikos werden uns wehtun, uns belügen, bedrohen, bestehlen, missbrauchen, vielleicht auch töten. Sie schrecken vor nichts zurück, haben keine Hemmungen. Sie sind nicht ehrwürdig, leisten keine besonderen Verdienste für Alemania, so wie wir Harmoniemenschen, so wie die Ehrgeiz- und die Machtmenschen. Risikos sind tödlich.

Ich ziehe den Vorhang hastig vor die Tür und sinke mit schlotternden Knien auf den Boden.

»Alles gut, Liebling?«, fragt mein Vater aus dem Nebenzimmer, vertieft in eines der Schachspiele.

»Nein, ein halb nackter Junge sitzt auf der Mauer. Er wird mich töten«, antworte ich.

»Okay«, sagt er beruhigt. Seine Konzentration wird anderswo gefordert.

Ich atme ganz tief ein und noch viel tiefer aus, dann ziehe ich den Vorhang an einer winzigen Ecke zur Seite und luge mit einem Auge hinaus.

Da sitzt er, er sieht mich, er hat mich vollkommen durchschaut, und wirft mir lachend eine Kusshand zu.

Meine Mutter kommt wieder in die Küche. »Mika? Was machst du da? Hast du Schnittlauch geholt? Was ist denn?«

Ich schaue kläglich zu ihr hoch. »Ist schon gut, Mama, ist nichts, ich habe den Schnittlauch im Garten vergessen.«

»Und das Messer?«

»Auch«, piepse ich.

Sie sieht mich ungläubig an, läuft auf mich zu und zieht den Vorhang zurück.

»Warte …«, rufe ich hastig aus. Warum schütze ich meinen nackten zukünftigen Mörder auch noch?

Ich drehe mich zur Mauer. Sie ist leer und leuchtet unschuldig im Mondlicht. Ich atme fassungslos aus, dann stehe ich schnell auf.

»Ich bin noch durcheinander wegen des Artikels«, sage ich schnell und mit flatternder Zunge. »Ich hole alles rein.«

Dann stürze ich in den Garten, sammle Messer und Schnittlauch ein. Und da liegt sein T-Shirt, mitten auf dem Rasen.

Ich umkreise es wie ein scheues, witterndes Tier.

»Mika? Was machst du denn jetzt?«, ruft meine Mutter.

»Ich komme ja!«, rufe ich panisch, greife nach dem Shirt, stopfe es mir unter mein eigenes und haste wieder zurück. Dann stolpere ich fast über die Türschwelle, klatsche meiner Mutter Schnittlauch und Messer vor die Nase und hetzte schon weiter in mein Zimmer.

»Mika, was um Gottes willen machst du?«, ruft meine Mutter. »Nur schnell auf Toilette!«, rufe ich, mache einen Haken, damit ich meine Schwester nicht umlaufe, und schlage die Tür hinter mir zu.

In meinem Zimmer hole ich das T-Shirt hervor, der zerrissene schwarze Leinenstoff zittert in meinen Händen. Und trotz allem rieche ich daran, ganz vorsichtig. Und lege es danach unter mein Kopfkissen. Ich fühle mich heuchlerisch. Ich bin ein heuchlerisches Harmoniemädchen. Denn unter meinem Kopfkissen ist jetzt der Geruch von etwas, wonach ich mich schon so lange sehne. Der Geruch von Sand, Salz und Meer.

3. KAPITEL

PARADIESAPFEL

Ich gehe betont langsam zum Checkpoint, setze bedacht einen Fuß vor den anderen. Trotzdem werde ich früher oder später ankommen. Quer über mir verläuft die Holzgondelbahn und quietscht leise.

»Einen schönen Tag wünsche ich dir, Schatz!«, ruft mein Vater aus einer der Gondeln heraus, winkt und baumelt mit den Beinen.

»Danke! Pass auf, dass du deine Schuhe nicht wieder verlierst!«, rufe ich zurück.

Papa sind seine Schnürstiefel nicht erst einmal von den Füßen gerutscht. Irgendwann wird noch mal jemand ganz harmonisch von einem seiner Schuhe erschlagen, das wäre dann glatt die häufigste Todesursache, nach Altersschwäche.

In Seelenheide sterben die Menschen gewöhnlich mit hundertzwanzig. Sie haben ein faltiges Lächeln auf den blassen Lippen, nehmen einen Schluck Schokoletta und segnen das Zeitliche. In Frieden ruhen? Hier garantiert.

Ich trage eine frische fliederfarbene Hose und ein rosa T-Shirt, in dessen Puffärmelchen sich der Wind bauscht. Mit ein bisschen Fantasie kann ich mir vorstellen wegzufliegen.

»Das werde ich, Mädchen!«, ruft mein Vater noch und verschwindet dann aus meinem Blickfeld.

Ich stelle fest, dass ich stehen geblieben bin, und setze mich wieder unwillig in Bewegung, immer tiefer hinein ins Herz von Seelenheide. Viele sitzen in ihren Gärten. Sie genießen die Sonne, gießen Blumen, pflücken Erdbeeren oder überprüfen ihre Postbox. Ich grüße freundlich, insbesondere ein kleines Mädchen in einem rosa Kleid, das mich ein wenig an mich selbst erinnert und mir eine rosa Rosenblüte in die Hand drückt.

»Tu in die Haare«, fordert es mich strahlend auf und ich klemme mir die Blüte gehorsam hinter mein Ohr und gebe ihr einen Kuss auf den vom Sonnenlicht warmen Scheitel.