Schneewolf - Lisa Jackson - E-Book
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Lisa Jackson

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Beschreibung

Sheriff Dan Grayson wird vor seinem Haus in den Bergen von Montana aus einem Hinterhalt niedergeschossen. Während er in Lebensgefahr schwebt, ermitteln die Detectives Regan Pescoli und Selena Alvarez unter Hochdruck, doch der Kreis der Verdächtigen ist groß – Spuren dagegen gibt es keine. Da taucht die Leiche einer Richterin auf, mit einer einzigen, treffsicher platzierten Kugel im Kopf. Besteht ein Zusammenhang? Als die Detectives die Warnung "Wer ist der Nächste?" erreicht, müssen sie erkennen, dass hier ein Killer kaltblütig seine Abschussliste abarbeitet. Und auf der steht auch Regan Pescoli …

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Lisa Jackson

Schneewolf

Thriller

Aus dem Amerikanischen von Kristina Lake-Zapp

Knaur e-books

Über dieses Buch

Sheriff Dan Grayson wird vor seinem Haus in den Bergen von Montana aus einem Hinterhalt niedergeschossen. Während er in Lebensgefahr schwebt, ermitteln die Detectives Regan Pescoli und Selena Alvarez unter Hochdruck, doch der Kreis der Verdächtigen ist groß – Spuren dagegen gibt es keine. Da taucht die Leiche einer Richterin auf, mit einer einzigen, treffsicher plazierten Kugel im Kopf. Besteht ein Zusammenhang? Als die Detectives die Warnung »Wer ist der Nächste?« erreicht, müssen sie erkennen, dass hier ein Killer kaltblütig seine Abschussliste abarbeitet. Und auf der steht auch Regan Pescoli …

Inhaltsübersicht

Kapitel einsKapitel zweiKapitel dreiKapitel vierKapitel fünfKapitel sechsKapitel siebenKapitel achtKapitel neunKapitel zehnKapitel elfKapitel zwölfKapitel dreizehnKapitel vierzehnKapitel fünfzehnKapitel sechzehnKapitel siebzehnKapitel achtzehnKapitel neunzehnKapitel zwanzigKapitel einundzwanzigKapitel zweiundzwanzigKapitel dreiundzwanzigKapitel vierundzwanzigKapitel fünfundzwanzigKapitel sechsundzwanzigKapitel siebenundzwanzigKapitel achtundzwanzigKapitel neunundzwanzigKapitel dreißigKapitel einunddreißigKapitel zweiunddreißigKapitel dreiunddreißigKapitel vierunddreißigKapitel fünfunddreißigEpilogLisa Jackson bei KnaurMontana-»To Die«-Reihe1. Der Skorpion (Left to Die)2. Der Zorn des Skorpions (Chosen to Die)3. Zwillingsbrut (Born to Die)4. Vipernbrut (Afraid to Die)New-Orleans-Reihe1. Pain. Bitter sollst du büßen (Hot Blooded)2. Danger (Cold Blooded)3. Shiver (Shiver)4. Cry (Absolute Fear)5. Angels (Lost Souls)6. Mercy (Malice)7. Desire (Devious)San-Francisco-Reihe1. Dark Silence (If She Only Knew)2. Deadline (Almost Dead)West-Coast-Reihe1. Sanft will ich dich töten (Deep Freeze)2. Deathkiss (Fatal Burn)Savannah-Reihe1. Ewig sollst du schlafen (The Morning After)Stand AloneS – Spur der Angst (Without Mercy)T – Tödliche Spur (You Don’t Want to Know)Leseprobe zu Lisa Jackson: Opfertier
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Kapitel eins

Tick. Tick. Tick.

Die Minuten verstrichen. Er verlor Zeit.

Verlor Tageslicht.

Die Sonne, die um diese Jahreszeit früh unterging, verschwand bereits hinter einem Hügelkamm, die letzten kalten Strahlen verwandelten sich in ein flammendes Rot, gedämpft von aufziehenden Wolken und den kahlen Zweigen der umstehenden Bäume.

Tick. Tick. Tick.

Minute um Minute. Sekunde um Sekunde viel zu schnell vorbei.

Tick. Tick. Tick.

Mit einer Routine, die er schon vor Jahren, schon vor seinem Militärdienst erworben hatte, legte er das Gewehr an. Er wusste genau, auf welche Stelle er zielen musste, um ein sauberes Resultat zu erzielen.

Nicht dass das Miststück den schnellen Tod verdiente, den er ihr zugedacht hatte. Viel lieber hätte er sie leiden sehen. Aber dafür blieb keine Zeit. Seine Geduld war am Ende, seine Haut prickelte bereits vor Erwartung.

Er kannte ihren Tagesablauf.

Ein letztes Mal spähte er durchs Visier, angespannt, wartete auf den richtigen Moment. Sein Atem bildete kleine weiße Wölkchen, trotz der kühlen Luft liefen ihm unter seiner Skimaske Schweißtropfen übers Gesicht.

Komm schon, komm schon, dachte er und verspürte einen Anflug von Panik. Was, wenn sie ausgerechnet heute mit ihren Gewohnheiten brach? Was, wenn sie aus irgendeinem Grund – wegen eines plötzlichen Telefonanrufs, eines überraschenden Besuchs oder einer Migräneattacke – ihr jährliches Ritual änderte? Was – Gott bewahre –, wenn das, was er seit über einem Jahr so sorgfältig geplant hatte, aufgrund einer bloßen Laune für die Katz war?

Nein. Das ist unmöglich. Bleib ruhig. Sei geduldig. Vertrau auf deine Instinkte. Lass deine Zweifel nicht die Oberhand gewinnen. Du weißt genau, was du zu tun hast!

Warum zum Teufel kam sie nicht endlich?

Langsam zählte er bis zehn, dann bis zwanzig, versuchte, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen, sich zu beruhigen, einen klaren Kopf zu bekommen. Zu seiner Rechten flatterte ein Vogel auf und landete ein Stück weit entfernt auf einem schneebedeckten Ast. Weißes Pulver rieselte zu Boden. Er warf einen raschen Blick über die Schulter, vergewisserte sich, dass er allein an diesem Ort war, an dem gleich ein Mord stattfinden würde – an einer wenig benutzten Langlaufstrecke, die vom See wegführte, hinein in die winterliche Natur.

Hier würde sie sterben.

Sein Finger spannte sich um den Abzug, aber nur ein kleines bisschen.

Tick. Tick. Tick.

Und dann sah er sie. Aus dem Augenwinkel. Eine großgewachsene, schlanke Gestalt, die elegant auf ihren Ski dahinglitt.

Gut.

Rotes Haar schaute unter ihrer Skimütze hervor und flatterte leicht, als sie beschleunigte, schneller, immer schneller fuhr. Waghalsig. Draufgängerisch. Man nannte sie »dickköpfig«, »hartnäckig« und »unnachgiebig«. Wie sich ein Hund in seinen Knochen verbeißt, so verbiss sie sich in das, was sie erreichen wollte. Sie gab niemals auf, war stets bereit zu kämpfen.

Nun, bald nicht mehr. Er leckte sich die trockenen Lippen. In seinem Kopf machte sich ein Summen bemerkbar, ein vertrautes Geräusch, das er immer dann vernahm, wenn er kurz davorstand, jemanden zu töten.

Nur noch ein paar Sekunden …

Die Nerven angespannt wie Drahtseile, wartete er, bis sie die dichten Bäume hinter sich gelassen hatte und auf eine Lichtung lief. Jetzt war die Schusslinie frei. Sie sah in seine Richtung, das Kinn vorgereckt, suchte den umliegenden Wald ab mit ihren durchdringenden Augen, deren Farbe er als eisblau erinnerte.

Als würde sie seine Anwesenheit spüren, bremste sie ab und blieb stehen. Kniff die Lider zu schmalen Schlitzen zusammen und scannte wachsam die Umgebung.

Er drückte ab.

Krach!

Mit einem ohrenbetäubenden Knall löste sich der Schuss. Der Rückschlag traf ihn hart gegen die Schulter.

Ihr Kopf schnellte zurück. Sie wirbelte herum, stürzte hintenüber. Ihre Ski durchschnitten die klare Winterluft wie außer Rand und Band geratene Fleischmesser.

Reglos blieb sie am Boden liegen.

»Bingo«, flüsterte er, ganz aus dem Häuschen darüber, dass er sie zu Fall gebracht hatte, eine der bekanntesten Frauen in ganz Grizzly Falls, über die die Medien nur allzu gern berichteten. »Eine weniger …«

Nun überschatteten die Wolken auch noch die letzten kalten Sonnenstrahlen, und die ersten Schneeflocken fielen vom Himmel. Er schnallte seine eigenen Bretter an, stieß sich mit den Skistöcken ab und glitt durch den Schnee. Leichtfüßig, mit ausholenden Schritten schlängelte er sich durch die Bäume, ein Phantom, das seine ganz private Spur durch den Tiefschnee in den Bitterroot Mountains zog. Er hatte hier sein ganzes Leben verbracht und kannte diese Wildnis wie seine Westentasche. Er durchquerte eine steile Mulde, einen Bachlauf und glitt über eine kleine Fußgängerbrücke. Die Luft war nun, da es zu schneien begonnen hatte, knackig kalt, die immer dichter fallenden Flocken deckten seine Spuren zu. Er schreckte ein Kaninchen auf, das durch das vereiste Gestrüpp davonhoppelte und im weißen Winterwald verschwand.

Langsam senkte sich die Dämmerung herab. Er musste sich beeilen, bald schon war es stockdunkel.

Nach etwa zweieinhalb Meilen erreichte er endlich die Haltebucht an der Straße, an der er seinen Transporter abgestellt hatte. Insgesamt hatte er mehr als fünf Meilen zurückgelegt und war leicht außer Atem. Doch von Erschöpfung konnte nicht die Rede sein: Adrenalin peitschte durch sein Blut und brachte es zum Kochen, sein ganzer Körper wurde heiß bei der Vorstellung, was er gerade vollbracht hatte.

Wie lange hatte er auf diesen Augenblick gewartet!

Er schnallte die Ski ab und verstaute sie vorsichtig in seinem Van, zusammen mit dem Gewehr. Dann legte er seine weiße Oberbekleidung ab – Skimaske, Skijacke und Skihose in winterlichen Tarnfarben, gut isoliert gegen die beißende Kälte –, zog warme Thermounterwäsche, Jeans, ein Flanellhemd und eine gefütterte Jacke an und stülpte sich seinen Stetson auf den Kopf: sein übliches Outfit.

Nachdem er den Laderaum des Transporters fest verschlossen hatte, setzte er sich hinters Steuer. Mein Gott, war das kalt hier drinnen! Mit klammen Fingern ließ er den Motor an und stellte die Heizung auf die höchste Stufe. Der alte Ford erwachte dröhnend zum Leben, und schon bald bog er von der abgelegenen Landstraße auf die Hauptstraße ein, auf welcher der Verkehr heute wegen der Feiertage und des heraufziehenden Schneesturms weit weniger dicht war als gewöhnlich. Nur ein paar beherzte Seelen verbrachten Weihnachten an diesem abgeschiedenen Fleckchen Erde, wo Strom und fließendes Wasser nicht selten als Luxus galten. Die meisten Blockhütten – von »Häusern« konnte oft nicht die Rede sein – in dieser Gegend waren auf die nötigste Ausstattung reduziert und dienten hauptsächlich Jägern als Nachtlager. Die Ferien dagegen verbrachten hier nur sehr wenige Naturliebhaber.

Was absolut perfekt war.

Die Straße schlängelte sich bergauf zu der Blockhütte, die ihm als Unterschlupf diente. Schnee knirschte unter den Rädern des Transporters. Um ihn herum war alles finster, nur einmal kam ihm ein Fahrzeug entgegen, kurz bevor er in seine Zufahrt einbog, wo der Schnee bereits die Spuren zudeckte, die er bei seinem Aufbruch hinterlassen hatte. Ja, hier wäre er in Sicherheit. Hier würde niemand nach ihm suchen. Er würde diesen Transporter irgendwo abstellen und gegen seinen Jeep eintauschen, aber zunächst wollte er seinen Erfolg feiern.

Nach etwa einer halben Meile umrundete er eine Felszunge, dann kam die Hütte in Sicht, ein A-Haus, das die meisten Mitglieder der Familie längst vergessen hatten. Als er vor zwei Stunden aufgebrochen war, war es noch hell gewesen, jetzt war alles dunkel. Er fuhr in die Garage, stellte den Motor ab und stieß die Luft aus.

Er hatte es geschafft.

Niemand hatte ihn bemerkt.

Niemand wusste, was passiert war … noch nicht. Er schleppte seine Ausrüstung ins Haus, dann schloss er die Garagentür und lauschte auf den Wind, der durch die Bäume heulte und im Canyon widerhallte.

Im Licht seiner Laterne, die er stets griffbereit in der Garage aufbewahrte, hängte er seine Ski an Halterungen neben der Tür. Er machte Feuer, reinigte sein Gewehr, während es in der Blockhütte langsam warm wurde, dann zog er sich aus und begann splitterfasernackt mit seinem Work-out. Er dehnte seine Muskeln, zählte stumm die Sekunden und arbeitete sich durch die Übungen, die er vor Jahren bei der Armee gelernt hatte. Diese selbstgewählte Askese war der Ausgleich für das gute Leben, das er führte, das Leben fernab von dieser kleinen Blockhütte. Es funktionierte – diese Routine hielt ihn in Form, und es verging kein Tag, an dem er davon abwich.

Wenn er mit den Übungen durch war, wusch er sich mit kaltem Wasser, so kalt, dass er scharf die Luft einzog, wenn es seine Haut berührte. Auch das war Teil seines Rituals, das ihn stets gemahnte, nicht zu verweichlichen, stets Bestleistungen zu erbringen und sich immer weiter anzutreiben. Er forderte Perfektion – für sich selbst genau wie für die anderen.

Während sein nasser Körper an der Luft trocknete, schenkte er sich ein Glas Whiskey ein und trat an den selbstgefertigten Schreibtisch, der an der Wand neben seinem Bett stand. Die Fotos lagen verstreut auf der Schreibtischoberfläche, allesamt Porträtaufnahmen, die Gesichter blickten direkt in die Kamera … seine Kamera, dachte er mit verstohlener Freude.

Er nahm das Foto der Frau zur Hand, die er soeben zum heiligen Petrus geschickt hatte. Sie sah schön aus. Ohne den beißenden Sarkasmus, der ihr Markenzeichen war, wäre sie eine umwerfende Frau gewesen.

Zu spät. Er warf sein Jagdmesser in die Luft und fing es geschickt wieder auf, dann bohrte er die Spitze grinsend zwischen die Augen seines Opfers. Schönheit war nun einmal vergänglich. Er starrte auf das beschädigte Bild hinab, ließ die Eiswürfel in seinem Drink klirren und nahm einen großen Schluck.

»Miststück«, murmelte er mit zusammengebissenen Zähnen.

Er wandte seine Aufmerksamkeit den verbliebenen Aufnahmen zu und spürte, wie sich seine Eingeweide hasserfüllt zusammenzogen. Mein Gott, wie sehr er diese Personen verabscheute! Jede einzelne von ihnen. Sie würden bezahlen müssen, eine nach der anderen. Aber wer wäre der oder die Nächste?

Er trank einen weiteren Schluck, deutete mit der Messerspitze auf die erste, dann auf die weiteren und sagte: »Eene, meene, miste, es rappelt in der Kiste, eene, meene, meck …« Doch bevor er den Reim zu Ende auszählen und seine Wahl treffen konnte, blieben seine Augen an einem Gesicht hängen: ernst. Nachdenklich. In sich gekehrt. Ein Gesicht mit einem markanten Kinn und tiefliegenden Augen. Binnen einer Sekunde wusste er, wen er als Nächsten ins Visier nehmen würde.

Dan Grayson.

Sheriff Dan Grayson.

»Frohe Weihnachten«, sagte er zu dem Foto, gerade als draußen der Wind auffrischte und an den Läden des alten A-Hauses rüttelte. Sein neues Ziel im Sinn, trank er seinen Whiskey aus und spürte, wie er ihm warm die Kehle hinabrann. Tief im Herzen hatte er gewusst, dass Grayson als Nächster dran wäre.

Er hoffte nur, der Scheißkerl wäre bereit zu sterben.

 

Grayson knipste das Licht in seinem Büro aus und pfiff nach seinem Hund, einem schwarzen Labrador, der schon seit Jahren bei ihm war. »Na komm, mein Junge.« Ächzend kam Sturgis auf die Beine und folgte Grayson mit langsam wedelndem Schwanz hinaus auf den Gang des Sheriff-Büros von Pinewood County.

Im Großraumbüro mit seinen »Arbeitszellen« – mannshohen Trennwänden mit Schreibtischen und Computern dahinter, die für ein wenig Privatsphäre sorgen sollten – ging es heute Abend Gott sei Dank ruhig zu. Nur ein paar Freiwillige wie er, die nicht mit ihren Familien feierten, damit andere das Fest im Kreis ihrer Lieben verbringen konnten, schoben über Weihnachten Dienst.

»Sie machen Feierabend?«, fragte Detective Selena Alvarez. Sie saß an ihrem Schreibtisch, ihr Computermonitor leuchtete, neben ihrem Posteingangskorb kühlte eine Tasse Tee ab.

»Ja.« Er schaute auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach Mitternacht, und ein paar der Kollegen, die sich entweder ebenfalls freiwillig gemeldet oder aber den kürzeren Strohhalm gezogen hatten, trafen zur nächsten Schicht ein. »Was ist mit Ihnen?«

»Hmm. Ich mache auch bald Schluss.« Sie warf einen Blick über die Schulter, und er bemerkte, wie ihr schwarzes Haar unter dem Licht der Neonröhren an der Decke glänzte. Clever und engagiert wie fast alle hier im Department, hatte Selena Alvarez wieder und wieder unter Beweis gestellt, was für eine herausragende Polizistin sie war, dennoch wusste er wenig mehr über sie als das, was in ihrem Lebenslauf stand.

Und dabei sollte er es belassen. Sie legte stets ein leicht gehetztes, verschlossenes Verhalten an den Tag, und schon mehr als einmal war er versucht gewesen, ein Stückchen tiefer zu graben, um herauszufinden, wie sie wohl so tickte. Doch dann hatte er es sich anders überlegt. Sie hatte Interesse für ihn bekundet, für ihn als Mann – das Knistern, die Chemie zwischen ihnen war ihm nicht entgangen. Es war ihm sehr schwergefallen, nicht darauf einzugehen, doch Beruf und Privates ließen sich nun einmal nicht vermischen, und er war noch nicht bereit, wieder eine feste Beziehung einzugehen, auch wenn seine letzte Scheidung schon mehrere Jahre zurücklag. Caras Betrug während ihrer Ehe hatte ihn tief getroffen. Seine zweite Ehe hatte dann nur ein knappes Jahr gehalten, weil er Cara nie ganz aus seinen Gedanken hatte verbannen können. Außerdem war die Gelegenheit, Alvarez betreffend, ohnehin längst verstrichen. Gut möglich, dass sie ihn einfach nur verehrt hatte, weil er ihr Vorgesetzter war, denn noch bevor er ihre Avancen erwidern konnte, war sie eine Beziehung mit einem anderen eingegangen. Was, wie er sehr wohl wusste, besser für sie alle war.

Trotzdem …

»Frohe Weihnachten«, wünschte er ihr und wandte sich zum Gehen.

»Ihnen auch.« Ihr Lächeln, das so selten war, dass man fast meinen konnte, es existiere gar nicht, ging ihm ans Herz. Mit einem Nicken wandte er sich ab. Den Hund auf den Fersen, schlug er seinen Kragen hoch, zog die Handschuhe an und schritt durch das Großraumbüro und einen langen Gang entlang, der mit blinkenden Lichtern und silbernen Schneeflocken dekoriert war – was sie ihrer übereifrigen Empfangssekretärin Joelle Fisher zu verdanken hatten, die das Weihnachtsfest ausgesprochen wichtig fand.

Grayson nahm kaum davon Notiz. Seine Gedanken waren noch bei Alvarez, die dort drüben, im Großraumbüro, allein an ihrem Schreibtisch hockte. Insgeheim fragte er sich, ob er einen Riesenfehler gemacht hatte, einen Fehler, der ihm sein ganzes Leben lang nachhängen würde. Sie wäre vor kurzem beinahe ums Leben gekommen, und er war unendlich dankbar, dass es sie noch gab.

Seine Schritte wurden langsamer, dann blieb er stehen und blickte zurück durch den Gang. Vielleicht war dies der Moment, die unsichtbare Grenze zu überschreiten und in Erfahrung zu bringen, was sie wirklich dachte, ob sie ihn wirklich …

Er riss sich zusammen, drehte sich um und setzte seinen Weg entschlossen fort. »Dummkopf«, murmelte er, drückte die Tür auf und trat hinaus in die kalte Nacht von Grizzly Falls, Montana.

Abgesehen von ein paar Stunden bei seiner Ex-Schwägerin und seinen Nichten würde er Weihnachten allein verbringen, dachte er und schnitt eine Grimasse.

Es wäre nicht das erste Mal.

Und vermutlich auch nicht das letzte.

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Kapitel zwei

Wie ich schon sagte: Ich möchte, dass wir zwei zusammen sind. Für immer.«

Nate Santana, der vor dem Holzofen in seinem alten Blockhaus stand, griff in die Vordertasche seiner Jeans und zog eine kleine Samtschachtel heraus.

»O mein Gott.« Regan Pescoli starrte die kleine Schachtel an, als sei pures Gift darin. Sie trat sogar einen Schritt zurück, doch sie hielt ihn nicht davon ab, auf ein Knie zu gehen, die Schachtel zu öffnen und sie ihr auf seiner Handfläche entgegenzustrecken. Ein Diamantring funkelte auf weißem Satin. Tränen traten ihr in die Augen, brannten hinter ihren Lidern und erinnerten sie daran, was für ein rührseliger Trottel sie unter ihrer harten Schale doch war.

Ein Verlobungsring. Das darf doch nicht wahr sein.

»Du kannst doch nicht … ich meine, ich kann doch nicht … ach, Herrgott noch mal.«

»Regan Pescoli, willst du mich heiraten?«

Er hob den Blick, sah ihr tief in die Augen, und sie schmolz dahin. Schnee wirbelte gegen die Fenster, draußen braute sich ein Sturm zusammen, doch in diesem hundert Jahre alten Blockhaus gab es nur sie beide – und Santanas Husky, der auf einem kleinen Teppich in der Zimmerecke schlief. »Vielleicht hätte ich dich erst fragen sollen.«

»Du meinst, bevor du mir einen Antrag machst?«

»Ja.«

»Das wäre nett gewesen.« Sie gab sich alle Mühe, sich ihre Rührung nicht anmerken zu lassen.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«

»Ich weiß, ich weiß …« Sie biss sich auf die Zunge. Die simple Antwort hätte »Ja! Ja! Unbedingt!« lauten sollen, bevor sie die Arme um ihn schlang und vor Glück schluchzte, während er ihr den Ring an den Finger steckte, sie auf seine starken Arme hob und in sein kleines Schlafzimmer trug, wo sie sich die ganze Nacht über lieben würden.

Rasch drängte sie diese kitschige Vorstellung zurück. So einfach war ihr Leben nicht. Und das hier war kein Märchen. Sie war eine Frau, ein Detective, um genau zu sein, mit zwei fast erwachsenen Kindern aus zwei verschiedenen Ehen. Ihr erster Ehemann, Joe Strand, ebenfalls ein Cop, war bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Sie waren schon auf dem College miteinander gegangen, und sie war schwanger geworden. Nach einer überstürzten Hochzeit war Jeremy auf die Welt gekommen, genauso gutaussehend und dickköpfig wie sein Vater. Ihre Ehe war nicht immer einfach gewesen. Ehemann Nummer zwei war Luke »Lucky« Pescoli, ein Fernfahrer, der so charmant war, wie er aussah. Bei ihm verbrachten die Kinder das diesjährige Weihnachtsfest. Die Ehe hatte nicht lange gehalten, aber das war die Sache wert gewesen: Immerhin hatte Lucky ihr Bianca beschert, ein hübsches, aufgewecktes – um nicht zu sagen, aufsässiges – Mädchen, das mit ihren sechzehn Jahren der Meinung zu sein schien, die Welt würde sich allein um sie drehen.

Zwei Fehlschläge.

Würde sie einen dritten einstecken können?

»Um Himmels willen, Santana«, stieß sie hervor, griff nach seiner Hand und zog ihn hoch. »Ich bin noch nicht bereit für solch einen Schritt. Das weißt du. Was zum Teufel denkst du dir dabei?«

»Ich denke, dass ich dich gern heiraten möchte, und deshalb mache ich dir einen Antrag.«

»Ja, das habe ich kapiert, aber …«

»Aber was?«, fragte er. Seine Augen funkelten. Lag das daran, dass sich die Lichterkette, die er an einem der Fenster angebracht hatte, darin spiegelte, oder hatte sie etwa recht mit ihrem Eindruck, dass er sich tatsächlich amüsierte über ihre bestürzt gestammelte Antwort?

»Wir haben das doch schon einmal besprochen. Ich dachte, du würdest es verstehen. Es ist nicht so, dass ich dich nicht liebe – du weißt, dass ich das tue –, aber ich und die Ehe … das hat noch nie funktioniert.«

»Weil du immer mit den falschen Typen zusammen warst.«

»Oder sie mit der falschen Frau«, entgegnete sie. Als sie sah, dass er ansetzte, ihr zu widersprechen, streckte sie eine Hand aus, um ihn davon abzuhalten. »Wie du weißt, bin ich davon überzeugt, dass es nicht nur an einer Person liegt, wenn eine Ehe scheitert. Dazu braucht es mindestens zwei. In einer Ehe müssen beide jede Menge Beziehungsarbeit leisten, und …« Sie ließ sich auf die alte Ottomane sinken, so dass nun sie diejenige war, die flehend zum anderen aufblickte. »Ehrlich, Santana, ich weiß einfach nicht, ob ich dazu bereit bin.«

»Könnte doch witzig werden.«

»Oder aber ein Desaster. Meine Kinder –«

»Werden sich an die Vorstellung gewöhnen. Du darfst dein Leben nicht allein ihnen widmen. Hier geht es um dich.«

»Ich weiß, aber …«

»Aber was?« Seine neckende Haltung schwand. »Entweder du willst mich heiraten oder nicht.«

»Ja, klar. Als wäre das so einfach.«

»Es ist so einfach, wie du es haben möchtest.« Er zog eine dunkle Augenbraue in die Höhe, und sie spürte, wie ihr Herz schmolz. In seiner abgewetzten Jeans, dem dunklen T-Shirt und einem offenen Flanellhemd, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben, wirkte er bodenständig und männlich, ein Cowboy mit einer dunklen Vergangenheit, der sie vom ersten Augenblick an in seinen Bann gezogen hatte.

Ein Blick, und er konnte ihr Inneres nach außen kehren, das war schon immer so gewesen. Sie war eine starke, nüchterne Frau, der man nichts vormachen konnte, eine abgebrühte Polizistin, der man mehr als einmal vorgeworfen hatte, sturköpfig, wenn nicht gar störrisch zu sein. Auch gut. Sie machte nun mal nicht gern halbe Sachen.

Außer wenn es um Santana und eine mögliche Hochzeit mit ihm ging.

Sein Antrag hätte sie nicht so umhauen dürfen, immerhin hatte sie es schon lange kommen sehen: eine Kugel, der sie nicht ausweichen konnte. Sie wusste nicht, ob sie schon zu einem solchen Schritt bereit war, war sich nicht sicher, ob sie das jemals sein würde.

»Komm schon, Pescoli«, sagte er leicht gereizt. »Fällt es dir denn so schwer, ja zu sagen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, das wäre das Einfachste. Es geht mir um den Rest. Ob ich daran glaube, dass unsere Ehe funktioniert, dass wir einander lieben werden, bis dass der Tod uns scheidet, dass sich das Ganze nicht in eine Angelegenheit verwandelt, bei der es nur noch darum geht, miteinander abzurechnen.«

»Das wird nicht passieren«, beruhigte er sie, und für einen kurzen Moment glaubte sie ihm. »Nicht bei uns.«

»Der Überzeugung ist wohl jeder, der vor Gott oder dem Standesamt in den Stand der Ehe tritt.«

Er schwieg kurz, dann klappte er die Schmuckschachtel zu und stellte sie auf den Tisch. »Heute ist Heiligabend. Du hast eine Woche, um dich zu entscheiden.«

»Du stellst mir ein Ultimatum?« Sie traute ihren Ohren kaum.

»Du bist wahrhaftig eine brillante Polizistin«, sagte er und grinste schief, während er sich vorbeugte, um im Feuer zu stochern. Ohne Handschuhe anzuziehen, warf er ein paar Kiefernscheite in die Flammen, dann trat er zurück und klopfte sich die Hände ab. Pescoli entging nicht, wie sich seine abgetragene Jeans über seinen Hinterbacken spannte, und als sie merkte, dass sie ins Träumen geriet, wurde sie noch wütender auf sich selbst.

»Ich lasse mich nicht in die Ecke drängen und zu einer Entscheidung zwingen.«

»Ich zwinge dich nicht.«

»Ach nein?«

»Na schön. Sieh es so, wie du willst.« Er zuckte die Achseln. Das Feuer hinter ihm knackte. »Ich werde dich nicht bedrängen. Im Gegenteil: Ich werde dir aus dem Weg gehen, und ich komme morgen auch nicht zu dir rüber. Dann kannst du Zeit mit deinen Kindern verbringen. An Neujahr aber erwarte ich, dass du mir mitteilst, ob du bereit für eine gemeinsame Zukunft mit mir bist, ob ihr, du und deine Kinder, mit mir in das neue Haus einziehen werdet oder … oder nicht. Wenn du dich nicht binden kannst, halte ich es für besser, wenn wir an dieser Stelle einen konsequenten Schnitt machen.«

»Hmm.«

»Findest du nicht, wir sollten uns den Tatsachen stellen?«, fragte er mit eindringlicher Stimme.

»Und was ist, wenn ich finde, dass wir eine wunderbare Beziehung haben, und zwar so, wie sie ist? Sie ist vielleicht nicht unbedingt konventionell, das nicht … aber sie funktioniert. Keine Regeln. Du machst dein Ding, ich meins. Alle sind glücklich.«

Sein Blick strafte sie Lügen. »Du verstehst mich nicht. Ich möchte dich zu meiner Frau machen. Ich möchte, dass wir eine Familie werden. Möchte mehr als nur eine Affäre …«

Sie nickte, dachte daran, wie heiß diese Affäre gewesen war, dachte an die pure körperliche Lust zwischen ihnen, zumindest am Anfang.

»Du und ich, wir beide führen längst eine Beziehung, Regan«, sagte er und deutete mit dem Zeigefinger von sich auf sie. »Und zwar eine ganz wunderbare.«

Ihre Kehle wurde eng, und sie konnte nicht anders, als ihm zuzustimmen. »Du hast recht.« Nicht nur, dass sie mit ihm den besten Sex ihres Lebens hatte, er vermittelte ihr auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Geborgenheit und des Vertrauens, so dass es ihr gelang, diesem Mann all ihre Seiten zu zeigen und sich dennoch von ihm geliebt zu fühlen, so wie auch sie ihn liebte – trotz seiner Fehler.

»Und nun möchte ich einfach, dass wir diese Beziehung auf die nächste Ebene stellen. Willst du das denn nicht?«

Der Raum schien plötzlich zu schrumpfen, bis nur noch sie beide da waren, die einzigen Menschen im ganzen Universum. Lächerlich, Regan, du bist schließlich immer noch Mutter! Langsam stieß sie die Luft aus, die sie unbewusst angehalten hatte, dann sagte sie: »Es geht nicht um Verlangen oder Begierde. Es ist auch nicht so, dass ich nicht davon träume, dass wir für immer zusammenbleiben. Ich sehe das einfach pragmatisch.«

Er brachte ein schiefes Lächeln zustande, genau jene Art Grinsen, die sie so unglaublich sexy fand.

»Es geht um Angst«, stellte er klar, fasste sie bei den Händen und zog sie hoch. »Um deine Angst.«

»Unsinn.«

»Du weißt, dass ich recht habe.«

Plötzlich fühlte sie sich den Tränen nahe. Wie albern. Sie war doch kein schwaches Weibchen! »Ich möchte nur nicht, dass du mich am Ende hasst.«

Er lachte leise und schlang die Arme um sie. »Glaubst du wirklich, dass das passieren könnte?«

»Ja.«

»Dann kennst du mich nicht wirklich, Liebling.« Noch bevor sie etwas erwidern konnte, zog er sie an sich und küsste sie auf die Stirn, strich sanft mit den Lippen über ihre weiche Haut. Sein Atem war warm, seine Arme stark, und sie verspürte den überwältigenden Drang, einfach hineinzusinken und sich ihren Gefühlen zu ergeben. »Es ist Weihnachten. Lass uns nicht streiten.«

»Sollte das möglich sein?«

»Vermutlich nicht.« Als sie den Blick hob, um ihm in die Augen zu sehen, entdeckte sie darin ein amüsiertes Aufblitzen, doch tief dahinter flackerte etwas anderes auf, etwas Tieferes, das er schnell wieder verbarg. Sie wusste, dass sie nicht nachgeben durfte, dass sie über seinen Antrag reden mussten, aber sie hatte es so satt zu argumentieren, und außerdem hätte das ohnehin zu nichts geführt. Er hatte recht: Es war Weihnachten.

Seine Lippen fanden die ihren, und er zog sie noch enger an sich.

»Warte …«, sagte sie, doch Nate beachtete sie nicht, trug sie ins Schlafzimmer und ließ sie ohne große Umstände aufs Bett gleiten. »Du bist ganz schön dreist, mein Lieber«, stellte sie fest und drohte ihm mit dem Zeigefinger, doch sie lächelte dabei.

»Darauf kannst du wetten.« Er sank auf die Matratze neben sie und öffnete den Reißverschluss ihrer Sweatshirt-Jacke.

»Du weißt, dass du ein echter Mistkerl bist, hab ich recht, Santana?«

»Jawohl. Und genau aus dem Grund liebst du mich.«

»Vermutlich.«

»Nicht vermutlich, das ist eine Tatsache, Detective.« Er zog sich Hemd und T-Shirt aus und warf beides in die Ecke. »Und genau das werde ich dir beweisen.«

Sie lachte. »Ist das nicht viel zu abgedroschen?«

»Ja, ich weiß.« Er liebkoste ihren Nacken, rollte sich auf sie, so dass sie Nase an Nase lagen, und sagte: »Ich muss einen Weg finden, dich zu überzeugen, dass du mich heiratest.«

»Viel Glück.«

»Soll das eine Herausforderung sein?«

»Was glaubst du denn?«

Seine Hände, groß und warm, schoben ihre Jacke beiseite, unter der sie nur einen dünnen BH trug. »Gut«, murmelte er. Sein Atem strich über ihre Brustspitzen, die sich erwartungsvoll aufrichteten. »Ich bin nämlich definitiv für eine Herausforderung bereit, Liebling.«

»Du bist ein schrecklicher Kerl«, sagte sie und hielt den Atem an, als sich sein Mund ihren Brustwarzen näherte.

»Von der allerschlimmsten Sorte«, flüsterte er, küsste einen ihrer Nippel und hob dann den Kopf, um sie anzuschauen. Seine Augen glitzerten im dämmrigen Licht.

Regan seufzte und kapitulierte, zumindest für dieses Mal.

 

»He, Alvarez! Gönn dir doch endlich mal etwas Ruhe!« Pete Watersheds Stimme hallte durch das fast leere Großraumbüro im Department des Sheriffs von Pinewood County. Er schlenderte an ihrem Arbeitsplatz vorbei, den Geruch nach Tabak hinter sich herziehend. Als er sah, dass auf ihrem Bildschirm die Opfer des jüngsten Serienmörders zu sehen waren, der Grizzly Falls vor kurzem zu seinen ganz privaten Jagdgründen auserkoren hatte, blieb er stehen. Gerade mal zwei Wochen waren vergangen, seit er mit seinen grauenvollen Morden begonnen hatte. Zum Glück hatte sein Treiben ein jähes Ende gefunden, ein Ende, das für den »Eismumienmörder«, wie die Presse ihn nannte, den Tod bedeutet hatte.

»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«, fragte Watershed. Er war ein schlaksiger Streifenpolizist mit stets gerunzelter Stirn und einer Vorliebe für schwarzen Humor, und auch er hatte sich freiwillig für die Nachtschicht gemeldet. Selena mochte ihn nicht besonders, aber er war ein anständiger Deputy und bereit, seinen Heiligabend zu opfern, damit ein Kollege mit Familie den Abend zu Hause verbringen konnte.

»Nicht wirklich.«

»Ach? Hast du vor, den Rest von uns schlecht aussehen zu lassen, indem du dich wie eine Wahnsinnige abrackerst?« Er lachte und fing gleich darauf an zu husten – Resultat seiner Zwei-Schachteln-am-Tag-Sucht.

»Genau das habe ich vor: mein ultimativer Plan«, erklärte sie, und er lachte und hustete noch lauter. »Bei dir muss ich mich da zum Glück nicht sonderlich anstrengen.« Sie grinste schief.

»Das musste jetzt nicht sein.« Die Hustenattacke verebbte langsam.

»Wie dem auch sei: Ich pack’s jetzt.« Alvarez nahm Schlüssel und Handtasche und schob ihren Stuhl zurück. Ihr Bein schmerzte leicht von der Verletzung, die sie bei der Begegnung mit dem Eismumienmörder davongetragen hatte, doch sie drängte den Schmerz zurück, und es gelang ihr, nicht einmal zusammenzuzucken. Obwohl sie es nur ungern zugab, hatte Watershed recht: Die Digitalanzeige auf ihrem Bildschirm verkündete ein Uhr sechzehn. Sie hätte das Büro schon vor Stunden verlassen sollen, aber sie hatte nicht nach Hause gehen wollen. Wieder einmal. Eine Angewohnheit, mit der sich nicht so leicht brechen ließ. Jahrelang war die Arbeit ihr Leben gewesen, und sie hatte nichts Falsches darin sehen können, ein Workaholic zu sein. Im Gegenteil: Es hatte ihr wunderbar gefallen, bis vor einem guten Monat Dylan O’Keefe in ihr Leben zurückgekehrt war. Seitdem waren sie ein Paar, und obwohl ihre Beziehung alles andere als glatt lief, war sie doch voller Hoffnung, dass sie sich zu etwas Dauerhaftem entwickeln würde. Heute Abend war O’Keefe bei seiner Familie in Helena, und sie war allein.

»Gut. So viele Überstunden kann sich das Department nämlich nicht leisten.«

Er meinte es ernst. Das Budget, das dem Büro des Sheriffs zustand, war bereits bis zum Anschlag ausgereizt. Anfang Dezember hatte es einen gewaltigen, scheinbar endlos dauernden Schneesturm gegeben, der unzählige Einsatzkräfte gefordert hatte. Straßen mussten gesperrt, Stromausfälle behoben, ältere und hilfsbedürftige Menschen evakuiert werden. Der Eismumienmörder hatte ein Übriges dazu beigetragen, auch noch die letzten Ressourcen des Departments anzuzapfen.

»Wenn du dir solche Sorgen um das Budget machst, wieso bist du dann noch hier?«

»Ich musste nur schnell einen Bericht schreiben.« Seine Augen verdunkelten sich, und er rieb sich die Bartstoppeln auf dem Kinn – Beweis für eine lange Schicht. »Unfall beim Horsebrier Ridge.« Kopfschüttelnd fügte er hinzu: »Der Junge war erst neunzehn.«

»Tot?« Alvarez fröstelte.

»Fast. Grauenvoll für seine Eltern – und das an Heiligabend.«

»Egal wann, es ist immer schrecklich«, sagte sie und dachte an ihren eigenen Sohn in Helena, einen Jungen, der bei einer Adoptivfamilie aufgewachsen war, weil sie ihn gleich nach seiner Geburt weggegeben hatte. Ihr Herz schmerzte bei dem Gedanken an Gabriel, ihren sechzehnjährigen Sohn, der gerade erst in ihr Leben zurückgekehrt war.

»Und warum bist du noch hier?«, erkundigte sich Watershed.

Alvarez schlüpfte in ihre Jacke und beschloss, seine Frage zu ignorieren. Die Antwort war viel zu persönlich. Da O’Keefe nicht vor morgen früh nach Grizzly Falls zurückkehrte, wollte sie ihr Reihenhaus meiden und damit all die Geister der vergangenen Weihnachtsfeste.

»Ich habe bloß versucht, ein paar lose Enden zu verknüpfen.«

»An Heiligabend?«

Achselzuckend schlang sie den Schal um den Hals und steckte die Schlüssel in ihre Jackentasche.

»Ich dachte, du wärst wegen deiner Verletzung eh in Teilzeit – begrenzte Stunden oder so was.« Er deutete auf ihr Bein.

Bei dem Gedanken an den Kampf mit dem Eismumienmörder, der sie beinahe das Leben gekostet hatte, fühlte sie, wie ihr ein Schauder den Rücken hinablief. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln und erwiderte: »Die Ärzte sagen, ich kann schon wieder arbeiten.«

»Und der Sheriff?«

»Grayson weiß davon.«

»Sicher.« Offensichtlich glaubte er ihr nicht, aber er hakte nicht weiter nach. »Okay, ich muss mich beeilen. Frohe Weihnachten, Alvarez. Genieß die Feiertage, zumindest das, was davon noch übrig ist.«

»Ich habe einen ganzen Tag frei, Watershed. Nein, noch knapp dreiundzwanzig Stunden, um genau zu sein.« Was ihr vorkam wie eine Ewigkeit. Sie wünschte sich jetzt schon, der Feiertag wäre vorbei.

Watershed bekam ihre letzte Bemerkung nicht mehr mit, er hastete bereits quer durch das Großraumbüro in Richtung Toiletten.

Für gewöhnlich herrschte im Department hektische Betriebsamkeit, alles war hell erleuchtet, Telefone klingelten, im Gang hallten Schritte, Officer und Zeugen sprachen miteinander, Computertastaturen klapperten, und ab und an ertönte lautes Gelächter, Geschrei oder das Klicken von Handschellen. Doch heute Abend war das Licht großteils gedämpft, nur ein paar Mitglieder des Teams schoben Dienst, und alles war gespenstisch ruhig.

»Stille Nacht«, murmelte Selena sarkastisch, schob ihre Pistole ins Holster und knipste das Licht an ihrem Arbeitsplatz aus.

Den Reißverschluss ihrer warmen Daunenjacke bis unters Kinn zugezogen, ging sie zur Hintertür. Hoffentlich begegnete sie niemandem, dem sie erklären müsste, was sie am Heiligen Abend so spät noch hier machte, warum sie eine solche Aversion, die Feiertage betreffend, hegte.

Die erste Hälfte ihres Lebens hatte sie in Woodburn, Oregon, verbracht, in einer großen spanischen Familie, und sie hatte jenes ganz besondere Kribbeln verspürt, mit dem Weihnachten einherging. Zusammen mit ihrer Großfamilie hatte sie die Mitternachtsmesse besucht, hatte tief den Duft der tamales eingeatmet, die ihre Großmutter gebacken hatte, hatte mit ihren Geschwistern die ausgelassene Vorfreude geteilt, wenn sie zusammen den Baum schmückten. Und dann erst der Weihnachtsmorgen – was für eine zauberhafte Zeit im Leben eines heranwachsenden Mädchens!

All das war ihr binnen eines einzigen Augenblicks genommen worden.

Ihr Magen wurde sauer, wenn sie an ihren Cousin dachte, der sie vergewaltigt, ihr auf so brutale Art und Weise ihre Unschuld geraubt hatte.

»Du musst endlich darüber hinwegkommen«, flüsterte sie, während sie den leeren Aufenthaltsraum durchquerte, doch sie wusste, dass ihr das vermutlich niemals gelingen würde. Es gäbe niemals genug Psychologen, Antidepressiva oder tröstliche, aufbauende Gedanken, um diesen ganz speziellen Schmerz auszulöschen. Er wäre immer da, eine Narbe, die nur schwer verheilte.

Doch sie hatte gelernt, mit dem Schmerz umzugehen und sogar wieder zu lieben.

Vielleicht.

Im Gegensatz zu den nur spärlich beleuchteten Büros war der Aufenthaltsraum in grelles Licht getaucht. Die Neonröhren an der Decke gleißten, was durch die weißen Formica-Tische nur noch verstärkt wurde. Und natürlich waren an jedem freien Zentimeter Joelle Fishers weihnachtliche Dekorationen angebracht: Kleine silberne Schneeflocken hingen an dünnen Fäden von der Decke, rot-goldene Kränze und Girlanden schmückten Türen und Wände und warfen unheimliche Schatten.

Die Empfangssekretärin, ein zierliches, agiles Persönchen Anfang sechzig, war besessen von den Weihnachtsfeiertagen. Von allen Feiertagen, um genau zu sein. Mit großer Begeisterung zelebrierte sie einfach alle – angefangen beim Vierten Juli über den Tag des Baumes bis hin zum Gedenktag der US-Flagge am vierzehnten Juni. Es schien ihr ein besonderes Anliegen zu sein, jeden noch so obskuren Feiertag im Büro des Sheriffs von Pinewood County zu begehen, doch je mehr das Jahr dem Ende zuging, desto mehr war Joelle in ihrem Element. Nun begann die wahre Festsaison: Halloween, Thanksgiving und Weihnachten. Bamm, bamm, bamm! Schlag auf Schlag ging es so von Ende Oktober bis Anfang Januar – Joelles ganz persönliche Jubelsaison.

Ad nauseam.

Joelles Vorstellung einer angemessen festlichen Atmosphäre bestand darin, das Büro mit den aufwendigsten, auffälligsten und mitunter absurdesten Dekorationen in ein Indoor-Winterwunderland zu verwandeln. Alvarez dagegen war nicht davon überzeugt, dass das ganze Lametta und die zuckenden bunten Lichterketten Gottes Vorstellung von Weihnachten entsprach, aber was wusste sie schon? Es oblag ihr nicht, sich darüber aufzuregen oder gar zu beklagen, ganz anders als ihre Partnerin Regan Pescoli.

Auf einem Plastikteller in Form einer Schneeflocke lagen ein paar Kekse – Rentiergeweihe. Alvarez widerstand der Versuchung, zumal sie gerade erst zu ihrer gesunden, ausgewogenen Ernährungsweise zurückgekehrt und auch ihre sportlichen Übungen wiederaufgenommen hatte. Als sie die Hintertür öffnete, erinnerte sie der stechende Schmerz in ihrem Bein erneut an ihren verzweifelten Kampf gegen den Psychopathen. Wieder drängte sie den Schmerz zurück, ignorierte ihn und dachte stattdessen daran, wie sehr sich ihr Leben seitdem zum Positiven verändert hatte. Wenn sie sich ein wenig Mühe gab, konnte der Geist der Weihnacht vielleicht doch noch in ihr Herz Einzug halten.

Vielleicht.

Die Entscheidung musste erst noch fallen.

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Kapitel drei

Pescoli drückte das Gaspedal durch.

Obwohl es schneite und die Straßen bestenfalls sporadisch geräumt waren, raste sie über die kurvenreiche Straße durch die engen, tiefen Täler hinauf in die Berge. Der Wald um sie herum war totenstill, abgesehen vom Dröhnen des Motors, die Kiefern und Hemlocktannen waren mit einer dicken Schicht Neuschnee bedeckt. Eine Postkartenidylle, die sie jedoch kaum wahrnahm. Sie war müde, hatte sich die ganze Nacht schlaflos im Bett herumgewälzt. Nachdem Santana und sie sich bis fast zwei Uhr morgens geliebt hatten, hatte sie versucht einzuschlafen, doch ihre Gedanken waren wie verrückt durch ihren Kopf gekreist und hatten sie wach gehalten. Sollte sie seinen Antrag annehmen? Wäre sie bereit, ihre Unabhängigkeit aufzugeben? Was würde aus ihren Kindern werden? Ihrem Job? Dem Leben, das sie sich nach ihrer Scheidung von Lucky mit so viel Mühe aufgebaut hatte?

Santana zu heiraten kam ihr vor wie etwas, was keiner großen Überlegung bedurfte, und hätte sie nicht zwei schwierige Ehen hinter sich, dann hätte sie sich diese Chance nicht entgehen lassen, wäre nur zu gern seine Ehefrau geworden. Sie hatte aber nun mal zwei schwierige Ehen hinter sich, und obwohl sie dazu tendierte, ja zu sagen, nervte es sie doch höllisch, auf ein Ultimatum festgenagelt worden zu sein.

Vor einer engen Kurve ging sie vom Gas und musste sich selbst eingestehen, wie lächerlich ihre Argumente doch klangen. Er hatte jedes Recht, ihre Beziehung zu beenden, sollte sie den nächsten Schritt nicht mit ihm wagen wollen. Trotzdem ärgerte es sie, dass er sie so sehr bedrängte.

Sie stellte die Scheibenwischer auf eine höhere Stufe, damit sie den immer dichter fallenden Schnee schneller von der Windschutzscheibe fegten. Im Innern des Jeeps war es warm und gemütlich. Der Polizeifunk knisterte leise. Sie stellte das Radio an. Burl Ives sang »Have a Holly Jolly Christmas« – zum gefühlten dreimillionsten Mal seit Beginn der Weihnachtszeit. Hastig wählte sie einen anderen Sender, der die Nachrichten brachte.

Ihre Kinder würden heute Morgen von Lucky zurückkehren – nun, vielleicht auch erst am Nachmittag, da Jeremy Probleme hatte, seinen Hintern vor elf Uhr aus dem Bett zu hieven –, trotzdem blieb ihr nicht viel Zeit. Sie hasste die Tatsache, dass sie die beiden mit ihrem Ex-Mann teilen musste, vor allem während der Feiertage, aber das ließ sich nun mal nicht ändern. Luke, der ihr ein lausiger Ehemann gewesen war, war kaum besser als Stiefvater und Vater, obwohl sie inzwischen nicht mehr ganz so angefressen war, was seine neue Ehefrau betraf. Noch keine dreißig, hatte Michelle eine mörderische Figur und war trotz ihres Blondinengehabes um einiges cleverer, als sie sich anmerken ließ.

»Hm«, knurrte Pescoli, die wegen Santanas Antrag auf dem Weg zu ihrem Boss war. Vielleicht war es keine gute Idee, ihn am Weihnachtsmorgen aufzusuchen, aber Grayson war der Ansicht, dass es wichtig war, jederzeit für seine Angestellten da zu sein, ganz gleich ob tags oder nachts. Genau das hatte er erst letzte Woche betont, weshalb Pescoli ihn nun beim Wort nehmen wollte. Sie brauchte seinen Rat, und zwar dringend, da sie nur eine Woche Zeit hatte, ihre Entscheidung zu fällen. Vielleicht wäre es möglich, nach der Hochzeit Teilzeit zu arbeiten oder ihre Stundenzahl zumindest zu begrenzen. Jeremy war zwar inzwischen die meiste Zeit über aus dem Haus, aber Bianca besuchte noch die Highschool, und es wäre bestimmt besser für sie, wenn ihre Mutter öfter für sie da sein könnte. Wenn es etwas an ihrer Arbeit gab, was Pescoli nicht gefiel, dann waren es die vielen Überstunden, die sie von ihren Kindern fernhielten und auch ihren beiden vorherigen Ehen nicht unbedingt zuträglich gewesen waren.

Nicht, dass sie ihre Berufswahl bedauert hätte, das ganz bestimmt nicht. Sie liebte es, ein Detective zu sein, und sie war verdammt gut in ihrem Job. Als Alvarez vor kurzem nach ihrer Verletzung vorübergehend ausgeschieden war, um wieder ganz zu genesen, hatte sie mit Brett Gage zusammengearbeitet, ein kompetenter Bursche, wenngleich sie nicht ganz auf einer Wellenlänge lagen. Irgendwie waren die Dinge nicht so gelaufen, wie sie es sich vorstellte, aber jetzt, da Alvarez wieder da war, ging alles wieder wie geschmiert.

Vielleicht könnte sie einen Teil der Arbeit von zu Hause aus erledigen, überlegte sie, und wenn das nicht funktionierte, konnte sie immer noch darüber nachdenken, sich selbständig zu machen. O’Keefe, Alvarez’ frisch entfachte Jugendliebe, war Privatdetektiv. Er hatte angedeutet, dass er einen Partner gebrauchen könnte, und die Vorstellung gefiel ihr. Zumindest teils, teils. Die bittere Wahrheit war die, dass sie ihren Job liebte – natürlich nicht ganz so sehr wie ihre Kinder, aber immerhin.

Was ist mit Santana? Liebst du ihn mehr als deine Arbeit für das Büro des Sheriffs von Pinewood County?

»Du vergleichst Äpfel mit Birnen«, sagte sie laut, gerade als der Wetterbericht angekündigt wurde. »Äpfel mit Birnen.«

 

Der Kaffee lief durch die Maschine und erfüllte seine Küche mit dem angenehmen Duft, auf den sich Grayson freute, sobald er morgens die Augen aufschlug. Er war ein Morgenmensch, immer schon gewesen, trotz all der Jahre, in denen er zur Schichtarbeit gezwungen gewesen war, vor allem während seiner Anfangszeit als Streifenpolizist. Seiner Frau hatte das gar nicht gefallen, doch damals hatte er jede Schicht angenommen und Caras diesbezügliche Beschwerden an sich abperlen lassen wie Wasser von einem Entenrücken.

Natürlich hatte seine Weigerung, bei der Arbeit kürzerzutreten, dazu beigetragen, das Ende seiner ohnehin auf wackligen Füßen stehenden Ehe einzuläuten.

Grayson schenkte sich eine Tasse Kaffee ein und blickte auf sein Handy, auf dem eine SMS von Regan Pescoli angezeigt wurde. Sie kündigte an, sie sei auf dem Weg hierher, da sie dringend mit ihm reden müsse. »Was hat das wohl zu bedeuten?«, sagte er zu seinem schwarzen Labrador. Sturgis, der eifrig Wasser aus seiner Schüssel neben der Hintertür schlapperte, warf schwanzwedelnd einen Blick über die Schulter.

Warum um alles in der Welt suchte ihn Pescoli am Morgen des ersten Weihnachtstages zu Hause auf? Vermutlich hatte sie keine guten Nachrichten im Gepäck. Obwohl Pescoli nicht gerade auf Traditionen stand, verbrachte sie an den Feiertagen stets so viel Zeit wie möglich mit ihren Kindern. Mit Sicherheit würde sie sich nicht auf den Weg zu ihm machen, wenn es nicht um etwas wirklich Wichtiges ginge. »Nun, das werden wir bald herausfinden«, sagte er zu seinem Hund und schaute aus dem Fenster über der Spüle.

Über Nacht war Neuschnee gefallen, etwa zehn Zentimeter, der Schicht auf dem Verandageländer nach zu urteilen. Er war hier oben weitestgehend isoliert in seinem Blockhaus mit den zwei Schlafzimmern, an dem er jahrelang in seiner Freizeit gewerkelt hatte. Er hatte ein zweites Badezimmer eingebaut, das erste renoviert und dachte jetzt darüber nach, die Küche zu erneuern. Aber das würde noch eine Weile dauern. Außerdem gefielen ihm die alten, leicht schrägen Holzarbeitsflächen und die soliden Schränke. Sie passten zu seinem Junggesellendasein.

Sturgis hob wieder den Kopf, Wasser tropfte von seiner Schnauze auf die Bodendielen. »Weißt du eigentlich, dass du ein Schlapperproblem hast?«

Wieder wedelte der alte Labrador mit dem Schwanz. Lächelnd kraulte Grayson seinen Hund hinter den Ohren und stellte seine halb ausgetrunkene Tasse Kaffee auf die zerschrammte Anrichte. »Frohe Weihnachten, Kumpel«, sagte er und richtete seine Gedanken auf den vor ihm liegenden Tag. Zum Abendessen war er bei seiner Ex-Schwägerin eingeladen. Hattie, einst verheiratet mit seinem Bruder Bart, hatte ihn stets in ihre Pläne für die Weihnachtsfeiertage mit einbezogen, und für gewöhnlich hatte er ihre Einladungen angenommen, auch wenn das immer etwas kompliziert war. Äußerst kompliziert, um genau zu sein. In ihrer Jugend war Hattie nämlich mit drei von den vier Grayson-Brüdern gegangen, auch mit Dan.

Sie hatte schließlich Bart geheiratet, Zwillinge – zwei Mädchen – von ihm bekommen, und als die Ehe in die Brüche ging, hatte sie die Ranch verlassen. Es folgte die Scheidung, und Bart, voller Verzweiflung, hatte sich in der Scheune erhängt.

Eine hässliche Sache, ganz zu schweigen von den anderen Querelen … Hattie war die jüngere Schwester von Cara, besser gesagt, Caras Halbschwester, mit der sie sich zerstritten hatte. Ja, die Dinge waren kompliziert, was Hattie anbetraf, so kompliziert, wie sie nur in einer Kleinstadt in der Größe von Grizzly Falls sein konnten.

Natürlich hatte sich Hattie schrecklich gefühlt wegen Barts Selbstmord, war sogar so weit gegangen zu behaupten, er hätte sich niemals umgebracht, das könne sie sich einfach nicht vorstellen. Doch die Beweise waren eindeutig, selbst Hattie konnte das nicht leugnen, wenngleich sie beschloss, diese Tatsache schlichtweg zu ignorieren. Wann immer die Familie Grayson zusammenkam, war Hattie anwesend. Sie wolle, dass die Mädchen die Familie ihres Vaters kannten, behauptete sie, was vielleicht sogar stimmte, doch Dans Brüder Cade und Big Zed waren nicht ganz davon überzeugt, dass ihre Beweggründe derart selbstlos waren. Beide behaupteten steif und fest, sie habe es lediglich auf die Ranch und das Familienerbe abgesehen.

»Mein Gott, Dan, wie kannst du nur so naiv sein?«, hatte Cade ihn bei seinem letzten Besuch auf der Ranch gefragt. »Du solltest es doch besser wissen! Schließlich bist du mit ihr gegangen.« Seine beiden Brüder und er hatten sich über das Gatter in der Nähe der Scheune gebeugt und den Rindern zugesehen, die sich unter dem Vordach versammelten. Ihr Fell war dicht und zottelig wegen des strengen Winters, ihr Atem beschlug in der eisigen Luft, wenn sie sich muhend um die Futtertröge drängten.

»Schnee von gestern«, hatte Dan erwidert. »Außerdem –«

»Jaja, ich weiß. Ich war ebenfalls mit ihr zusammen.« Cade runzelte die Stirn bei der Erinnerung an seine Zeit mit Hattie, während Big Zed, gute acht Zentimeter größer als seine Brüder und rund fünfundzwanzig Kilo schwerer, sie beide mit zusammengekniffenen Augen musterte. »Der Unterschied ist der, dass ich aus der Erfahrung gelernt habe!«

»Na ja«, sagte Big Zed. Der Älteste der Grayson-Brüder war für gewöhnlich weitaus ruhiger und schweigsamer als Cade, der dafür bekannt war, schnell in die Luft zu gehen, oder Dan, der zwar nicht ganz so hitzköpfig war wie Cade, aber dennoch gern das letzte Wort hatte.

»Was soll das denn heißen?«, fragte Cade.

»Genau das, was ich gesagt habe. Du bist so halbwegs über sie hinweg. Aber eben nur halbwegs.«

»Unsinn, was weißt du denn schon?«, brauste Cade auf und trat vor einen Lehmklumpen, der aus dem Schnee herausragte. »Ich sage dir, Bruder« – er deutete mit seinem behandschuhten Finger auf Dan –, »du solltest besser vorsichtig sein.«

Natürlich hatte Dan den Rat seines Bruders in den Wind geschlagen. Hatties Motive waren ihm herzlich egal. Es ging ihm um die Zwillinge, McKenzie und Mallory. Die beiden Mädchen bedeuteten ihm viel. Er selbst war nie Vater geworden, und die beiden inzwischen acht Jahre alten Energiebündel waren ihm fest ans Herz gewachsen.

Deshalb hatte er Hatties Einladung zum Abendessen angenommen. Er hatte es sogar noch rechtzeitig geschafft, einen Spielzeugladen in Missoula zu plündern und seine Geschenke in grünem Geschenkpapier mit goldenen Schleifen zu verpacken und in rote Tüten zu stecken. Wie immer hatte er für jede von Barts Töchtern zudem einen Scheck in die angehängten Karten gelegt. Fürs College. Das war das mindeste, was er tun konnte.

Er hoffte nur, dass Hattie ihre Gefühle, Barts Suizid betreffend, diesmal für sich behielt, obwohl er das für reines Wunschdenken hielt. Erst vor zwei Wochen hatte sie das Thema wieder zur Sprache gebracht.

»Denk doch mal nach«, hatte sie zu ihm gesagt. »Glaubst du wirklich, dass sich dein Bruder erhängt hat? Das passt einfach nicht zu Bart!« Er hatte die Augen zusammengekniffen und einen Punkt in der Ferne fixiert. »Wenn jemand behauptet hätte, er wäre mit seinem Pferd hinauf auf den Cougar Ridge geritten und hätte sich seine Pistole an die Schläfe gesetzt … dann hätte ich ihm das womöglich sogar abgekauft. Unter Umständen. So bleibt für mich nach wie vor ein riesiges Fragezeichen.«

»Hattie, dein Mann hatte Depressionen.«

»Das haben viele Leute«, schleuderte sie ihm entgegen. Ihre Augen sprühten Funken. »Dafür gibt es Prozac!«

»Nun, Prozac passt auch nicht wirklich zu Bart«, entgegnete Dan, der wusste, dass sein Bruder kein Fan von Tabletten gewesen war. Doch sein Einwand führte zu nichts, das spürte Dan. Seine Ex-Schwägerin war mehr als zäh, wenn sie sich einmal in eine Sache verbissen hatte.

Stirnrunzelnd blickte er nun auf die Uhr. Pescoli, was immer sie so Wichtiges am Weihnachtsmorgen zu besprechen hatte, würde gleich hier sein, und das Feuer im Holzofen müsste dringend geschürt werden.

»Dann machen wir uns mal lieber ans Holzhacken«, sagte er zu dem Hund und trat in seine Stiefel, die er neben der Hintertür abgestellt hatte. Eine kalte Böe fegte hinein, als er die Tür öffnete. Sturgis sprang hinaus auf die Veranda und schoss wie der Blitz davon. Grayson setzte seinen Stetson auf und marschierte nach draußen. Seine Stiefel knirschten in den Schneewehen, die der Wind auf die Veranda getrieben hatte. Das Blockhaus lag wirklich am Ende der Welt, weit und breit gab es keine Nachbarn, keine Menschenseele. Aber er liebte diese Abgeschiedenheit, zog sie dem Leben auf der Ranch, zusammen mit seinen Brüdern, vor – ein einsamer Wolf im Schnee, und Schnee gab es hier in den Bergen von Montana zuhauf.

»Also gut«, murmelte er, als er den spärlichen Feuerholzstapel neben der Hintertür ins Auge fasste, »an die Arbeit.« Er würde ein paar Scheite hacken müssen.

Aber schließlich brachte ihn etwas sportliche Betätigung nicht um.

 

Tick. Tick. Tick.

Die Minuten verstrichen. Zu schnell. Er hatte nicht den ganzen Tag Zeit. Es war der Morgen des ersten Weihnachtstags. Er musste sich blicken lassen, um sich ein Alibi zu verschaffen, in die Kirche, unter die Leute gehen, wie alle anständigen Bürger an diesem Feiertag.

Dennoch harrte er aus.

Zusammengekauert an dem steilen Abhang über Graysons Blockhaus, beobachtete er den Rauch, der aus dem alten Kamin stieg, dem mehr als nur ein paar Steine fehlten, und wartete auf den richtigen Augenblick. Ungeduldig. Seine behandschuhten Hände strichen beinahe zärtlich über den Lauf seines Gewehrs, als er den Blick auf die mit Eisblumen überzogenen Fenster richtete, hinter denen er die verzerrte Silhouette des Sheriffs entdeckt hatte – doch nie lange genug, um wirklich zielen zu können.

Der Schnee fiel immer heftiger. Dicke Flocken trieben im Wind und versperrten ihm die Sicht. Dass es schneite, war ein echtes Hindernis, doch gleichzeitig bot ihm der dichte Schneevorhang Schutz.

Er widerstand dem Drang, auf seine Armbanduhr zu blicken.

Die Morgendämmerung war längst angebrochen, langsam ging ihm die Zeit aus.

Dan Grayson wanderte hinter den Fenstern auf und ab. Verdammt, blieb der Kerl denn niemals stehen?

Na los, du Bastard, zeig dich!

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Hintertür des Blockhauses, und Graysons schwarzer Labrador schoss hinaus auf die Veranda, dann sprang er die Stufen hinunter in den Schnee.

Der Magen des Killers verknotete sich vor Anspannung. Der Hund könnte ein Problem darstellen. Wenn er seine Witterung aufnahm und losbellte oder gar in seine Richtung rannte, wäre Grayson gewarnt. Er biss die Zähne zusammen und verbarg sich hinter dem verrottenden Baumstumpf, hinter dem er in Deckung gegangen war, dann richtete er sein Gewehr aus, spähte durchs Visier und wartete. Die Sekunden verstrichen.

Komm schon, komm schon …

Die Tür schlug zu, Schritte ertönten auf der Veranda.

Tick. Tick. Tick.

Er brauchte eine freie Sicht. Eine freie Schusslinie. Erst dann würde er abdrücken und Dan Grayson zu seinem Schöpfer schicken. Der Gedanke erwärmte seine Seele wie warmer Honig in Milch, süß, dick, beruhigend. Seine Rache wäre perfekt. Doch er durfte nicht voreilig sein. Sosehr er die Vorfreude auskostete, die sein Blut erhitzte, durfte er sich doch nicht darin verlieren. Noch nicht. Er versuchte, sein hämmerndes Herz unter Kontrolle zu bringen, um eine ruhige Hand zu bekommen. Erneut blickte er durchs Visier und zielte, sah, wie der große Mann die beiden Verandastufen hinabstieg, eine Axt in der Hand. Der Köter rannte schnüffelnd hin und her, doch bislang hatte er nicht bemerkt, dass sein Herrchen beobachtet wurde.

Braver Hund! Sei bloß weiterhin so dämlich!

Grayson überquerte die Auffahrt und ging zur anderen Seite der Garage, wo er große Holzklötze gestapelt hatte. Seine Fußspuren bildeten tiefe Löcher in dem frischen Schnee. Ohne zu zögern, wählte er ein paar Klötze aus und spaltete sie zu ordentlichen Scheiten. Das Holz splitterte laut krachend, wenn die Axt niedersauste.

Er war versucht, abzudrücken, aber ein Baum stand im Weg, deshalb hielt er den Hahn gespannt. Unter seiner Skimaske bildeten sich Schweißtröpfchen auf seinen Augenbrauen, sobald er daran dachte, wie lange er auf ebendiesen Moment gewartet hatte, auf den Moment, in dem er Dan Grayson für immer beseitigen konnte.

Rache ist süß.

Krach! Ein weiterer Holzklotz splitterte. Dann noch einer.

Komm schon, komm schon. Wie viel Feuerholz brauchst du denn noch?

Endlich bückte sich Grayson, sammelte einen Armvoll Scheite zusammen und trat unter dem Garagenvordach hervor.

Er richtete den Blick auf sein Ziel, das sich jetzt wieder Richtung Haus in Bewegung setzte. Zielen … zielen … Nimm ihn ins Visier … Sein Finger krampfte sich um den Abzug.

Wuff! Wuff!

Aufgebrachtes Gebell hallte durchs Tal.

Der Hund! Wo zum Teufel war der verdammte Hund?

Ohne den Kopf zu bewegen, den Finger nach wie vor am Abzug, blickte er zur Seite. Aus dem Augenwinkel sah er etwas Schwarzes, das durch die Bäume stob.

Hau ab, verdammte Töle!

Mit bis zum Zerreißen gespannten Nerven erinnerte er sich daran, dass er sein Versteck gegen den Wind gewählt hatte, damit er nicht zu riechen wäre. Es war im Grunde unmöglich, dass der Hund –

»Sturgis!«, donnerte Graysons Stimme durch den Canyon, laut genug, um eine Lawine auszulösen.

Er erstarrte.

»Bei Fuß!«, befahl der Sheriff und spähte mit zusammengekniffenen Augen in die zunehmende Helligkeit.

Verflucht!

Sein Herz schlug inzwischen wie ein Presslufthammer.

Konzentrier dich, lass dich nicht ablenken. Du schaffst das … Wieder fixierte er sein Ziel. Grayson drehte sich um sich selbst und suchte mit den Augen das umliegende Gehölz nach seinem Köter ab. Jetzt blickte er direkt in seine Richtung. Perfekt.

Er wollte eben abdrücken, als ein weiteres, warnendes Bellen ertönte.

Mist!

Grayson setzte sich in Bewegung und verschwand hinter einer Gruppe von Setzlingen. Verfluchter Hurensohn! Der Killer musste seine Mission zu Ende bringen und endlich zum Schuss kommen.

Ein vertrautes Summen füllte seinen Kopf, und er leckte sich die Lippen. Aus dem Augenwinkel sah er nun, dass der Hund ganz in seiner Nähe war.

»Sturgis, bei Fuß«, befahl Grayson noch einmal, dann fiel sein Blick auf den Baumstumpf, hinter dem sein Mörder kauerte.

Der Labrador erstarrte, die Nase in den Wind gehoben.

Stocksteif stand er da, die Ohren nach vorn gerichtet, und starrte ihn direkt an. Er gehorchte weder Grayson, noch knurrte oder bellte er. Beobachtete ihn einfach nur.

Das war nicht gut.

Gar nicht gut.

Er fröstelte unter seiner dicken Skimontur, als ihm klarwurde, dass er auch den Hund würde ausschalten müssen. Ob er wollte oder nicht.

Grayson blieb stehen. Legte den Kopf schief. Als hätte er plötzlich gespürt, dass etwas nicht stimmte.

Der Killer ignorierte den Hund. Konzentrierte sich wieder auf sein Vorhaben.

Tick. Tick. Tick.

Das Summen schwoll an zu einem lauten Dröhnen.

Jetzt!

Das Dröhnen war nun kaum noch zu ertragen.

Er veränderte die Position des Gewehrs, gerade so viel, um Grayson wieder ins Visier zu fassen.

Endlich hatte er eine freie Schusslinie. Noch nie war das Dröhnen in seinem Kopf derart übermächtig gewesen. Plötzlich wurde ihm klar, dass es gar nicht von innen kam, sondern von etwas Äußerem herrührte – einem sich bergauf kämpfenden Fahrzeug, kein gewöhnlicher Pkw, eher ein Pick-up oder ein Geländewagen, dessen lauter Motor die Stille der Winterlandschaft störte.

Ein Besucher?

In Graysons abgelegenem Blockhaus am Weihnachtsmorgen?

In der Nähe gab es keine andere Hütte.

Das Dröhnen drohte den Kopf des Mörders zum Platzen zu bringen.

Nein, nein, nein! Das gehört nicht zum Plan! Dieser Besucher könnte alles zum Scheitern bringen!

Tick. Tick. Tick.

Durch den dichten Schneevorhang sah er Grayson, das Feuerholz noch immer im Arm. Der Sheriff machte einen Schritt aufs Haus zu, dann blieb er stehen, als hätte nun auch er das herannahende Fahrzeug gehört.

Kümmere dich nicht darum! Ziele!

Er drückte ab.

Wumm! Der Rückstoß traf ihn hart an der Schulter.

Graysons Körper zuckte wie eine Marionette, sein Kopf schnellte nach hinten, die Arme wirbelten durch die Luft. Feuerholz flog in alle Richtungen, fiel in den tiefen Schnee. Der Hut segelte von seinem Kopf, doch der Scheißkerl blieb auf den Beinen, das Gesicht abgewandt. Er schwankte, ging langsam in die Knie. Das reichte nicht!

Er zielte erneut. Wumm! Wieder zuckte Grayson, als wären unsichtbare Fäden an seinen Gliedmaßen befestigt, dann stürzte er zu Boden, die Vorderseite seines Körpers durch die Wucht des Einschusses nun halb dem Killer zugewandt. Blut färbte zunächst seine Jacke, dann die frische weiße Schneedecke tiefrot.

»Stirb, Bastard«, knurrte der Killer leise. In diesem Augenblick tauchten zwei Scheinwerfer im morgendlichen Dämmerlicht auf.

Verflucht!

Das Licht wurde greller, fiel auf die Außenwand des Blockhauses. Trotz des dichten Schneetreibens erkannte er, dass es sich um einen Jeep handelte. Der Fahrer drückte aufs Gas, als spürte er die Gefahr.

Er musste abhauen. Sofort. Nun galt es, keine Zeit zu verschwenden.

Der Hund stieß ein markerschütterndes Heulen aus. Frustriert richtete der Killer den Gewehrlauf auf das Tier, gerade als der Jeep rutschend vor dem Haus zum Stehen kam.

Keine Zeit.

Trotz der freien Schusslinie ließ er von seinem Vorhaben ab.

Er würde sich verraten, wenn er auf den Köter feuerte. Wer immer in dem Jeep saß, würde in die Schussrichtung blicken und ihn entdecken. Das durfte er nicht riskieren.

Es sei denn, er schaltete den Jeepfahrer ebenfalls aus.

Die Beifahrertür wurde aufgestoßen. Eine Frau mit rotblondem Haar sprang heraus und duckte sich sofort.

Fast wäre sein Herz stehengeblieben, als er sie erkannte: Detective Regan Pescoli vom Büro des Sheriffs von Pinewood County und ein ausgemachtes Miststück.

Wer hätte das gedacht?

Einen kurzen Augenblick überlegte er, auch sie abzuknallen. Zwei auf einen Streich. Warum nicht?

Er zögerte, nahm sie ins Visier, doch er bekam keine freie Schusslinie. Außerdem war sie vermutlich bewaffnet. Jetzt blickte der Hund zurück von seinem reglosen Herrchen zu ihm und setzte sich in Bewegung – in Richtung des Baumstumpfs, hinter dem er sich versteckte. Nein, das Risiko konnte er nicht eingehen. Er durfte sich nicht erwischen lassen! Viel zu viel war noch zu erledigen, und er musste gründlich vorgehen, durfte sich keine Fehler erlauben. Alles musste nach Plan verlaufen.

Mit hämmerndem Herzen zog er sich hastig zurück in den Schutz des dichten Waldstücks etwas weiter oben. Unterwegs ließ er das Gewehr in seine Hülle gleiten, hängte es sich über die Schulter und tauchte dann seine Skistöcke in den tiefen Schnee, um blitzschnell davonzugleiten. Er würde sich nicht erwischen lassen, weder von der dämlichen Töle noch von dem Detective. Mit vorgebeugtem Oberkörper schoss er einen steilen Pfad hinunter, zwischen den Bäumen hindurch, sprang über hervorstehende Felsbrocken, während das schauderhafte Heulen von Graysons Hund durchs Tal hallte.

Der Köter würde ihn niemals einholen.

Wieder einer weniger.

Hoffentlich. Wenn seine Schüsse getroffen hatten, war Grayson inzwischen tot. Er verzog das Gesicht hinter seiner Skimaske zu einem fratzenhaften Grinsen.

Sayonara, Scheißkerl. Du hast bekommen, was du verdient hast.

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Kapitel vier

Wumm!