Schokus Pokus - Tracy Madison - E-Book

Schokus Pokus E-Book

Tracy Madison

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Beschreibung

Zum Feiern ist Lizzy an ihrem Geburtstag so gar nicht zumute: Vor genau einem Jahr wurde sie von ihrem Exmann verlassen. Jetzt hat Marc ausgerechnet ihre Konditorei damit beauftragt, eine Hochzeitstorte zu kreieren. Für sich und seine Neue, versteht sich. Wütend macht Lizzy sich an die Arbeit – und knetet ihren ganzen Frust in den Teig: Sie wünscht Marc für die Flitterwochen alles erdenklich Schlechte. Und tatsächlich kommt er ziemlich derangiert zurück. Ist also doch etwas dran an den Gerüchten vom magischen Erbe ihrer Großmutter? Lässt Lizzy mit ihren süßen Köstlichkeiten Wünsche wahr werden? Zum Ausprobieren gibt es jede Menge Kandidaten. Aber kann man sich auch seinen Traummann herbeizaubern?

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Seitenzahl: 475

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Tracy Madison

Schokus Pokus

Roman

Aus dem Englischen von Julia Walther

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. KapitelDanksagung
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Für meine Urgroßmutter Verda

Du hast mir gezeigt, dass im Leben alles möglich ist. Und du hast immer an mich geglaubt. Ich vermisse dich.

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1

«Du hast eine Zitrone geheiratet, Elizabeth», verkündete Grandma Verda, als würde das alles erklären.

Interessante Idee. Ich hatte meinen Exmann noch nie als Obst betrachtet. Abgesehen vom Vergleich eines gewissen Körperteils mit einer Banane. «Mal angenommen, das stimmt», erwiderte ich, «auch Zitronen können lecker sein. Ein bisschen Wasser und Zucker dazu, und schon hat man Limonade.» Grandma Verda rümpfte die Nase. «Zucker auf einer faulen Zitrone ergibt nur einen ekligen Nachgeschmack. Und an Marc Stevens ist so viel faul, da kann keine Zitrone mithalten.»

Wir saßen im Büro von Schokus Pokus – Magische Kuchen und Torten, der Konditorei, die mir und meinem besten Freund Jon Winterson gehörte. Als ich am frühen Morgen die Räume betreten hatte, wartete Grandma Verda in ihren pinken Turnschuhen bereits auf mich.

Ich versuchte, unbeschwert zu klingen. «Aber Grandma, als ich Marc geheiratet habe, dachtest du, er wäre perfekt für mich.»

«Das ist zehn Jahre her. Da wusste ich’s nicht besser. Er war noch nicht … ausgereift. Er hätte genauso gut zu einer schmackhaften Orange werden können. Orangen geben anständige Ehemänner ab.»

«Verstehe.» Ich verstand zwar nicht wirklich, was sie meinte, aber zumindest war der Gedanke spannend. Vielleicht sollte mal jemand einen Ratgeber schreiben: Woran Sie erkennen, ob Sie eine Zitrone heiraten. Beim Kauf eines Toasters bekommt man schließlich auch eine dreisprachige Bedienungsanleitung − warum dann nicht, wenn man sich an einen anderen Menschen bindet? Die Vorstellung gefiel mir. Man könnte das Schriftstück zwischen dem Ja, ich will und dem Kuss verteilen. Hm, wahrscheinlich sollte es wohl besser vor dem Ja, ich will passieren. Dann besteht noch die Möglichkeit, sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Trotzdem glaube ich nicht, dass ich mich damals anders entschieden hätte. Ich war fest entschlossen, Mrs. Elizabeth Stevens zu werden.

«Du warst zu gut für ihn. Das habe ich immer gewusst.» Grandma Verda nippte an ihrem Tee. «Ich verstehe einfach nicht, warum du dich darauf eingelassen hast.» Sie sprach nun nicht mehr über meine unglückselige Ehe, sondern über ein Thema, das ich lieber nicht diskutieren wollte.

«Es macht mir nichts aus. Wirklich. Es ist keine große Sache.»

Die erste Lüge des Tages − und noch nicht mal eine besonders gute. Im Allgemeinen bin ich ein ziemlich ehrlicher Mensch. Aber ich finde, bei zwei Themen haben alle Frauen das Recht zu lügen: Schokolade und Kopfschmerzen. Doch um keines der beiden ging es hier. Außerdem hatte ich meine Großmutter noch nie angelogen. Fast nie. Und es gefiel mir nicht, dass ich es soeben getan hatte.

Sie sah mich bloß unverwandt an mit ihren blauen Augen, denen nichts entging. Und die lange Schweigepause zwang mich förmlich zum Reden, also erklärte ich: «Ich bin sicher nicht die einzige Frau in so einer Situation. Außerdem backe ich ja bloß einen Kuchen. Das mache ich doch sowieso jeden Tag.» Mist. Wofür rechtfertigte ich mich eigentlich?

«Aha.» Abrupt stellte sie die Teetasse ab, sodass ein wenig Earl Grey über den Rand schwappte. «Jetzt sei doch mal ehrlich, Lizzie. Seit einem Jahr versteckst du dich hinter einer Fassade aus ‹Es geht mir gut› und ‹Es ist keine große Sache›. Sag mir, wie es dir wirklich geht!»

Ihre Worte trafen mich ins Mark. Ich wischte die Teepfütze mit einer Papierserviette auf und ignorierte den Druck auf der Brust. «Was willst du denn hören? Dass ich völlig fertig bin, weil Marc mich wegen seiner blonden Barbiepuppen-Empfangsdame verlassen hat? Dass sich meine Ehe ins übelste Klischee verwandelt hat? Na gut − es war echt beschissen. Aber das ist alles ein Jahr her.»

Das vergangene Jahr sollte ‹unser Jahr› werden. Endlich wollten Marc und ich eine Familie gründen. Ich hatte mir schon lange ein Baby gewünscht, aber er fand immer neue Gründe dafür, noch zu warten. Bis er beschloss, ein Kind zu heiraten, statt eines zu bekommen.

Mir schossen Tränen in die Augen. Einmal blinzeln, und ich würde mich verraten. «Ich bin gleich wieder da, Grandma. Ich hab was im Auge.»

Schon wieder eine Lüge. Aber diesmal ging es nicht anders: Grandma Verda mochte zwar zäh sein, aber sie war immerhin schon fünfundachtzig – da musste sie ihre Enkelin nicht weinen sehen.

Auf der Toilette drehte ich den Hahn voll auf und wusch mir mit kaltem Wasser das Gesicht. Dann sah ich in den Spiegel und erschrak. Ich war blass. Sehr blass. Die dunklen Ringe unter den Augen verrieten zu viele schlaflose Nächte. Um ein bisschen Farbe zu bekommen, kniff ich mir in die Wangen. Als ich die Fremde im Spiegel anstarrte, begriff ich plötzlich, dass ich mir nicht länger etwas vormachen durfte. Es ging mir nicht gut. Und das seit zwölf langen Monaten. Und was ich heute tun musste, würde mir erst recht nicht guttun.

Halt, falsch. Es würde mich wahrscheinlich sogar umbringen! Ich sah die Schlagzeile in der Chicago Tribune schon vor mir:

TOD DURCH KUCHEN!

Bäckerin aus Highland Park erstickt am letzten bisschen Stolz beim Backen der Hochzeitstorte für Exmann und Geliebte

Denn so war es: Meine Aufgabe bestand darin, ein kulinarisches Kunstwerk für das zukünftige Ehepaar Stevens zu erschaffen. Marc und Tiffany, auch bekannt als mein untreuer Exmann und die junge, schöne Frau, für die er mich genau vor einem Jahr verlassen hatte. Und als sei das noch nicht genug, war heute auch noch mein fünfunddreißigster Geburtstag. Schon am zweiten Geburtstag in Folge beherrschte Marc meine Gedanken. Da stimmte doch was nicht.

Ich holte tief Luft, kniff mir zur Sicherheit noch einmal in die Wangen und kehrte zu Grandma Verda zurück. «Tut mir leid», entschuldigte ich mich und wich ihrem Blick aus.

Sie drückte mein Handgelenk. «Ich möchte, dass du glücklich bist.» Blinzelnd erwiderte ich: «Ich weiß. Das wird schon wieder. Warum bist du überhaupt so früh hier? Kommst du morgen Abend nicht zu Mom und Dad?»

Für den nächsten Tag war meine Geburtstagsfeier geplant. Dann war Freitag, und alle könnten ausgelassener feiern.

«Natürlich bin ich dabei!», erklärte Grandma Verda. «Ich lasse mir doch nicht die Gelegenheit entgehen, alle meine Enkelkinder zu sehen. Aber ein paar Minuten allein mit meiner Enkelin an ihrem eigentlichen Geburtstag sind auch schön. Das haben wir seit Jahren nicht gemacht.»

Ein Lächeln erhellte ihr Gesicht. Sie zog zwei Umschläge aus der Tasche, einer lila, der andere weiß. In jeder Hand einen Umschlag, sah sie zwischen beiden hin und her und blickte dann mich an. Schließlich steckte sie den weißen Umschlag wieder ein und reichte mir den lilafarbenen. «Mach ihn gleich auf, ja?» Vor Aufregung klatschte sie in die Hände wie ein Kind.

Neugierig öffnete ich den Umschlag. Als ich die Karte herauszog, wirbelte Glitzer auf, und endlich verschwand der Druck aus meiner Brust. Ich musste lachen. «Seit ich klein bin, tust du Glitzer in meine Geburtstagskarten …»

«Geburtstage sind etwas Magisches. Und Magie macht Spaß. Genau wie Glitzer.»

Das hatte sie schon immer gesagt. Und dass sie irgendwann an einem meiner Geburtstag ein ganz besonderes Geschenk für mich haben würde. Ich sah, dass ihre Wangen gerötet waren und es in ihren Augen blitzte. Vielleicht war dies der besondere Geburtstag?

Als ich die Karte umdrehte, musste ich wieder lachen − dieses Mal über eine Frau mit Bikini und Zylinder, die aus einer Torte sprang. Vielleicht wäre die Karte für einen Mann passender gewesen, dachte ich, aber schließlich verdiente ich mit Tortenbacken meinen Lebensunterhalt.

Beim Öffnen der Karte trudelte ein Zwanzigdollarschein zu Boden. In ihrer geschwungenen Handschrift hatte Grandma Verda geschrieben:

Elizabeth, es ist Zeit, an Magie zu glauben.

Öffne Dein Herz und sei Dir selbst treu, damit die Gabe Dich finden kann.

Happy Birthday, mein Schatz.

Alles Liebe, Grandma.

PS: Viel Spaß dabei!

Eine Sekunde lang schien die Schrift hell aufzuleuchten. Seltsam. Ich blinzelte und fuhr mit den Fingern über die Tinte, doch was ich zu sehen geglaubt hatte, war verschwunden. Ich schrieb es der frühen Stunde und dem Koffeinmangel zu und bückte mich nach dem Geldschein.

«Das ist toll, Grandma. Vielen Dank», sagte ich und schob das Geld wieder in die Karte.

Zweifelnd schaute sie erst die Karte an, dann mich. «Und? Wie fühlst du dich?»

«Prima. Warum?»

«Ach, nur so. Ich … äh … bin schließlich deine Großmutter. Es ist mir wichtig, dass du … dass du glücklich bist.»

Hm. Etwas stimmte nicht, aber ich konnte nicht recht sagen, was es war. Ein Blick auf die Uhr sagte mir allerdings, dass ich jetzt keine Zeit hatte, um es herauszufinden. «Komm mit in die Backstube. Ich muss mich an die Arbeit machen.»

«Nein, nein. Ich sollte besser aufbrechen.» Grandma Verda griff nach ihrem Mantel und drückte mich noch einmal an sich. «Liebling, ich möchte, dass du Spaß hast im Leben. Ich möchte, dass du dir überlegst, was du wirklich willst, was du dir wünschst, und dann – ja, wer weiß – wird es vielleicht in Erfüllung gehen.»

«So funktioniert das Leben nicht», murmelte ich und schloss die Tür auf.

«Oh, da täuschst du dich. Es kann im Leben durchaus so laufen.» Sie lächelte verschmitzt. «Du wirst schon sehen. Deine Zeit ist gekommen, Lizzie.»

Und weg war sie.

Auf dem Weg in unser Büro ging ich noch einmal unsere Unterhaltung durch, doch sie ergab keinen Sinn. Grandma Verda hatte ihre eigene Art und Weise, die Dinge anzugehen, und sie hatte eine einzigartige Lebensanschauung. Seltsamerweise schien das, was sie sich ganz fest wünschte, immer wahr zu werden. Manchmal wurde aber auch das wahr, was sie sich für mich wünschte.

Ich drehte mein schulterlanges braunes Haar zu einem Knoten und befestigte es mit einem Haargummi. Lächelnd erinnerte ich mich an den Sommer, den ich als Kind bei meiner Großmutter verbracht hatte. Obwohl ich es inzwischen besser wissen sollte, betrachtete ich ihn immer noch als eine magische Zeit.

Damals schleppte ich meine Lieblingspuppe Molly überallhin mit – bis ich sie eines Tages im Park vergaß. Ich war sicher, dass sie noch dort sein musste, aber als wir sie suchten, war sie verschwunden. Am Abend weinte ich mich in den Schlaf. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, überreichte mir Grandma Verda eine Karte. Ich konnte noch gar nicht lesen, deshalb las sie mir den Text vor. Ich sollte die Augen schließen und mir ganz fest wünschen, dass ich Molly wiederfinden würde. Noch am selben Tag entdeckte ich sie hinter einem Sofakissen. Grandma Verda behauptete, es wäre Magie gewesen.

Inzwischen war mir natürlich klar, dass sie einfach eine neue Puppe gekauft hatte. Aber damals glaubte ich ihre Geschichten vom Wünschen und von der Magie. Jener Sommer war erfüllt von unerklärlichen Vorkommnissen.

Als ich meiner Mutter davon erzählte, wurde sie ziemlich ungehalten. Sie riet mir, nicht auf meine Großmutter zu hören. Grandma Verda würde es zwar gut meinen, sagte sie, aber ich müsse wissen, dass die einzige Magie im Leben harter Arbeit entsprang. Und so ist es ja auch, nicht wahr? Trotzdem muss Grandma Verdas Magie-Besessenheit wohl ihre Spuren hinterlassen haben: Als Jon und ich beschlossen, eine Konditorei zu eröffnen, lautete der einzige Name, auf den wir uns einigen konnten, Schokus Pokus – Magische Kuchen und Torten.

Ich schenkte mir einen Kaffee ein und sah auf die Uhr. Marcs Torte würde noch zehn Minuten warten müssen. Grandma Verda wollte, dass ich mir nicht länger selbst etwas vormachte, sondern dass ich endlich ehrlich zu mir war. Doch das machte mir fast so viel Angst wie diese blöde Hochzeitstorte. Mir einzugestehen, wie ich mich wirklich fühlte, würde zu sehr weh tun. Schließlich war ich Expertin darin, vor meinen eigenen Gefühlen davonzulaufen und Konfrontationen auszuweichen. Allem, das mir etwas bedeutete.

Ich wollte mich nicht mehr verstecken, aber ich wollte mich auch nicht meinen Gefühlen stellen. Ehrlich gesagt wusste ich ziemlich genau, wie es in mir aussah: Reue, Verwirrung, Traurigkeit und − ja, eine Riesenportion Gift. Die zusammengerollte Schlange wartete auf den perfekten Moment zum Angriff. Dagegen lief die scheue Feldmaus in mir beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten davon und versteckte sich. Normalerweise fressen Schlangen Mäuse, aber in meinem Inneren hatte bisher immer die Maus die Oberhand gewonnen. Könnte ich doch nur einmal die Schlange sein, vielleicht hätte ich dann eine Chance!

Kurzerhand griff ich nach dem Bestellformular für die Stevens-Hochzeitstorte. Marc und Tiffany hatten eine traditionelle, dreistöckige Version mit zwei zusätzlichen Kuchen bestellt. An jedem anderen Tag hätte ich das mit links erledigt, aber heute wünschte ich mir nur, es wäre schon vollbracht.

Ich nahm den Kaffee und die Unterlagen mit in die Backstube. Andy, die bessere Hälfte meines Geschäftspartners, war Innenarchitekt und hatte auf dem engen Raum die praktischste Backstube entworfen, die es gab. Mit den Hängemülleimern und den Vorratsschränken, den breiten Arbeitsflächen fürs Anrühren, Kneten und Dekorieren, den beiden Backöfen und dem Industriekühlschrank hätte einem der Raum eigentlich ziemlich vollgestopft vorkommen müssen. Doch da Andy in seinem Job außerordentlich gut war, wirkte er viel größer, als er tatsächlich war.

Natürlich träumten Jon und ich trotzdem davon, uns eines Tages zu vergrößern. Dies erschien in letzter Zeit aber unwahrscheinlicher denn je, weil wir einige wichtige Aufträge an die Konkurrenz verloren hatten und deshalb auch nicht so schnell an neue Kundschaft rankamen. Noch etwas, worüber ich mir den Kopf zerbrechen konnte. Aber nicht jetzt. Ich hatte schließlich schon genug Stress, das Schicksal von Schokus Pokus musste warten.

Mit wenigen Handgriffen stellte ich die Zutaten für die Höllentorte bereit. Ich schlug die Eier auf, trennte Eiweiß von Eigelb und gab Milch, Zitronenöl und Vanille in eine große Schüssel. Plötzlich tauchte aus dem Nichts das Bild meiner eigenen Hochzeitstorte vor meinem inneren Auge auf. Sie war viel zu bombastisch für unsere Hochzeit gewesen, aber wunderschön. Ein Geschenk von Jon. Ich hatte ein Stück aufgehoben, wie es Tradition ist. Marc und ich hätten es an unserem ersten Hochzeitstag gemeinsam essen sollen, das bringt Glück. Er war jedoch geschäftlich unterwegs, und so kam es nicht dazu. Nie.

Vielleicht lag dort der Fehler: Wir hatten mit der Tradition gebrochen.

Das Tortenstück wurde allerdings auch nie weggeworfen. Ich wusste, dass Marc es entsorgt hätte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Deshalb nahm ich es mit in meine neue Wohnung und gab ihm ein neues Zuhause im Gefrierschrank. So blöd es klingen mag − ich war einfach noch nicht bereit, mich davon zu trennen. Dieses doofe gefrorene Tortenstück stand symbolisch für das Leben, aus dem nichts geworden war. Ein Leben, nach dem sich ein Teil von mir immer noch sehnte und dem ich immer noch nachtrauerte.

Ich schluckte und zwang mich, tief durchzuatmen. Ein. Aus. Ein. Aus.

«Du bist aber früh da.»

Beim Klang von Jons Stimme zuckte ich zusammen und drehte mich ruckartig um. «Du etwa nicht?»

Seine Jeans saß so eng auf den Hüften, als wäre sie aufgemalt. «Ich wollte wissen, ob’s dir gutgeht.» Eine schlichte Aussage mit großer Bedeutung. Typisch Jon.

«Natürlich.»

Der Blick seiner babyblauen Augen war voller Mitleid. Ich hasste diesen Blick.

«Schau mich nicht so an. Es geht mir prima.»

«Nein. Tut es nicht. Du hättest dir heute frei nehmen sollen. Schließlich hast du Geburtstag.»

«Ja, und? Wir gehen doch morgen Abend aus. Das hier ist Arbeit.»

«Du solltest überhaupt nicht hier sein. Es war mein Fehler, dass wir die Bestellung angenommen haben.»

Das stimmte tatsächlich. Beim Aufnehmen der Bestellung hatte Jon lediglich den Namen der Hochzeitsplanerin und das Datum notiert. Als ich dann die Identität von Braut und Bräutigam herausfand, war es schon zu spät, um jemand anderen zu beauftragen. Wir hätten damit zukünftige Aufträge dieser Hochzeitsagentur aufs Spiel gesetzt. Geschäft war Geschäft, und Schokus Pokus war noch zu neu für so ein Risiko. Außerdem hatten wir in letzter Zeit schon genug Bestellungen verpasst.

«Du hast nichts falsch gemacht.» Um das Thema zu wechseln, fügte ich noch hinzu: «Du warst beim Friseur. Sieht gut aus.»

Jon grinste und fuhr sich über das kurze, dunkelblonde Haar. «Ich hab da einen tollen Salon in der Stadt entdeckt. Solltest du auch mal ausprobieren.»

«Vielleicht.» Aus irgendeinem Grund drehte sich mir plötzlich der Magen um. Ich bemühte mich, die Übelkeit zu unterdrücken. Krankwerden war jetzt ganz schlecht. Ich war fest entschlossen, das hier durchzustehen. Vielleicht würde es mir helfen, das Kapitel «Marc» zu schließen. Auch wenn das unwahrscheinlich war, den Versuch war es doch wert.

Jons Blick wanderte über die Zutaten auf der Arbeitsplatte. «Kann ich helfen?»

«Fürs Erste komme ich klar. Aber wenn es dir nichts ausmacht, könntest du die Dekoration der Torte übernehmen, denn ich werde morgen sicher genauso wenig in Stimmung für Rosetten und Fondants sein wie heute. Dann kann ich zu Hause bleiben. Wäre das in Ordnung?»

«Absolut.» Jon zog mich an sich und drückte mich fest. «Du weißt, wie gern ich dich hab, oder?»

Ich schloss die Augen und erwiderte die Umarmung. Der Geruch von Seife, Shampoo und seinem süßlichen Aftershave stieg mir in die Nase. Dieser Mann war nicht nur mein Geschäftspartner, sondern auch mein bester Freund. Und während des vergangenen Jahres war er meine größte Stütze gewesen. «Ich hab dich auch gern», murmelte ich.

So standen wir eine ganze Weile da, ehe wir uns voneinander lösten. In Jons Augen lag immer noch Besorgnis, aber er lächelte mich an. «Du willst dich aber doch nicht vor morgen Abend drücken, oder?» Damit meinte er die Margarita-Drinks plus Karaoke, die wir für den späteren Abend nach der Geburtstagsfeier mit meiner Familie geplant hatten.

«Niemals. Maddie würde mich umbringen. Sie will uns doch ihren neuen Typen vorstellen, damit wir ihn absegnen können.»

Maddie Sinclair war meine beste Freundin. Sie wohnte im Apartment über mir, und ich hatte es ihr zu verdanken, dass ich die Wohnung damals gefunden hatte. Sie in meiner Nähe zu wissen, hatte mir den Umzug wesentlich erleichtert.

«Klingt gut. Dann fang ich mal mit der Monatsabrechnung an. Ruf mich, wenn du irgendwas brauchst.»

«Mach ich.»

Jon verließ die Backstube, und ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die verdammte Torte. Sie fertig zu stellen, war fast schon zu einem Symbol dafür geworden, dass ich im Leben nach vorn blicken musste. Also schaltete ich die Küchenmaschine ein und fügte einige Eiklar und einen Schuss Milch zum Teig hinzu. Dabei bemühte ich mich, meine traurigen Gedanken zu verdrängen. «Jetzt reiß dich mal zusammen», murmelte ich vor mich hin.

Grandma Verda hatte mich aufgefordert, mir zu überlegen, was ich wirklich wollte. Ich versuchte also, mich darauf zu konzentrieren. Wenn ich zum Geburtstag alles haben könnte, was ich wollte, was würde ich mir dann wünschen? Ein Urlaub auf Maui wäre nett. Oder vielleicht ein neues Auto, eines mit funktionierendem Radio. Mein VW Käfer war schon lang nicht mehr so süß wie früher. Aber es musste doch noch etwas Besseres geben. Etwas Größeres.

In Gedanken spielte ich ein paar Möglichkeiten durch, und dann, ganz plötzlich, schoss mir die Antwort durch den Kopf: Ich wollte mich rächen.

«Rache ist süß, Strafe tut weh», sagte ich. Ja, ich wollte beides. Rache und Vergeltung. Mit dem Kapitel «Marc» abzuschließen, war schön und gut, aber die Schlange in mir wollte raus. O nein, ich wollte Braut und Bräutigam nicht vergiften. Das würde nicht zu mir passen, außerdem hatte ich nicht die geringste Lust, für Marc auch noch ins Gefängnis zu wandern. Das war er definitiv nicht wert. Nein, es müsste etwas Persönliches sein. Etwas Subtiles. Aber Treffendes.

Als ich den Rest der Eiweißmischung hinzugab, fiel mir plötzlich die perfekte Rache ein: In der Hochzeitsnacht ging es doch um Sex. Und in den Flitterwochen ging es um noch mehr Sex. Was aber, wenn Marcs Körper sich schlicht weigerte zu kooperieren? Was, wenn er in der Hochzeitsnacht keinen hochkriegte?

Ich kannte Marc in- und auswendig. Wie die meisten Männer war er besessen von seiner sexuellen Leistungsfähigkeit. Ich hatte mich nie bei ihm beschwert, aber ich hatte schließlich auch keine Vergleichsmöglichkeiten. Er war für mich der Einzige gewesen – in mehr als einer Hinsicht. Wenn er es also in der Hochzeitsnacht nicht bringen würde, wäre er sicher völlig entsetzt – und Tiffany wäre hysterisch. Trotzdem käme dabei niemand zu Schaden, jedenfalls nicht wirklich. Außerdem war es ja nur eine vorübergehende Sache. Es wäre einfach die perfekte Rache.

Ja, die Idee gefiel mir. Sehr sogar. Es machte mir nicht mal etwas aus, dass dies der fieseste Gedanke war, den ich seit langer, langer Zeit gehegt hatte. Wenn ich ihn nur auf diese Art verwünschen könnte, wenn es in meiner Macht läge, dann würde ich es tun. Sofort. Es war subtil, aber gleichzeitig eine harte – oder vielmehr eine schlaffe – Strafe.

Ich schaltete den Mixer eine Stufe höher. Mir war nicht mehr übel. Alle Handgriffe liefen automatisch ab. Eine nach der anderen fügte ich die abgewogenen Zutaten zum Teig hinzu, der sich in der Schüssel gleichmäßig drehte.

«Na, wie würde dir das gefallen, Marc?», flüsterte ich. «Kein Sex mehr bis nach den Flitterwochen, weil du keinen hochkriegst. Egal, was du tust, egal, was deine Frau versucht. Weich und schlaff. Selbst Viagra wird dir nicht helfen.»

Ich lachte und nahm plötzlich ein seltsames Knistern wahr. Wie elektrostatische Energie, nur stärker. Es fuhr durch mich hindurch, sodass ich eine Gänsehaut bekam. Auf einmal wanderte ein helles Licht von meiner Hand zum Rührgerät und von dort in die Schüssel. Der Teig erstrahlte in einem leicht pulsierenden Leuchten.

«Was zum Teufel?!»

Das Licht hüpfte umher und wurde immer stärker, während ein Kribbeln durch mich hindurchfloss. Abrupt ließ ich die Hand sinken und machte einen Satz zurück, um den Mixer aus der Steckdose zu ziehen. Ich war mir sicher, sonst einen tödlichen Stromschlag abzubekommen. Alles andere ergab keinen Sinn.

Einige Sekunden später hörte das Summen auf, das Kribbeln ließ nach, und das Leuchten erlosch. Ich untersuchte den Stecker und das Rührgerät, aber beide schienen in Ordnung zu sein. Also zog ich ein Paar dicke Gummihandschuhe über und schloss den Mixer wieder an. Er funktionierte einwandfrei. Keine Funken, kein Durchschmoren. Seltsam.

Jetzt wollte ich das Ganze nur noch hinter mich bringen. Sobald der Teig fertig war, bereitete ich die Backformen vor und füllte sie. Als sie schließlich im Ofen waren, stellte ich den Wecker und säuberte den Arbeitsbereich.

Ich atmete tief durch und betrachtete voller Sorge das Rührgerät. Jon würde ausflippen, wenn ich ihm eröffnete, dass wir ein neues brauchten. Aber nie im Leben würde ich dieses noch mal benutzen.

Als ich wenig später die Backstube verließ – die Tasse in der Hand, ich brauchte dringend Koffeinnachschub –, merkte ich, dass sich irgendetwas verändert hatte. Ich hatte mich verändert. Vielleicht bildete ich es mir ein, aber ich fühlte mich so stark wie im ganzen letzten Jahr nicht mehr.

Seltsam.

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2

«Lizzie − schön, dass du da bist», begrüßte mich meine Mutter. Die Hände in die schmalen Hüften gestützt, stand sie vor dem Kamin und dirigierte alle. Das perfekt frisierte Haar umrahmte ihr Gesicht, und winzige, goldene Ohrringe verliehen ihr einen Hauch Glamour. «Setz dich da drüben neben deinen Vater.»

«Äh, okay.» Offensichtlich war etwas im Gange. Ich würde noch früh genug herausfinden, worum es sich handelte. Fürs Erste reichte es mir, bei meiner Familie zu sein. Bisher hatte ich meinen freien Tag hauptsächlich damit verbracht, deprimiert aus dem Schlafzimmerfenster zu starren. Ich konnte meine Gedanken nicht davon losreißen, dass Marc morgen heiraten würde. Zum Glück hob sich meine Stimmung, als ich das Haus meiner Eltern betrat.

Mein Vater saß auf der Couch. Das orangefarbene Monster war ungefähr hundert Jahre alt und unzerstörbar. Im Sommer klebte man mit den nackten Oberschenkeln daran fest. Meine Mutter hatte eine Abneigung dagegen, Altes durch Neues zu ersetzen. Wenn es nach ihr ginge, konnte man mit einem Elektrotacker und einer Heißklebepistole alles reparieren.

Ich breitete eine Wolldecke auf dem Polster neben meinem Vater aus, bevor ich mich hinsetzte. Ich trug zwar Jeans, aber die Erinnerung an die wunden Oberschenkel ließ mich vorsichtig sein. Das Kunstleder machte mir einfach Angst.

«Hallo, Dad.» Ich platzierte einen Kuss auf seine stoppelige Wange.

Er hob den Blick und lächelte mich kurz an. Die blauen Augen hinter seiner Brille blitzten. «Herzlichen Glückwunsch, meine Kleine.» Sofort galt seine Aufmerksamkeit wieder dem Sportteil der Zeitung. Damit hatte ich kein Problem, wir hatten uns noch nie viel zu sagen gehabt. Dafür setzte mein Vater Himmel und Hölle in Bewegung, wann immer ich ihn brauchte. So war es bei jedem von uns Kindern.

«Sobald Scot hier ist, müssen wir uns überlegen, was wir mit Grandma machen», kündigte meine Mutter an.

Grandma Verda schien im Schaukelstuhl zu dösen, aber bei ihr wusste man nie. Oft tat sie nur so, als schliefe sie.

«Ich hab’s dir schon gesagt, bei mir kann sie nicht wohnen», sagte meine Schwester Alice.

«Was ist denn eigentlich los?», wollte ich wissen. «Warum soll Grandma irgendwo wohnen?» Soweit ich wusste, ging es ihr bestens in der kleinen Eigentumswohnung. Meine Mutter verschränkte die Arme vor der Brust. «Wenn Scot endlich da wäre, könnte ich’s dir erklären.»

Ich warf Alice einen Blick zu, aber sie schüttelte nur den Kopf und tippte sich an die Stirn. Ich unterdrückte ein Kichern. Die meisten hielten uns für Zwillinge. Damit, dass wir beide braune Haare und braune Augen hatten, hörte die Ähnlichkeit aber schon auf. Die Leute mussten blind oder dumm oder beides sein: Alice war locker fünf Zentimeter größer als ich mit meinen eins siebenundsechzig, sie war mindestens zehn Kilo leichter und fast drei Jahre jünger. Ich liebte sie trotzdem.

Mein jüngerer Bruder Joe war mit seinem blonden Schopf und den blauen Augen der Einzige, der meinem Vater ähnlich sah. Allerdings hatte mein Vater inzwischen nur noch so wenige Haare, dass er fast nie ohne Hut rausging.

«Warum blast ihr denn alle Trübsal?», wollte mein älterer Bruder Scot wissen, als er endlich auftauchte. Er wirkte fit und gesund und war braun gebrannt, eine reife Leistung im Februar.

«Du kommst zu spät», wies ihn meine Mutter zurecht. «Setz dich zu Alice. Wir müssen eine Familienkonferenz abhalten.» Scot wagte nicht zu widersprechen. Meine Mutter durchquerte das Zimmer, ließ sich auf der anderen Seite neben meinem Vater nieder und zog ihm die Zeitung weg. «Konzentrier dich, Marty. Jetzt sind alle da.»

«Ich hab doch schon alles gehört, Isobel. Erklär’s lieber den Kindern.» Er nahm sich die Zeitung zurück.

Meine Mutter starrte ihn wortlos an. Gespannt sahen wir zu. Bei diesen Machtspielchen war der Ausgang völlig offen. Nach einer Minute ließ mein Vater die Zeitung sinken. «Na gut, ich bin ganz Ohr.» Eins zu null für Mom. «Vielen Dank. Du kriegst sie ja gleich wieder.»

Dann wandte sie sich uns zu und verkündete: «Eure Großmutter braucht eine neue Unterkunft. Sie weigert sich aber, bei uns einzuziehen.» Moms Auge zuckte. «Sie sagt, es würde sie in ihrer Lebensweise zu sehr einengen. Das bedeutet, dass einer von euch sie aufnehmen muss.»

Alice schob sich eine Haarsträhne hinters Ohr. «Ich hab einfach keinen Platz. Sonst würde ich sie gerne bei mir unterbringen.»

Vermutlich machte sich Alice mehr Sorgen um den Mann, der zurzeit bei ihr wohnte und von dem unsere Eltern nichts wussten, als um Grandma Verda.

«Joe hat doch massig Platz», warf ich ein. Nicht dass ich Grandma nicht bei mir haben wollte, aber dort war es wirklich zu eng. Die winzige Zweizimmerwohnung war gerade groß genug für mich und meine unausgepackten Umzugskartons. Ganz zu schweigen von den halbfertigen Knüpfteppichen und den Malen-nach-Zahlen-Bildern. Außerdem, sosehr ich Grandma Verda liebte, sie hatte doch ihre Eigenheiten, die auf Dauer immer weniger liebenswert wurden.

Meine Mutter blickte finster drein. «Joe?»

Er schüttelte den Kopf und sah mich mit gerunzelter Stirn an. «Als Grandma das letzte Mal bei mir war, hat ihre Katze sich die ganze Zeit versteckt. Damit wäre sie nie einverstanden.»

Shirley hatte ich ganz vergessen. Nur Grandma Verda kam auf die Idee, eine Katze nach der Geliebten ihres verstorbenen Mannes zu nennen – von der sie bis zur Beerdigung nicht einmal gewusst hatte. Das war zwanzig Jahre her. Die Katze hatte sie erst seit zwei Jahren. Grandma Verda war wohl immer noch nicht über die Sache hinweg.

Scot stand auf. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und fragte: «Warum muss sie überhaupt woanders hin?»

Ha, schlauer Kerl. Schnell das Thema wechseln, bevor jemand auf ihn zu sprechen kam.

«Neulich abends ist sie eingeschlafen, während sie Suppe auf dem Herd aufgewärmt hat. Es war kein großes Problem … dieses Mal noch nicht. Aber da ist noch mehr.» Deutlich war die Angst aus Moms Stimme herauszuhören.

Das reichte. Grandma Verda konnte bei mir wohnen. Ich schaute zu ihr herüber, und sie zwinkerte mir zu. Sie stellte sich nur schlafend, wie ich vermutet hatte.

Mein Vater raschelte mit der Zeitung. «Erzähl ihnen den Rest, Isobel.»

«Eure Großmutter hat jeden Abend in der Notrufzentrale angerufen. Esther, aus meiner Bridge-Gruppe, hat es mir erzählt.» Sie schlug die Beine übereinander und wippte mit dem Fuß. «Esthers Tochter arbeitet dort. Sie hat den Namen wiedererkannt.» Mit einem schweren Seufzer fuhr sie fort: «Also bin ich hingefahren. Sie haben mir erzählt, dass Grandma sie angerufen hat, um sich nach dem Wetter zu erkundigen, nach Zusammenfassungen ihrer Lieblingsfernsehsendungen und zweimal, um zu fragen, ob einer der Beamten ihr ein Bier bringen könnte. Und das alles im letzten Monat.»

In diesem Moment vergaß ich alles, worüber ich mir den ganzen Tag lang Sorgen gemacht hatte. War meine Großmutter so einsam? Was für eine schreckliche Vorstellung, dass sie Hilfe bei völlig Fremden suchte statt bei ihrer Familie.

Die Sache war besiegelt. «Sie kann bei mir wohnen.»

«Haben sie ihr das Bier gebracht?», wollte Joe wissen.

Meine Mutter schnaubte wütend. «Ich habe keine Ahnung, Joe. Das tut doch überhaupt nichts zur Sache.»

Ich sah wieder zu Grandma Verda herüber. Inzwischen saß sie aufrecht und mit offenen Augen da. Sie zwinkerte mir zu, und ich zwinkerte zurück.

«Ich wollte eben ein Bier, na und? Und, ja, die netten Herren haben mir ein Sechserpack und eine Tüte Chips gebracht.» Sie stand auf und stützte die Hände in die Hüften, genau wie vorhin Mom. «Ich muss bei niemandem einziehen. Ich kann mich sehr gut um mich selbst kümmern.»

«Mom, du kannst doch nicht den Notruf wählen, nur weil du Lust auf ein Bier hast! Seit wann trinkst du überhaupt Bier?»

Grandma Verda zuckte mit den Schultern.

«Ich möchte, dass du hier bei uns bleibst, bei mir und Marty. Ich mache mir Sorgen um dich», drängte meine Mutter.

«Vielen Dank, aber es bleibt bei Nein. Das ist ein liebes Angebot, und ich weiß es zu schätzen.» Sie sah mich an. «Wir sind wegen Lizzies Geburtstag hier, und jetzt habe ich Hunger.» Zielstrebig steuerte sie aufs Esszimmer zu.

«Wir reden später noch mal drüber», flüsterte meine Mutter.

Doch Grandma Verda hatte gute Ohren. «Nein, das tun wir nicht! Die Diskussion ist beendet.»

«Liebes, mach dir nicht so viele Sorgen. Wir besuchen sie einfach öfter», schlug mein Vater vor. «Das können wir alle tun», sein Blick wanderte von einem zum anderen, «hab ich recht?»

«Ich bin sowieso ein-, zweimal die Woche bei ihr in der Nähe», sagte Joe. Er war Vertreter und viel unterwegs. «Ich werd ab jetzt bei ihr vorbeischauen.»

Wir einigten uns auf einen Plan, sodass an jedem Tag der Woche entweder jemand bei Grandma Verda anrief oder sie besuchte. Das musste fürs Erste reichen.

Nachdem wir gegessen hatten und ich die Geschenke ausgepackt hatte, gesellte ich mich zu meiner Mutter in die Küche. Sie war gerade beim Abtrocknen. Auf die meisten Menschen hätte sie wohl einen gelassenen Eindruck gemacht, doch ihr Rücken war ein wenig zu steif, und sie rieb mit dem Handtuch zu schnell über den Teller. «Mom, kann ich was tun?»

«Aber nicht doch. Es ist dein Geburtstag, da musst du nicht beim Abwasch helfen. Gefällt dir dein Geschenk?» Sie hatte mir eine Jahresmitgliedschaft im Fitnessstudio geschenkt, einschließlich Personal Trainer.

«Es ist sehr aufmerksam von dir.»

«Ich weiß schon, was du damit meinst. Wenn du es nicht willst, schenk es einer Freundin.»

«Nein, Mom, so war das nicht gemeint. Es gefällt mir.» Ich war nur nicht sicher, ob ich es nutzen würde. Wie ich meine Mutter kannte, war es ein Wink, dass ich mich um mein Aussehen kümmern und einen Mann finden sollte. Sie wollte unbedingt Enkel haben, und bis jetzt hatte sich noch keines ihrer Kinder fortgepflanzt. Da wir nun alle über dreißig waren, schwanden ihre Chancen von Jahr zu Jahr.

Ich schob den Gedanken beiseite und fragte: «Du willst Grandma heute Abend sicher nicht allein nach Hause lassen, oder? Ich finde, sie könnte hier übernachten oder bei mir, wenigstens für ein, zwei Tage.»

«Sie lassen? Sie macht doch ohnehin, was sie will. Das hat sie schon immer gemacht. Ich kann sie ja schlecht festbinden. Vielleicht kannst du sie ja zur Vernunft bringen.»

«Ich kann’s versuchen.» Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: «Du weißt aber, dass sie eigentlich nichts dagegen hat, bei dir zu wohnen, oder? Sie will einfach ihre Unabhängigkeit bewahren.»

Mom gab sich geschlagen. «Ich hab einfach Angst. Sie ist fünfundachtzig, und ich weiß nicht, wie ich mit diesem Lebensabschnitt umgehen soll.»

Ich nahm sie in den Arm und roch den Gardenienduft ihres Parfüms. Auf einmal war ich wieder zehn Jahre alt und kuschelte mich vor dem Zubettgehen an sie. «Vielen Dank für das Abendessen und das Geschenk. Jon, Andy und Maddie wollen mich heute Abend noch ausführen. Ich sollte bald nach Hause und mich umziehen.»

Sie drückte mich noch einmal an sich. «Dann amüsier dich gut, aber fahr nicht mit dem Auto, wenn du was getrunken hast.»

«Das tue ich nie, Mom.»

Im Wohnzimmer saßen nur noch Grandma Verda und mein Vater. «Wo sind denn die anderen?», fragte ich.

Mein Vater antwortete: «Sie hatten irgendeine Verabredung.» Er selbst war inzwischen mit Fernsehen beschäftigt.

«Alle?»

«Das haben sie zumindest behauptet.»

Plötzlich beschlich mich eine Sehnsucht, obwohl ich mit Freunden ausgehen würde. Ich wollte ein richtiges Date. Ich wollte mich wieder attraktiv fühlen. Ich schob den Gedanken beiseite und konzentrierte mich auf Grandma Verda. «Grandma, du siehst müde aus. Du kannst bestimmt hier schlafen und erst morgen nach Hause fahren.»

«Nein.» Sie sah zum Fenster hinaus. «Ich warte auf Vinny.»

«Wer ist Vinny?»

«Mein Beau. Er führt mich aus. Wir gehen ins Kino.»

Dads Aufmerksamkeit war geweckt, wenn auch nur für einen Augenblick. Dann wandte er sich wieder Magnum zu. Anscheinend glaubte er, er hätte sich verhört.

«Beau? Du hast einen Freund?» Kaum hatte ich die Frage ausgesprochen, ertönte draußen ein Tut-tuut.

Grandma Verda stand auf und strich ihr glitzerndes Sweatshirt glatt. Sie sah mich an. «Weißt du noch, was auf der Karte stand?»

«Ja, klar. Du hast sie mir ja erst gestern gegeben.»

«Sehr gut. Dann amüsier dich, aber sei vorsichtig. Mehr sag ich dazu nicht.» Schon wieder zwinkerte sie mir zu, dann rauschte sie davon. Dabei zog sie eine Glitzerwolke hinter sich her.

Ich war sprachlos. Schnell kletterte ich aufs Sofa und drückte meine Nase an die Fensterscheibe. Ja, das war eindeutig ein Mann, der Grandma da die Beifahrertür eines älteren Autos aufhielt. Ein betagter Herr, aber durchaus rüstig. Er wartete, bis sie richtig saß, und half ihr beim Anschnallen. Als die beiden schon längst davongebraust waren, saß ich immer noch da und starrte durchs Fenster.

Vielleicht war sie doch nicht so einsam, wie ich gedacht hatte. Alle meine Geschwister hatten an diesem Freitagabend ein Date. Sogar meine fünfundachtzigjährige Großmutter hatte eines. Alle außer mir. Plötzlich erschien mir ein Abend mit Karaoke und Margaritas nicht mehr so reizvoll.

Wann war mein Hintern bloß so breit geworden? Vielleicht waren es auch meine Hüften. Verdammt!

Stöhnend versuchte ich weiter zu robben, ohne Erfolg. Inzwischen konnte ich kaum noch atmen. Deutlich verschlimmert wurde das Ganze dadurch, dass mein Rock, sooft ich mich nach vorn schob, ein Stück weiter über meine Hüften und meinen Hintern Richtung Knie rutschte. Das verdammte Ding hing irgendwo fest! Wenn ich nicht aufpasste, würde ich bald ohne Rock hier festsitzen.

Ein toller Gedanke. Alle auf der Straße könnten meinen Hintern in der rosafarbenen Unterhose aus dem Fenster hängen sehen. Bei der Vorstellung verkrampfte sich mein Magen. Ich schluckte rasch, um die Übelkeit zu unterdrücken.

Zu allem Überfluss musste ich auch noch dringend aufs Klo. Meine Blase würde gleich platzen. Warum bloß hatte ich so kurz vor der Taxifahrt nach Hause noch einen Margarita getrunken? Eine rhetorische Frage. Es war die Mischung aus Erleichterung, Feierlaune und Hoffnung auf eine bessere Zukunft gewesen. Jetzt kam es mir nur noch dumm vor.

Ich hielt einen Moment still und versuchte, die Kraft des positiven Denkens auf meine Blase anzuwenden. Wenn ich nicht daran dachte, dass ich pinkeln musste, dann musste ich auch nicht pinkeln.

Falsch. Ganz falsch.

Als ein kalter Luftzug über mich hinwegstrich, fröstelte ich. Plötzlich wurde mir klar, dass ich noch viel größere Probleme kriegen könnte. Falls ich nämlich nicht bald hier herauskam, würde ich erfrieren. Ich musste etwas unternehmen.

Vielleicht konnte ich den Rückzug antreten? Einen Versuch war es wert. Ich probierte, mich rückwärts aus dem Fenster zu schieben. Zwar fühlte ich, wie das Holz des Fensterbretts an meinem Bauch entlangkratzte, aber ich steckte immer noch fest. Also wirklich, mein Badezimmerfenster war klein, aber doch nicht so klein. Vielleicht sollte ich noch mal über den Personal Trainer und die Mitgliedschaft im Fitnessstudio nachdenken. Natürlich hätte meine Mutter dann mal wieder recht behalten.

Nun versuchte ich es mit der gegenteiligen Strategie: Ich verlagerte mein gesamtes Gewicht nach vorn und hoffte, dass die Schwerkraft mich in mein Bad purzeln lassen würde. Stattdessen hörte ich das Geräusch von reißendem Stoff. Mist! Ich mochte diesen Rock wirklich sehr. Er war eines der wenigen Kleidungsstücke in meinem Schrank, in denen ich mich sexy fühlte. Aber warum sollte mein Geburtstag auch anders enden?

Eigentlich war es ein toller Abend gewesen. Bis zu dem Moment, als ich meinen Hausschlüssel nicht finden konnte. Und um ein Uhr morgens im kalten Februarregen vor verschlossener Tür stand. Wenigstens fiel kein Schnee.

Normalerweise hätte mir Maddie geholfen, aber sie war zu ihrem neuen Freund gefahren. Ich hätte einen meiner Brüder anrufen sollen. Aber nein, das tat ich nicht. Ich hatte nämlich eine bessere Idee.

An dieser Stelle müsste ich wohl erwähnen, dass Ideen, die einem nach dem Konsum alkoholischer Getränke einfallen, meistens unbrauchbar sind. Meine jetzige Situation war ein weiterer Beweis. Ich hatte ernsthaft geglaubt, ich könnte durch das Badezimmerfenster, das ich versehentlich offen gelassen hatte, in meine Wohnung im Erdgeschoss klettern. Ich hatte das offene Fenster als einen Wink des Schicksals gedeutet. Leider hatte es nicht so funktioniert, wie ich es mir vorgestellt hatte. Im Grunde hätte es nicht schlimmer kommen können.

«Rühren Sie sich nicht vom Fleck», sagte eine tiefe Stimme hinter mir. Der Sprecher (wer immer eswar) musste sich ziemlich dicht bei meinem Hintern befinden. Von dort aus hatte er die Cellulitis auf meinen Oberschenkeln perfekt im Blick. Ich hatte mich getäuscht, was das Schlimmerwerden betraf.

«Alles in O-ordnung. Sie können gehen. Das hier ist ein b-bisschen peinlich», brachte ich mit klappernden Zähnen heraus. Sofort bemerkte ich den Fehler: Ich brauchte Hilfe, egal wie demütigend das war. Hoffentlich war es kein Einbrecher und − o Gott − kein Fotograf! «Ehrlich gesagt könnte ich vielleicht doch Ihre Hilfe brauchen. Sie haben keine Kamera dabei, oder?»

«Einbruch ist ein Kriminaldelikt. Sie haben sich das falsche Fenster ausgesucht. Ich bin nicht nur Polizist, ich wohne auch in diesem Gebäude. Sie werden jetzt da herauskommen, damit ich Ihnen Ihre Rechte verlesen und Sie aufs Präsidium bringen kann.» Er klang genervt. So als hätte ich ihm den Abend verdorben.

«Glauben Sie nicht, ich würde rauskommen, wenn ich könnte? Oder meinen Sie, es gefällt mir, wenn mir fremde Männer unter den Rock gucken? Außerdem breche ich hier nicht ein, ich wohne hier.» Polizist also? Ich war ziemlich sicher, dass ich alle Hausbewohner kannte und dass darunter keine Polizisten waren.

«Ma’am, Sie müssen da jetzt rauskommen. Ich will keine Gewalt anwenden.»

«Bitte wenden Sie Gewalt an.»

«Ich zähle bis drei. So lange haben Sie Zeit, aus diesem Fenster zu steigen.»

«Warten Sie! Ich kann Ihnen beweisen, wer ich bin, wenn Sie mich hier rausholen. Mein Ausweis ist in meiner Handtasche!» Vermutlich klang ich sehr verzweifelt. Es war mir egal.

Er seufzte. Welcher Mann seufzt? «Wo ist Ihre Handtasche?»

«Drinnen. Ich hab sie durchs Fenster ins Bad fallen lassen, bevor ich versucht hab reinzuklettern.»

«Warum brechen Sie in Ihre eigene Wohnung ein?»

War dieser Typ völlig bescheuert? «Weil ich meinen Schlüssel verloren habe.» Ich sprach sehr langsam und deutlich.

Nun hörte ich Schritte und ein Klicken. Sein Körper streifte mich, dann fiel der helle Lichtstrahl einer Taschenlampe in mein Sichtfeld. Vielleicht war er tatsächlich ein Bulle? Ich drehte den Kopf, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, aber ich konnte nicht weit genug sehen. Ich musste wirklich dringend pinkeln.

«Ich sehe da keine Handtasche. Sie müssen mir Ihren Ausweis zeigen, wenn ich Sie raushole.»

«Ja, klar. Dann will ich aber auch Ihren sehen, Officer.»

Noch ein Klicken, dann war alles wieder dunkel. Ich spürte warme Hände auf meinen Oberschenkeln. Unter anderen Umständen hätte ich dieses Gefühl vielleicht genossen, aber nicht jetzt, obwohl tatsächlich ein Kribbeln durch meinen Körper fuhr. «Passen Sie auf, wo Sie hinfassen, Mann.»

«Wollen Sie nun raus oder nicht?»

«Ja, bitte.» Niemand würde je hiervon erfahren. Niemals.

Er zog und zerrte und rüttelte, und der Griff um meine Oberschenkel wurde mit jeder Bewegung fester. Schließlich stellte er sich direkt hinter mich, packte mich an den Hüften und zog wieder. Dies war eine ganz neue Art der Demütigung. Ich wusste, dass mein Gesicht feuerrot war, ebenso wie alle anderen Körperteile. Wenigstens war es dunkel.

Abrupt ließ mich der Polizist los. «Das ist echt ein kleines Fenster. Wie sind Sie nur auf die Idee gekommen, Sie könnten da durchpassen?»

Sollte das ein Witz über meinen großen Hintern sein? «Ein Margarita zu viel», witzelte ich und versuchte meine Nervosität zu überdecken.

«Ach, Sie haben getrunken.» Die Missbilligung war ihm deutlich anzuhören.

«Ich habe meinen Geburtstag gefeiert. Da trinkt man schon mal einen Schluck. Das ist ja wohl kein Verbrechen. Holen Sie mich einfach hier raus. Es ist eiskalt, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist.»

«Das geht nicht so einfach. Ich glaube, ich muss Hilfe holen. Wir müssen wohl die Fensterverankerung lösen, damit wir genug Spiel haben.»

«Nein! Tun Sie das nicht!» Ich glaube, ich habe gewimmert. Die Vorstellung, dass noch mehr Leute diesem Schauspiel beiwohnen würden, hätte wahrscheinlich jede Frau zum Winseln gebracht.

Auf keinen Fall wollte ich riskieren, dass meine Nachbarn nach draußen gerannt kamen, um zu sehen, was der Aufruhr sollte. Dann müsste ich mir eine neue Bleibe suchen. In einem anderen Bundesstaat. «Versuchen Sie’s einfach noch mal.»

«Ich krieg Sie da so nicht raus. Ich rufe jetzt Verstärkung.»

«Nein! Ich hab eine Idee.» Hoffentlich war ich inzwischen nüchterner. «Würden Sie vorher noch etwas anderes versuchen?», bat ich.

Der Mann zögerte. Ich hörte ihn atmen. Vermutlich wollte er das Ganze endlich hinter sich haben. Genau wie ich.

«Sie wohnen auch hier im Haus?» Hoffentlich hatte er nicht gelogen.

«Ja.»

«Dann haben Sie einen Schlüssel für die Haustür, oder?»

«So funktioniert das normalerweise, wenn man in einem Gebäude wohnt.» Wie schön: Er konnte nicht nur meinen Slip sehen, er wurde auch noch sarkastisch.

«Unter dem Blumentopf neben meiner Wohnungstür liegt ein Ersatzschlüssel. Vielleicht können Sie mich von drinnen reinziehen, wenn Sie in meine Wohnung gehen.»

«Sie haben vor der Tür einen Schlüssel versteckt? Das ist aber ziemlich gefährlich.»

«Jetzt gerade bin ich ganz froh, dass er da liegt», knurrte ich. Ups, falsche Taktik. Ich wollte den Typen ja nicht vertreiben. «Ich meine, Sie haben natürlich recht. Ich verspreche, ich werde ihn da nicht mehr hinlegen, wenn Sie mir nur helfen.»

«Wie Sie wollen, Lady. Versuchen wir’s auf Ihre Weise. Wenn das nicht funktioniert, hole ich Hilfe.» Im Weggehen hörte ich ihn murmeln: «Warum muss ich immer den Verrückten begegnen?»

Danke gleichfalls.

Ich wartete eine Ewigkeit, aber das hatte wahrscheinlich mehr mit meiner unbequemen Lage zu tun als mit der Zeit, die tatsächlich verstrich. Als das Badezimmerlicht endlich aufflackerte, zuckte ich zusammen. Das Fenster war über der Badewanne, und ich sah nichts außer dem billigen weißen Duschvorhang, den ich vor einem Jahr gekauft hatte. Es wurde Zeit, ihn zu ersetzen, er war ein bisschen schmuddelig.

«Sind Sie noch da?» Er hatte eine tolle Stimme. Tief und wohlklingend. Und ich musste immer noch pinkeln.

«Wo sollte ich denn hin?»

Der Vorhang wurde zurückgezogen. Ich schnappte nach Luft, was gar nicht so einfach war. Der Fremde trug eine Uniform, also hatte er wohl die Wahrheit gesagt. Hut ab! Die schwarzen Haare waren militärisch kurz, und seine Augen waren grün, in einem Ton, den ich noch nie gesehen hatte. Nicht direkt einem Groschenroman entsprungen, aber ich würde ihn nicht von der Bettkante stoßen. Falls er je in meinem Bett landen sollte. In Anbetracht des vergangenen Jahres war das nicht besonders wahrscheinlich.

Auch er ließ den Blick wandern, und ich fragte mich natürlich, was er sah. Aber wahrscheinlich war es besser, das gar nicht zu wissen.

«Also gut, bringen wir es hinter uns. Wie heißen Sie eigentlich?»

«Elizabeth.»

«Hallo, Elizabeth. Ich bin Nate Sutherland.» Während er sprach, griff er nach meiner Handtasche und öffnete sie.

«He, was machen Sie da?»

«Ich will nur sichergehen, dass Sie wirklich die sind, die Sie behaupten zu sein.»

«Können Sie mich nicht erst mal befreien?»

«Nein.»

Idiot. Blöder, attraktiver Idiot.

«Ich muss aber mal.»

«Dann hätten Sie nicht so viel trinken sollen.»

Ich schaute zu, wie er mein Portemonnaie öffnete und den Führerschein studierte. Dann sah er mich an. «Das musste sein, tut mir leid, Elizabeth.» Er ließ die Handtasche fallen.

Mit einem Bein in der Badewanne packte Nate mich unter den Armen. Direkt in den Achselhöhlen. Hoffentlich wirkte mein Deo noch. Wow, er roch echt gut. Irgendwie nach Holz und nach Mann. Ich musste ihn fragen, welches Eau de Cologne er benutzte.

«Bereit?»

«Und wie.»

«Ich werde Sie jetzt rausziehen.» Nate verstärkte seinen Griff und zerrte an mir. Weil ich mich kaum von der Stelle rührte, zog er noch mal wesentlich kräftiger. Ich rutschte nach vorn. Reflexartig schlang ich die Arme um seinen Hals. Er legte die Hände um meine Taille und versuchte es noch einmal langsamer. Dieser Typ war ganz schön stark. Immerhin trug er den Großteil meines Gewichts mit den Armen, und dabei hielt er sich noch aufrecht. Ich mochte es, wenn ein Mann so stark war.

«Ich trete jetzt einen Schritt zurück und ziehe Sie dann ganz rau–» Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, gab mein Rock den Kampf auf. Das Stück Stoff, das festgehangen hatte, gab endlich nach. Ich fiel auf Nate, er stolperte nach hinten, und im Nu war ich frei. Frei!

Außerdem lag ich auf einem ziemlich attraktiven Typen, der mich auch noch umarmte. Leider schien ihm das nicht besonders zu gefallen. Schade.

Rasch rappelte ich mich auf und zog meinen Rock zurecht, so gut es ging. Es machte mich traurig, dass er kaputt war, denn er war das Ergebnis einer achtstündigen Shoppingtour gewesen. Und ich hasste Shopping.

Ich schlang meine Arme um den Körper und rieb die Oberarme, um warm zu werden. «Können Sie mich kurz allein lassen?»

Nate runzelte die Stirn, doch zum Glück widersprach er nicht. Er verließ das Bad und schloss die Tür.

Nach dem dringenden Geschäft warf ich einen Blick in den Spiegel. Grauenvoll war gar kein Ausdruck! Dem Gesicht half Wasser ein wenig, aber meine Haare verwandelten sich durchs Bürsten in ein Nest. Wenigstens klebten sie nicht mehr regennass am Kopf.

Weil ich den Totalschaden von einem Rock ausziehen musste, wickelte ich mich in den Bademantel. Nun galt es, die Suppe auszulöffeln, die ich mir eingebrockt hatte.

Vor dem Bad lehnte Nate mit ausgestreckten Beinen an der Wand. Schweigend reichte er mir den Ersatzschlüssel.

«Vielen Dank. Für Ihre Hilfe und so. Wann sind Sie eigentlich eingezogen?»

«Gestern. Ich wohne gleich nebenan.»

Oh, das waren doch mal gute Nachrichten. Vielleicht wendete sich endlich das Blatt.

Er ging zur Wohnungstür. «Ich muss keine Meldung machen. Meine Schicht war schon zu Ende, als ich Sie aus dem Fenster hängen sah.»

«Oh, gut.» Es gäbe also keine schriftlichen Beweise dafür, dass diese Nacht je stattgefunden hatte. Das gefiel mir.

Schon im Hausflur sagte er: «Bewahren Sie Ihren Schlüssel nicht draußen auf – das ist wirklich gefährlich.»

Ich nickte. «Tut mir leid, dass ich –»

Ein kleines Lächeln und ein Nicken unterbrachen mich. «So was passiert eben. Passen Sie in Zukunft besser auf.»

Ich nickte wieder und zog den Gürtel meines Bademantels enger.

«Gute Nacht, Elizabeth. Und alles Gute zum Geburtstag.»

Nachdem er in seiner Wohnung verschwunden war, stand ich noch fünf Minuten einfach nur da. Nate. Hätte ich ihn bloß unter anderen Umständen kennengelernt.

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3

Beim Aufwachen hatte ich eine pelzige Zunge. Ich wälzte mich herum und schielte auf den Wecker. Die blauen Leuchtziffern zeigten 8.30 Uhr. Früher, als ich geplant hatte aufzustehen, aber jetzt konnte ich garantiert nicht mehr schlafen. Je älter ich wurde, desto schwieriger wurde das Ausschlafen. Sogar an Samstagen.

Ich griff nach der Wasserflasche auf dem Nachttisch und nahm einen tiefen Zug. Besser. Ich war ein bisschen benebelt, aber angesichts des vergangenen Abends war das nicht allzu schlimm. Ganz im Gegensatz zur unfassbar peinlichen Begegnung mit dem neuen Nachbarn.

«Nicht drüber nachdenken.» Ich schwang die Füße aus dem Bett und streckte mich. Meine Muskeln waren ein bisschen verkrampft, vermutlich vom Festklemmen im Fenster, aber eine heiße Dusche würde die Knoten schon lösen. Wie ich diesen Tag verbringen wollte, wusste ich noch nicht genau. Ich könnte eine der Knüpfarbeiten fertig stellen, die ich vor Monaten angefangen hatte, oder ein paar Kisten auspacken oder sogar Bummeln gehen, um einen Ersatz für den Rock zu suchen. Ja, mein Leben war schon aufregend.

Erst unter der Dusche, als ich das Shampoo mit dem Apfelduft aus den Haaren spülte, fiel mir wieder ein, dass Marc heute heiratete. Es durchfuhr mich wie ein Messerstich, und die Luft schien auf einmal so dick zu werden, dass ich kaum atmen konnte. Wäre es mir bloß nicht wieder eingefallen. Ich schloss die Augen und lehnte mich an die Wand. Heute würde der Mann, von dem ich dachte, ich würde den Rest meines Lebens mit ihm verbringen, eine andere Frau heiraten und geloben, sie für den Rest ihres Lebens zu lieben und zu ehren.

Überraschenderweise weinte ich nicht. Ich hatte das Gefühl, ich sollte weinen, denn wenn es so weh tat, wieso brach ich dann nicht in Tränen aus? Vielleicht hatte ich mich auch schon leer geweint. Besaß ein Mensch nur einen begrenzten Vorrat an Tränen? Keine Ahnung, aber eigentlich spielte das auch keine Rolle. Ich konnte kaum glauben, dass die Hochzeit beim Aufwachen nicht gleich mein erster Gedanke gewesen war. Aber vielleicht war das ja ein gutes Zeichen?

Ich griff nach der Pflegespülung. Während ich sie in den Händen verteilte, versuchte ich, an etwas anderes zu denken. Egal was. Da tauchte Nates Gesicht vor meinem geistigen Auge auf, und plötzlich kam mir eine Idee: Wie wäre es, wenn ich ihm einen Kuchen backen würde – als Dankeschön und um ihn als Nachbarn willkommen zu heißen? Auf diese Weise könnte ich ganz nebenbei den schlechten Eindruck ausgleichen, den ich auf ihn gemacht hatte. Es konnte jedenfalls nicht schaden, und ich hatte etwas zu tun. Die Idee gefiel mir immer besser. Ich atmete auf, und meine Schultern lockerten sich. Ich beschloss, die Sache anzugehen.

Eine halbe Stunde später, in Jeans und einem gelben Sweatshirt, die Haare zurückgebunden, legte ich ABBA auf und ging in die Küche. Heute war zwar Marcs Hochzeitstag, aber musste ich deswegen Trübsal blasen? Ich hatte es schließlich selbst in der Hand, den Tag zu gestalten.

Ich beschloss, dass es ein guter Tag werden sollte. Und gleich fühlte ich mich besser. Ich suchte die Zutaten für Bananen-Nuss-Muffins zusammen und sang dabei Take a Chance on Me. Ich liebte Backen. Es war von Anfang bis Ende ein kontrollierbarer Vorgang, und ich stellte gern etwas Essbares her, das anderen Leuten Freude machte.

Die winzige Küche ließ sich natürlich nicht mit der Backstube in unserer Konditoreivergleichen, aber sie reichte aus. Allerdings konnte sie einen neuen Anstrich vertragen. Vielleicht eine richtige Farbe statt des Standard-Eierschalentons. Beim Einzug hatte ich fest vorgehabt, sie zu streichen, aber bisher war ich nicht dazu gekommen.

Ich zerdrückte Bananen in einer Schüssel und meine Gedanken wanderten zum vergangenen Abend. Bis ich meinen Schlüssel verloren hatte (der übrigens die ganze Zeit in meiner Jackentasche gewesen war), war mein Geburtstag durchaus akzeptabel verlaufen. Karaoke war immer ein Spaß, und ich hatte Maddies neuen Freund kennengelernt. Ich hatte das Gefühl, dass sie ihn eine Weile behalten wollte. Sie hatte diesen Blick.

Wenigstens ein Mal wäre ich gern selbst das Objekt der schmachtenden Blicke eines sexy Mannes. Maddie mochte daran gewöhnt sein, ich war es ganz sicher nicht. Schmachtende Blicke von diesem attraktiven Polizisten zum Beispiel. «Bin ich dein Typ, Nate?», murmelte ich und zerkleinerte Walnüsse für den Teig. «Ich wäre es gerne. Zu gern würde ich deine grünen Augen sehen, voller Verlangen nach mir.»

Seltsam, dass ausgerechnet dieser Mann mein Blut so in Wallung brachte, wo ich ihn doch unter denkbar ungünstigen Umständen kennengelernt hatte. Nach dem Jahr, das hinter mir lag, war es seltsam genug, dass ich mich überhaupt wieder für einen Mann interessierte. Aber da war etwas an seinem Lächeln, an seinen Augen. Außerdem konnte es nicht schaden, dass er direkt nebenan wohnte – und noch dazu ein Cop war. Ein Mann in Uniform. Musste ich noch mehr sagen?

Die Zutaten vermischte ich mit einem großen Holzlöffel. Ich bevorzugte die Muffins ein bisschen fester, deshalb bereitete ich den Teig meistens von Hand zu.

Ich suchte in meiner Erinnerung nach der letzten Gelegenheit, bei der ich mich als etwas Besonderes gefühlt hatte. Sexy. Atemberaubend. Schön. Mir fiel nicht ein einziger Moment ein. Wie traurig!

Das musste ich dringend ändern. Ich war geschieden und nicht tot. Was man gemeinhin über Frauen Mitte dreißig sagt − nun, auf mich traf es zu. Ich befand mich auf dem Höhepunkt meiner Sexualität und hatte niemanden, mit dem ich den Höhepunkt erleben konnte (buchstäblich und im übertragenen Sinne). Eine ziemlich frustrierende Situation. Unbedingt zu vermeiden. Sonst hatte man bald eine Schublade voller Spielsachen namens «Bunny Rocket» (übrigens mein Favorit), «Paradies Pur» (hält nicht wirklich, was der Name verspricht) und «Velvet Touch» (kein Kommentar). Nicht zu vergessen «Sinnliches Licht», bei dem ungelogen farbige Lichter mit Stroboskopeffekt den Schaft auf und ab wanderten. Nicht gerade eine Anschaffung, auf die ich besonders stolz war. Aber was sollte man machen? Zum Glück gab es das Internet und die unauffälligen braunen Versandpäckchen. Und zum Glück gab es Maddie, die mir eines Abends nach mehreren Drinks ihre Spielsachen gezeigt hatte. Stundenlang amüsierten wir uns über die Namen, Farben und Extras. Natürlich konnte ich nicht zulassen, dass mich meine beste Freundin überbot, deshalb besaß ich inzwischen eine eigene Kollektion.

Viel lieber wollte ich aber einen Mann. Einen vollständigen, auf zwei Beinen laufenden, absolut männlichen Mann. Und aus irgendeinem Grund ging mir der Polizist nicht mehr aus dem Sinn.

Ich hielt inne. Reagierte ich über? Vielleicht, aber Fröhlichsein tat so gut, dass ich beschloss, es einfach zuzulassen. Schließlich hatte Grandma Verda auch gesagt, ich solle Spaß im Leben haben.

Ich wandte mich wieder dem Teig zu und rührte die gehackten Nüsse langsam unter die Bananenmischung. Bei der Vorstellung von Nate in meinem Bett wurde mir ganz heiß. Oder von mir in seinem Bett. Die genauen Umstände waren nicht so wichtig. Wahrscheinlich führte es zu nichts, ausgerechnet von einem Mann zu träumen, der meinen Hintern in denkbar ungünstiger Position gesehen hatte. Ich konnte trotzdem nicht anders.

Vielleicht sollte ich es mit ihm versuchen. Warum eigentlich nicht? Ich wollte ein neues Leben. Ich wollte mich weiterentwickeln. Ich wollte eine neue Zukunft. Und ich war schon dabei, dem Kerl Muffins zu backen. Unter dem Vorwand eines Dankeschöns natürlich, aber das war eine ziemlich lahme Ausrede. So viel war mir schon klar. Aber konnte ich mit ihm flirten? Wusste ich überhaupt, wie man flirtete? Ich wollte einfach, dass was passierte. Und ich wollte, dass er dafür sorgte. Träum weiter, Lizzie. Ohne gestern Abend wäre es vielleicht nicht ganz unmöglich gewesen.

«Nate, du sollst mich als die Frau sehen, die ich bin. Ich will, dass du mich begehrst. Ich will, dass du mich willst.» Flüsternd sprach ich meine Gedanken aus und rührte dabei weiter im Teig.

Plötzlich überlief mich ein gewaltiges Schaudern. Es begann bei den Füßen, kroch aufwärts bis zur Kopfhaut und dann an den Armen wieder runter und in die Hände. Ein Funke wanderte von meiner Hand über den Löffel in den Teig. Dort verwandelte sich der Funke in ein sanftes Leuchten, das ich sogar hören konnte. Es knisterte, summte und zischte in den Ohren.

«Das darf doch nicht wahr sein!» Vor Schreck ließ ich den Löffel fallen. Ich trat einen Schritt zurück und schnappte nach Luft. Meine Arme zitterten, die Knie waren butterweich, und mein Herz klopfte. Es war wie beim Rührgerät in der Konditorei. Außer dass der Holzlöffel nichts mit Elektrizität zu tun hatte.