Schöne Sauerei - Arne Blum - E-Book

Schöne Sauerei E-Book

Arne Blum

5,0

Beschreibung

Kim weiß nicht mehr, wo ihr der Rüssel steht. Mit ihrem Verehrer Lunke, einem Wildschwein aus dem angrenzenden Wald, wird sie Zeugin eines Mordes. Den Zweibeinern kann sie ihr Wissen nicht mitteilen, und so richtet sie in ihrer Ratlosigkeit ein heilloses Chaos an. Als auch noch der Schweinehirt umgebracht wird, bleibt der Trog fortan leer, und die Schweine müssen nicht nur unschöne Sauereien aufdecken, sondern auch Mundraub begehen. Zu allem Überfluss taucht eine erbitterte Rivalin um Lunkes Gunst auf. Und das ausgerechnet in der Rauschzeit ...

Ein Fall für die Saubande - Hausschwein Kim und Keiler Lunke sind zurück!

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Über Arne Blum

Arne Blum ist seit Jahren in der Verlagsbranche tätig und schreibt erfolgreiche Kriminalromane. Seine Schweinekrimireihe um die kluge Ermittlerin Kim mit der unfehlbaren Spürnase machte ihn nicht nur zu einem bekennenden Freund aller Schweine, sondern veranlasste ihn auch, ein Pseudonym für diese andere Seite in seinem kreativen Schaffen zu wählen.

Informationen zum Buch

Kim weiß nicht mehr, wo ihr der Rüssel steht. Mit ihrem Verehrer Lunke, einem Wildschwein aus dem angrenzenden Wald, wird sie Zeugin eines Mordes. Den Zweibeinern kann sie ihr Wissen nicht mitteilen, und so richtet sie in ihrer Ratlosigkeit ein heilloses Chaos an. Als auch noch der Schweinehirt umgebracht wird, bleibt der Trog fortan leer, und die Schweine müssen nicht nur unschöne Sauereien aufdecken, sondern auch Mundraub begehen. Zu allem Überfluss taucht eine erbitterte Rivalin um Lunkes Gunst auf – und das ausgerechnet in der Rauschzeit.

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Arne Blum

Schöne Sauerei

Ein Schweinekrimi

Inhaltsübersicht

Über Arne Blum

Informationen zum Buch

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Die Schweine

Die Menschen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Epilog

Kleines Schweine-ABC

Impressum

»Ich weiß von keinem anderen Tier, das ausdauernder neugierig wäre und darauf aus, mehr aus neuen Erfahrungen zu machen, und keines, das bereiter wäre, der Welt mit offenmäuligem Enthusiasmus zu begegnen. Schweine sind rettungslos optimistisch, und allein ihr Dasein gibt ihnen den gewissen Kick.«

LYALL WATSON, THE WHOLE PIG

(ZITIERT NACH: KARL LUDWIG SCHWEISFURTH, TIERISCH GUT. VOM ESSEN UND GEGESSENWERDEN, FRANKFURT A. M. 2010)

»Manche Schweine haben zwei Beine und machen Geschäfte.

Andere haben vier Beine und werden geschlachtet.«

EIN UNBEKANNTER MÜNCHENER TAXIFAHRER

Die Schweine

Kim  – Deutsche Landrasse, hat die Neigung, Schwierigkeiten zu wittern, tummelt sich gerne im Wald bei den wilden Schwarzen, verabscheut Fleischfresser, ist erstaunt über sich selbst, dass sie immer wieder in Schwierigkeiten gerät.

Che  – Husumer Protestschwein, träumt von der großen Revolution der Schweine, hat insgeheim Angst vor starken Sauen, verabscheut die wilden Schwarzen.

Brunst – Deutsches Sattelschwein, träumt unaufhörlich vom Fressen, verabscheut es, nachzudenken und sich zu bewegen.

Doktor Pik  – Deutsche Landrasse, der Methusalem unter den Schweinen, hat schon alles gesehen und ist im Zirkus aufgetreten, berühmt für seinen legendären Kartentrick, liebt es, den Wolken nachzublicken, verabscheut jede Form von Schwierigkeiten.

Cecile – Minischwein, wurde aus dem Fenster einer Zoohandlung gerettet, liebt es, zu reden und den anderen nachzulaufen, ist überaus neugierig und ohne jeden Sinn für Gefahren, hasst es, nicht ernst genommen zu werden.

Sus Scrofa – angeblich ein Gottschwein. Niemand weiß aber, ob es existiert.

Lunke  – eigentlich Halunke, gehört zu den wilden Schwarzen, liebt es, große Reden zu schwingen und allein durch den Wald zu streifen, behauptet, vor nichts und niemandem Angst zu haben, hält sich auch für sexuell attraktiv; ist in Kim verliebt.

Michelle – eine wilde Schwarze, offenbar in Lunke verliebt.

Rocky – ein wilder Schwarzer, der immer im falschen Moment auftaucht.

Eine Rotte wilder Schwarzer

Die Menschen

Dörthe – Lebenskünstlerin, Schauspielerin, eingefleischte Vegetarierin, verliebt sich zu oft und zu gerne, ist schwanger, ohne genau zu wissen, von wem; hat den Hof von ihrem früheren Geliebten Robert Munk, einem berühmten Maler, überlassen bekommen.

Jan  – Schauspieler mit schwieriger Kindheit, glaubt an seine Chance auf eine große Karriere; ist leider zur falschen Zeit am falschen Ort.

James – Musiker, blond und sehr charmant, mag Dörthe, nimmt es leider mit der Wahrheit nicht so genau.

Sabeth – schöne blonde Frau, Freundin von Jan; mag offensichtlich keine Schweine.

Deng  – Chinese, wurde widriger Umstände wegen Schweinehirt bei Dörthe; möchte seinem großen Vorbild Konfuzius nacheifern und ein philosophisches Buch schreiben, um seine große Liebe zurückzugewinnen.

Husemann – Pfarrer, liebt es, überall seine Kreuzzeichen in die Luft zu malen.

Marten  – Makler, liebt es, üble, aber lohnende Geschäfte zu machen.

Melker  – Detektiv, kennt nicht Freund oder Feind, sondern nur Partner, mit denen man Geschäfte machen kann.

Kotter – Gehilfe von Melker, versteht was vom Feuermachen; hasst Schweine.

Marcia Pölk – Hauptkommissarin, muss die schlechte Laune ihres Kollegen David Bauer ertragen.

David Bauer  – Hauptkommissar mit langen Haaren und dunkler Haut, arrogant, glaubt, dass er jeden Fall aufklären kann; irrt sich manchmal; insgeheim in Marcia Pölk verliebt.

Max Windeck  – Tierarzt mit der Figur eines Boxers; rettet die Schweine und Dörthe.

1

»Da kannst du sehen, zu was die Menschen fähig sind«, grunzte Che.

Sie standen am Zaun und blickten auf den Hof hinüber. Kim war schlechter Stimmung. Sie fühlte eine unbestimmte Sehnsucht – der Sommer ging allmählich zu Ende, und irgendwie machte sie dieses Gefühl traurig. Außerdem hatte sie Liebeskummer, nein, Liebeskummer war das völlig falsche Wort; sie war auch nicht eifersüchtig oder gereizt, nur weil dieser … Ach nein, sie wollte gar nicht darüber nachdenken, in welcher Stimmung sie war.

»Was machen die Menschen da?«, quiekte Cecile, das Minischwein, nachdem sie sich neugierig neben Kim geschoben hatte. Wie immer, wenn sie aufgeregt war, wedelte ihr Schwänzchen auf und ab.

Kim antwortete nicht. Sie wusste selbst nicht genau, was die Menschen da trieben.

Am Morgen waren eine Menge Leute auf den Hof gekommen, die meisten hatten sich seltsam angezogen, nicht wie sonst mit Hemd und Hose. Einige Frauen trugen lange Gewänder, etliche Männer hatten Stöcke in den Händen und merkwürdige glänzende Gebilde auf dem Kopf, und einer mit langen braunen Haaren hatte sich ganz ausgezogen und trug lediglich ein weißes Tuch.

»Sie bringen einen von sich um«, knurrte Che. »Das sieht man doch!«

»Wirklich?«, kreischte Cecile. »Den Mann mit den langen Haaren?«

Che nickte. »Auf den haben sie es abgesehen – so sind die Menschen. Sie können es nicht ertragen, in Frieden zu leben, deshalb ist es auch an der Zeit, dass wir uns endlich aufraffen, uns gegen die Menschen zu solidarisieren, zu kämpfen und ihnen …«

»Ja, schon gut, Che«, unterbrach Kim ihn. »Wir wissen Bescheid.« Wie lange ertrug sie dieses Gerede von Krieg und Revolution nun schon? Eigentlich wusste sie es genau: von dem Moment an, als Dörthe sie gerettet und auf ihren Hof gebracht hatte. Aber Che war ein Husumer Protestschwein, er musste unentwegt das große Wort führen.

Sie spielen, wollte Kim sagen, Menschen macht es Spaß, sich zu verkleiden und irgendetwas aufzusagen, aber dann sah und hörte sie, wie der nackte Mann mit den langen Haaren schrie und wie einer der Männer mit den glänzenden Gebilden auf dem Kopf ihm seinen Stock in die Seite stieß. Und dann … Kim konnte vor Aufregung kaum atmen, während sie die Augen zusammenkniff, um alles genau zu beobachten. Drei Männer banden den Langhaarigen an ein Holzkreuz, ein vierter drückte ihm etwas ins Haar, ein Geflecht aus Stacheldraht, den Kim von den Zäunen kannte. Der Langhaarige schrie immer lauter. Eine der Frauen fing an zu weinen, aber sie griff nicht ein, versuchte nicht, ihm zu helfen. Die anderen Männer stellten sich um das Kreuz auf und begannen wild zu rufen.

Plötzlich verstand Kim auch, was sie schrien, dunkel und hässlich: »Tötet ihn! Schlagt ihn ans Kreuz, den falschen König! Kreuzigt ihn!«

Verdammt, Che hatte recht – vor ihren Augen wurde ein Menschen getötet. Das war schon einmal passiert. Nachts war Munk, der berühmte Maler, direkt vor ihrem Stall ermordet worden, doch das war heimlich geschehen. Dieses Mal taten die Menschen es vor aller Augen.

Wie konnte Dörthe so etwas zulassen? Dörthe war ihre Herrin und Beschützerin, ihr gehörte der Hof; sie aß nie Fleisch und war die Freundlichkeit in Person, wie selbst Che zugeben musste.

Der langhaarige Mann schrie noch lauter. Er warf den Kopf hin und her, doch er konnte den Stacheldraht nicht abschütteln.

»Was soll der Unsinn?« Brunst, das fetteste Schwein auf ihrer Wiese, trabte vorbei und bedachte das Geschehen auf dem Hof mit einem flüchtigen Blick. »Die machen mich mit ihrer Schreierei ganz nervös.« Er kaute auf einem Kohlkopf herum; wenn die anderen Schweine längst satt waren, musste er immer weiterfressen.

Die vier Männer zogen den Langhaarigen in die Höhe. Er hing an dem Kreuz und bewegte sich nicht mehr. Mit leerem Blick starrte er vor sich hin und beachtete nicht einmal eine Frau in einem weißen Gewand, die neben den Männern schluchzend auf die Knie gefallen war.

Warum half dem Mann denn keiner? Wehrlos, nur mit seinem winzigen Tuch bekleidet hing er da. Wo blieb Dörthe? So etwas konnte sie auf ihrem Hof nicht zulassen.

Kim begann laut zu grunzen, aber niemand hörte sie in dem Tumult. Wieder begannen die anderen Männer zu brüllen. »Kreuzigt ihn! Kreuzigt ihn!«

Noch einmal stach ein Mann mit seinem Stock zu. Die anderen Männer applaudierten. Dann hob der nackte Mann am Kreuz unvermittelt den Kopf. Er sagte etwas, das Kim nicht verstehen konnte, ein paar geflüsterte Worte. Einen Moment später, als hätten diese Worte seine ganze Kraft gekostet, sank ihm der Kopf auf die Brust.

»Machen die den Mann wirklich tot?«, fragte Cecile mit ihrer nervigen Piepsstimme.

Auch Doktor Pik hatte sich mittlerweile zu ihnen gesellt. Er war das älteste der fünf Schweine des Hofes. Für gewöhnlich konnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, doch nun wirkte auch er aufgeregt.

»In meinem Wanderzirkus«, meinte er, »da hat es einen Mann gegeben, der hat mit Messern auf andere Menschen geworfen, große scharfe Messer, aber er hat sie nie getroffen. Wahrscheinlich weil er es nicht wollte. Ich bin ihm immer aus dem Weg gegangen.«

»Ist mir eigentlich egal, ob die Menschen sich gegenseitig umbringen«, rief Che und wandte sich grummelnd ab. Er brachte nie viel Geduld für eine Sache auf.

Der Mann am Kreuz starb tatsächlich. Er hatte inzwischen die Augen geschlossen und rührte sich nicht mehr. Kim konnte es nicht fassen. So schnell konnte ein Mensch sterben! Ihr drehte sich der Magen um. Sie sollte sich abwenden, sagte sie sich, zurück in den Stall laufen und ein wenig Stroh zusammenkratzen. Aber sie konnte nicht  – diese verdammte Neugier hatte sie im Griff.

Mittlerweile war es totenstill geworden; einzig die Frau in dem weißen Gewand schluchzte noch, doch leiser, unauffälliger, während die anderen Männer und Frauen, so viele, dass Kim sie gar nicht zählen konnte, wie gebannt auf den Nackten am Kreuz starrten.

Unvermittelt erklang Musik, ein Donner ertönte. Kim schrak zusammen. Was war das? Sie quiekte vor Schrecken auf.

Plötzlich löste sich Dörthe aus der Menge, sie war nicht verkleidet; ihr roter Haarschopf leuchtete zu Kim herüber. Seltsamerweise war sie kein bisschen entsetzt. Sie weinte auch nicht, sondern klatschte in die Hände. Ihr Bauch war ein kleiner Ballon; man sah ihr an, dass sie bald ein Kind bekommen würde.

»Großartig, Leute!«, rief sie. »So machen wir es am Sonntag! Da wird die Gemeinde staunen.« An den Männern mit den seltsamen Kopfbedeckungen vorbei ging sie zu dem Kreuz und klopfte an das Holz. »Reife Leistung, Jan! Gut gemacht!«

Der Mann am Kreuz schlug die Augen auf und lächelte. »Wenn du das sagst, Dörthe. Bist eine tolle Lehrerin!«

Kim brauchte einen Moment, um zu verstehen. Es war tatsächlich ein Spiel – die Menschen spielten, einen anderen ans Kreuz zu binden, und ausgerechnet Dörthe war die Leiterin dieses Spiels.

Na großartig, sie hatte für nichts und wieder nichts einen Heidenschrecken bekommen. Kim schnaufte empört, doch wieder einmal bekam es niemand mit, nicht einmal Doktor Pik, der sich bereits wieder zu den anderen gesellt hatte.

Missmutig machte Kim kehrt. Gut, es war auch ihr Fehler gewesen. Sie interessierte sich einfach zu sehr für die Angelegenheiten der Menschen, da hatte Che vielleicht gar nicht so unrecht.

»Kim!«, hörte sie auf einmal eine sehr vertraute Stimme. »Kim, wir müssen reden!«

Als sie sich zur anderen Seite der Wiese umwandte, sah sie seinen mächtigen Schatten im Abendlicht. Lunke, der wilde Schwarze – er stand da und grinste sie an. »Am besten sofort!«

2

»Merk dir das!«, hatte ihre Mutter, die fette Paula, ihr stets gesagt. »Wir werden geschlachtet. Das ist unser Schicksal, nichts anderes!«

Kim hatte ihre Mutter geliebt, noch immer sehnte sie sich gelegentlich nach ihr, nach dem Gefühl von Wärme und Geborgenheit, obwohl es schon zwei Sommer her war, dass Paula eines Morgens von einem großen Transporter abgeholt worden war. Kim selbst hatte sich retten können. Der große Lastwagen, auf den man sie viel später mit zwanzig anderen Schweinen verfrachtet hatte, war umgekippt. Unter einem riesigen blauen Himmel hatte sie gelegen und sich dann in einem Gebüsch versteckt, bis Dörthe sie gefunden und mitgenommen hatte. Paula hatte also unrecht gehabt, sie waren nicht auf der Welt, um geschlachtet zu werden, aber weshalb waren sie dann da? Um den Menschen etwas beizubringen? Oder um gegen die Menschen Krieg zu führen, wie Che meinte? Nein, das glaubte Kim nicht. Wenn sie ehrlich war, meinte sie, dass Menschen und Schweine nicht alles waren, dass es hinter dem blauen Himmel noch etwas anderes gab, dass Stroh nicht nur Stroh war, Wasser nicht nur Wasser … Na ja, so ähnlich jedenfalls.

Dann, wenn ihr von diesen Gedanken, denen sie immer unter ihrem Apfelbaum nachhing, ganz schwindlig war, kam es ihr allerdings so vor, dass ihr Kopf vielleicht doch nicht zum Denken gemacht war.

Langsam, damit er nicht das Gefühl bekam, er wäre zu wichtig, trabte sie zu Lunke hinüber. Er war ein wilder Schwarzer und sorgte stets dafür, dass sie einen Durchschlupf in dem Zaun hatte, durch den sie die Wiese verlassen konnte. Kaum hatte Deng, der junge Chinese, der sich tagsüber um sie kümmerte und ihnen Futter brachte, den Pfosten wieder aufgerichtet, kam Lunke und riss ihn mit einem Tritt seines Hinterlaufes erneut um.

Kim und Lunke waren … nun, kein richtiges Paar. Wilde Schwarze pflegten sich für gewöhnlich nicht mit Hausschweinen abzugeben, sie waren also nur miteinander bekannt. Ja, so musste man es bezeichnen, sie waren gute Bekannte. Lunke nahm sie manchmal zu einem kleinen See im Wald mit, wo sie sich suhlten, und zu ein paar schönen Fressplätzen, an denen Farn und saftiges Gras wuchsen. Und er war auch nicht so langweilig wie Che und Brunst.

»Worüber müssen wir reden?«, fragte Kim, nachdem sie sich vorsichtig durch den Durchschlupf gezwängt hatte.

Lunke grinste sie an. Es begann bereits zu dämmern, da war er besonders munter. »Na, du weißt schon, über uns … darüber, ob und wann wir …«

Kim wollte sich am liebsten abwenden. Ging das schon wieder los? Erst kürzlich hatte er gemeint, sie solle zu seiner Rotte in den Wald übersiedeln, ja, übersiedeln, genau diesen Ausdruck hatte er verwendet, um möglichst großspurig aufzutreten.

»Fängst du schon wieder damit an?«, fragte Kim vorwurfsvoll.

Lunke näherte sich ihr, so dass sie seinen heißen Atem spüren konnte, und … Moment, er roch anders als sonst. War er etwa mit einer aus seiner Rotte zusammen gewesen?

»Meine Mutter … also … bald kommt die Rauschzeit, und diesen Herbst muss auch ich meine Pflicht erfüllen, hat sie gesagt … damit die Rotte nicht untergeht …« Er geriet ins Stammeln, doch Kim hatte den Verdacht, dass er nur so tat, als wäre er verlegen oder unsicher. Mit seinem unversehrten rechten Eckzahn strich er sanft über ihr Fell. Sie ließ ihn einen Atemzug lang gewähren, bevor sie einen Schritt zurückmachte.

»Heute sind viele Menschen auf unseren Hof gekommen, und sie haben einen Mann …«, versuchte Kim abzulenken, doch Lunke durchschaute ihr Manöver sofort. Er war nicht der Klügste, aber so dumm war er nicht, um nicht zu verstehen, dass Kim von der Rauschzeit und dem Einen, das alle Eber und Sauen, Keiler und Bachen taten, nichts wissen wollte.

»Eine gewisse Zeit kann ich Emma noch hinhalten, doch nicht mehr sehr lange. Du weißt, dass ich der stärkste Keiler im Wald bin … na ja, fast der stärkste …«

Wieder drang Kim dieser unangenehme Geruch in den Rüssel, aber sie bemühte sich, nicht darauf zu achten.

Lunke warf sich in Pose und schnaubte. »Ich bin heute besonders guter Stimmung«, sagte er, »und wollte dich fragen  – ganz förmlich und feierlich …« Er grinste, nun doch ein wenig verlegen. »… ob du mit mir einen Bund eingehen möchtest …«

Kim schloss die Augen. Sie hatte diese Frage gefürchtet und immer versucht, keine Antwort darauf geben zu müssen. Ob du mit mir einen Bund eingehst, damit wir eine Familie …

»Lunky – wo bist du?« Ein schriller Ruf hallte zu ihnen herüber.

Lunky? Kims Augen sprangen förmlich auf, gleichzeitig spürte sie, wie ihr Magen sich vor Ärger zusammenzog.

»Lunky  – wir waren doch verabredet … du wolltest mir …«

Lunke wandte den Kopf. »Gleich, Michelle!«, rief er, ohne auch nur eine Spur von Überraschung zu zeigen. »Ich komme gleich.«

Kim starrte ihn an. Michelle? Nun wusste sie endlich, wie dieses schwarze weibliche Wesen hieß, nach dem Lunke so penetrant roch, als hätten sie einen halben Tag lang zusammengelegen.

»Ich glaube, du wirst erwartet. Eine deiner Verehrerinnen.« Süffisant lächelte Kim ihn an. »Damit hat sich unsere Unterredung wohl erledigt.«

Lunke hob die Augenbrauen  – er schien nicht ganz sicher zu sein, ob er sich amüsieren oder über die Störung verärgert sein sollte. »Nein, nicht ganz«, erklärte er. »Du wolltest mir noch eine Frage beantworten.«

»Nein, wollte ich nicht – jetzt jedenfalls nicht mehr«, erwiderte Kim.

Aus dem Wald war eine Gestalt getreten, eine hässliche, gedrungene wilde Schwarze mit einem viel zu kleinen Kopf. Sie tänzelte auf dem schmalen Pfad auf sie zu und warf dabei ständig den Kopf hin und her. Ihre Ohren bewegten sich affektiert auf und ab. Offenbar sollte dieses Getue Lunke beeindrucken. Noch nie hatte Kim ein Schwein gesehen, das sich so albern bewegte.

»Oh!« Michelle blieb abrupt stehen und tat so, als hätte sie Kim erst jetzt bemerkt. »Wusste nicht, dass du nicht allein bist.« Sie schaute Lunke treuherzig an und zwinkerte. Und sie stank – nach einem ausgiebigen Bad im See, nach Algen und Erde und Gras, eine widerliche, aufdringliche Mischung von Gerüchen.

»Ich gehe dann wohl besser.« Kim wandte sich ab, allerdings nicht ohne ihrer Rivalin einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Na, Rivalin war vielleicht ein zu großes Wort. »Man sieht sich!«

»Am besten morgen  – morgen brauche ich unbedingt eine Antwort«, rief Lunke ihr nach, während Kim schon wieder auf den Durchschlupf zuhielt.

»Wer war das?«, hörte sie Michelles lächerlich schrille Stimme. »War diese rosige Kleine etwa das ängstliche Hausschwein, von dem du mir erzählt hast?«

Ängstliches Hausschwein? Und Lunke erzählte von ihr? Kim war kurz davor, sich umzudrehen und Michelle Bescheid zu geben, dass sie vor niemandem Angst hatte, stattdessen stieß sie jedoch nur einen beleidigten Schnaufer aus und bekam dadurch leider nicht mit, was Lunke der affektierten Bache geantwortet hatte. Sie hörte nur noch, wie er Michelle beinahe zärtlich beim Namen nannte.

Drehte er sich nach ihr um? Am Zaun riskierte Kim einen kurzen Blick zur Seite. Nein, Lunke verschwand tatsächlich geradewegs in den Wald.

Am Durchschlupf nahm Deng sie in Empfang. Er war ein ziemlich kleiner Mensch mit merkwürdigen Augen. Er war noch recht jung, trotzdem war sein Gesicht vom unentwegten Lächeln schon ganz faltig. In der einen Hand hielt er einen Hammer.

Mit der anderen Hand winkte er ihr zu. »Hattest du wieder Ausgang?«, fragte er mit seinem schönsten faltigen Lächeln. »Der Narr tut das, was er nicht lassen kann.« Dann kicherte er und strich Kim sanft über den Hinterlauf.

3

4

»Wenn wir gegen die Menschen in den Krieg ziehen, dann müssen wir zusehen, dass unsere Truppen richtig aufgestellt sind!« Che hatte sich mitten im Stall aufgebaut. Er hatte den Kopf hoch aufgerichtet und stand breitbeinig da.

Kim gähnte. Wie oft hatte sie dieses Gerede und Gehabe schon über sich ergehen lassen? Sie legte sich in ihre Ecke und schloss die Augen. Das Bild, wie man den betäubten Mann auf den Karren gehoben hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie hatte es nicht geschafft, Dörthe herbeizurufen.

»Wir müssen den Kampf gegen die Menschen aufnehmen!«, rief Che aus. »Zuerst müssen die wilden Schwarzen in die Schlacht ziehen. Dafür sind die Schwarzen gemacht, dass sie als Erste kämpfen. Sie haben die Statur dafür und sind nicht so klug wie wir weißen Schweine. Wir weißen Schweine bleiben zurück und leiten die Schwarzen an, wir warten ab, wie der Kampf verläuft, bis wir eingreifen …«

He, Che, komm runter, wollte Kim ihm zurufen, von welchem Kampf sprichst du? In seiner Phantasie schien er unaufhörlich gegen die verhassten Menschen anzurennen.

»Wer gibt uns eigentlich etwas zu fressen, wenn wir kämpfen?«, fragte Brunst und schmatzte laut, weil er noch an einem Maiskolben kaute, den er in einer Ecke des Stalls vor den anderen versteckt hatte. »Glaubst du, die Menschen füttern uns noch, wenn wir gegen sie in die Schlacht ziehen?«

»Wo soll denn diese tolle Schlacht sein?«, piepste Cecile. »Etwa hier bei uns auf der Wiese? Und was ist mit Dörthe? Müssen wir auch gegen sie kämpfen?«

Che schnaufte unwillig. »Es geht um den einen großen letzten Kampf, der alles entscheidet«, knurrte er, als habe er es nur mit Dummköpfen zu tun, die seine genialen Gedanken nicht begreifen konnten.

Einmal hatte er eingestanden, dass er in Kim verliebt war, dass er nur deshalb so große Reden schwang. Vielleicht sollte sie ihm sagen, dass es nun genug war, dass sie überlegte, mit Lunke in den Wald zu gehen …

Sie öffnete die Augen und sprang aus einem Impuls heraus auf. »Kann mir einer sagen, was Rauschzeit ist … und was da genau mit unsereins passiert?«

»Rauschzeit?« Che sprach das Wort angewidert aus. Lunke hatte einmal gemeint, dass allen Ebern auf ihrer Wiese das Wichtigste fehlte, dass sie eigentlich gar keine richtigen Eber mehr seien. »Wieso kommst du mir mit so einer Frage, wenn ich von der Schlacht aller Schlachten spreche?«

»Interessiert mich eben.« Kim verzog schmollend das Gesicht und legte sich wieder hin.

Doktor Pik, der aussah, als hätte er geschlafen, hob den Kopf. »Da müsste uns eigentlich Brunst Auskunft geben können.« Er kicherte geheimnisvoll, wie es sonst nicht seine Art war.

Brunst sah ihn verständnislos an. »Ich – wieso ich? Mit Fressen hat das nichts zu tun  – da bin ich mir ziemlich sicher.«

Doktor Pik schüttelte weise den Kopf. »Nein, da hast du recht. Mit Fressen hat das nichts zu tun. Es geht eher darum, woher wir kommen … Ich meine, wir fallen schließlich nicht vom Himmel.«

»Du meinst, es geht ums Vögeln«, rief Kim, »so hat Dörthe das jedenfalls mal genannt, glaube ich«, fügte sie leiser hinzu, nachdem Doktor Pik sie strafend angeschaut hatte.

»Vögel?«, quiekte Cecile. »Hat diese Rauschzeit was mit Fliegen zu tun? Ist das die Zeit, in der auch wir Schweine fliegen können?«

»Nicht ganz.« Doktor Pik sprach zu Cecile, doch er hatte seine Augen immer noch durchdringend auf Kim gerichtet. »Es geht um Fortpflanzung. Irgendwann sterben wir, und damit es weiter Schweine gibt, müssen wir Nachkommen zeugen. Das passiert in der Rauschzeit. Der Eber umwirbt …« Er verstummte abrupt. Sein Blick veränderte sich, wurde nachdenklich und wehmütig. »Ich war vor vielen Sommern einmal richtig verliebt … Habe ich wohl schon erzählt … Sie hieß Anna und sah Kim ein wenig ähnlich. Als unsere Rauschzeit kam, haben wir die Gelegenheit genutzt und die ganze Nacht …«

»Was habt ihr die ganze Nacht?«, fragte Che, ungewohnt neugierig, für gewöhnlich interessierte er sich nicht dafür, was die anderen zu sagen hatten.

Doktor Pik schniefte. »Egal. Als es so weit war, ist Anna eines Morgens abgeholt worden. Es war Winter, alles war weiß, im Schneelicht stand sie da. In meinem Herzen halte ich diesen Moment ganz fest – ich werde ihn bis zu meinem Ende nicht vergessen.«

Tiefes Schweigen legte sich über den Stall. Selbst der fette Brunst hörte auf zu kauen, weil er begriff, wie traurig Doktor Pik plötzlich war. Immer häufiger sprach der alte Eber von seinem nahenden Tod.

Kim bedauerte, das Thema aufgebracht zu haben, aber sie war ratlos. Was sollte sie tun? Lunke würde sie morgen wieder fragen. Sollte sie ihm für eine Weile aus dem Weg gehen? Aber diese Wehmut, dieses fatale Gefühl, dass der Sommer zu Ende ging … nur Lunke konnte sie von ihren dunklen Gedanken abbringen. Und was war mit dieser Michelle? Musste Kim aufpassen, dass Lunke nicht auf falsche Gedanken kam?

Plötzlich wurde die Tür ihres Stalles aufgestoßen. Das grelle Licht sprang an, nicht die kleine Lampe neben der Tür. Dörthe eilte herein, so schnell, dass ihre Haare förmlich flogen. Sie sah abgehetzt aus.

»Jan?«, rief sie. »Jan, bist du hier?« Hektisch blickte sie sich um, ohne ihre Schweine zu begrüßen, was sonst nicht ihre Art war. Sie holte ihr silberfarbenes Telefon hervor und wählte. Dann lauschte sie aufmerksam. Gleichzeitig wischte sie sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. »Jan«, sagte sie dann, »ich suche dich. Melde dich doch mal. Wir müssen noch ein paar Kleinigkeiten wegen der Aufführung morgen durchsprechen. Pfarrer Husemann hat auch angerufen. Er würde dich gerne kennenlernen, und die Zeitung will ein Interview mit dir machen.« Dann seufzte sie und steckte ihr Telefon wieder ein.

Kim erhob sich und lief zu ihr. Wie gerne hätte sie Dörthe von Jan erzählt, von dem, was ihm passiert war. Sie grunzte einmal. Dörthe schaute auf. Im Gesicht hatte sie rote Flecken, irgendwie wirkte sie müde, so als würde sie nicht mehr schlafen.

»Hallo, Kim«, sagte Dörthe und lächelte. Sie strich sich über den Bauch. »In ein paar Wochen ist es so weit. Dann bekommen wir Nachwuchs auf dem Hof. Ein Mädchen, ich hoffe, dass es ein Mädchen wird.«

Kim fand keine Ruhe. Brunst schnarchte vor sich hin, Cecile strampelte im Schlaf, und Che murmelte irgendwelche unverständlichen Worte. Wahrscheinlich befand er sich auch im Traum im Krieg. Was musste es für eine Qual sein, Tag und Nacht nur an die Revolution zu denken? Ihr selbst ging Lunke nicht aus dem Kopf. Die Entscheidung, die sie zu treffen hatte. Ein Hausschwein und ein wilder Schwarzer – konnte das gut gehen? Und wie würde Emma, die mächtige Bache, die ganz zufällig auch noch Lunkes Mutter war, reagieren, wenn ihr Sohn Kim in den Wald auf den Sammlungsplatz führte? Schon allein bei dem Gedanken drehte sich ihr der Magen um. Und selbst wenn Emma sie akzeptierte, wie wäre das Leben im Wald? Bald käme der Winter  – Schnee konnte fallen. Bei Kälte war es in ihrem Stall doch recht angenehm. »Du legst dich zu mir, und ich wärme dich«, hatte Lunke ihr gesagt, als sie ihn auf die Kälte im Winter angesprochen hatte. »Ich werde dir schon warme Gedanken machen.« Dabei hatte er süffisant gegrinst.

Und wie war es, Nachwuchs zu haben? Daran hatte Kim überhaupt noch nicht denken können. Kleine Jungen würden aus ihr herausfallen – irgendwie. Ihrer Mutter hatte es nichts ausgemacht, wenn zehn Ferkel an ihren Zitzen lagen und nuckelten, aber Kim wurde schon schlecht, wenn sie nur daran dachte. Sie wollte nicht, dass irgendjemand an ihr nuckelte. Lunke hatte da gut reden – er musste sich nur irgendwie von hinten nähern und das Eine machen, von dem sie immer noch nicht genau wusste, was es war. Den Rest würde sie erledigen müssen.

Liebte sie Lunke?

Ja, das war die große Frage, die über allem stand. Konnte sie einen wilden Schwarzen lieben, der ein großes Maul hatte, sich oft und gerne in den See stürzte, um sich zu suhlen, und frühmorgens ins Dorf lief, um völlig furchtlos Blumenzwiebeln auszugraben?

Sie wusste es nicht. Doch sie wusste, dass es ihr gefiel, neben ihm im hohen Gras zu liegen, seinen Geruch einzuatmen … Vielleicht war das ja schon Liebe …

Ach, es war alles zu verwirrend. Sie seufzte. Das Leben war kompliziert, wenn man nicht wie Brunst mit Fressen und Saufen zufrieden war.

Gegen Morgen schreckte Kim plötzlich auf. Hatte sie geschlafen? Sie wusste es nicht genau. Sie erhob sich. Im Schlaf hatte sie einen Entschluss gefasst: Sie würde auf der Wiese bleiben, bei Che und den anderen. Hier war ihr Platz. Schläfrig trabte sie zur offenen Tür.

Doktor Pik hatte die Augen geöffnet und schaute sie an. »Kommst du wieder?«, fragte er leise, als hätte er längst ihre Gedanken erraten.

Sie drehte sich um. »Ja«, sagte sie. »Ich muss Lunke nur etwas ausrichten. Bin bald zurück.«

Draußen begannen die ersten Vögel zu singen. Die Sonne zog auf; ein paar Wolken waren am Himmel. Tau bedeckte die Wiese oder genauer das, was der gefräßige Brunst von ihr übrig gelassen hatte. Eigentlich ein schöner Tag, doch Kim fühlte Trauer. Lunke würde es nicht verstehen – er hielt sich für den Schönsten, Stärksten. Und vermutlich würde er sich dann der dämlichen Michelle zuwenden. Kim spürte einen Stich. Ach, am liebsten wäre ihr, es würde sich nichts verändern. Sie würde hin und wieder in den Wald traben, Lunke sehen, mit ihm ein Bad nehmen und ihn abweisen, wenn er zu aufdringlich wurde. Verdammte Rauschzeit!

Der Durchschlupf war verschlossen. Deng hatte in seiner Ordnungsliebe den Zaunpfahl wieder aufgerichtet. Kim versuchte sich zu erinnern, wie Lunke stets mit seinen Hinterläufen ausholte. Sollte sie es auch versuchen, um den Pfosten umzuwerfen? Sie stellte sich mit den Hinterflanken zum Zaun und holte aus, doch sie traf nicht den Pfahl, sondern geriet mit einer Klaue in den Draht. Ein höllischer Schmerz durchzuckte sie. Verdammt!

»Ach, Kleine!«, rief Lunke zu ihr hinüber. »Ich kann gar nicht mit ansehen, was du alles tust, um zu mir zu gelangen.« Er lachte dreckig. »Mach mal Platz!«

Kim bekam kaum mit, wie schnell er mit seinen Hinterläufen austrat. Mit einem lauten Ächzen stürzte der Pfosten um. »Wünsche fröhlichen Ausgang!« Lunke lächelte. »Da kann euer kleiner Grinser nachher wieder kommen und an dem Pfahl rumbasteln. Wird nicht viel nutzen.«

»Er heißt Deng«, sagte Kim, »und er kümmert sich wirklich sehr fürsorglich um uns.« Sie wollte es rasch hinter sich bringen – ihre Botschaft loswerden. Du, Lunke, du bist ja ganz nett, aber ich habe mir überlegt … Ja, so ähnlich sollte sie es anstellen, doch als sie sich umdrehte, war Lunke verschwunden. Nein, er war nicht zurück in den Wald, sondern am Rand entlanggetrabt.

»He«, rief er. »Ich habe eine neue Futterstelle ausfindig gemacht. Da können wir in aller Ruhe erst was fressen und dann reden.«

Ich glaube nicht, dass das so eine gute Idee ist, wollte sie ihm nachrufen, doch er hatte sich schon wieder umgedreht. Es tat ihr leid, ihm wehtun zu müssen, aber irgendwie fiel ihr keine andere Lösung ein. Denn was würde sein, wenn Lunke zu ihr in den Stall zog? Nein, undenkbar. Doktor Pik hätte es noch toleriert, und Cecile hätte es großartig gefunden, einem wilden Schwarzen all ihre Fragen stellen zu können, aber Che und Brunst hätten es bestimmt nicht ertragen.

»Hier ist es!«, rief Lunke und deutete mit dem Kopf auf einen Flecken üppig wachsenden Farn. »Schmeckt köstlich!« Er biss herzhaft hinein und kaute.

Plötzlich hatte Kim das Gefühl, dass er sie nur deshalb hierher geführt hatte, weil er im Wald ungebetene Lauscher fürchtete – wie etwa Michelle, die sich als Schwarze gewiss leise anpirschen konnte.

»He, warum frisst du denn nichts!« Lunke trabte auf sie zu. »Machst du dir Sorgen wegen Michelle? Babe, das ist nichts Ernstes, wirklich nicht!« Er grinste so breit, dass man seine schiefen Zähne sehen konnte. So grinsen konnte nur er. Che lachte fast nie, und Brunst fraß nur ständig …

Irgendwie wurde sie immer wehmütiger und trauriger.

Sie schluckte und starrte Lunke an; er hatte den Kopf ein wenig schief gelegt, während er sie musterte.

»Nun, Lunke«, begann sie, »ich wollte dir etwas sagen … Es ehrt mich sehr, und ich mag dich auch …«

»Toll«, unterbrach Lunke sie. »Genau das wollte ich hören. Großartig, können wir also weiterfressen und danach alles Weitere besprechen …«

»Nein, warte!«, rief Kim, doch er hatte seinen riesigen Kopf schon wieder in den Farn gesteckt und schmatzte. »Da ist noch etwas … Ich muss dir leider mitteilen …« Sie verstummte abrupt. Am Waldrand, von der anderen Seite näherte sich jemand – zwei Gestalten. Sie zerrten einen Karren hinter sich her, der verdächtig dem Gefährt ähnelte, mit dem am Abend Jan vom Hof transportiert worden war.

Lunke zog seinen Kopf zurück. »Babe, solltest du wirklich auch probieren«, meinte er kauend. »Du musst dich jetzt stärken  – wir wollen doch nicht, dass du schlappmachst, wo wir beide uns endlich einig sind und die Rauschzeit …«

»Sei still!«, raunte sie ihm zu. Sie machte drei Schritte an Lunke vorbei, um die Gestalten genauer in Augenschein nehmen zu können.

Sie waren ganz in Schwarz gekleidet und trugen genau wie gestern Abend ihre Mützen, als würden sie fürchten, dass sie jemand beobachten könnte. Aber wer sollte sie sehen? Um diese Zeit liefen noch keine Menschen durch den Wald.

»Babe!«, rief Lunke ihr nach. »Manchmal bist du wirklich schwierig. Wir sind uns doch einig, dass du mit mir …«

Sie drehte sich um. Offenbar hatte er einiges missverstanden, aber seine Irrtümer zu korrigieren hatte sie nun keine Zeit. Ihre Neugier war erwacht. Was führten die beiden Menschen im Schilde? Kim sprang ins Gebüsch und schlich am Waldrand entlang. Sie konnte das erstaunlich gut, fand sie. Ein Kaninchen schreckte sie auf, aber vermutlich hatte das arme Tier mehr Angst vor Lunke, der ihr folgte, allerdings keineswegs so geschickt und lautlos.

Kim drehte sich um und fauchte ihn an: »Kannst du nicht still sein, verdammt? Ich muss etwas herausfinden.«

»Kim«, sagte er vorwurfsvoll, »so kommen wir nicht weiter. Wenn wir erst gemeinsam im Wald hausen, wirst du dich daran gewöhnen müssen, dass ich …«

»Ich werde mich an gar nichts gewöhnen«, fiel sie ihm ins Wort, »und nun hau ab – du störst.«

Lunke senkte tatsächlich betreten den Kopf – so energisch hatte er sie noch nie erlebt, doch Kim achtete nicht weiter auf ihn.

Sie schlich weiter und sah, wie die beiden Gestalten einen Sack aus der Karre zerrten. Nein, keinen Sack … Zuerst bemerkte Kim die langen braunen Haare. So lange Haare hatten für gewöhnlich nur Menschenfrauen, doch es war eindeutig Jan, der da hochgezerrt wurde. Er trug nun ein braunes Hemd und die schwarze Hose, die er auch am Abend angehabt hatte.

Die zwei Menschen hievten Jan aus der Karre und lehnten ihn an einen Baum. Der Kopf sank ihm auf die Brust. Wie tot sah er aus. Jedenfalls rührte er sich nicht, obwohl es eigentlich wehtun musste, was die beiden da mit ihm anstellten. Wollten sie ihn hier begraben? Menschen taten so etwas, doch hatten sie eigentlich einen besonderen Platz dafür, den Friedhof, den Lunke mit ihr auch schon einige Male aufgesucht hatte. Auf der kleinen Wiese gleich am Eingang konnte man die bekömmlichsten Käfer ausbuddeln.

»Kim, du bist eine echte Spielverderberin«, nörgelte Lunke, während er sich neben sie schob. Er rieb seine Borsten an ihr und fing an, leise zu grunzen, fast so, als würde er sich suhlen. Unwirsch drängte sie ihn zurück.

»Hier ist etwas Seltsames im Gange.« Sie kniff die Augen zusammen.

Die eine Gestalt hatte ihre Mütze etwas gelüpft, doch leider war ihr Gesicht trotzdem nicht zu erkennen. Sie zerrte an Jan herum und band ihm ein Seil um, eine Art Geschirr, das sie ihm unter die Arme wand. Das zweite Schattenwesen, das ebenfalls seine Mütze hochgeschoben hatte, war unterdessen im Begriff, ein anderes Seil über einen großen Ast zu schwingen.

Kim runzelte die Stirn, sie hatte keine Ahnung, was die beiden da vorhatten. Waren es die Menschen von gestern Abend? Wollten sie Jan fesseln? Sollte Kim vorstürmen und ihn befreien? Lunke mit seinen Eckzähnen hätte die Menschen wohl in die Flucht schlagen können, aber er hatte sich schon wieder abgewandt und wühlte in der Erde, anscheinend wollte er ihr zeigen, wie verärgert er war. Zum Glück veranstaltete er nicht so einen Lärm, dass die Menschen sie bemerkten.

Plötzlich begann Jan sich zu bewegen, er erhob sich langsam, schwebte plötzlich über der Erde, doch sein Kopf hing immer noch auf seiner Brust.

Die beiden Menschen zogen ihn in die Höhe. Kim konnte kaum atmen vor Staunen. Stück für Stück hievten sie ihn hoch, erst eine halbe Schweinslänge, dann eine ganze. Was sollte das? Sollte Jan etwa im Schlaf fliegen lernen, indem man ihn an einem Seil in der Luft baumeln ließ? Kim hatte noch nie etwas Seltsameres gesehen  – ein schlafender Mensch, der immer höher und höher schwebte, bis er beinahe in dem grünen Laub verschwunden war.

»Bind ihn fest!«, rief die eine Gestalt, offenkundig ein Mann, herüber. Ihm war seine Aufregung anzuhören.

Die zweite Gestalt nahm das Seil und wand es um einen Baum. »Hoffentlich wacht er nicht auf«, erwiderte sie dumpf und stöhnte auf, weil es wohl anstrengend war.

Diese beiden Menschen, wie gestern Abend ein Mann und eine Frau, waren schon älter, überlegte Kim, jedenfalls nicht so jung wie Deng und Dörthe.

»Keine Angst! Ich habe ihm noch eine ordentliche Dosis verpasst. Die würde den stärksten Elefanten umhauen.« Der Mann kletterte umständlich und ungelenk eine Leiter hinauf, die zu einem Hochsitz führte. Lunke hasste diese Gestelle  – da hockten sich nachts Menschen hin, um auf Rehe und wilde Schwarze zu schießen.

Oben auf der Leiter blieb der Mann stehen und zog den schwebenden Jan ein wenig zu sich herüber. Was sollte das nun wieder?

»Jetzt musst du ein wenig Seil nachgeben!«, rief er seiner Begleiterin zu.

Die Frau hielt ein Ende des Seils noch in der Hand und machte einen Schritt zur Seite. Fast hätte Kim ihr Gesicht sehen können, ein kantiges Kinn, einen verkniffenen Mund. Sie keuchte vernehmlich.

Der schlafende Jan schwebte ein Stück herab und schlug mit seinen Beinen gegen das hölzerne Geländer. Kim zuckte vor Mitgefühl zusammen. Konnten die Menschen nicht aufpassen? Sie taten Jan doch weh. Der Mann griff sich die herabbaumelnden Beine und zog sie über das Geländer. Selbst im Tiefschlaf schien Jan den Schmerz zu fühlen. Sein Gesicht verzerrte sich, und für einen Moment sah es so aus, als würde er gleich die Augen aufschlagen und anfangen, sich gegen diese furchtbare Behandlung zu wehren.

»Kim!«, knurrte Lunke hinter ihr. »Ich hatte mir das alles anders vorgestellt  – unser feierliches Versprechen. Es gefällt mir nicht, dass du mich nicht beachtest. Ist dein größter Fehler, dass du dich dauernd um die Angelegenheiten der Menschen kümmerst.« Er stieß sie mit seinem Rüssel an und schnaubte heftig.

Mit einer kurzen Bewegung schob sie ihn beiseite. Fast hätte sie nun das Wichtigste verpasst. Der Mann war auf den Hochsitz geklettert; er zog und zerrte an Jan, bis der mit einem dumpfen Geräusch aufsetzte. Das ganze Holzgestell geriet ins Wanken.

Einen Moment später tauchte der Kopf des Mannes auf und zeigte seiner Begleitung unten den hochgereckten Daumen.

»Nein«, grummelte Lunke, »so wird das nichts mit uns … Michelle dagegen hat versprochen, sich nur um mich zu kümmern, sollte ich mich doch entscheiden, vielleicht und eventuell mit ihr …«

Kim blickte ihn an. »Lunke, noch einen Moment, ja?«, flüsterte sie und versuchte sanftmütig zu klingen, obwohl sie sein ständiges Meckern zu nerven begann, abgesehen davon, dass es störte. Bemerkte er denn nicht, dass hier etwas ganz und gar Ungewöhnliches passierte? »Behalt im Kopf, was du mir sagen willst, und sag es mir später.«

Lunke grummelte irgendetwas und wandte sich ab, um lustlos Erde aufzuwerfen.

Von Jan war mittlerweile nichts mehr zu sehen; er musste auf dem Hochsitz hocken, verdeckt von der hölzernen Umrandung.

Der Mann warf das Seil hinunter; sein Gesicht war kurz zu sehen, nichts Markantes, er war glattrasiert, kein Bart. Mehr konnte Kim nicht erkennen.

Wieso hatten sie Jan auf den Hochsitz verfrachtet  –