Schottenkomplott - Gordon Tyrie - E-Book
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Schottenkomplott E-Book

Gordon Tyrie

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Beschreibung

»Schottenkomplott« ist der dritte Hebriden-Krimi von Gordon Tyrie – spannend, schwarzhumorig und echt schottisch!   Wo könnte ein ehemaliger Profi-Killer besser seinen Ruhestand genießen, als auf der winzigen Hebriden-Insel Colonsay, wo garantiert niemand nach ihm sucht? Der einäugige Scharfschütze Hynch fühlt sich zwischen den einheimischen Eigenbrötlern bald wie zu Hause – aber auch ein bisschen einsam. Also gibt er eine Kontaktanzeige auf und lädt die drei vielversprechendsten Kandidatinnen auf die Insel ein. Dummerweise hat ihm in der Zwischenzeit auch ein Gangsterboss, mit dem er noch eine Rechnung offen hat, eine Killerin auf den Hals gehetzt. Ob Hochlandrind Thin Lizzy wohl weiß, welches von Hynchs Dates der Todesengel ist?   Unter dem Pseudonym »Gordon Tyrie« schreibt Glauser-Preisträger Thomas Kastura herrlich skurrile Krimis mit einer guten Portion schwarzen Humors, die sich perfekt als Urlaubslektüre für einen Schottland-Trip eignen. Von Gordon Tyrie sind außerdem die beiden Hebriden-Krimis »Todesströmung« und »Schottensterben« erschienen.  

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Seitenzahl: 494

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Gordon Tyrie

Schottenkomplott

Ein Hebriden-Krimi

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Über dieses Buch

Wo könnte ein ehemaliger Profikiller besser seinen Ruhestand genießen als auf der winzigen Hebriden-Insel Colonsay, wo garantiert niemand nach ihm sucht? Der einäugige Scharfschütze Hynch fühlt sich zwischen den einheimischen Eigenbrötlern bald wie zu Hause – aber auch ein bisschen einsam. Also gibt er eine Kontaktanzeige auf und lädt die drei vielversprechendsten Kandidatinnen auf die Insel ein. Dummerweise hat ihm in der Zwischenzeit auch ein Gangsterboss, mit dem er noch eine Rechnung offen hat, eine Killerin auf den Hals gehetzt. Ob Hochlandrind Thin Lizzy wohl weiß, welches von Hynchs Dates der Todesengel ist?

Unter dem Pseudonym »Gordon Tyrie« schreibt Glauser-Preisträger Thomas Kastura herrlich skurrile Krimis mit einer guten Portion schwarzen Humors, die sich perfekt als Urlaubslektüre für einen Schottlandtrip eignen.

Inhaltsübersicht

Karte

Die Hauptpersonen

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

Epilog

Nachwort des Autors

Danksagung

Leseprobe »Schottensterben«

Die Hauptpersonen

Hynch / Howard

Profikiller im Ruhestand, beobachtet Vögel und gibt eine Kontaktanzeige auf

Thin Lizzy

zottelig, mag (fast) niemanden

Iago

störrisch, mag (fast) niemanden

Yeedith

fies, mag (fast) niemanden

Bruder Ptolemy

sucht nach »Spirits«, nimmt auch Kreditkarten

Helen, Graeme, Doug, Crissa und Rossalyn

bilden den »Pure Dead Brilliant Drama Club« (PDBDC), die erfolgloseste Theatergruppe Schottlands

Tomtom

weiß zu viel

Elsie

weiß zu wenig

Chloe, Jill, Frances

melden sich auf eine Kontaktanzeige

Recherche war alles. Die beste Killerin nördlich des Hadrianswalls fühlte sich in ihre Zielpersonen ein, stellte sich vor, wie sie dachten, handelten, lebten, wie sie reagierten. Und nicht nur das, sie übte, übte, übte – an diversen Waffen, mit Tarnungen, Verkleidungen, falschen Identitäten. Und mit wahrscheinlichen Verhaltensweisen. Um im Voraus zu wissen, was das Objekt tat und wie sie es am besten beseitigte.

Deshalb, und nur deshalb, las sie Kontaktanzeigen.

Bei ihrem aktuellen Auftrag sehnte sich das Objekt nach Liebe, da war Empathie gefragt, eine echte Herausforderung. Ihr Beruf machte einsam, und weil sie ohnehin zu sozialer Abschottung neigte und ihre eigenen Bedürfnisse in dieser Hinsicht minimal waren, hatte sie verlernt, wie sich die Paarungseinleitung idealerweise gestalten ließ. Zu diesem Zweck machte sie fünf Probedates mit Männern klar:

 

Er (47) sucht aktive oder angehende Astronautin für gemeinsamen Sonnenumlauf (Fernbeziehung möglich).

 

Gelehrter, 52 J., groß, schlank, gebildet, wünscht sich einfühlsame »Doktorandin« 20–64. Bin sehr kuschelig und zärtlich.

 

Sportlicher, durchaus vermögender Landarzt (58, 5ft 5“) freut sich auf ehrliche Gefühle. Du bist lebendig und unternehmungslustig, versteckst weder deine Intelligenz noch deine optischen Reize. Lass uns gemeinsam das Leben genießen. Vielleicht für immer?

 

Unser Senioren-Single-Gesprächskreis möchte die Herrenquote durch Ihre künftige Teilnahme senken. Einzelkontakte inkl. Intensivbetreuung nicht ausgeschlossen. Es ist nie zu spät!

 

Ansehnlicher Warmduscher, Mitte 50, NR, sucht Nixe zum Rückeneinseifen. Lust auf Wasserspiele?

 

Die Anzeigen stammten aus den Wochenendausgaben der Oban Times. Sie entschied sich für diese Auswahl, weil sich die knappen Selbstcharakterisierungen mit dem Profil des umzubringenden Objekts überschnitten. Die Dates dienten auch ihrer Desensibilisierung. Sie musste auf alles gefasst sein für den Fall, dass sich das Objekt als kompletter Schwachkopf erwies. So ein Hit war kein Wunschkonzert.

Derzeit konnte sich die beste Killerin nördlich des Hadrianswalls ihre Morde nicht nach Lust und Laune aussuchen, das Geschäft war zuletzt etwas flau gewesen. Doch eine ihrer Regeln besagte: Nimm auch mal einen lausigen Job an, dann wird’s wieder besser.

Sie schrieb die Inserenten per Mail an. Alle sagten auf Anhieb zu. Also traf sie die fünf Probanden persönlich. Bei Schauspielern hieß das Method-Acting. Sie nannte es Method-Killing.

Der Hobbyastronaut verglühte schon in der Erdatmosphäre. Will heißen: Nach dem dritten Whisky Sour im Pub kotzte er über den Bartresen. Zu einem Rendezvous im All kam es erst gar nicht. Fazit: Teufel Alkohol!

Mit dem kuscheligen Gelehrten lief es hervorragend, bis er ein Stachelhalsband anlegte und seine Nagelklatschersammlung präsentierte. Als sie ihre Autobatterie mit Starthilfekabel und Polklemmen holen wollte, damit es prickelnder wurde, erklärte er die Zusammenkunft für beendet. Fazit: Nicht zu viel des Guten tun.

Dem unterwüchsigen Landarzt war sie zu groß, nach dem Espresso hatte er es eilig, nach Hause zu kommen. Fazit: Auf unveränderliche körperliche Eigenschaften achten, gegebenenfalls Korrekturmaßnahmen ergreifen (flache Schuhe etc.). Und nicht der Versuchung nachgeben, den Kerl aus gekränkter Eitelkeit ins Jenseits zu befördern, etwa indem sie ihr Starthilfekabel doch noch einer sinnvollen Verwendung zuführte.

Zum Senioren-Single-Gesprächskreis erschien sie in Minirock und durchsichtiger Bluse – woraufhin mehrere Defibrillatoren zum Einsatz kamen und die Pfleger jeglichen Einzelkontakt unterbanden. Fazit: Den Gesundheitszustand der Zielperson berücksichtigen, mit geschönter Selbstbeschreibung rechnen, aufreizendes Äußeres vermeiden.

Mit dem Warmduscher gelangte sie zumindest bis ins Badezimmer. Doch das Wasser konnte gar nicht heiß genug sein, um irgendwelche Spiele in Gang zu bringen, da half auch kein Einseifen. Ungeduscht zog sie von dannen. Fazit: Intime Wünsche realistisch einschätzen.

Ein bisschen erbärmlich das alles, fand die beste Killerin nördlich des Hadrianswalls. Aber sie musste so ein armes Würstchen umnieten, das war nun mal ihr Auftrag, die Miete bezahlte sich nicht von allein. Sie wusste sogar schon, welches arme Würstchen. Einen 59-jährigen, »gut situierten Robinson im Vorruhestand, ehemaliger Insolvenzberater«. Nun ja, besser Vorruhestand als »Unruhestand«, gegen die immer gleichen, verzweifelt witzigen Floskeln in Kontaktanzeigen wurde sie langsam allergisch. Zum Kennenlernen schlug der Robinson Strandspaziergänge vor, auf einer Hebrideninsel. Kein Problem, sie brachte den Tod überallhin.

Als echten Pluspunkt verbuchte sie, dass die Zielperson nicht auf einem Datingportal oder mithilfe einer Online-Partnervermittlung ihr Glück versuchte. Eine Zeitungsannonce war oldschool, auch das eine wichtige Information. Und es ersparte ihr, für den Hit zu tindern. Alles hatte seine Grenzen. Das anbahnende Geschreibsel mit den fünf Probedates hatte ihr schon gereicht. Aber was tat man nicht alles für seinen Traumberuf?

Ein Beruf, den sie mit der Zielperson teilte. »Armes Würstchen« stimmte nämlich nicht so ganz. Laut ihrem Dossier war der Mann, der bald seinen letzten Atemzug tun würde, weder arm noch ein Würstchen. Nur weil er in der Zeitung inseriert hatte und das ein grober Schnitzer von ihm gewesen war, durfte sie ihn nicht unterschätzen. Zu seinen besten Zeiten hatte er Leute mit einer Leichtigkeit ausgeknipst wie die Noppen einer Luftpolsterfolie.

Da wollte sie noch hin. Aber auf ihre Art.

Es war also ein besonderer Auftragsmord. Auftragsmord plus, gewissermaßen. Die beste Killerin nördlich des Hadrianswalls checkte schon mal die Fährzeiten.

1

Fass mich noch einmal an, und du bist tot.

Graeme legte Lizzy seine Hand auf den Rücken und tätschelte ihren riesigen Schädel. »Keine Schwierigkeiten auf den letzten Metern, verstanden?«

Lizzy erstarrte. Das war’s, dachte sie. Du bist tot. Bald. Ich mach dich fertig. Ich schlitz dich auf. Ich ramm dich ungespitzt in den Boden und trample auf dir rum, bis nur noch Matsch von dir übrig ist. Und dann werd ich tanzen auf deinem Grab.

»Der Pier ist schon in Sicht. Dauert nur noch ein paar Minuten, dann sind wir da. Es wird dir gefallen auf Colonsay. Die Insel ist ein bisschen größer als Gigha, aber nicht sehr viel. Hügelig an manchen Stellen, hervorragendes Gras, knusprige Sträucher, ideal für Hochlandrinder. Wir haben sogar einige Lochs.«

Hab ich nach deiner Meinung gefragt, Graeme? Ich brauch keinen scheiß Fremdenführer. Sie versuchte, ihm einen gemeinen Tritt zu verpassen, einen Knochenbrecher gegen die Leiste. Doch das ging nicht.

»Hab noch ein wenig Geduld. Bald wirst du dich wie zu Hause fühlen. Ich geh mal besser ans Steuer.«

Graeme drückte sich an ihr vorbei und gab ihr noch einen Klaps aufs Hinterteil.

Dort hatte sie kaum Zottelfell, eine ihrer empfindlichen Stellen. Lizzys Flanken bebten, an ihrem Maul bildete sich Schaum. Sie holte tief Luft und muhte, beinahe das Einzige, wozu sie momentan in der Lage war. Es klang wie ein sehr lautes, störrisches, zunehmend ausrastendes Nebelhorn.

Graeme hatte sie für den Transport nach Colonsay auf seinem Kutter fixiert, mit allerlei Leinen und Spanngurten und was gerade so greifbar gewesen war. Sie konnte sich kaum bewegen, nur ihre langen Hörner schwenken. Lizzy stand ganz und gar nicht auf Fesselspiele. Und gefesselt auf einem schwankenden Deck, bei ordentlich Wellengang, das war beileibe kein Vergnügen. Der Kutter hieß Bluebell und pflügte gerade durch eine überkommende Welle, Salzwasser peitschte ihr in die Nüstern. Sie schnaubte und war noch eine Ecke schlechter drauf.

»Nicol hat gesagt, du bist eine besondere Kuh«, rief Graeme vom Steuerhaus. »Was er damit wohl gemeint hat?«

Falsches Stichwort: Nicol. Dieser treulose Verräter! Lizzy produzierte einen extragroßen Fladen, um ihren Gefühlen bildhaft Ausdruck zu verleihen.

Graeme stöhnte auf. »Och, nö! Musste das jetzt sein, so kurz vor dem Ziel?«

Ja, musste es! Auf Nicol war Lizzy gar nicht gut zu sprechen. Er hatte sie verkauft wie ein x-beliebiges Stück Vieh.

Verdrossen starrte sie auf die Küste von Colonsay. Woge um Woge verkürzte sich die Distanz.

Erinnerungen kamen hoch. Bis vor Kurzem hatte Lizzy noch auf Gigha gelebt, einer Hebrideninsel etwas weiter im Süden. Frei und ungebunden war sie dort durch die Natur gestreift, hatte regelmäßig Kulturveranstaltungen in der Village Hall besucht und war zufrieden mit sich und der Welt gewesen. Nur ab und zu hatte sie die Leute vom Festland veralbert, kleines Steckenpferd von ihr. Dann war sie mit einer englischen Touristin aneinandergeraten – in Rammbockmanier. Die Touristin verstand keinen Spaß und beschwerte sich bei Lizzys Besitzer, dem dümmsten Bauern der Hebriden, der seine attraktivste, intelligenteste und eigenwilligste Kuh daraufhin zu Steaks verarbeiten wollte. Weideschlachtung. Doch nicht mit Nicol! Ihr Retter kam Lizzy in letzter Sekunde zu Hilfe. Nicol fing die tödliche Kugel heldenhaft ab, wurde dabei verletzt und nahm das Hochlandrind schließlich bei sich auf. Nicol und Lizzy, zwei Eigenbrötler, vom Schicksal füreinander bestimmt – ein wundervolles Paar!

Leider hatten sie keinen guten Start. Schon an ihrem ersten Tag demontierte Lizzy Nicols Boot. Das Boot war sein Heiligtum, halb fertig, Marke Eigenbau. Es befand sich in einem Schuppen, Lizzy brauchte nur Minuten, um es in seine mühevoll zusammengezimmerten Einzelteile zu zerlegen, mehr oder weniger versehentlich. Danach hatte sich das Paar irgendwie auseinandergelebt.

Und jetzt war Lizzy unterwegs nach Colonsay, um noch mal neu anzufangen. Sie hatte keine Ahnung, was auf sie zukam.

Es war ein schottischer Frühlingstag wie aus dem Bilderbuch – einem Bilderbuch für Pluviophile, für Freunde des Regens. Während der Überfahrt hatte es mit Fret begonnen, kühlen, dunstigen Schwaden, die von der See hereinzogen und einem so heftig in die Glieder fuhren, als würde man in Eiswasser springen. Dann hatte es plötzlich wie aus Eimern geschüttet, Pish-oot nannten das die Leute. Der Schauer war zu Smirr übergegangen, einer alles durchdringenden, aus zahllosen feinsten Tröpfchen bestehenden Nässe. Und jetzt herrschte Dreich, das übliche miserable Schmuddelwetter. In Schottland kannte man viele Wörter für Regen.

Lizzy war ein großer Fan von Wörtern, ständig erweiterte sie ihr Vokabular. Graeme einfach nur als »Arsch« zu titulieren war zum Beispiel unter ihrer Würde. Für sie war der Kerl eine dämliche Fischbirne, ein Angstpisser, Sohn einer Seegurke.

Ein weichherziger, schwer zugänglicher Teil ihres Gehirns sagte ihr zwar, dass Graeme es vermutlich nur gut mir ihr meinte. No way! Diese verdammten Leinen! Wenn die nur ein kleines bisschen lockerer wären …

Lizzys Muskeln arbeiteten unaufhörlich. Sie machten sich bereit, alles zu zermalmen, was es wagte, ihr vor die Hörner zu kommen. Bei der ersten Gelegenheit würde sie Tod und Verderben bringen!

Graeme drosselte den Motor. Er warf Fender über Bord, damit die Bluebell beim Anlegen keinen Schaden nahm. Als erfahrener Fischer manövrierte er den Schiffsrumpf perfekt in Position. Gemächlich drifteten sie auf den Rand des Piers zu.

»Schau mal!«, rief er Lizzy zu. »Da steht schon dein neuer Boss. Der freut sich bestimmt, dich wohlbehalten in Empfang zu nehmen. Bisher ist alles gut gegangen. Benimm dich gefälligst, wenn du von Bord gehst!«

Tatsächlich, am Pier stand eine Gruppe von Leuten. Interessiert beobachteten sie den ungewöhnlichen Tiertransport. Es kam sicher nicht alle Tage vor, dass ein Hochlandrind auf Colonsay angelandet wurde.

Doch Lizzy konnte die Menschen nicht so recht voneinander unterscheiden. Ein blutunterlaufener Schleier der Tobsucht hatte sich über ihre Augen gelegt. Zum Einstand würde sie das Begrüßungskomitee plattmachen, das war mal klar. Sie musste diesen Gaffern gleich zeigen, wo der Hammer hing.

Graeme machte den Kutter sorgfältig fest. Dann brachte er längsseits eine Art Gangway aus, einen soliden, mit Querstreben verstärkten Steg. Lizzy konnte darauf bequem von Bord gehen, sobald sie ihre Fesseln los war.

Es war wie beim Stapellauf eines Ozeandampfers in früherer Zeit, nur in entgegengesetzter Richtung. Irgendwelche armen Wichte mussten damals die Halterungen des Schiffsrumpfes entfernen und sich möglichst schnell in Sicherheit bringen, um nicht von dem ins Wasser rutschenden Monstrum zerquetscht zu werden. Jetzt war es andersherum: Das Monstrum ging an Land.

Graeme war nicht blöd. Er hatte Lizzy seemannsgerecht verschnürt. In rascher Folge löste er Leinen und Gurte, ohne seiner Fracht allzu nahe zu kommen. Er wich den gefährlichen Hörnern aus, die bereits Löcher in die Luft bohrten. Als er fertig war, flüchtete er ins Steuerhaus.

Für einen Moment hielt Lizzy inne. Sie wurde misstrauisch. Kein mieser Scherz? War sie wirklich wieder frei?

Sie machte einen Schritt.

Noch einen.

Also dann! Sie stürmte los. Über die Gangway auf den Pier. Weiter mit gesenkten Hörnern. Direkt auf diese lebensmüden Komiker zu, die meinten, die neue Attraktion auf Colonsay beäugen zu müssen.

Kurz vor dem Zusammenprall schärfte sich ihr Blick – wie immer vor einem unmittelbar bevorstehenden Kontakt. Wie eine Lenkwaffe, die ihre Zieloptik automatisch justierte.

Die Gruppe bestand aus vier Männern, überwiegend Farmer, nach ihren sadistischen Mienen zu urteilen. Sie hatten Stricke und lange Stöcke dabei. Offenbar sollte das Zeug dazu dienen, Lizzy einzufangen und zur Räson zu bringen.

Träumt weiter, ihr Narren!

Doch ein Typ stach heraus. Er trug eine weiße Kutte. Und einen ungewöhnlichen Stock, eher einen Stab, ebenfalls weiß, mit einem durchsichtigen Stein an der Spitze, der das Schummerlicht des Atlantiks effektvoll einfing. Sein langes, wallendes, pechschwarzes Haar bildete einen hübschen Kontrast zur restlichen Klamottur, ebenso der üppige schwarze Bart. Irgendwie sah er wie ein Priester aus. Oder wie ein Zauberer?

Lizzy kam das von den Filmabenden in der Village Hall auf Gigha bekannt vor. Als geborene Kriegerin hatte sie alles an Fantasy geschaut, was dort einmal die Woche gezeigt wurde. Da war zwar viel Müll dabei gewesen, aber sie liebte Schlachtgetümmel: das Donnern der Hufe beim Angriff, das Plattmachen der gegnerischen Phalanx, umhergeschleuderte Körper, mit und ohne Gliedmaßen. Dieser Kuttentyp war noch ziemlich jung. Zu jung zum Sterben. Eigentlich.

Dies alles erfasste Lizzy in Sekundenbruchteilen. Okay, Planänderung. Sie korrigierte ihre Annäherungsparameter und nahm diesen seltsamen Heiligen aufs Korn. Wie weiß würde sein Outfit wohl noch sein, wenn sie einmal darübergewalzt war?

Nur noch wenige Meter trennten sie von ihm. Die drei Farmer mit den Stricken hechteten zur Seite. Der Kuttentyp blieb unbeirrt stehen und breitete die Arme aus.

»Da ist ja meine Kuschelkuh!«, rief er.

Worte der Macht. Sie fuhren Lizzy in Muskeln und Nervenbahnen, durchs Fell und durch mühsam angefressene Fettpolster. Und sie fanden einen Weg auf den Grund ihrer von zurückgewiesener Liebe versehrten Seele.

Das letzte Wort war am besten: Kuschelkuh. Und diese Stimme! Zum Niederknien! Lizzy legte eine Vollbremsung hin. Das war gar nicht so einfach auf dem glitschigen Pier. Aber sie schaffte es, einigermaßen zum Halten zu kommen. Dabei knickte sie mit den Beinen ein. Da sie noch jede Menge Schwung draufhatte, rutschte sie dem Mann quasi vor die Füße.

Der Spinner trug Sandalen! In Schottland! Er beugte sich über Lizzy, seine Hand berührte sie genau zwischen den Hörnern und verharrte dort eine Weile. Das kribbelte angenehm, als würde sie einen Stromschlag von einem Elektrozaun bekommen.

»Willkommen auf Colonsay, Thin Lizzy! Ich bin Bruder Ptolemy.« Er schob die Zotteln ihres Ponys behutsam beiseite und blickte ihr direkt in die Augen. »Du wirst sehnlichst erwartet.«

Lizzys Augen waren an Empfindsamkeit und Sanftmut kaum zu überbieten. Das hatte schon viele unvorsichtige Wanderer getäuscht, und sie war sich dieses taktischen Vorteils bewusst. Aber die Augen des Kuttentypen stellten eine Klasse für sich dar. Sie wirkten ähnlich betörend wie seine Stimme. Zwei tiefblaue Gebirgsseen, in denen alles versank, Lizzys Zweifel, ihre Vorbehalte und Zukunftsängste, der Stress von der Überfahrt und ihr Blutdurst aufgrund der Fesselung. Alles war auf einen Schlag weg. In diesen unergründlichen Augen löste sich ihr Frust auf. Sie gab eine Art Blubbern von sich wie ein betrunkener Wal.

»Ich glaube, zwischen uns besteht schon jetzt ein ganz besonderes Band«, sagte Bruder Ptolemy. »Dein Spirit gefällt mir.« Er kraulte Lizzy hinter den Ohren.

Das mochte sie gern. Sie rappelte sich hoch.

Einer der Farmer, die stiften gegangen waren, kam mit einem Strick zurück. »Leg ihr den um den Hals! Dann kannst du das Mistvieh zumindest an der Leine führen. Falls es nicht wieder Amok läuft.«

»Das brauchen wir nicht. Meine neue Mitarbeiterin hier begleitet mich ganz friedlich zur Einsiedelei. Nicht wahr, Lizzy?« Bruder Ptolemy legte ihr einen Arm auf die Schultern und begann, gemeinsam mit ihr loszumarschieren.

Und Lizzy kam mit, einfach so, die Stimme ihres neuen Gebieters war unwiderstehlich. Er schien ein richtiger Kuhflüsterer zu sein. »Einsiedelei« klang gut. Zu viele Menschen auf einmal machten sie unwirsch. Kaum ging sie mal unter Leute, bereute sie es schon, sie war nicht so die Teamworkerin. Einträchtig trottete sie neben Bruder Ptolemy her, als sei sie das zahmste Hochlandrind der Welt.

Doch vollkommen friedlich verhielt sie sich nicht. Irgendwie gelang es ihr, dem Farmer mit dem Strick im Vorbeigehen gegen die Kniescheibe zu treten. Er jaulte auf und hüpfte auf einem Bein umher.

Bruder Ptolemy zuckte entschuldigend mit den Achseln. Von den Schaulustigen, die sich inzwischen versammelt hatten, wurde der Tritt mit Gelächter und anerkennenden Bemerkungen quittiert. »Gute Technik!« – »Der kam aus dem Nichts!«. Prima, dachte Lizzy, die Leute auf Colonsay besaßen Sachverstand.

Sie erreichten das Ende des Piers. Dort lag das Terminal der Fährgesellschaft. Vor dem Stationsgebäude verfolgte noch mehr Publikum das Geschehen. Endlich mal was los auf der Insel! Ansonsten schien hier nicht besonders viel zu passieren.

Lizzy fiel ein hochgewachsener Mann mit Augenklappe auf. Na, wenn das nicht der Vogelbeobachter vom Palm Tree Beach war! Sie nickte ihm zu. Wie schön, gleich einen alten Bekannten zu treffen. Auf Gigha war sie dem Sonderling gelegentlich bei ihren Streifzügen über die Insel begegnet. Er war ein passionierter Naturfreund, wortkarg, gut in Form, immer mit einem Fernrohr unterwegs – und geheimnisumwittert.

Das war Lizzy auch.

2

Hynch zwinkerte Lizzy zu wie unter Kollegen. »Du auch hier?« Sie zwinkerte zurück. »Wir sehen uns noch, Kumpel« sollte das wohl heißen.

Vor dieser Kuh besaß Hynch gehörigen Respekt, Lizzy hatte sich auf Gigha einen gewissen Ruf erworben. Als Profikiller im Ruhestand wusste er, wie schwer es war, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen Neubeginn im Nirgendwo zu wagen. Die Ungewissheit bei der Ankunft, all die neuen Eindrücke, das machte dünnhäutig. Gemessen daran war Lizzys Ankunft fast reibungslos verlaufen.

Für einen Moment hatte er geglaubt, Zeuge eines Massakers zu werden. Mit Massakern kannte er sich aus. Er hatte selbst schon das eine oder andere angerichtet, da gab es keine halben Sachen.

Jetzt sah er Lizzy lammfromm mit Bruder Ptolemy Richtung »Einsiedelei« davonzockeln. Die Einsiedelei war gar nicht so einsiedlerisch, wie sie sich anhörte. Das hatte Hynch, als er einem prächtigen Wachtelkönig durch die Wildnis gefolgt war, bereits herausgefunden. »The Hermitage« bestand ursprünglich nur aus ein paar verfallenen Häusern, den Überresten eines verlassenen Dorfes an der Ostseite der Insel. Aber dank eines professionellen Internetauftritts und einer raffinierten Vermarktungsstrategie hatte sich dieser Haufen toter Steine zu einer wahren Goldgrube entwickelt. Und dank Bruder Ptolemy. Der Knabe konnte aus Schafkacke Gold machen. Ziemlich geschäftstüchtig, sagten die einen, bestimmt ein bisschen kriminell, meinten andere. In der Einsiedelei wurden sogenannte Spirit-Seeker-Kurse abgehalten, mit Teilnehmern aus aller Welt. Ganz Colonsay zerriss sich das Maul darüber, was genau in diesen merkwürdigen Kursen wohl vor sich ging. Und niemand wusste, welchem Kloster oder Orden Bruder Ptolemy überhaupt angehörte.

Doch momentan war das nicht Hynchs Problem. Nun hatte es also auch Lizzy nach Colonsay verschlagen. Ein netter Zufall und gar nicht ungewöhnlich. Die Hebriden bildeten eine weitverzweigte und dennoch nachbarschaftliche Gemeinschaft. Zwischen den Inseln fand ein reger Austausch statt. Inzwischen half man einander, stattete sich Besuche ab – und schlug sich nicht gegenseitig die Köpfe ein wie früher, als noch eine Sammlung liebevoll aufgespießter Schädel den Vorgarten jedes Clanhäuptlings zierte. Mull lag im Norden, Islay und Jura im Süden waren auch nicht weit entfernt. Nach Oban, der nächsten größeren Stadt an der Westküste des schottischen Festlands, brauchte man nur ein paar Stunden mit der Fähre.

Dennoch war Colonsay noch ein wenig abgelegener als abgelegen. Westlich davon kam auf 2500 Kilometern nur Wasser bis Kanada. 130 Einwohner lebten hier. Es gab viel Natur und noch mehr Wind, dafür wenig Ablenkung und vor allem keine mysteriösen Todesfälle wie zuletzt auf Gigha. Gewissermaßen stellte die Insel Hynchs letzten Versuch dar, seinen Frieden zu finden. Er hatte für eine überschaubare Summe ein Haus über der Kiloran Bay gekauft. Die Immobilienpreise auf weiter draußen gelegenen, schwer erreichbaren Inseln hielten sich in Grenzen.

Die ersten Monate war er damit beschäftigt gewesen, die Vogelpopulation zu beobachten. Das hieß, sich mit einem leistungsstarken Fernrohr auf die Lauer zu legen, jeden Piepmatz ausführlich zu betrachten und alles genau zu dokumentieren: Zeit, Ort, welcher Piepmatz, in welchem Zustand und so weiter. Jede Sichtung stellte einen kleinen Erfolg dar im Kampf gegen das Artensterben, auch wenn es nur eine Bestandsaufnahme dessen war, was vielleicht für immer verloren ging. Genau festzuhalten, welche Tierarten künftig auszusterben drohten, war irgendwie tragisch. Dennoch musste es gemacht werden. Am Ende übermittelte er die Daten an den Scottish Ornithologists’ Club, vielleicht die erste wirklich sinnvolle Betätigung seines Lebens.

Seit Jahrzehnten kam er allein klar, das hatte schon sein Beruf mit sich gebracht. Wer alle möglichen Leute im Auftrag eines Glasgower Mobsters abknallte, wurde zwangsläufig zum Einzelgänger. Und wer den Job nach einem blutigen Bandenkrieg an den Nagel gehängt hatte, war nicht gerade erpicht auf Gesellschaft.

Deshalb die Hebriden. Deshalb Colonsay. »Howard Currie« nannte Hynch sich jetzt. Er wechselte öfter mal den Namen. Unter »Hynch« kannten ihn nur noch wenige Menschen. Sehr wenige.

Während seiner aktiven Zeit war er keiner von den Guten gewesen, das wäre bei einem Killer auch etwas viel verlangt. Doch zu den Bösen rechnete er sich ebenfalls nicht. Bei seinen Aufträgen hatte es stets schlimme Finger erwischt, Typen, die es nicht besser verdient hatten, Halsabschneider, Allesabschneider, Verbrecher, die anderen Leuten nicht nur das Leben schwer machten, sondern auch noch den Tod. Das war die einzige Bedingung gewesen, die er seinem Boss stets gestellt hatte. Er konnte mit Fug und Recht behaupten, nie den Kopf eines Unschuldigen in eine Masse aus Gewebefragmenten, Hirnglibber und Knochensplittern verwandelt zu haben.

Hynch war irgendwas zwischen Gut und Böse, fand er. Ein Guter, der irgendwann die falsche Abzweigung genommen hatte? Oder ein Böser, der seine Taten herunterspielte? Der sich in die eigene Tasche log? Wer wollte das entscheiden?

Sein Handwerk hatte er jedenfalls beherrscht. Dadurch konnte er jetzt einigermaßen sorgenfrei leben. Zur Not war er immer noch imstande, sich gegen einen Störenfried aus früheren Tagen zu verteidigen. Das dafür erforderliche Waffenarsenal bewahrte er in einem Schrankversteck auf, es nahm einen Teil seiner Wohnzimmerwand ein. Doch Hynch bezweifelte, dass seine Totmacherkollektion auf Colonsay je zum Einsatz kommen würde. Er hatte sämtliche Spuren, die zu ihm führten, gründlich verwischt. Für die Welt da draußen in den Städten war er unsichtbar. Auf Colonsay gab es nicht mal Polizei. Deshalb mochte er Inseln. Kleine Inseln. Ein paar Touristen im Sommer, ansonsten Isolation.

Es hätte also alles in Butter sein können.

Wenn Hynch die Isolation nicht sattgehabt hätte. Die Einsamkeit.

»Kommst du, Howard? Lass es uns versuchen.«

Das war Crissa, sie arbeitete für die Fährgesellschaft. Heute würde keine Fähre mehr kommen, weder aus Islay noch aus Oban. Das hieß, sie beide hatten das Ferry Terminal mit dem Ticketschalter und dem Warteraum ganz für sich allein.

Besonders gemütlich war es nicht in dem kahlen Raum. Aber für Crissas und seine Zwecke würde es schon taugen. Auf den Hebriden zählte vor allem Funktionalität. Wer eher auf Romantik stand, konnte eine der zahlreichen, über die Insel verteilten Ruinen aufsuchen und sich unter dem Sternenzelt verlustieren, bei eher knackigen Temperaturen und dem üblichen Dauerregen. Open Air, das hatte ja was.

Crissa warf noch einen Blick auf ihre 650er Honda. Dann schloss sie hinter Hynch ab, verschmitzt grinsend. Sie war die Chefin in ihrem kleinen Reich und trug die Uniform der Fährgesellschaft, eine weiße Bluse mit einem Tuch um den Hals, dazu eine schwarze Anzugweste und schwarze Hosen. Ihre ebenfalls schwarzen, unendlich langen Haare hatte sie zu einem kunstvollen Rapunzelzopf gebunden, der wie ein zusätzlicher Körperteil wirkte und ein Eigenleben zu besitzen schien. Sie war nur ein wenig kleiner als der hagere, knapp eins neunzig messende Hynch, dafür doppelt so breit und erst 27 Jahre alt. Crissa mochte es, den Ton anzugeben. Hynch hatte absolutes Vertrauen zu ihr. Er konnte gut mit Frauen, die wussten, wo’s langging.

»Okay«, fing sie an, »ich glaub, du hast Hemmungen, weil ich meine offiziellen Sachen trage.« Sie zog die Bluse aus. Darunter kam ein weißes Tanktop zum Vorschein. »Wie gefällt dir das, Howard?«

Das Tanktop hatte sichtlich Mühe, Crissas Vorzüge im Zaum zu halten. Ihre Anatomie zeichnete sich aufs Eindrücklichste ab. Außerdem wurden zahllose Tattoos sichtbar, die ihren Oberkörper und die Arme komplett bedeckten.

»Du bist … sehr attraktiv«, versuchte es Hynch und bekam unwillkürlich Stielaugen.

»Das hört man immer gern. Kleiner Tipp: Manche Frauen mögen es nicht, wenn man ihnen gleich auf die Brüste starrt. Ich find das ja total in Ordnung, aber such dir lieber einen Punkt im Gesicht, die Augen oder die Nase. Das ist neutraler.«

»Gut, ich werde daran denken.« Er betrachtete den Bodenbelag. Darauf waren hochinteressante Ketchupflecken und Abriebspuren zahlloser Turnschuhsohlen zu erkennen.

»Du musst cool bleiben, verstehst du? Ein winziger Tittenblick genügt. Bewunderung, ein Hauch Geilheit, mehr nicht.«

»Ich versuche mein Bestes.«

Crissa dirigierte ihn zu einem kleinen Tisch im Warteraum. Sie nahmen beide Platz, saßen sich gegenüber.

Grundposition.

»Ist es so recht?« Sie holte ihr Handy heraus. »Kann’s losgehen?«

3

Hynch nestelte an seinem Tweedjackett herum und straffte den Rücken. Seine Nervosität nahm zu. »Bereit.«

Crissa befestigte das Handy an einem kleinen Stativ und stellte die Vorrichtung so auf, dass sich beide im Fokus der Kamera befanden. Eine Weile probierte sie herum, bis sie zufrieden war. Dann startete sie die Aufnahme.

Sie beugte sich nach vorn und ging zu einem formellen Tonfall über, als würde sie Hynch gerade erst kennenlernen. »Ist es nicht ein herrlicher Tag, Mister Currie?«

Crissa hatte ihre Oberweite quasi auf der Tischplatte abgelegt, das brachte sie noch besser zur Geltung. Warum sie dazu neigte, es immer ein wenig zu übertreiben, wusste sie wohl selbst nicht so genau.

»W-wunderbare A-Aussichten«, stotterte Hynch.

Sie murmelte ein »Sorry« und verschränkte die Arme vor der Brust, das war bedeutend besser.

»Was machen Sie denn beruflich? Bestimmt sind Sie ein vielbeschäftigter Mann. Dass Sie überhaupt Zeit für eine Verabredung finden …«

»Ach, ich hab keine wichtigen Termine. Der Ruhestand, wissen Sie … Da geht ein Tag in den anderen über.«

»So? Das freut mich! Dann könnten wir ja umso mehr Zeit miteinander verbringen – natürlich nur, wenn Ihnen danach ist. Ich sehne mich nach einem intelligenten, einfühlsamen Gesprächspartner.«

»Ich mich auch.«

»Nach einem lebendigen, reflektierten Mann mit Herz und Hirn.«

»Lebendig ist besser als tot.«

»Nach einem Seelenverwandten.« Crissa schenkte ihm ein warmherziges Lächeln.

»Hab nur noch keinen Seelenverwandten getroffen in den letzten dreißig Jahren.«

»Wie schade! Besuchen Sie Kunstausstellungen? Konzerte?«

»Eigentlich nicht.«

»Tanzen Sie? Ich liebe Salsa!«

»Ist das ein Gewürz?« Hynch kratzte sich am Kopf.

»Wo liegen Ihre Interessen?«

»Da fällt mir momentan kaum etwas ein. Ich latsche viel in der Gegend herum. Allein, wenn’s geht, da muss ich auf niemanden Rücksicht nehmen.«

»Ja, manchmal möchte man für sich sein …« Crissa machte eine Pause und atmete angestrengt aus. Dann nahm sie sich zusammen und setzte eine verständnisvolle Miene auf. »Kann es sein, dass Sie eine große Enttäuschung erlebt haben? Sich dann wieder zu öffnen fällt wahrscheinlich furchtbar schwer.«

»Ich hab so allerlei erlebt.«

»Und?«

»Und nichts.«

»Was haben Sie denn erlebt?«

»Dies und das.«

»Ach, wirklich?«, fragte sie.

»Ja.« Er schaute zu Crissas Handy. Es nahm alles auf, was er sagte, und filmte ihn dabei. Das Gespräch kam ihm wie eine Videovernehmung bei den Bullen vor.

»Wo kommen Sie her? Sie sind doch nicht aus Colonsay, oder?«

»Ich war … hier und da.«

»Verstehe, Sie wollen nicht darüber reden.«

»Muss nicht sein.«

Crissa drehte die Augen zur Decke. »Okay, Sie leben einzig und allein in der Gegenwart. Das ist buddhistisch irgendwie, mag ich sehr. Vergangenes soll man ziehen lassen.«

»Genau.«

»Aber jetzt, Howard, jetzt gibt es nur Sie und mich. Was könnten wir beide denn tun, um diesem trüben Nachmittag noch … Schwung zu verleihen?« Sie rekelte sich auf ihrem Stuhl hin und her und streckte dabei die Arme. Crissas Arme waren kompakt, ihre Hände klodeckelgroß. Das kam, weil sie gelegentlich bei ihren Verwandten in der Brauerei aushalf und Bierfässer von A nach B wuchtete.

Hynch deckte sich bei der Brauerei regelmäßig mit Bier ein, das machte seine stillen Abende an der Kiloran Bay erträglicher. Arme und Hände anderer Leute hatte er immer danach beurteilt, ob sie eine Waffe hielten und sich bereitmachten, sie abzufeuern. Mit ihren Bierfässerhänden konnte Crissa einem vielleicht die Luft abdrücken und den Kehlkopf zerquetschen. Aber im Augenblick stellten sie keine Bedrohung dar.

Er überlegte, was er auf die Frage antworten sollte. Wie konnten sie beide diesem Nachmittag Schwung verleihen?

»Trinken wir einen?«, kam es ihm in den Sinn. Er holte einen Flachmann hervor. »Whisky?«

Crissa klatschte in die Hände wie ein übermütiger Teenager. »Aber ja! Wär ich ein schottisches Mädel, wenn ich keinen Whisky mögen würde? Sie sind ein Kenner, oder? Was haben Sie denn da für ein Stöffchen? Wie alt ist der?«

»Nur der übliche Fusel aus dem Laden.« Er schraubte die Kapsel ab und nahm einen Schluck. »Schmeckt!«

»Krieg ich auch was ab?«

»Ach so, tut mir leid. Gewohnheit! Viel ist nicht mehr drin.«

Hynch reichte ihr den Flachmann.

»Für mich? Danke!« Crissa setzte die stählerne Flasche an und trank alles aus. Das dauerte eine Weile, die Öffnung des Flachmanns war schmal und ließ nur wenig Flüssigkeit durch.

»Du hast ja einen ganz schönen Zug drauf«, staunte Hynch. »Entschuldigung«, korrigierte er sich, »Sie trinken wie ein Dockarbeiter. Aber bei Ihnen passt ja auch einiges rein.«

Irgendwie hatte er das Gefühl, dass seine letzte Bemerkung ein wenig unglücklich gewesen war. Dieses ungewohnte Rollenspiel brachte ihn ganz durcheinander.

»Den hab ich jetzt gebraucht!« Sie leerte den Flachmann, knallte ihn auf die Tischplatte und schaute ihn streng an. »Da passt noch viel mehr rein«, sagte sie mit tiefer, verruchter Stimme und spitzte die Lippen.

»So war das nicht gemeint …«

»Wie war’s denn gemeint?«

»Nun ja … durchaus wertschätzend.«

»Wertschätzend …« Crissa schüttelte den Kopf. »Wo hast du denn das aufgeschnappt, Howard? Aus einem Ratgeber für den vermoderten Gentleman?«

»Vermodert? Wer ist hier vermodert?«

»Na du!« Sie beendete die Handyaufnahme und sprang auf. »Schluss jetzt! Ich kann nicht mehr! Das war ein Fail auf der ganzen Linie!«

»Warum denn das?«, fragte er kleinlaut.

»Also, ich hab mir echt Mühe gegeben, bin voll auf dich eingegangen! Was ist mit dir los? Du verhältst dich wie ein kompletter Vollidiot. Sonst bist du doch viel charmanter. Wortgewandt, witzig …«

»Ja und?«

»Bei einem richtigen Date hätte es dich sofort aus der Kurve getragen.«

Hynch rutschte auf seinem Stuhl umher wie ein Schüler, der eine Standpauke bekommt. »Ich bin nicht gut in Small Talk.«

»Das ist kein Small Talk, Honey! Es geht darum, den anderen abzuchecken, und zwar im Schnelldurchlauf. Verdichtete Information! Alles zählt, alles, was du sagt – und was du nicht sagst! Die Blicke, auch die Gesten, die Mimik. Das ist alles superwichtig. Die Uhr tickt. Irgendwas musst du schon rauslassen, damit du ein wenig sympathisch rüberkommst.«

Sie ging um ihn herum, prüfend, kritisch. »Die Augenklappe geht übrigens gar nicht! Bei einem jüngeren Typen wirkt das vielleicht noch verwegen, aber ab 60 schaut’s voll behindert aus.«

»Ich bin 59.«

»Verzeih! Dann bist du ja noch in den besten Jahren. Wie wär’s mit ’nem Glasauge?«

»Zu Hause hab ich eins.«

»Dort erfüllt es garantiert seinen Zweck.« Crissa bremste ihre Ironie. »Jedenfalls kommen wir so nicht weiter. Haken wir die Probe unter ›lehrreiche Erfahrung‹ ab.«

»Helen und Rossalyn haben das Gleiche gesagt.« Hynch versank schier im Boden. »Ich sei ein hoffnungsloser Fall. Aber du bist doch spezialisiert auf hoffnungslose Fälle, sagten sie.«

»So, sagten sie das? Die beiden Tratschtanten können sich auf was gefasst machen!« Crissas Augen funkelten. »Du hast noch einen weiten Weg vor dir«, fügte sie etwas diplomatischer hinzu.

»Viel Zeit bleibt nicht mehr«, gab Hynch zu bedenken. »Nummer eins kommt morgen mit der Fähre an.«

»Morgen schon?«, stieß sie hervor. »Dann bist du am Arsch!«

»Das hilft mir jetzt auch nicht weiter.«

Widerstrebend begab sich Crissa wieder auf ihren Stuhl. »Na komm, fangen wir noch mal an. Gibt’s noch Whisky?«

»Nee, der ist alle.«

»Zum Glück hab ich was dabei.«

4

Helen sperrte das Schulhaus zu und schwang sich auf ihr Fahrrad. Die Kids hatten ihr heute wieder alles abverlangt. Sie fummelte ein paar feuchtklebrige Papierkugeln aus ihren Haaren, Resultat der Zielübungen, wenn sie sich umdrehte und etwas an die Tafel schrieb. Warum machte sie diesen Job eigentlich noch?

Weil sie die kleinen Scheißer liebte. Jeden einzelnen von ihren sieben Grundschülern, mehr waren es nicht. Im Sommer plante sie einen »Shakespeare-Tag«, vielleicht etwas zum Sommernachtstraum, ein Mann mit einem Eselskopf, das würde für die Kinder bestimmt unvergesslich werden. Oder es würde wieder scheitern wie alle anderen Versuche, ihren Schülern ein bisschen Kultur nahezubringen. Colonsay war eben nicht Glasgow oder Edinburgh.

Sie trat in die Pedale, die Teatime mit dem PDBDC fing bald an. Als Vorsitzende ihrer ambitionierten Vereinigung trug Helen natürlich eine besondere Verantwortung. Vor allem jetzt, da ein neues Mitglied auf der Warteliste stand! Nun ja, die Warteliste war leider nur sehr kurz. Im Grunde gab es sie gar nicht. Aber der schweigsame Mister Currie zog tatsächlich in Erwägung, in den erlauchten Kreis des »Pure Dead Brilliant Drama Club« aufgenommen zu werden! Was für eine Freude, der PDBDC bekam Zuwachs! Howard Currie war sein Name. Ein Schauspielername, absolut! Leicht zu merken, griffig, öffentlichkeitswirksam. Würde sich hervorragend auf den Plakaten machen. Unter Helens Namen natürlich und denen der anderen.

Sie war nicht leicht in Begeisterung zu versetzen, oh nein! Viele fühlten sich berufen, doch wenige waren auserwählt, so lautete Helens Devise. Howard allerdings konnte sie sich durchaus in einer Nebenrolle vorstellen. Als Banquo vielleicht? Oder Macduff? Duncan, der alte König? So vieles rückte plötzlich in greifbare Nähe.

Ein Schauer lief ihr über den gebeugten Lehrerinnenrücken, während sie die Uferstraße entlangradelte. Wenn sie ehrlich war, hatte sie es schon aufgegeben, Macbeth je auf die Bühne zu bringen mit ihrer traurigen kleinen Truppe. Der PDBDC hatte gerade einmal fünf Mitglieder, das war entschieden zu wenig, selbst mit Doppel- und Dreifachbesetzungen. Schon vom Ablauf her kaum machbar. Doch seit der talentierte Mister Currie Interesse zeigte, das Ensemble zu verstärken, hatte sich alles geändert.

Howard hatte nur ein kleines Problem. Er suchte eine Partnerin. Und darin war er völlig untalentiert, obwohl er sonst vollendete Umgangsformen an den Tag legte. Bei einem Rendezvous befolgte er nicht einmal die simpelsten Regeln, um eine Kandidatin von sich einzunehmen, so ergebnisoffen – oder verzweifelt – sich die Kandidatin auch zeigte. Es war ein Jammer.

Helen strampelte mit dem Rad eine Anhöhe hoch, die sich zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil der Insel erhob. Inzwischen hatte es unvermittelt aufgerissen. Ein paar Sonnenstrahlen bahnten sich entschlossen einen Weg durch die Wolkenbänke. Colonsays Küste zeigte sich von ihrer besten Seite. Sattgrünes Gras, ewiggraue Felsen, silbrig schimmerndes Meer unter einem schier endlos erscheinenden Himmel. Alles erglühte plötzlich, als besäße die Natur eine verborgene Leuchtkraft, die sich durch den Regen erneuerte, um sich frisch und zugleich uralt darzubieten. Die Magie der Hebriden.

In einer Haltebucht stieg Helen vom Rad und verschnaufte. Ihr Blick wanderte nach Scalasaig, dem Hauptort auf Colonsay, und zur Fährstation unten am Port an Obain. Auf den Salzwiesen davor weideten Schafe.

Wie wohl die Probe mit Crissa lief? Crissa war das Küken im PDBDC, die Jüngste im Bunde. Hoffentlich fasste sie den armen Howard nicht zu hart an, sie verströmte etwas Einschüchterndes. Aber sie war erfrischend unkonventionell und hatte immerhin ein Jahr in St. Andrews studiert, Jura, das war fast dasselbe wie Theater. Vielleicht gelang ihr es ja, den alten Junggesellen aus der Reserve zu locken?

Helen hatte es bereits versucht. Ein Kennenlerngespräch, gegenseitiges Abtasten, belangloses Geplauder. Vergeblich. Was auch an ihrer Neigung zu Monologen liegen mochte. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte, rezitierte sie Lady Macbeths großen Auftritt. Den hatte sie auch dem verdutzten Mister Currie zum Besten gegeben, um ihre Leidenschaft für Shakespeare zu vermitteln: Kommt, ihr Geister, die ihr auf Mordgedanken lauscht! Entweiht mich, füllt mich vom Wirbel bis zur Zeh, randvoll, mit wilder Grausamkeit! Howard hatte sich durchaus beeindruckt gezeigt. Aber als Helen bei der Stelle angelangt war Kommt an die Weibesbrust, trinkt Galle statt der Milch, ihr Morddämonen!, hatte er sich in Gedanken verabschiedet, das war nicht zu übersehen gewesen. Nun ja, solch finstere Rede war ja nicht jedermanns Sache, Helen hatte Howard wohl überfordert. Allein das Wort »Mord« ließ ihn zusammenzucken. Künftig musste sie sensibler vorgehen. Die Männer, sogar die älteren, waren heutzutage zartbesaitet.

Nach ihr war Rossalyn an der Reihe gewesen, auch sie ein verdientes Mitglied des PDBDC, hauptberuflich Angestellte im einzigen Hotel auf der Insel und recht lebenslustig, etwa bei den spontanen Folkkonzerten, die in der dortigen Bar stattfanden. Rossalyn hatte Howard ganz direkt gefragt, welche partnerschaftlichen Erfahrungen er vorzuweisen habe und wie er sich seine Zukünftige denn so vorstelle. Sie hatte ihre Rolle herzlich-zupackend angelegt, dafür musste sie sich kaum verstellen, und war sogleich auf Tuchfühlung gegangen – gewissermaßen im Kontrast zu Helens eher intellektuellem Ansatz.

Doch nichts verfing beim beratungsresistenten, wie vernagelt wirkenden Mister Currie. Er blieb ein Eisberg, wenn eine Frau ihn in romantischer Absicht ansprach und etwas erfahren wollte, was über seine Personalien auf der ID-Card hinausging.

Frustrierend. Denn die Zeit drängte. Der vorschnelle Mister Currie hatte nämlich schon vor Wochen eine Kontaktanzeige in der Oban Times aufgegeben. Nach einer Reihe von Zuschriften hatte er drei Kandidatinnen ausgewählt.

Drei.

Für ein Treffen auf Colonsay.

Nacheinander, jeweils am Wochenende.

Bei der letzten Teatime, zu der Howard als Gast erschienen war, hatte er dem versammelten PDBDC seinen Plan enthüllt. Er wollte seinen drei Kandidatinnen jeweils zwei Übernachtungen im Colonsay Hotel spendieren. Am Tag der Anreise war ein Abend zum Aufwärmen vorgesehen. Drinks an der Bar, erstes Beschnuppern in lockerem Rahmen, alles ganz harmlos. Samstags standen gemeinsame Unternehmungen auf dem Programm, Picknick am Strand, Wanderung, Fahrradtour oder Bootsausflug. Den Höhepunkt sollte ein Candle-Light-Dinner im Hotelrestaurant bilden, aus dem bei Bedarf durchaus mehr werden konnte. Abreise dann am Sonntag.

Kein schlechter Plan, fanden alle PDBDCler, zumindest in der Theorie. Aber Howard erwies sich als sträflich unvorbereitet, wie die Proben mit Helen und Rossalyn gezeigt hatten. Und das Treffen mit Kandidatin Nummer eins sollte schon am nächsten Tag über die Bühne gehen.

Crissa stellte also die letzte Hoffnung des Drama Club dar, Howard halbwegs datefähig zu machen, bevor es ernst wurde. Theaterleute halfen einander, Ehrensache. Howards Erfolg würde der ihre sein.

Eine Nachricht kam auf Helens Handy herein. Sie holte es aus ihrer Regenjacke und schaute aufs Display. »Howard hat einen an der Klatsche, der findet nie jemanden! Sehen uns später im Café.« Von Crissa.

Also ein weiterer Misserfolg. Tja, Übung war das halbe Leben, und Helen war ganz gewiss keine Frau, die schnell aufgab. Sonst hätte sie die Stelle in der Kilchattan Primary School nicht angetreten. Sie durfte nicht verzagen, musste eben einen neuen Anlauf nehmen. Wenn der steife Mister Currie erst einmal an den Proben des PDBDC teilnahm, würde er rasch Fortschritte machen, auch im privaten Bereich, da war sie sicher. Doppelt plagt euch, mengt und mischt! Kessel brodelt, Feuer zischt. Die Hexen im Macbeth hatten es Helen angetan. Ein wunderbar archaisches Element!

Archaisch kam ihr auch das Hochlandrind vor, das ihr auf der Anhöhe an der Seite von Bruder Ptolemy entgegenstapfte. Highlands jagten Helen Angst ein, obwohl sie als hochintelligente, durchaus zutrauliche Tiere galten.

Dieses Tier wirkte abgekämpft. Ziemlich am Ende. Kein Wunder, die Steigung hatte es in sich.

»Gleich haben wir’s geschafft, Lizzy!« Bruder Ptolemy klopfte der Kuh aufmunternd auf den Rücken. »Wenn wir oben sind, geht’s nur noch seitwärts weiter, auf einem Trampelpfad. Da tust du dir leichter als auf dem harten Asphalt.«

»Heja!«, sagte Helen zur Begrüßung.

»Frau Lehrerin«, gab Bruder Ptolemy zurück. »Wie geht’s?«

»Immer gut – wenn ich Sie sehe.«

»Gleichfalls. Bringen Sie Ihren Schülern schön bei, dass Tiere die gleichen Rechte haben wie Menschen? Und dass sie Teil unserer Seele sind?« Er wies auf das Hochlandrind.

»Natürlich. Das erzähle ich meinen kleinen Lieblingen jeden Tag. Respekt vor dem Mitgeschöpf!« Helen versuchte, ernst zu bleiben, konnte ihr zwanghaftes Lächeln aber nicht ausschalten. Bruder Ptolemy sah wieder einmal blendend aus. Und seine Augen! Umwerfend war maßlos untertrieben. Sie suchte nach Worten, nach einem passenden Vergleich. Dann fiel es ihr ein: tiefblaue Gebirgsseen! Beim Film war so etwas sehr gefragt, in Nahaufnahme. Mit einem derartigen Blick konnte man in Hollywood Karriere machen.

»Ihre Schüler sind zu beneiden«, sagte Bruder Ptolemy.

»So? Warum das denn?«

»Wie man hört, sind Sie mit vollem Einsatz dabei.«

»Danke«, sagte Helen. »Wie man hört, halten Sie ebenfalls Kurse ab.«

»Ja, aber das ist kein richtiger Unterricht, überhaupt nicht zu vergleichen mit einer verantwortungsvollen pädagogischen Tätigkeit wie der Ihren. Ich gebe höchstens Anstöße, inspiriere ein bisschen, im Rahmen meiner Möglichkeiten.«

»Sie sind sehr bescheiden.«

»Das ist doch nicht der Rede wert, Helen.«

»Ihre Kurse scheinen sich größter Beliebtheit zu erfreuen. Von überallher kommen deshalb Leute auf die Insel, sogar aus dem Ausland.«

»Ja, die Buchungen haben zugenommen, das ist Ansporn und Verpflichtung zugleich. Hauptsache, die Leute fühlen sich nach einem Aufenthalt in der Einsiedelei besser und reisen mit neuen Impulsen für ihr Leben von Colonsay ab.«

»Und was lernt man so bei Ihnen?«, wollte sie wissen.

»Selbstliebe. Unter anderem.«

»Klingt verlockend.«

»Mögen Sie sich etwa nicht?«, fragte er. »Sie hätten doch allen Grund dazu.«

Bruder Ptolemy ließ das so stehen, ohne weitere Erklärungen. O Mann, der Typ hatte den Bogen raus!

Helen hatte schon vor langer Zeit beschlossen, sich eher asexuell auszurichten, das ersparte ihr viele Probleme. Und wenn nicht asexuell, dann zumindest demisexuell, was so viel hieß, dass sie nur gelegentlich Lust auf etwas oder jemanden außerhalb ihrer Komfortzone hatte, nur wenn wirklich alles gerade einmal zufälligerweise passte. Das kam selten vor.

Doch bei Bruder Ptolemy konnte sie schwach werden. Auch wenn sie mit 42 schon ein paar Jahre mehr auf dem Tacho hatte als diese junge Sahneschnitte. Sein Angesicht war wie ein Buch, wo wunderbare Dinge geschrieben stehen. Lady Macbeth verstand es wirklich zu schmeicheln.

Helen war froh, dass sie ihre eng anliegende Jacke und die schwarzen Leggings trug, das betonte die Figur. Für ihren schicken Kurzhaarschnitt fuhr sie immer nach Oban. Sie war früh ergraut und ließ aus Prinzip nicht färben. »Aus Prinzip«, das war die Headline ihres Lebens. Sie war mit Leib und Seele Lehrerin, völlig egal, wie schlecht der Job bezahlt war, auf Colonsay brauchte man eh wenig Geld. Nur ihrer einzigen Leidenschaft konnte sie auf der Insel nicht frönen: Ein total abgefahrener Schauspielkurs an der Uni hatte sie einst fürs Theater begeistert. Gelegentlich fuhr sie nach Glasgow oder Edinburgh, um eine vernünftige Inszenierung zu sehen.

Sie setzte sich wieder auf ihr Fahrrad. »Wir sehen uns, mein Lieber!«, flötete sie.

»Wird mir eine Freude sein.«

5

Lizzy rang nach Atem. Sie keuchte, was das Zeug hielt. Diese verfluchte Steigung! Ihre Kondition war auch nicht mehr das, was sie einmal gewesen war. Nur mit halbem Ohr verfolgte sie, was Bruder Ptolemy mit der Fahrradfrau redete. Vermutlich den üblichen Scheiß.

Seit der Fährstation hielt ihr neuer Chef alle naselang an, um mit verschiedenen Leuten ein paar Worte zu wechseln. Er hatte eine einnehmende Mischung drauf: seine Kuhflüsterer-Rhetorik, Bodenständigkeit und individuelle Ansprache. Für jede und jeden fand er ein paar persönliche Worte, erkundigte sich, wie es auf der Arbeit lief oder zu Hause in der Familie. Das kam gut an, zumal er auf der Insel noch ein Neuling zu sein schien. Auffallend viele Frauen hielten einen kleinen Plausch mit ihm. Und auffallend häufig ging es dabei um die Kurse, die er anbot. Das schien seine Gesprächspartnerinnen brennend zu interessieren.

Endlich fuhr die Radlerin weiter.

»Komm schon, Lizzy, das letzte Stück schaffen wir auch noch«, sagte er. »Ab jetzt keine Unterbrechungen mehr, versprochen. Du bist doch bestimmt schon gespannt auf dein neues Zuhause, oder nicht?« Er verwuschelte ihre Nackenzotteln.

Lizzy setzte sich wieder in Bewegung. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Bruder Ptolemy einer der durchtriebensten Schlawiner war, den die Hebriden je gesehen hatten. Sie mochte das. Nichts war verkehrt daran, andere Leute auszutricksen, wenn sich eine Gelegenheit dazu bot.

Nachdem sie die Steigung überwunden hatten, öffnete sich der Blick zum Inselinneren. Ein paar Lochs lagen da wie gemalt, stille Seen, in denen sich der sich stetig verändernde Himmel spiegelte, umgeben von Moorlandschaft.

Vermutlich fischreiche Gewässer. Lizzy fand das recht vielversprechend. Obwohl sie im Grunde Veganerin war, hatte sie gegen eine fangfrische Forelle nichts einzuwenden. Sie fraß so ziemlich alles, was nicht niet- und nagelfest war, auch Ginster, Disteln und holziges Heidekraut. Als Highland Cow stopfte sie sich in den Wanst, was zu kriegen war. Auf saftigen grünen Weiden grasten vielleicht ihre verweichlichten Artgenossen aus den Lowlands, Angusrinder, Jerseys, Herefords, Friesians. Doch sie war Selbstversorgerin, eine raue Gesellin, daran gewöhnt, sich allein durchzuschlagen.

Momentan schob sie ziemlichen Kohldampf. Diese verdammte Überfahrt, seit Stunden nichts zu beißen!

Sie bogen in den Trampelpfad ein. Ein handgeschriebenes Schild zeigte an, dass »The Hermitage« noch eine Meile entfernt war. Oje! Bis dahin wäre sie bis auf die Knochen abgemagert und träfe als wandelndes Skelett in der Einsiedelei ein. Wenn das so weiterging, würde sie noch Bruder Ptolemys Kutte verspeisen. Lizzy kannte Ziegen, die sogar vor Unterhosen und Schlüpfern auf der Wäscheleine nicht haltmachten.

Er hatte zumindest nicht zu viel versprochen. Der Weg war wirklich viel angenehmer für eine Kuh, weicher Untergrund mit ein paar Steinen durchsetzt. Überall blühten Wildblumen. Sie war eine geübte Pflanzenkundlerin.

Meerfenchel bedeckte die Felsen in ausladenden, lindgrünen Dolden.

Lizzy senkte ihr Maul tief hinein.

Kuckucks-Lichtnelken säumten den Pfad als lieblich violettes Band. Lizzy inhalierte das Zeug in Rekordgeschwindigkeit.

Sumpf-Stendelwurz zeigte sich hier und da, der war ziemlich selten. Lizzy rupfte ihn büschelweise ab. Bisschen bitter, aber egal.

So fräste sie sich durch die Botanik.

»Geht’s wieder?«, fragte Bruder Ptolemy, nachdem der schlimmste Hunger gestillt war.

Sie brummte etwas Unverständliches und trabte genüsslich mampfend weiter. Wenn ihre Mägen etwas zu tun bekamen, lief es sich gleich leichter.

Er setzte eine Sandale vor die andere. Mit seinem Stab prüfte er hin und wieder, ob der Boden vor ihm fest genug war, damit er nicht unversehens im Morast versank. Eine in Schottland durchaus ratsame Vorgehensweise.

»Dann erkläre ich dir mal, welche Aufgaben in der Einsiedelei auf dich zukommen«, begann er und setzte eine gewichtige Miene auf. »Ich bin ein ›Spirit Seeker‹. Das bedeutet, ich suche den Lebensgeist, die Seele, das wahre Wesen eines Geschöpfes, ob Mensch oder Tier. Hört sich kompliziert an, ist aber ganz simpel, wenn man sich mal drauf einlässt. Doch nicht nur ich suche nach dem Lebensgeist, wir alle sind Spirit Seeker, auf die eine oder andere Weise, unentwegt, meistens unbewusst. In der Regel ist dieser Lebensgeist gut versteckt. Manchmal ist er verschüttet oder eingeschlossen, man kommt nicht so einfach an ihn heran. Ich helfe dabei, den Spirit aufzuspüren und mit ihm in Kontakt zu treten, sein Freund zu werden. Das war’s auch schon, darum geht es im Kern.«

Lizzy drehte ihm den Kopf zu und muhte. Es war ein skeptisches Muhen und sollte so viel heißen wie: »Aber sonst bist du noch ganz sauber?«

»Du pflichtest mir bei? Das freut mich, leider können nicht alle Leute etwas mit meiner Philosophie anfangen.« Bruder Ptolemy hob bedauernd die Arme. »Bestimmt fragst du dich jetzt, wie das in der Praxis so abläuft. Wie kommt man dem Lebensgeist auf die Spur, dem eigenen oder dem anderer? Zunächst einmal gilt es, Umwelteinflüsse zu reduzieren, unsere Sorgen und Bedürfnisse loszulassen. Auf Colonsay und vor allem bei uns in der Einsiedelei ist das ganz hervorragend möglich, je ursprünglicher, desto besser. Alle Spirit Seeker sind in den Häusern eines verfallenen Dorfes untergebracht. Außer einer mit Stroh gefüllten Matratze gibt es in den Ruinen keine störenden Annehmlichkeiten, nur die Natur mit Meerblick – paradiesisch geradezu und für nur 150 Pfund am Tag ein echtes Schnäppchen. Jeder bringt seinen eigenen Schlafsack mit. Wir haben sogar Plumpsklos. Ich nenne es ›Comeback-Living‹.«

Lizzy war mit Kauen fertig und hielt an, um sich einer Ansammlung gelber Butterblumen zu widmen.

»In einem Gemeinschaftsturm treffen wir uns mehrmals am Tag zum Essen, für die Kurse, Besprechungen und so weiter. Dort haben wir es recht komfortabel, der Umbau wurde noch mit EU-Fördergeldern finanziert. Jeder Spirit Seeker kocht abwechselnd für die anderen, wir haben ausreichend Vorräte. Bohnen sind sehr beliebt, die lassen sich leicht zubereiten, und günstig in der Anschaffung sind sie auch. Oben im Dachgeschoss wohne ich, einer muss ja den Überblick behalten, sowohl körperlich als auch geistig. Nachher zeige ich dir alles. Den Turm kannst du von hier aus schon sehen.«

Lizzy war mit ihrem Snack fertig und blickte in die Richtung, in die Bruder Ptolemy mit ausgestrecktem Arm wies. In der Ferne sah sie die Spitze eines alten Wachturms – auf den Hebriden ein gewohnter Anblick. Seit der ersten Besiedlung vor Tausenden Jahren hatten die Insulaner häufig nach willkommenen und häufiger noch nach unwillkommenen Gästen Ausschau gehalten. Für derlei Zwecke bot sich ein Turm an. Falls bei der vorherrschenden schottischen Nebel- und Regensuppe überhaupt etwas zu erkennen war. In der Village Hall von Gigha hatte Lizzy vielen Fachvorträgen gelauscht, durch ein eigens für sie geöffnetes Fenster. Sie war eine umfassend gebildete Kuh.

»Warum heißt du eigentlich Thin Lizzy?«, wollte Bruder Ptolemy wissen. »Wegen der irischen Rockband? ›Whiskey in the Jar‹ ist ein toller Song. Hast du irische Wurzeln?«

Geht’s noch? Sie blökte wie ein unterbelichtetes Schaf, von denen gab es auf Irland dem Vernehmen nach mehr als genug. Lizzy dagegen war so schottisch wie ein Haggis! Und der wurde bekanntlich aus Schafsinnereien und Schlimmerem hergestellt. Warum sie Thin Lizzy genannt wurde, war ihr schleierhaft. Da sie als Kalb ziemlich moppelig gewesen war, schrieb sie es der Ironie des Rinderzüchters zu.

»Vielleicht bist du ja in Irland geboren? Das könnte noch nützlich sein. Iren haben ein besonderes Verhältnis zur Anderswelt, sie sind geborene Spirit Seeker, könnte man sagen, wegen ihrer keltischen Vergangenheit. Auf den Hebriden ist ja auch viel davon zu spüren. Ich habe mir gleich gedacht, dass du einen Draht zu Bereichen hast, die über die Grenzen des reinen Verstandes weit hinausgehen, die das Leben durchweben, durchdringen … Das ist eine Gabe, ein Geschenk des Universums, dem darfst du dich nicht verschließen. Um es kurz zu machen: Du bist hier wegen Tiertherapie.«

Aha. Endlich erfuhr Lizzy, was es mit ihrem neuen Job auf sich hatte.

»Keine Angst«, fuhr Bruder Ptolemy fort. »Es ist nicht so schlimm, wie sich’s anhört. Sei einfach du selbst – eine Kuschelkuh! Lass dich streicheln, kraulen, in den Arm nehmen. Die Kursteilnehmer stehen auf unmittelbaren Kontakt mit der Natur – oder was sie dafür halten. Natur, das bist du, Lizzy! Ein bisschen wild, das hilft zusätzlich, den Spirit zu finden, die innere Stimme, die Essenz des Ichs. Und keine Angst, du bist nicht allein. Wir haben unter anderem Schafe, drei Lamas, Alpakas, eine Krähe. Alles deine Kollegen! Die Last verteilt sich auf viele Schultern, wir sind ein ideales Kollektiv, Menschen und Tiere in Eintracht. Alle haben die gleichen Rechte und Pflichten. Momentan fahren wir Gleitzeit, du kannst kommen und gehen, wann du willst. Na, was meinst du?«

Lizzy dachte scharf nach und verleibte sich dabei alles an Blumen vom Wegesrand ein, was sich in Reichweite befand. Wenn sie Bruder Ptolemys Geschäftsmodell richtig verstanden hatte, bot er eine Art alternative Selbstoptimierung an, Biohacking auf dem Plumpsklo, »back to the roots«, garniert mit einer reichlich nebulösen Esoterik vom »Spirit Seeking«. Hinzu kamen Colonsay als grandiose Naturkulisse und der jungenhafte Charme ihres neuen Chefs. Und sein Streichelzoo. Den sollte Lizzy anscheinend verstärken.

Alles in allem gar nicht so schlecht, oder?

Sie schnaubte zufrieden und gab ihm einen freundschaftlichen Stups mit dem Maul.

Damit hatte er nicht gerechnet, er kippte hintüber. Der Boden sah auf den ersten Blick nur ein bisschen matschig aus, erwies sich jedoch als netter kleiner Moortümpel. Bruder Ptolemy verschwand bis zur Brust in der Brühe und konnte sich mit seinem Stab gerade noch abstützen, sodass er nicht tiefer einsank. Mühsam rappelte er sich wieder hoch. Erst zog er den linken, dann den rechten Fuß aus der torfigen Umklammerung. Mit einem Schmatzen gab der Morast seine weiße Kutte frei.

Der Eremit hatte eine bräunliche Färbung angenommen. Er sah aus wie ein gebrauchter Kaffeefilter. Die Sandalen waren weg.

»Ich nehme es als Zeichen der Zustimmung«, sagte er und ging barfuß weiter. »Danke, dass du mir gezeigt hast, wo meine Grenzen liegen. Ich war wohl ein wenig selbstgefällig.« Er wies auf den Tümpel. »Die Sandalen sind übrigens biologisch abbaubar und tierleidfrei. Ich verliere andauernd welche, ist nicht so schlimm.«

Lizzy nickte. Ein guter Anfang.

6

Poch, poch, poch – wer da, in Teufels Namen?«

Helen betrat das Café der Colonsay House Gardens. »Gut gemacht!«, lobte sie Doug, der ihr die Tür aufhielt. Dann zog sie ihre Regenjacke aus und setzte sich zu den anderen an den bevorzugten Tisch des PDBDC.

Doug sollte in Macbeth unter anderem einen Pförtner spielen. Doch außer der mehrfach vorkommenden Wendung »Poch, poch, poch – wer da, in Teufels Namen?« konnte sich der betagte Fahrradverleiher kaum eine Zeile Text merken. Er vergaß so gut wie alles, und zwar rasend schnell. Angesichts seiner 77 Jahre nahmen alle anderen Rücksicht, aber Proben mit Doug wurden regelmäßig zu einem Martyrium.

Rossalyn und Graeme waren auch schon da. Fehlte nur noch Crissa, dann war die Teatime des »Pure Dead Brilliant Drama Club« komplett. Sie trafen sich einmal die Woche, immer am Donnerstag, immer um 16 Uhr. Die Umgebung hätte kaum angenehmer sein können. Das Café war Teil von Colonsay House, einem georgianischen Landsitz des fünften Baron Strathcona and Mount Royal. Als besonders sehenswert galten die öffentlich zugänglichen Gärten. Dort gediehen eine der schönsten Rhododendronsammlungen Schottlands sowie eine mächtige, dreißig Meter hohe Monterey-Zypresse, an der gerade ein paar Kinder emporkletterten.

»Auf der Terrasse waren keine Plätze mehr frei«, sagte Rossalyn und schenkte Tee aus einer medizinballgroßen Kanne ein.

»Kein Problem«, gab Helen zurück. »Wie ihr wisst, haben wir heute Dinge zu besprechen, die nicht für jedermanns Ohren bestimmt sind. Da brauchen wir keine fremden Zuhörer, unser Stammplatz hier ist dafür genau richtig. Sollen sich die Touristen draußen tummeln.«

Sie schaute sich in dem Raum um. Nur ein weiterer Tisch war besetzt von einem jungen Pärchen, das sich angelegentlich unterhielt.

Graeme, seines Zeichens Bootsführer, Austernzüchter und Schriftführer des PDBDC, wirkte gestresst. Er berichtete kurz von der abenteuerlichen Überführung eines Hochlandrinds von Gigha nach Colonsay, das habe ihn jede Menge Nerven gekostet.

Helen verschwieg, dass sie diesem Rind erst vor Kurzem auf der Straße begegnet war, sonst würde Graeme noch ewig weiterreden. Er war der größte Schwachpunkt ihrer an Schwachpunkten reichen Truppe.

Sein Handicap bestand darin, dass er maßlos übertrieb. Im Alltag war er völlig normal, doch sobald er in seiner Rolle als Banquo dran war, einer ohnehin redseligen Figur, plapperte er wild drauflos. Er wich einfach vom Text ab und schmückte ihn nach Gutdünken aus. Das allein war schon schlimm genug, denn seine Mitspieler warteten stets auf das Stichwort, nach dem es weiter im Text ging, auf einen Satz, an den sie anschließen konnten. Doch Graeme kapierte das Stichwortprinzip nicht so richtig. Darüber hinaus zog er Grimassen, gestikulierte dramatisch, hob beschwörend die Hände – seine Auffassung von großem Theater. Vielleicht lag es daran, dass seine Austern zur Einsilbigkeit neigten und sich etwas reaktionsarm zeigten, wenn er mit ihnen sprach. Graeme überkompensierte.

Aber da sonst keiner den Schriftführer machen wollte, war er dennoch ein wertvolles Mitglied ihrer Gemeinschaft.

Helen übernahm als Vorsitzende die Leitung des Treffens. »Kommen wir zum ersten und einzigen Punkt der Tagesordnung: Neuaufnahmen.«

Graeme zückte seinen Kugelschreiber. »Will heißen: Howard Currie?«

»Genau. Habt ihr Crissas Nachricht aufs Handy bekommen?«

Zustimmendes Gemurmel.

»Es sieht wirklich übel aus«, fuhr Helen fort. »Ich selbst und auch Rossalyn haben uns bereits in den Dienst der guten Sache gestellt. Aber der PDBDC gibt nicht auf! Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Howard auf die eine oder andere Weise zu seinem Glück verhelfen können.«

»Und wenn Howard die Hauptrolle übernimmt?«, probierte es Rossalyn. »Vielleicht gibt ihm das einen Schub. Beim Dating stellt er sich zwar wie der letzte Mensch an, aber ansonsten ist er eine ziemlich coole Socke.«

»Die Hauptrolle?«, widersprach Doug. »Aber ich spiele doch den Macbeth!«

Helen, Graeme und Rossalyn stöhnten auf und rollten mit den Augen.

»Wann lernst du es endlich, Doug?«, fragte Helen. »Sprich niemals den Namen der Titelfigur laut aus, das bringt Unglück!«

»Macbeth?«

»Jaaa!«, rief Helen. »Alter Theateraberglaube. Auf dem ›schottischen Stück‹ lastet ein Fluch, das weiß doch jeder. Geh sofort vor die Tür! Dann drehst du dich dreimal im Kreis. Und dabei schimpfst du wie ein Rohrspatz.«

»Stimmt, jetzt fällt es mir wieder ein«, meinte Doug.

»Hast du alles verstanden? Dreimal im Kreis! Kannst es auch sechsmal machen, viel hilft viel.«

»Klar, ich bin doch nicht senil.«

»Na, dann los, raus mit dir!«

»Ich geh ja schon.«

Sie hörten Doug vor der Tür Unflätigkeiten ausstoßen, die selbst Rossalyn die Schamröte ins Gesicht trieben. Woher er die hatte, wusste niemand. Doug war immer die Freundlichkeit in Person, ein liebenswürdiger alter Herr. Nach einer langjährigen Tätigkeit als Obergärtner von Colonsay House hatte er einen Fahrradverleih eröffnet, der Laden florierte.

Auf der Terrasse verrenkten sich die Leute die Köpfe nach dem unzüchtigen Greis, Eltern hielten ihren Kindern die Ohren zu. Aber so waren eben die Gepflogenheiten beim Theater, dachte Helen. Auf dem Tisch stand eine Box mit kleinen Portionsbeuteln aus Papier, die Salz, Pfeffer und Zucker enthielten. Sie nahm einen Salzbeutel und warf ihn über die linke Schulter. Graeme und Rossalyn taten es ihr gleich, das trieb böse Geister aus.

In der langen Geschichte der Macbeth-Aufführungen war so viel Merkwürdiges, Absurdes und Tragisches passiert, dass der PDBDC