Schottland und andere Erzählungen - Ulf Erdmann Ziegler - E-Book

Schottland und andere Erzählungen E-Book

Ulf Erdmann Ziegler

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Beschreibung

Mit jeder Geschichte, die endet, beginnt eine andere. Im schottischen Dundee beobachtet eine Tänzerin die Spaltung der Nation. In Hamburg geht ein radikalisierter Tierschützer verloren. Ein Berliner Punk findet nach einer Verletzung die Stille in der Musik, und ein junger Kameramann, seines Berufs schon müde, entdeckt das Lesen als Abenteuer. Dahinter steckt der Wunsch nach Erkenntnis, aber die Erkenntnis weckt wiederum Wünsche.

Hier findet man alles wieder, was man aus Ulf Erdmann Zieglers Romanen kennt: den fotografischen Blick, die schnelle Taktung, das Interesse für das Abgründige, die Empathie für seine Figuren. Die Erzählungen sind das, was bei einem Maler der Zeichenblock wäre. Das Unwahrscheinliche findet darin Platz, die Übertreibung, der Witz und die Empfindung. Sie skizzieren das Bild einer unruhigen Lebenswelt und fügen sich zu einem Gesellschaftspuzzle unserer Zeit.

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Seitenzahl: 225

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Ulf Erdmann Ziegler

SCHOTTLAND

und andere Erzählungen

Suhrkamp

In Erinnerung an Michael Rutschky

Inhalt

So nah sie sein mag

Kette verlieren

Endstation

Schottland und andere Erzählungen

Katalog des Abschieds

Video-Vampir

Der äußerste Arm der Konstruktion

Der Weisheit also näher

Zerbrochener Spiegel

Tagesordnungspunkt 7

Detroit

Am Valhallaväg

Anton Wilhelm

Letzte Rettung

So nah sie sein mag

Ungefähr so: mit festen Schuhen, einer weit ausgestellten Filzhose, einem indischen Hemd und einem algengrünen Strickpullover – ein rundes Gesicht und sehr kurze Haare, die nach oben standen. Die Augen nicht zu hell und nicht zu dunkel, mit einem perlmuttartigen Glanz, einem rätselhaften Punkt, der in ihnen wanderte, je nachdem, woher das Licht kam.

Im Moment kommt das Licht durch die hohen Fenster eines Raums, der auf einen lieblos begrünten Innenhof hinausschaut, was ich aber nicht sehen kann, denn ich sitze, wie sieben oder acht weitere Studenten, mit dem Rücken zum Fenster, während sie in der Reihe gegenüber eine Art Büro eröffnet hat, mit drei Büchern, einer schweren Kladde, die aufgeschlagen daliegt, und wenn ich es richtig erkennen kann, ist das, was schwarz in der Mittelfalz ruht, ein echter Füllfederhalter; obwohl mir dieses Wort in dem Moment unwahrscheinlich vorkommt. Ich beschreibe, still und für mich, wie sie aussieht. Und wie sie spricht. Und was für Bewegungen sie macht. Ich suche nach Worten, um herauszufinden, was an ihr Besonderes ist. Und ob es wahr ist.

Ich bin neu an dieser Universität, von der die jungen Studenten sagen, sie sei viel zu groß und unübersichtlich. Ich aber habe einige Jahre im Beruf hinter mir und fast ein Jahr auf Kreta. Ein Aussteiger wäre ich geworden, wenn ich nicht im September 1983 drei Wochen ein Haus betreut hätte, wo es nur darum ging, in der Pause zwischen den Sommermietern und der Rückkehr der Eigentümerin den Garten zu erhalten in seiner vollen Pracht, was leicht sein sollte, aber in Wirklichkeit schwierig war. Dies war kein Bungalow in Strandnähe mit Fernseher und Schmökerliteratur, sondern ein Haus in den Bergen, vierundfünfzig Bücher auf einem einzigen Bord; Bücher, die vielleicht zufällig abgestellt worden waren, für mich aber das Weltwissen zu enthalten schienen. Im Zeichen des Saturn hieß ein Buch, in dem geschildert wurde, wie bestimmte Denker denken. Sogar, wie sie auf Fotos aussehen. Deswegen war ich nach West-Berlin zurückgekehrt.

Sie macht keine übertriebenen Gesten, wenn sie spricht, und ihre Stimme hat gar nichts Borstiges, so wie wahrscheinlich dieser Mecki, über den ich gern mal mit der Hand fahren würde, mit der linken vielleicht, weil die rezeptiver ist. Ich schaue ihr zu, wie sie spricht, aber verpasse, was sie sagt. Als ich wieder dabei bin, scheint es um die Definition eines Begriffs zu gehen, und ihr Beitrag endet mit den Worten: »… was er eben meinte, als er schrieb: die einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag«, und ich denke, ist es nicht andersherum, dass sie nah erscheint, obwohl sie weit weg ist? Fünf Meter fünfzig bis fünf Meter siebzig, von meinen Augen bis zu ihren, wenn sie gerade sitzt, so wie jetzt. Schätze ich. Ich bin Kameramann gewesen.

Es gibt Seminare mit hundert Teilnehmern, mit achtzig, fünfzig, zehn. Wie viele sind wir, fünfhundert insgesamt oder fünfhundert in einem Semester? Ich sortiere die Mädchen im Schnelldurchgang, mein inneres Auge stellt eine jede vor einen weißen Hintergrund. Ich speichere zwei oder drei Takes und gebe ihnen Archivnamen: die Drollige, die Strickerin, die Diva. Solche mit kurzen Haaren sehe ich mir aus der Nähe an, wenn die Gelegenheit kommt. Da ist die blonde Schwäbin mit der Stirnfalte, die mit funkelnder Stimme makellose Sätze spricht; da ist die wendige Bleiche mit der schwarzen Bürste, die sich an der Universität in Bamberg gelangweilt hat; eine selbstsichere Drahtige mit schmalen, schnellen Augen, die Claudia heißt. Plus die mit den Filzhosen und dem grünen Pullover. Übrigens, der grüne Pullover hat vorn ein rotes Karo. Claudia kennenzulernen stellt sich als leicht heraus. Sie ist klug und elegant und lesbisch.

Wer sich in West-Berlin verbessert, behält die alte Wohnung und gibt sie weiter an Freunde, Geliebte oder Kollegen; die Mieten sind gering. So bin ich an diese Höhle gekommen. Ich bin zwischen sechs und sieben am Abend zu Haus, hole Kohlen aus dem Keller, schließe die Tür zum Treppenhaus hinter mir und mache sie vierzehn Stunden lang nicht wieder auf. Ich lese alles, was ich muss, und die kretischen Bücher. Diese habe ich komplett gelistet. Ich kaufe mir jede Woche eins, das reicht für ein Jahr. Jedes lese ich von vorn bis hinten und mache Anmerkungen, übertrage Sätze auf Karteikarten, und wenn ich durch bin, blättere ich noch einmal hinein und suche nach meinen großen Fragezeichen am Rand. Wo Fragezeichen stehen, beginne ich mit dem Absatz zuvor, mache nicht Halt und nehme zwei oder drei weitere Absätze mit. Ich glaube diese Methode erfunden zu haben. Wenn man das zweimal wiederholt, kann man die unverständliche Stelle nahezu auswendig, und sie ist dann nicht mehr ganz so unverständlich. Die Abende sind ungeheuer dunkel und schwer. Manchmal grüble ich, warum ich so lange gebraucht habe, um herauszufinden, dass ich das wollte: richtig lesen.

Ich kenne dieses West-Berlin wie keiner meiner Kommilitonen, die Rathäuser der Bezirke, die Garderoben der Theater, die Kühe von Frohnau. Das kommt durch meine Lehre beim SFB, das volle Programm von Nachrichtenschnipseln bis zu einstündigen Features, Politik, Kultur, Sport. Unterwegs in VW-Bussen mit der kompletten Technik; parken, schleppen, aufbauen, auf die Redakteurin warten; filmen, abbauen, schleppen.

Aber was heißt schon kennen. Diese Stadt ist voller schwarzer Spuren, wie eine blasse Farbfotografie, die mit dem Kohlestift überarbeitet wurde. Die Schwärze sinkt von den Dächern über die Brüstungen der Balkone in die Sockel der Mietshäuser und versickert im Boden. Nein, sie versickert nicht wirklich. Man geht auf ihr, auf diesem ungewissen, unscharfen Schwarz, das alles grundiert, die Lichter dimmt und die Reflexe stumpf macht. Es gibt zwei Methoden, sich zu wehren: Die jungen Männer spucken ihren Halsschleim anderen Leuten vor die Füße. Die Hunde scheißen auf diese Stadt, falls es eine ist, im 24-Stunden-Turnus. Aber das macht mir nichts aus.

Claudia geht aufrecht, trägt keine Mütze und hat den roten Schal nur locker um den Kragen ihres Mantels geworfen. Es ist fürchterlich kalt, und ich bin zu früh aufgestanden. Die Vorlesung im Klinikum Westend beginnt morgens um sieben. Jetzt ist es acht Uhr, und wir sind auf dem Weg zum Bus. Claudia sagt, ich solle mich nicht krümmen, davon werde es nicht wärmer. Ich versuche zu gehen wie sie, was auch besser aussieht, denn sie ist etwas größer als ich. Wir suchen heute nach Worten. Der Professor hat über Depression gesprochen und das letzte Stadium mit einem Videofilm illustriert. Die Patientin sitzt in der Ecke eines Raums und bewegt sich überhaupt nicht mehr. Das ist die letzte Phase, die man Stupor nennt. Wenn man sie lässt, wird sie verhungern.

Psychologie habe ich belegt, weil ich dachte, es sei falsch, ein reiner Geistesmensch zu werden. Denn das war ja umgekehrt der Fehler gewesen, acht Jahre zuvor, als ich unbedingt etwas Praktisches hatte lernen wollen. Nicht, dass es schadet, die Dynamik einer Kamera zu verinnerlichen, Schärfe, Helligkeit, Bewegung, Schnitt, aber es reicht nicht für ein Leben oder jedenfalls nicht für meins. Claudia studiert Psychologie im Hauptfach. Das ist nur sinnvoll, wenn man anderen Menschen helfen will. Das aber will ich nicht.

Alles, was ich will, ist zu verstehen. Ich besuche auch das neue Institut der Philosophen in Dahlem. Es sieht aus wie eine zu groß geratene Gartenlaube, der stählerne Rahmen grün oder türkis. Ich tue mich schwer mit den Begriffen, die hier geläufig sind, wie »intersubjektiv« oder »ein-eindeutig«. Aber ich bin nicht gekommen, um mich zu verschließen, sondern um mich zu öffnen. Ich bin fast fünfundzwanzig Jahre alt, habe sechstausend Mark auf dem Konto und keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen soll.

Es gibt Autoren, finde ich bald heraus, die es einem einfach machen wollen, auch wenn ihre Materie kompliziert ist. Andere bevorzugen das Geheimnis; die Aufklärer sagen: das Dunkle. Beim Dunkel aber denke ich an die Schwärze der Stadt. Insofern bin ich Kameramann geblieben. Man braucht immer ein Schwarz, für die Dynamik eines Bildes. Etwas zwischen Hellgrau und Weiß lässt sich kaum darstellen. Helligkeit ist völlig wertlos, wenn sie keine Zeichnung hat. Ich bin offen für alles, was ich begreife, und genauso offen für das, was ich nicht begreife. Ich sage mir dann, ich muss die Helligkeit noch einstellen. Irgendwann ergibt sich ein Bild. Mit solchen Vergleichen aber laufe ich bei den Philosophen auf. Sie finden meine Rede unnötig metaphorisch. Vielleicht gibt es Dinge, die ich für mich behalten muss, um die anderen zu verstehen.

Die Texte zu Aura und Reproduzierbarkeit, die wir lesen sollen, fallen gewiss unter geheimnisvoll. Noch habe ich keinen Versuch gemacht, das mit der Nähe und der Ferne wirklich zu fassen. Das liegt aber auch daran, dass ich es mir von dem Mädchen mit dem Mecki und den Filzhosen erklären lassen will. Wir sind diesmal zwölf, jetzt dreizehn, dann macht die Dozentin die Tür an ihrem Ende zu, während die andere offen bleibt. Ich könnte aufstehen und sie schließen, ich sitze in der Nähe, aber ich bringe es nicht über mich, weil die mit dem Mecki fehlt. Wenn die Tür offen bleibt, hoffe ich, kommt sie noch. Dann steht jemand auf und zieht sie ins Schloss.

Ich kann mich besser konzentrieren, wenn sie nicht da ist. Plötzlich verstehe ich auch den Satz mit der Ferne. Damit ist die Bedeutung eines Gegenstands bezeichnet. Der Autor sagt zwar nicht, dass man ihn nicht berühren darf, aber ich glaube, dass das gemeint ist. Und ein neues Wort habe ich gelernt, für etwas, was bereits behauptet wird, aber geprüft werden soll: Postulat.

Claudia hat mich gefragt, ob ich in meiner Neuköllner Höhle einsam sei, und ohne zu überlegen, habe ich geantwortet, dass ich für mein Leben genügend Leute kennengelernt hätte. Das will sie nun erklärt haben, und ich erzähle ihr von der Lehre beim Fernsehen und der Zeit als Kameramann.

»Ich galt sogar als speziell gut mit Leuten, weshalb ich angesetzt war auf Portraits – ›people‹. Ein Politiker mit einer dicken Brille hinter einem riesigen Schreibtisch. Der muss in einen Menschen verwandelt werden. Die Redaktion ist begeistert, dass ich die Kamera habe laufen lassen und zeige, wie er in einen Apfel beißt. Das ist ungefähr die Arbeit eines Vormittags. Am Nachmittag treffen wir einen eingebildeten, fettleibigen Bildhauer, der findet, man könne über Kunst gar nichts sagen: ›Det musste einfach sehen, wa?‹ Gegen Abend wieder im Schöneberger Rathaus, wegen einer Abgeordneten, die damit droht, ihre Fraktion zu verlassen. Schräg hinter mir immer der Tonmann, der so lange dabeibleiben will, bis er verbeamtet wird, und dann bis zur Pension. Wir sind wie siamesische Zwillinge, miteinander verkabelt, komplett aufeinander angewiesen. Am nächsten Tag geht es so ähnlich.«

Claudia lacht, »Okay, versteh schon. Die Routine. Und dann hast du das Lesen als Abenteuer entdeckt?«

Ich bin nah dran, ihr vom Haus der Gelehrten auf Kreta zu erzählen, aber tue es dann doch nicht. Es muss ein Geheimnis bleiben, warum ich lese, was ich lese. Auch der Buchhändler weiß nicht, weshalb ich vorletzte Woche Aufschreibesysteme bestellt habe, danach Der symbolische Tausch und der Tod und in dieser Woche – es ist schon da, aber noch nicht abgeholt – Über den Prozeß der Zivilisation. Er hat mir die Prospekte von sogenannten Theorieverlagen mitgegeben, die ich zu Hause in eine Schublade lege.

Ich weiß natürlich, dass mein Vorgehen abergläubisch ist, wenn nicht sogar lächerlich. Abergläubisch, weil das gut zwei Meter lange Bücherbord im griechischen Ferienhaus einer Privatdozentin aus Marburg für mich einen Kanon darstellt. Lächerlich, weil ich die Titel in der Reihenfolge bestelle, in der sie im kretischen Haus gestanden haben. Wenn ein Buch schwer zu besorgen ist, ziehe ich das nächste vor, Nummer dreizehn statt Nummer zwölf. Wenn aber Nummer zwölf eintrifft, lese ich es in derselben Woche und springe dann zurück in die Reihenfolge. Gewiss, ich könnte die gesamte Literatur in der Garystraße ausleihen; die Bibliothek der Universität hat alles, jedenfalls alles auf meiner Liste, das habe ich aus Neugier geprüft. Auch weil ich wissen wollte, ob es sich tatsächlich um akademische Bücher handelt. Bei meinem Vorgehen allerdings, das mich etwa ein Viertel meines Vermögens kosten wird, entsteht das Bord in Neukölln von neuem, Buch für Buch, und ich fiebere dem Moment entgegen, in dem ich das vierundfünfzigste – gelesen, natürlich – ins Regal stellen werde, obwohl ich mich auch davor fürchte.

Da ich niemandem offenbare, was ich tue, kann mich auch niemand dafür kritisieren. Claudia allerdings hat etwas bemerkt. Jetzt steht sie in der Jugendstilküche ihrer Frauen-WG in Friedenau, auch ohne Mantel gerade und entspannt zugleich, und stellt mich ihren Mitbewohnerinnen vor. Sie sagt, ich sei ein »geflohener Fernsehkameramann« und »Neuköllner Eremit«, und die jungen Frauen gackern. Plötzlich sind wir bei der Frage angekommen, ob Psychologie eigentlich dazu da sei zu helfen, sich selbst oder anderen. Ich sage, helfen könne man immer, dafür brauche man keine Psychologie; aber Psychologie sei gut als Korrektiv, weil eben vieles, was man über sich selbst oder die Mitmenschen denke, in ein zufälliges Raster falle, das aus der eigenen Erziehung stamme – und wäre es nicht gut, wenn man dieses erkenne, um dem Wiederholungszwang zu entgehen? Die WG ist amüsiert, behält mich zum Couscous-Essen da, spart nicht am Wein und beschwatzt mich zum Abschied kollektiv, am Samstagabend zu einem Vorweihnachtsfest an der Hochschule der Künste zu kommen, schwul-lesbisch, nee, sie hätten schon gemerkt, dass ich nicht schwul sei, aber ich solle trotzdem kommen. Ich sage zu.

Das Buch Nummer zwölf, hat sich herausgestellt, ist nicht zu besorgen. Es heißt Der Untergang des Abendlandes, und ich habe es dann doch in der Garystraße ausgeliehen. Der weiße Kachelofen ist auf unwiderstehliche Weise warm. Ich habe mir einen niedrigen Schemel besorgt. Mit dem Rücken gegen den Ofen gelehnt kann ich stundenlang lesen. In dieses Buch aber finde ich nicht hinein; ja, ich spüre, wie eine gewisse Empörung in mir aufsteigt, die sich teils gegen den Autor und teils gegen die Dozentin in Marburg richtet, weil sie ein Buch in das Regal gestellt hat, das ganz offensichtlich voller Unsinn ist. Erst jetzt merke ich, was es bedeutet, mit der Lektüre vollkommen allein zu sein. Ich lege gegen neun Uhr Briketts nach und mache mich auf zum Steinplatz. Das Nikolausfest, oder was auch immer es sein soll, ist bereits in vollem Gange.

So etwas habe ich noch nie gesehen, ein Fest ohne Zentrum. Selbst im Atrium, das mit Discomusik beschallt wird, halten sich nicht mehr als zwanzig Menschen gleichzeitig auf. Die meisten Männer sind halbnackt in Leder, hierhin unterwegs und dorthin; in einem der Atelierräume wälzen sich Nackte in Zeitlupe in einer grellen Videoprojektion; die Bar ist ein dunkler Ausschank in einer dunklen Nische, die nach Bier riecht. Claudia und ihre Kameradinnen winken mir zu. Überhaupt scheinen Männer und Frauen nichts miteinander zu tun zu haben. Frauen bleiben in ihren Gruppen, während Männer sich küssen und aneinander reiben, als wäre das Ende der Welt nah und dies die letzte Gelegenheit. Aber das ist nur das Vorspiel.

Ich sehe mich also um. Aber was sehe ich? Die Früchte der Emanzipation; die entblößten Geheimcodes einer Subkultur; den Untergang des Abendlandes? Dreimal finde ich mich im hohen Foyer vor der großen Eingangstür mit den schweren, schwingenden Türen, zögernd. Ja, ich gehöre wirklich nicht dazu – aber will ich zurück in die Neuköllner Nacht, in die Lektüre?

Beim dritten Mal glaube ich im Augenwinkel jemanden im anderen Flügel des Foyers zu sehen, der mich nachahmt. Ich ein Schritt, der andere auch. Ich mich ganz umgedreht, noch einmal hochsteigend, der andere auch. Ich die Treppe wieder runter … – Da will sich jemand über mich lustig machen! Jetzt am besten schnell raus, aber das wäre feige. Also bleibe ich stehen und nehme die andere Person in den Blick. Die sich mir im selben Moment, mich nachäffend, zuwendet. Die mit den Filzhosen!

Wie oft sind wir das später durchgegangen. Unsere parallele Pantomime bis zur Tür, dieses merkwürdige Lachen auf den Stufen draußen, mein Sturz auf einer überfrorenen Pfütze am Steinplatz. Humpelnd die finstere Carmerstraße hoch, die Pause vor dem beleuchteten Fenster der Buchhandlung, wechselweise die Namen der Autoren ausrufend. »Und wie heißt du?«

Wie der Winter immer kälter wurde und wir angefangen haben uns zu besuchen. Wie ich ihr im Februar dann doch verraten habe, warum ich gerade jetzt Vom Ursprung und Ziel der Geschichte las, und wir einen ganzen Abend in Neukölln verbracht haben, spekulierend, ob die Lektüren das Leben prägen oder andersherum. Ob das Denken, möglicherweise, ein Eigenleben führt. Wie es bis zum Sommer gedauert hatte, dass ich es schließlich wagte, durch ihren Mecki zu fahren. Mit links.

Kette verlieren

Es ist sinnlos, mit DJs zu reden, sie spielen sowieso, was sie wollen. Manne war älter als wir, fünfzehn gewiss, und da war nichts zu machen, es mussten Slade und Sweet sein, Wishbone Ash und T. Rex, zwei Stunden mindestens, bis wir müde waren. Dann kam das sanfte Programm, und plötzlich war ich Biggi nah, einem bleichen Mädchen mit rabenschwarzen Haaren. Ich fragte sie weder an jenem Abend noch am nächsten Tag, ob sie »mit mir gehen« wolle, aber ich fing sie an der Schule ab und ging dann buchstäblich mit ihr, mit ihr auf der einen und dem Fahrrad auf der anderen Seite. Rund um die Mädchenschule gab es einige stattliche Villen, und die Straßen waren kopfsteingepflastert. Zum Stadtring hin, bei der Brauerei, pappten die Häuser aneinander wie Kuchenreste, das Zwitschern der Vögel eingetauscht gegen das Dröhnen der Autos. Am Ring mussten wir nur den letzten, den westlichen Abschnitt nehmen, auf der einen Seite Blockbebauung mit vielen kleinen weißen Fenstern in hellroten, schmucklosen Backsteinfassaden und auf der anderen Seite die gigantischen Hallen der Allgemeinen Elektrizitätswerke, zurückversetzt, mit dem Parkplatz davor und dieser abgeriegelt durch einen Zaun aus Stahl, der sich vor dem Auge, im flachen Winkel, zu einer Wand schloss. Das Dröhnen war etwas schwächer, wenn man auf der Fabrikseite ging. Aber der Lärm hatte sein Gutes, denn es war nahezu unmöglich, Biggi mehr als zwei Sätze zu entlocken. Sie ging mit mir, und das war’s.

Der Zeichenlehrer der Jungenschule bestand darauf, dass der Kopf eines Menschen ein Achtel seiner Körpergröße ausmache, nicht mehr, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es bei uns Gymnasiasten andersherum war. Wir waren riesige Köpfe auf zwei kurzen Beinen. Die Grammatik des Deutschen und die des Lateinischen hatte sich wie ein System von Schläuchen in uns festgesetzt, und es gab nichts, wirklich fast nichts, was nicht darin transportiert werden konnte, und wenn man uns gefragt hätte, was die Goldene Bulle sei oder eine Allegorie oder Fellatio, es war alles abrufbereit.

Die Elektrizitätswerke reichten nicht ganz bis ans Ende des Rings, so dass Platz geblieben war für eine Stichstraße, zu der Wohnblocks quer standen, und Biggi wohnte im zweiten oder dritten von vieren oder fünfen und dort im dritten oder vierten Stock. Sie nahm mich nicht mit rauf. Ich hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, dass sie von allen Liedern, die am Nachmittag im Radio gespielt wurden, nur Get Down mochte, und die Witzeleien des Moderators Henning Venske fand sie nicht lustig. Nach ein paar Tagen deutete ich an, dass ich nicht mehr kommen werde, um sie abzuholen, und das tat ich dann auch nicht mehr.

Conny war Biggi insofern ähnlich, als auch sie schmal und blass war und mit nasaler Stimme sprach, was mir damals unwiderstehlich erschien. Wir waren zwei von fünfzig Leuten in Holzbaracken, gleich hinter den Dünen, mit drei Wochen auf der Ostseeinsel vor uns. Hier konnte man nicht mit jemandem gehen, weil alle an langen Tischen oder zum Beten im großen Kreis saßen. Conny war blond; ihre Augen hatten Licht; ein gewisser Spott hatte ihren fast farblosen Mund in Schieflage versetzt. Ich tat alles, damit klar war, ich würde nichts einfach so und für alle, sondern nur für sie tun: die Handhabung der Gitarre, die Exegesen, kleine Siege über die großen Wellen des Meerbusens. Sie aber verteilte ihre Aufmerksamkeit wie ein Missionar den Reis, abgezählt, da war nichts zu machen.

Man kann nicht alles aufheben und sollte auch nicht. Ich hatte, nach Jahrzehnten, mehrere Schubladen voll Tonkassetten weggeworfen, und dann, schon am Müllcontainer, eine zurückbehalten, die mit Hits beschriftet war. Wir hörten sie im Auto, und ich muss gestehen, dass mein Herz einen Sprung machte, als dieses elektrische Pumpen einsetzte, akzentuiert von einer schweren linken Hand auf dem Klavier, bevor die Stimme dazukommt. Das war alles damals in die Beine gefahren, in die kurzen Beine, die den großen Kopf trugen, der aber abgeschaltet gewesen sein musste, denn sonst hätte ich auch mit vierzehn Jahren verstanden, dass Get Down kein Liebeslied war. Der frivole irische Sänger sang: »Das hab ich dir schon oft gesagt, und ich bin es leid – runter jetzt, runter, bei Fuß …«

Ich wusste nicht viel über Petra, nur dass sie Connys Schwester war, ein bisschen älter. Wir Ferienlagerchristen erlaubten uns ein Zehntel Ungläubige, sonst wäre niemand zum Bekehren da gewesen. Petra rauchte und hatte Ringe unter den Augen, trug eine Jeansjacke und eine Silberkette, von der die Jungen flüsterten, sie werde sie abnehmen, wenn sie ihre Jungfernschaft verliere. Es geschah aber nicht das eine und nicht das andere, Petra packte ihren Koffer mit Kettchen und unbekehrt.

Sie hatte mich drei Wochen beobachtet und war zu dem Schluss gekommen, ich sei eine winselnde Erektion zu Füßen ihrer Schwester. Sie passte mich haarscharf ab auf dem Schiff bei Nacht, noch beseelt vom Gesang, aber schon traurig auf dem Rückweg zu den Eltern. Sie tuschelte mir etwas ins Ohr auf dem Zwischendeck, zog mich durch die von den Motoren vibrierende Luke in den Schiffsbauch, gängelte meinen Widerstand, »Ich will dir etwas zeigen«, schob mich in eine unbenutzte Schlafkabine und zog sich, zu meiner kompletten Überraschung, das Hemd über den Kopf, ließ die Jeans fallen, warf die Galoschen von sich und stand nun da im Slip, mit Silberkette.

Sagen wir, die Aufgabe wäre gewesen, einen Nagel ins Holz zu treiben. Dann war ich jemand mit einem riesigen Hammer, dieser aus Gummi, und während ich es versuchte, überlegte ich noch, was verlangt war, den Nagel reinzuschlagen oder rauszuziehen. Ich war Gymnasiast, Text, Grammatik, Lexikon und Interpretation zugleich, gebannt von eingebildeten Engeln; die Hosen voll bei Mädchen, die es wirklich wollten. Das oder etwas Ähnliches habe ich jedenfalls meiner Frau erzählt, auf einer Nachtfahrt durch Brandenburg. Ich hatte auf einem Rastplatz angehalten, um die Hits wegzuwerfen, und als die Kassette im stählernen Mülleimer aufschlug, zeigte eine Ratte ihren Kopf und musterte mich, der ich versteinert dastand, bevor sie im Inneren abtauchte.

Endstation

Man kann es noch nicht einmal googeln, Schwiederstorf, und wäre das nicht ein guter Grund, diese Ortschaft komplett von der Landkarte zu streichen? Was mich betrifft, weiß ich sehr wohl, wo das liegt, nämlich an der A1 in Richtung Bremen. Tatsächlich ist es so, dass man die Häuser – sie ducken sich so furchtsam in die Landschaft – von der Autobahn aus nicht sehen kann, aber wenn man in der Siedlung in seinem Garten sitzt, vor sich nur noch das, was man in Norddeutschland »die Koppel« nennt, erreicht einen das Dröhnen der Autobahn. Wenn man schon aufs Land zieht, habe ich zu Mami gesagt, dann doch nicht in eine derart einfältige Straße, mit einer Aussicht, die keine ist, in ein Haus, das niemand will. Aber da ist sie eben gelandet, als sie die Wohnung in Hamburg aufgegeben hat. Dort wohnt nur, wer glaubt, keine Wahl zu haben. Dann kommt man nach Schwiederstorf, das es eigentlich gar nicht gibt.

Hamburg: Schon als Kind fand ich diesen Betonklotz toll, dessen Balkone jeder für sich zur Alster gedreht sind, etwas aus der Achse. Und einer davon ist nun meiner. Nicht direkt am Wasser, da ist die große Straße dazwischen, aber immerhin mit Blick darauf. Aus unserem Haus bin ich die Einzige, die an der Alster joggt, denn die zweitjüngste Bewohnerin ist zweiundsiebzig, das sind fünfundvierzig Jahre Abstand zur jüngsten. Und die bin ich. Die älteste verrät nicht, wie alt sie ist, aber ich schätze, fünfundneunzig. Meine Schwester sagt, das passe zu mir, eben frühvergreist.

Dabei hatten wir doch eine schöne Kindheit in Hoheluft, vorausgesetzt, dass man nicht vorher schon weiß, was später passiert. Bis zur zweiten Klasse lief alles wunderbar, dann war plötzlich mit den Eltern etwas nicht in Ordnung, als wenn eine Fensterscheibe einen Sprung bekommt. Sie ist noch da, aber man guckt nicht mehr raus, man sieht immer nur den fiesen Riss. Ein Jahr später war die Ordnung wiederhergestellt und übrig nur noch wir, Mami, Emilia und ich. Mami hat uns nicht merken lassen, wie schwierig es für sie war. Einmal, um uns etwas zu bieten, hat sie uns mitgenommen ins Archiv von Gruner & Jahr. Damals wurden alle Artikel, die erschienen waren, irgendwie umkopiert auf riesige silberne Scheiben. Wenn man einen Artikel haben wollte, ging man in den Archivraum und orderte per Knopfdruck den Datenträger. Man sah so ein Silberding heranfahren wie im Inneren einer riesigen Jukebox, dann wurde es aufgelegt und abgespielt, aber statt Musik kam die Kopie eines Artikels aus dem Drucker, im ursprünglichen Layout vom stern, zum Beispiel. Das war ihre Arbeit, Artikel lückenlos einzulesen und korrekt zu verzeichnen. Halbtags.

Vielleicht hat Mami nie so richtig die Initiative ergriffen, »passiv, genau wie du«, sagt Emilia, die noch nicht einmal zur Schule ging, als Papa auszog – oder eigentlich über Nacht verschwand –, wie Emilia ohnehin und jederzeit für Papa Partei ergreift, einen Mann, den sie fast nicht kennt, ein Produkt ihrer Phantasie; die junge Jurastudentin, eine Puppe ohne Schatten. Die Hamburger Law School als Bestätigung ihrer Träume: Privatuni, Elitekader, sie glaubt wirklich, das sei alles Bestimmung.

Aber was heißt schon passiv. Mami hatte eben alles so gelassen, wie es gewesen war. Wir sind in Hoheluft geblieben, in der Vierzimmerwohnung mit knarrendem Parkett, Essen in der Küche mit Linoleumboden, und im Flur, später dann im Keller, Papas gesammelte Werke für den Rundfunk und das Fernsehen. Entweder war er zu feige, sich das abzuholen, oder er hat eingesehen, dass er das nicht brauchte. Schlimmer, vielleicht: Er wollte auf diese Weise demonstrieren, dass er ein neues Leben begonnen hatte. Dass er auch uns nicht mehr brauchte. Emilia bekam seinen ganzen Designerschnickschnack, als sie in sein Arbeitszimmer zog, die Artemidelampe, den in Chrom gefassten Schreibtischstuhl. Die Grafik von irgendeinem documentaberühmten Künstler – ein grellrot leuchtender Kreis oder ein Oval, das über die Jahre ganz langsam blasser wurde.