Und jetzt du, Orlando! - Ulf Erdmann Ziegler - E-Book

Und jetzt du, Orlando! E-Book

Ulf Erdmann Ziegler

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Beschreibung

»Ein zauberhaft schwebendes Freundschaftsbuch.« Roman Bucheli, NZZ

Und jetzt du, Orlando! erzählt die Geschichte einer ungleichen Freundschaft: Hier ist Oliver, aus der schwäbischen Rechtschaffenheit nach London entkommen, Familienvater, Buchhalter, untreuer Ehemann. Dort ist Orlando, eleganter Dandy, Sohn eines afroamerikanischen Vaters und einer drogenabhängigen Mutter, mit dem Bruder im Clinch. Sie treffen sich bei Turnstyle, einer Firma, die Arthouse-Filme verleiht.

Nach Feierabend streifen sie gemeinsam durchs nächtliche London, von Bloomsbury ostwärts bis an die Peripherie. Der letzte Pub ist eine Blechhütte im Niemandsland. Gehend erzählen sie aus ihrem Leben. Oliver schwadroniert, Orlando bleibt verschwiegen. Erst mit der Zeit begreift Oliver die prekäre Herkunft seines charismatischen Freundes. Aber er versteht nicht, wie gefährdet Orlando wirklich ist …

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Informationen zum Buch / Autor

Oliver führt in London ein Leben wie im Film. Nach dem Umzug aus Mannheim hat er Turnstyle Movies erfolgreich umgekrempelt; er hat eine kluge Engländerin geheiratet; zu Tochter Kathy hat er einen besonderen Draht. Und auch seine Affäre mit Anu ist wunderbar unkompliziert. Was ihm fehlt, ist ein Freund, mit dem er seinen Erfolg teilen kann.

Bei einer Preview entdeckt er Orlando, jung, schwarz, charismatisch. Gemeinsam streifen sie durch die nächtliche Stadt. Sie sprechen über die Liebe, über den Tod, das Kino, und es ist, als wären sie auf der anderen Seite der Leinwand. Aber wohin schaut man von dort aus?

Oliver erfährt, viel zu spät, von einer geplanten Fusion Turnstyles mit einem anderen Unternehmen. Während er um seinen Job kämpft, wird seine Frau Barbara immer erfolgreicher; die Ehe stürzt in eine Krise. Noch dazu ist Orlando weit mehr als der begabte Außenseiter, den er in ihm sieht: Orlando braucht kein Publikum, er braucht Hilfe. Und auf einmal ist es an Oliver, nicht nur den Film zu retten, der sein Leben ist, sondern auch seinen einzigen Freund.

In leuchtenden Szenen mit feinem, hintersinnigem Witz erzählt Ulf Erdmann Ziegler von Schein und Sein im glitzernden London des Milleniums. Von einer frappierenden Begegnung. Und vom Mut, den es braucht, um man selbst zu sein.

Ulf Erdmann Ziegler

Und jetzt du, Orlando!

Roman

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2018

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4917

© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch

Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne

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Umschlagfoto: Liu Zishan/Shutterstock

Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

eISBN 978-3-518-73904-4

www.suhrkamp.de

Inhalt

Prolog (Schattenseite)

Credo

Cineasten

Beweinung

Baracke

Epilog (Stummfilm)

Und jetzt du, Orlando!

Wer sterben soll, den kann keiner schützen.

Rolandslied

Prolog (Schattenseite)

Eine Straße entlanggehend, wählen die einen die Sonnenseite. Die Sonnenseite birgt das ganze Drama: blendende Reflexe, weiß gekörnte Flächen, ein Drunter und Drüber beweglicher und unbeweglicher Dinge, ein jedes unterlegt von einer körperlosen Schwärze, die man Schatten nennt. Fahrzeuge schießen urplötzlich aus dunklen Höhlen. Die auf dieser Seite unterwegs sind, freuen sich an Tausenden von tanzenden Blättern in einem großen Fenster. Sie bemerken nicht die Augenpaare, die ihnen aus dem Inneren einer Hotellobby folgen. Es ist ein Jahrmarkt des Schauens. Die Sonnenseite gilt ihnen als die ganze Welt. Eine, die für sie gemacht ist. Das da drüben, die Schattenseite, beachten sie nicht. Die sei es nicht wert, angeschaut zu werden. Das glauben sie wirklich. Dort drücken sich die Verlierer herum, da glitzert es nicht, in den Ecken sammelt sich Gerümpel.

Was sie nicht wissen oder nicht wissen wollen: Der auf der Schattenseite geht, kann die Dinge viel besser erkennen. Es gibt das grau Gerippte neben dem genoppten Schwarzen; eine Neigung im Bodenbelag, eine Fuge, einen Riss. Ganz leicht ist ein geschlossenes Tor von einem, das nur einen Spalt offen steht, zu unterscheiden. Der Weg, der hinter einem liegt, und der, der vor einem liegt, bilden eine Einheit, in der alles seinen Platz hat.

Das war die Seite Orlandos. Auf dieser Seite der Straße geht er in meiner Erinnerung. In Träumen. Für immer. Keine Rede davon, dass er am Leben nicht teilnahm. Nur, er bewegte sich auf der Schattenseite und mied die Sonnenseite, die Ungereimtheiten und Sensationen. Das ist alles. Und es stimmt, er galt als ein wenig melancholisch. Das ist gar nicht ungewöhnlich für Leute, die auf der Schattenseite gehen. Was er sich an Drama versagte, war ihm an Einsicht von Nutzen. Dachte ich. Glaubte ich. Solange er da war. So stellte ich ihn mir vor. So hätte ich ihn gern gehabt.

Ich hatte zunächst keine Ahnung, wo er herkam, aber das lag an mir, ich habe nicht gefragt. Ich fand sogar Gefallen an der Vorstellung, dass seine Herkunft etwas Geheimnisvolles habe. Es gab so viel, was ich ihm, und zwar unbedingt ihm, Orlando, und keinem anderen erzählen wollte. Nie hat jemand, zuvor oder danach, mir in dieser Weise zugehört. Wobei ich mich vielleicht nicht an alles erinnern kann, was ich gesagt habe damals, denn wir haben doch eine Menge getrunken, Bier am Anfang, dann Bier und einen Whisky, später nur noch Whisky, so dass ich ihn manchmal fragen musste, hatte ich schon erwähnt, Orlando …?, weil ich bereits an der Bar nicht mehr so genau wusste, ob ich etwas im Stillen gedacht oder es tatsächlich ausgesprochen hatte. Ich sah darin auch keinen bedeutenden Unterschied; nicht in dem Zustand. Ich hatte Orlando nicht nur erlaubt, dieses und jenes über mich zu erfahren. Irgendwann hätte ich zugeben müssen: Ja, Orlando, jetzt weißt du alles! Hätten wir mehr Zeit gehabt, es wäre so gekommen.

In den ersten drei oder vier Jahren, als er neu war bei Turnstyle Music, sah ich ihn selten. Die Firma hatte ihren Sitz in einem weißen siebenstöckigen Bürohaus auf High Holborn, unten das Rumpeln der U-Bahn und ganz London vor der Tür. Der Filmverleih dagegen war der ältere Betrieb, versteckt auf der Hinterseite mit einem Eingang von der Gasse her, Little Turnstile 29. Ein geprägtes Kupferschild: Turnstyle Movies Distribution. Der Name kam also von der Straße. Die Anekdote über das y im Firmennamen hatte ich mir nicht merken können, ob Finn drauf gekommen war, weil Stanley das y im Namen trägt, oder Stanley selbst. Das jedenfalls waren die beiden Gründer. Stanley hatte mit Finn den Verleih groß gemacht, zuerst mit vielen weißen Flecken auf der Landkarte des Filmverleihs und schließlich flächendeckend landesweit. Wir sind damals jeden Nachmittag dreimal zur Königlichen Post gegangen mit jeweils zwei Sackkarren, bis oben gestapelt die Filmkartons für den Versand. Nach einigen Jahren war Stanley, der das Ohr dafür hatte, auf die Idee mit den Musikrechten gekommen. So entstand Turnstyle Music, zwei Räume zur großen Straße hin, in jedem ein großer Schreibtisch. Jetzt kamen die Musikkollegen einmal die Woche zu uns herüber, wenn brandneue Kinofilme vorgeführt wurden. Vormittags. Einmal, kaum war der Nachspann durch, gab es ein Brainstorming über einen gerade geschauten Film, in dem Björk, die isländische Sängerin, eine blinde Mutter spielt. Wir plapperten alle drauflos. Auf diese Weise sammelten wir Stichworte für den Vertrieb, je origineller, desto besser. Und es war Stanley, der den Film wagnerianisch nannte. Plötzlich gafften mich alle an, der Deutsche sollte dazu etwas sagen. Aber bitte, ich war hier der Betriebswirt! Der Mann für die Zahlen. Woher sollte ich wissen, ob »wagnerianisch« richtig war? Oder falsch! Und da sagt dieser junge Typ von Turnstyle Music: Der Tod bei Wagner hat immer mit Rache zu tun. Das hat mich umgehauen, wie er seinem Boss widersprach, ganz beiläufig, schmunzelnd. Ich sah ihn gebannt an – aber das war es schon. Mehr kam nicht. Und ich dachte: Es liegt an diesem Gesicht. Dem glaubt man aufs Wort. Ich also total verblüfft, Kinnlade unten. Er sah mich an, auf eine besonnene Art, während die anderen lachten. Ja, das warst du. Das warst du, Orlando.

Credo

Sobald ich anfange, über Kunst zu reden, ich meine in Gesellschaft – und ich bin gern unter Leuten –, fängt meine Frau an zu lachen. Es stimmt, dass sie sich besser auskennt. Und das ist noch untertrieben. Es gehört zu ihrem Beruf, die Perlen im Haar einer Jungfrau zu enträtseln oder das Tier mit der roten Zunge in der Kreuzigungsszene. Solche Sachen. Jede Kunsthistorikerin ist eine Miss Marple der Ikonographie. Aber wahrscheinlich würde sie darüber schon wieder lachen und sagen, Ikonologie, mein Lieber, du lernst es nie.

Lernen ist nicht mein Ding, nie gewesen. Ich fasse nur auf, was mich brennend interessiert. Das meiste davon kam in der Schule nicht vor, Film zum Beispiel oder Buchhaltung, was zwar nicht ganz dasselbe ist, in meinem Beruf aber schon. Im Verleih muss man beides können, die guten Filme von den schlechten unterscheiden und trotzdem rechnen. Ein Prozent Jahresgewinn kann bedeuten, dass es ein Kino in zehn Jahren noch gibt, ein Prozent Verlust über zehn Jahre ist der sichere Tod. Da soll doch mal einer sagen, dafür brauche man kein Feingefühl. Ich weiß, welche Filme in Blackpool am Bahnhof laufen und welche mitten in Oxford mindestens am Freitag und Samstag ausverkauft sein werden. Meine Kollegen nennen mich »den preußischen General des Vertriebs«: britischer Humor.

Wahrscheinlich habe ich das von meinem Vater, der noch Latein und Griechisch gelernt hat, dieses Gefühl, dass die alten Sachen die haltbaren sind und die neueren gerade gut für fünfzehn Minuten. Ein Rest davon ist geblieben, aber das erkläre ich nur, wenn dafür noch Zeit bleibt, sonst komme ich nicht zur eigentlichen Geschichte. Ich war noch nicht einmal dreißig und ziemlich stolz, mitten in London zu wohnen. Dies musste sein, was auf Zigarettenplakaten, als ich ein Kind war, »die große, weite Welt« geheißen hatte. Letztes Jahr, o Schreck, war zwanzigstes Abiturtreffen, du weißt, was jetzt kommt – da säuselt mir ein Schulkamerad ins Ohr, auf Schwäbisch natürlich: Das Leben ist allemal komfortabel hier, sehr angenehm.

Genau davor war ich abgehauen. London nämlich ist ein ganz hartes Pflaster. Ich wohnte in einer der Gassen zur Themse runter, Hinterhof, und alles war damals matt und staubig südlich von High Holborn. Der Abgrund, der Dreck! Und mühsam war London, eine klappernde Metropolis mit heulenden Bussen, die nicht von der Stelle kamen; Victoria Station abgeriegelt, weil einer am Telefon mit einer Bombe gedroht hatte. Und am nächsten Tag das Gleiche von vorn. Fish & Chips an jeder Ecke, und so roch es auch. Ich hielt an meiner Behausung fest, aber die Liebesabenteuer waren flüchtig, sämtlich begonnen in einem Café zweihundert Meter nördlich vom Büro, wo die Sprachschulen angesiedelt sind, da konnte man den Küchenwecker drauf einstellen, wann es vorbei sein würde. Was mir irgendwie auch recht war, denn ich hatte keinen Plan, null. Seltsam, dass es nie mit einer Engländerin etwas wurde, noch nicht einmal mit Stella, der Cutterin, mit der ich mich in meinem ersten Winter so oft betrunken habe im Westend. Wir kamen einfach nicht an den Punkt, wo die Sehnsucht stärker ist als die Angst. Die Furcht vor dem Fremden, meine ich. Vor dem nackten Irrtum.

Ich war noch nicht einmal dreißig und schon das typische Opfer des eigenen Bildes im Spiegel. Uns hatten Soziologen das Etikett young urban professionals verpasst, im Unterschied zu was eigentlich, old country slackers? Die Arbeitgeber, die kleinen noch schlimmer als die großen, angeln sich Talente, um sie mit Haut und Haaren zu fressen. Sie zahlen ihre Gehälter, aber die Aufgaben wachsen. Jede Entdeckung, die man macht, jede Verantwortung, die man übernimmt, dehnt den Tag, die Woche, bedrängt am Ende den Jahreskalender. Wie empfänglich man ist für Lob, das kann er aber echt gut!, bis einem dämmert, dass gerade dies der Fluch ist. Sie selbst wollen ihre Schäflein ins Trockene bringen, sichere Anlagen, Freundin wird Frau, Rotary Club, aber die Arbeit will gemacht sein. So wird man immer einsamer, hohler. Nicht im Beruf, da wird man immer weiser. Es ist so, als wenn Arm und Bein auf die doppelte Stärke wachsen würden, aber nur rechts, während die linke Hälfte verkümmert. Die Seite, wo das Herz ist. Die Firma betreibt mutwillig deine Deformation, und du machst mit, du drehst dem Spiegel die stählerne Seite zu und ignorierst die andere.

Deshalb hatte ich mir angewöhnt, zu Vorträgen ins Courtauld Institute zu gehen, die fanden um sieben Uhr abends statt. Das war gut für mich, dann musste ich das Büro verlassen. Im Courtauld haben sie wunderschöne Gemälde – meine Frau würde jetzt fragen: Welche denn? Für mich aber kommt es nicht so drauf an, wer ein Bild gemalt hat und wie es heißt. Herrlich war es dort, es wurden Führungen gemacht, und junge Leute saßen am Boden und zeichneten nach uralten Originalen. Das Institut war mir lieber als zum Beispiel die Tate, obwohl die umsonst war. Als ich den Aushang sah, Bildungsreise nach Berlin, meldete ich mich am nächsten Tag telefonisch an, als vierzehnter Teilnehmer, Liste geschlossen.

Wir nahmen die U-Bahn nach Heathrow, eine Reise von der Länge einer Schulstunde, an deren Ende ich alle kannte. Die Gruppe bestand aus drei älteren Ehepaaren, fünf betagten Damen und drei jüngeren Frauen – Lydia, Suzanne und Şebnem. Suzanne als Leiterin der Gruppe. Die schlechte Nachricht: nur drei junge Frauen; die gute: kein Mann in meinem Alter. Denn mal ehrlich, es war nicht so, dass ich, ohne die Gemälde des Preußischen Kulturbesitzes gesehen zu haben, nicht mehr leben konnte. Ich wollte eine Engländerin finden, heiraten meinetwegen, und meine frühe Prägung suggerierte mir, dass Frauen, die stundenlang Gemälde anschauen, geeignet seien. Allemal geeigneter als Frauen, die sich stundenlang die Fußnägel anpinseln. Moderne Frau mit antiker Wurzel, ungefähr so hatte ich mir das vorgestellt.

Gemälde im Hochformat haben eine gewisse Würde. Das fixe Querformat bleibt für mich immer Kino. So starrten wir in Berlin auf die Kleinteiligkeit Brueghels, die Figuren wie in Startposition für eine Animation, die dann enttäuschenderweise ausblieb. Vor anderen Bildern jedenfalls sah Suzanne viel besser aus. Ich meine, ich betrachtete nicht direkt die Bilder, die sie erklärte, sondern ich sah mir Suzanne vor den Bildern an. Sie trug unter einem einfachen Kleid einen weißen Kragen, ihr Haar hinten aufgesteckt, wie ein rehbrauner Helm um ihr blasses Gesicht, durch rotbläulich leuchtende Lippen belebt, um nicht zu sagen erweckt. Weil sie mit dem rechten Arm deutete, also Platz brauchte, stand sie immer im rechten Drittel eines Gemäldes. Wenn sie sich zum Bild drehte, sah es so aus, als würde sie da hineingehen, und wenn sie sich wieder umdrehte, stellte ich mir vor, würde sie dem Bild entsteigen. Bemerkenswert der Glanz ihrer Augen, wenn sie sich wieder zum Publikum wandte, den vierzehn anderen, die sich im Halbkreis um sie herum aufgestellt hatten. Da ich immer ganz hinten blieb, sah ich Dr. Williman vor den Leichen einer Schlacht oder Mrs. Ogilvy getaucht in das düstere Braun einer Sumpflandschaft.

Dahlem war ein gewaltiger Museumskomplex, den wir, soweit ich mich erinnern kann, über den Eingang eines Neubaus betreten hatten, alles voll mit Wikingerschiffen und mittelalterlichen Bronzen. Ganz hinten dann die wertvollen Gemälde in einem wilhelminischen Schloss verschanzt, die Parkettböden knarrend, das Licht von fast unerträglicher Milde. Die Zeit stand still. Şebnem war dunkler als wir alle, klein und wendig, mit schwarzen Augen. Für die Bühne hätte man sie mit wenigen Kunstgriffen zum Pagen gemacht, ach was – Mignon. Hätte Eric Rohmer sie entdeckt, du weißt, was ich meine. Die drei jungen Frauen auf dieser Reise waren verblüffend schlicht gekleidet, ganz im Gegensatz zur Schar der Rentner mit ihren unglaublichen Mustern, Pepita, Glencheck, Paisley; gepunktet, schottisch, Pop. Ein faszinierender Aufzug, der die blau uniformierten Aufpasser in Alarmstimmung versetzte. Die dachten, wir wollten die Gemälde übermalen. Oder aufessen. Das waren Preußen, im Unterschied zu mir. Ich konnte gar nicht genug davon bekommen, wie sich die Gruppe um Suzanne immer wieder neu aufstellte. Da guckte die Jungfrau Maria ziemlich dumm aus der Wäsche im Vergleich.

Wir vom Courtauld fühlten uns nicht als Touristen und waren auch keine. Wir nahmen uns zweieinhalb Tage Zeit, um alle Abteilungen anzusehen, die Italiener, Spanier, Franzosen und die Deutschen, dreizehntes bis achtzehntes Jahrhundert. Als die wirklichen Meister der Form waren mir immer die Holländer erschienen, mit dem Geschick, ihre Straßen und Häuser und Tische so herzurichten, als sollten sie gar nicht benutzt, sondern nur betrachtet werden. Sie hatten die Methode der Betrachtung geradezu gepachtet. Während man sich zuvor über alles hatte irgendwie einigen können, gingen die Meinungen über die Holländer und Flamen auseinander. Die Mehrheit, zu der auch ich gehörte, fand, dass eine makellos illuminierte häusliche Szene auf einem Boden, der als Schachbrettmuster dargestellt wurde, respektabel sei, mindestens. Dr. Williman, der Chirurg – inzwischen vertraulich Cy –, bezeichnete Bilder dieser Epoche als »im besten Fall possierlich«. Dagegen sei die italienische Renaissance »künstlerisch und philosophisch überlegen«. Suzanne hielt sich bedeckt. Sie stellte zwar die Meister und ihre Werkstätten vor, erklärte Perspektive und Symbolik, aber sie ließ die Gruppe reden. Lydia war ganz klar auf meiner Seite. Sie erklärte uns, dass die niederländische Häuslichkeit eine ganz neue »Weltsicht« bedeute, und es sei völlig falsch, in die Bilder Vermeers oder van Eycks calvinistische Beschränktheit oder gar Innerlichkeit hineinzudeuten. Die Darstellung des Häuslichen ziele auf die Aussöhnung von Glauben und Merkantilismus in einer bedrohlichen Lage – der Dauerkrieg mit Spanien – und sei insofern nicht weniger bedeutungsvoll als das italienische Krippentheater zwei Jahrhunderte zuvor. Das saß!

Am zweiten Nachmittag, es war schon dunkel, hatte man die Führung beendet und einen »individuellen Rundgang« vorgeschlagen. Was bedeutete, dass man in der Cafeteria saß, im Neubau neben den Wikingerschiffen. Ich selbst war in der labyrinthischen Gemäldegalerie geblieben und hatte dort einen Raum gesucht, der, das werde ich nie mehr vergessen, die Nummer 247 trug. Man musste einige Stufen hinabsteigen, um ihn zu betreten. Wie gesagt, waren es immer die Hochformate, die mich anzogen. Obwohl ich den Amor kannte oder von Reproduktionen zu kennen meinte, war der geflügelte Knabe, splitternackt auf einem Dachboden voller Gerümpel, sofort mein Lieblingsbild gewesen. Ich dachte, der schaut in einen Spiegel. Und der Spiegel, das bin ich! Natürlich hatte ich gehofft, mit dem Bild allein zu sein, aber dann stand Lydia davor, drall in ihren Bluejeans, mit leichtem S-Schwung, regungslos. Ich stellte mich zwei oder drei Meter hinter sie. Ich, sie, der Knabe. Der Knabe, sie und ich. Nach einer Weile sagte sie, aber ohne sich umzudrehen: Eine Überraschung, die niemals aufhört! Dass der Satz Slogan-Qualität hat, merkte ich allerdings erst, nachdem ich von unserer Begegnung vor dem Amor mehrmals erzählt hatte. Du kannst dich nicht mit Kollegen in einen Londoner Pub setzen und von einem Stillleben mit Trinkgefäßen und Früchten schwärmen, dann denken die, bei dir ist ein Schräubchen locker. Der Liebesbote aber, der nicht aufhört, einen zu überraschen – da verzichten sie glatt mal für zwei Minuten drauf, vom FC Arsenal zu schwafeln. Oder von Take That. Und so ist Lydias Bemerkung ins englische Kino gekommen, immer zum Abschluss unserer Trailer. Mit der Stimme von Stephen Fry.

Ich hatte mir für Berlin vorgenommen, auf keinen Fall mit irgendeiner das Bett zu teilen. Das ist viel leichter zu haben, als verheiratete Männer glauben. Mich aber hatte das gänzlich einsam gemacht, erst Rausch und dann Vakuum. Wer weiß, wo ich das aufgeschnappt hatte, dass Paare selbst herausfinden sollen, ob sie zueinander passen, bevor sie sich binden. Ich passte immer, wurde dann aber abgestoßen wie die Hülle einer Larve. Meine Rolle war offensichtlich, etwas Glücklicheres vorzubereiten: Amor als Verlierer.

An einem Sonntagnachmittag, ein Rest Winternebel überstrahlt von einer unsichtbaren Sonne, bewegte sich eine Taxikarawane von Dahlem nach Charlottenburg, wo Suzanne uns die jüngeren Franzosen zeigen wollte. Was sie auch tat. In kluger Voraussicht hatte sie sich ein cremefarbenes Kleid angezogen, darüber eine gehäkelte Jacke in Mauve mit perlmutternen Knöpfen. Sie hatte einen feinen Kopf, Suzanne, und die Farbe ihrer Lippen verband sich mit ihrer Stimme, einem Alt wie eine Glocke. Bei Watteau aber war sie mit ihrem Kunsthistorikerlatein am Ende. Sie wusste, was die Venus bedeutet und warum über einer bombastischen höfischen Szene Bübchen ohne Unterhosen fliegen. Auch wenn sie sich mit alldem schwertat. Suzanne, so viel war klar, verabscheute Dekadenz durch und durch.

Ich hielt mich weiterhin im Hintergrund, und dort geschah es, dass ich Şebnem zum ersten Mal aus der Nähe sah. Und zwar von oben; sie war ziemlich klein. Sie musste ihren Kopf um fünfundvierzig Grad nach hinten neigen, um einem Durchschnittseuropäer in die Augen zu sehen. Das Haar tiefschwarz, ihr Gesicht rund, und dann diese Augen. Wahrscheinlich sehen Tausende von Frauen so aus in Istanbul oder Delhi oder Islamabad. Denkt man. Mit einem Mal konnte ich den Schleier abwerfen, der mich fixiert hatte auf die eigene Ethnie, die sommersprossige Schönheit. Augenbrauen hatte sie, Şebnem, jedes Haar wie einzeln getuscht. Der äußerste denkbare Aufwand der Schöpfung. Fast unmöglich, sie nicht zu streicheln.

Şebnem war für Watteau und gegen Suzanne. Leise sprach sie zu mir im Rücken der Gruppe. Sie war für das Spiel, das Leichte und das Rosarote. Sie sah zwar gezähmt aus und gestriegelt, das Tochterpferd eines Diplomaten, aber sie dachte wild. Sie las Nancy Friday, um in Erfahrung zu bringen, »wie sich Frauen fühlen«. Sie sagte, wenn das britische Fernsehen nur halb so interessant wäre wie die Briefe von Madame de Sévigné, wäre es gerettet. Auf dem Rückflug brachte sie mir bei, dass »Holzweg« ein Wort aus der Philosophie sei. Das war mir neu. Wir saßen nebeneinander, und ich ließ mich tiefer in den Sitz sinken, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. Es war ein Propellerflugzeug, das auf der Stelle zu stehen schien, bis es anfing, abzusacken und wieder nach oben zu springen. So schlecht wie mir war, konnte ich Şebnems Augen ertragen, sie waren gewissermaßen neutralisiert. Wenn der Magen ein Stein ist, stellt der Trieb sich tot, nicht wahr? Erst als wir in Heathrow am Gepäckband warteten, versunken in unser Gespräch, begriff ich, dass sie mit fünfundzwanzig Jahren längst verheiratet war. Und nach ein paar Tagen in London wurde mir klar: Ich hatte sie in mein Herz geschlossen. Alle drei. Suzanne war gebildet, Lydia klug, Şebnem ein Brunnen von Ideen. Suzanne war eher groß, aber vielleicht ein bisschen holzig. Lydias Üppigkeit musste nur enthüllt werden. Şebnem war winzig, aber in ihrer Winzigkeit wahrscheinlich perfekt. Stell dir vor, die Daten dieser drei in einen Computer gespeist, die Quersumme gezogen: ihrer Gehirne, ihrer Körper, ihrer Hautfarben; Alter, Herkunft, Temperament, Erfahrung, Geruch. Sogar ein Drittel verheiratet wäre kein Problem gewesen, wenn man an die anderen zwei Drittel dachte. Du siehst, ich war weit entfernt davon, mein Leben in die Hand zu nehmen.

Noch vor Ostern kam eine Einladung von Suzanne zu einem merkwürdigen Anlass, ich fürchte, es war die Pensionierung ihres Vaters. Am Rand einer Gemeinde nördlich von Cambridge besaßen ihre Eltern ein altes Bauernhaus, geschmackvoll umgebaut, sich öffnend zum Garten, der bestückt war mit Tischen, Stühlen, Grills und brennenden Fackeln. Man hatte das Fest auf den frühen Nachmittag gelegt und Glück gehabt, es war hell und warm. Es wimmelte von Kindern und liebreizenden Eltern mit idiotisch auf festlich gebürsteten Frisuren. Suzanne, stellte sich heraus, hatte nur eine Schwester, Gayle. Sie war etwas jünger und gelöster. Ganz selbstverständlich half sie dem Personal, das Buffet auf den Weg zu bringen. Im Laufe des Nachmittags lernten wir uns natürlich kennen.

Dann sind Sie der Holländer, sagte sie.

Ich bin Deutscher.

Ich meine per Neigung.

Die Gemälde, o ja, wenn Sie das meinen. Suzanne hatte also von mir erzählt.

Ein aufgeräumtes Haus, ein runder Spiegel über der offenen Feuerstelle, steiles, klares Licht, das durch die hölzernen Gitter hoher Fenster fällt, assoziierte Gayle. Sie beschrieb das Haus ihrer Eltern unter dem Vorwand eines niederländischen Gemäldes.

Finden Sie diese Neigung verachtenswert?

Eine in sich ruhende Mutter, ein blondes Kind, sagte Gayle, als hätte sie mich nicht gehört.

Besser als ein bärtiger Alter, der seinem Sohn das Messer an die Kehle setzt, sagte ich. Sie sah mich an, ohne etwas zu sagen, auf eine bohrende, fragende Weise. Sie sah sehr englisch aus. Da begriff ich, warum Suzanne mich eingeladen hatte.

Später am Nachmittag, ein Sprühregen hatte eingesetzt, und die meisten Gäste waren ins Haus geflohen, zeigte Gayle mir den Nutzgarten, die ersten Blüten; durch den Rhododendron zur offenen Wiese dahinter. Dort war eine hohe Schaukel mit zwei Sitzen aufgestellt. Wir trockneten die alten Bretter mit den Ärmeln. Dann begannen wir zu schwingen, keinesfalls synchron, über dem Garten ihrer Kindheit. Manchmal riefen wir uns etwas zu. Wir hatten Weißweingläser in der Hand. Bei Beginn der Dämmerung saß sie dann, mit einem Anflug von roten Bäckchen, auf dem Beifahrersitz meines Firmenwagens. Ich fuhr langsam nach Cambridge. Wir sprachen darüber, wie es ist, älter zu werden, und wir wussten beide, was gemeint war. Nebenbei erwähnte sie, sie sei Pharmazeutin, und ich sagte, dass ich in der Unterhaltungsindustrie mein Geld verdiene. Sie fand nichts Schlimmes daran. Als sie ausstieg, eine Gasse mit Kopfsteinpflaster und Gaslicht, blaue Stunde, drückte sie ihr Gesicht an meines und streichelte meinen Nacken wie den eines kleinen Jungen.

Ich fuhr dann noch im Ortskern herum, obwohl ich wusste, dass man da nicht durchkam. Warum, dachte ich, wohnen eigentlich in England die studierten Leute alle auf einem Fleck? Warum sehen die Universitäten aus wie Schlösser? Warum sagen englische Frauen alle fünf Minuten: Ich mache doch nur Spaß!? Ich war ein wenig angetrunken und ziemlich aufgewühlt. Jenseits der Ringstraße hielt ich in einer Zufahrt, die wahrscheinlich zum Klärwerk führte oder zu einer Kiesgrube. Ich schlief auf dem Fahrersitz, nicht lange, aber ich zitterte, als ich wieder zu mir kam, die Scheiben beschlagen.

Es war ganz bestimmt nicht so, als hätte ich beim Linksfahren keine Routine gehabt. Die hatte ich. Beim Peugeot war selbstverständlich das Lenkrad auf der rechten Seite, ein Kombi mit Automatik, ganz leicht zu fahren. Du wirst es nicht glauben, aber genau in dem Moment, in dem ich kurz davor war, in England heimisch zu werden, lenkte ich das Auto vom Halteplatz aus auf die rechte Seite einer dunklen, regennassen Landstraße. Die leicht hügelan ging. Vielleicht fünf oder zehn Autolängen Fahrt, bevor ich korrigierte, also auf die andere Seite zog, als ich jenseits der Kuppe Licht sah. Der Schlag war ungeheuerlich. Sie hatte mich, also den 405er, ganz hinten erwischt, und durch den Aufprall war er in ihre Spur zurückgedreht. Ihr Wagen, ein fliederfarbener kleiner Ford kurz vor der natürlichen Verschrottung, war mitten auf der Fahrbahn stehen geblieben, genau an der Trennlinie. Sobald wir beide wussten, dass niemand verletzt war, fingen wir an zu streiten. Dann schwiegen wir, während sie rauchte. Plötzlich deutete sie in den offenen Kofferraum und fragte: Die silbernen Dinger da, was ist das denn? Erst da merkte ich, was ich den ganzen Tag lang im Auto hatte liegen lassen. Es waren drei Rollen 35-Millimeter-Film in ihren runden Aludosen, die komplette Kopie eines Kinofilms noch vor seinem Start.Das Grauen, sagte ich. Und während sie den Filter ihrer Zigarette platt trat, fing sie an zu lachen, ich meine, derartig zu lachen, dass sogar mir auffiel, wie komisch meine Antwort gewesen war. Obwohl sie mir total auf die Nerven ging mit ihrem hässlichen Auto, dem Rauchen – mit der großen Brille sah sie aus wie eine Eule –, wurde mir schlagartig klar, dass der Unfall banal war, ein Witz verglichen mit dem, was plötzlich in der Luft lag. Wir waren wohl auch beide nicht mehr nüchtern, und die Polizei gänzlich unwillkommen. Wir sahen uns also die Autos an und schoben den Escort auf den Seitenstreifen, nicht ganz leicht mit einem fast blockierten Vorderrad. Der Peugeot sah auch schlimm aus. Die hintere Stoßstange hing auf der Straße. Gelegentlich fuhren Autos vorbei, wurden langsamer, aber keines hielt an. Immerhin, der 405er ließ sich starten. Wir nahmen die Stoßstange und hebelten sie gegen die Karosserie, bis die Verankerung nachgab. Meine rechte Hand blutete, aber es gelang. Wir schoben die Stoßstange unter den Ford. Ich bot an, sie nach Cambridge zu fahren. Sie sagte, sie wolle nach London. Ich merkte spitz an, das sei aber die falsche Richtung. Und schon waren wir wieder am Streiten! Am Ende gab sie beleidigt nach, und wir fuhren in meine Richtung weiter. An der nächsten Kreuzung zeigte sich, dass sie recht hatte. Also drehte ich wieder um, eine Entschuldigung murmelnd. Wir hielten an der nächsten Raststätte, Kaffee und Mineralwasser, und versuchten, einen klaren Kopf zu bekommen.

Und das war deine Frau, sagte Orlando.

Ein Kaffee und ein Mineralwasser?, fragte der Wirt von hinter dem Tresen. Es war unsere erste Verabredung in der Museumstaverne, und ich hatte vielleicht zu laut gesprochen.

Ja, genau, nickte Orlando, aber nur, um den Wirt zu foppen. Ich war noch grinsend dabei, den Kopf zu schütteln, als das Mineralwasser kam. Aber das bezog der Wirt nicht auf sich.

Ja, sagte ich. Das war Barbara.

***

Damals war London noch nicht, was es dann geworden ist. Ja, die Docklands waren teils schon neu bebaut, aber noch nicht verbunden mit der übrigen Stadt, ein Lego-UFO für Leute, die mit Schlips ins Bett gehen und so auch wieder aufstehen. Als ich hier ankam, gab es noch dunkle Winkel und übersehene Stellen, die Häuser der City ächzten in den Fugen. Nicht, dass sich das alles geändert hätte, aber jetzt stehen die Makler vor der Tür, die dir erklären, deine Anderthalbzimmerwohnung mit Einfachfenstern und Linoleumboden wäre ein goldener Palast! Das hat alles seinen Preis, nicht wahr? Man kommt in die Hauptstadt des Königreichs, um seine Taschen und alles, was man erspart hat – falls man etwas erspart hat –, in die Taschen von Spekulanten zu entleeren. Wenn man nichts erspart hat, dann kann man ja einen Kredit aufnehmen, man reiht sich also ein bei den Spekulanten, indem die unausweichliche Wertsteigerung angeblich alles bezahlt. Klar, in Bloomsbury zu leben war schon lange teuer gewesen, und der kommerzielle Druck auf der Oxford Street unbeschreiblich. Es gab aber noch ganze Viertel ärmlicher Gassen, die Bordsteine abgewetzt und glänzend. Die Haustüren nicht ganz in ihren Rahmen, aufgequollen, dutzendfach übermalt, die Treppenhäuser düster, deren Brüstungen schlapp, die Stufen quietschend und ausgetreten. Ich fand das damals schon maßlos, dreihundert Pfund für eine Butze im Hinterhof, die mir allerdings den Vorteil bot, mitten in der Stadt zu sein und nur wenige Minuten vom Büro. Sie lag im vierten Stock, das Dach darüber war noch nicht ausgebaut, und so wohnte ich ganz oben, wo es hell war. Obwohl hell auch nicht das richtige Wort ist. Dunkel war’s nicht, nicht direkt am Fenster. Auf der Straße lag Müll, ich meine, die Leute haben ihre Regale zerbrochen und Tischbeine eingetreten und das ganze Zeug auf die Straße gepackt, wo es wochenlang blieb, ganz anders als in Deutschland, mit den festgelegten Sperrmüllterminen, die sich die vormerken, die ihren Hausstand ausdünnen wollen, aber auch jene, die sich daran bedienen. An dem Tag wird alles, in Süddeutschland allemal, absolut ordentlich auf dem Gehweg aufgebaut, so dass auch Glas und Spiegel nicht zerbrechen. Am Kühlschrank hängt vorn ein Schild »Funktioniert noch!«, hinten ist das Kabel aufgerollt und zusammengeschnürt. So war das1980, als ich Student im ersten Semester war. Wir haben fast alles, was wir brauchten, von der Straße geholt. Sogar den langen Ledermantel, den ich mich hier in den ersten Jahren nicht getraut habe zu tragen, weil ich dachte, das sieht nazimäßig aus. Am Tag bevor der Sperrmüll abgeholt wurde, musste man zeitig dran sein, nachmittags schon, wenn die Leute anfingen auszumisten, aber selbst am späten Abend war noch etwas übrig, ein Staubsauger, ein Fernseher, ein Besenschrank. Dann kam ich nach London, aber natürlich nicht mit einem Möbellaster. Hier lag jede Menge Müll auf der Straße, nur eben nichts, was noch tauglich war. Einmal wollte ich hinter dem Royal Court of Justice einen wackligen Stuhl mitnehmen und habe fast eine Anzeige bekommen, weil ich versucht hätte, die Behörde zu bestehlen. Alles musste man selbst kaufen. In Deutschland gab es längst Ikea, in England noch nicht. Damals einen Stuhl zu kaufen, dessen Beine nicht irgendwie auf antik gedrechselt waren, war nahezu unmöglich, gar nicht zu reden von geblümten Gardinen und gehäkelten Tischdecken und Stehlampen mit Schirmen, die aussahen, als hätte jemand im Ersten Weltkrieg eine Rinderblase über einen Draht gespannt und dann auf dem Dachboden vergessen – so etwas stand dann im Herbst 85 im Fenster des Leuchtengeschäfts auf High Holborn. Ein echter Hit.

Ich habe also im ersten halben Jahr sehr karg gelebt, mit einer Tasse und einem Löffel, einem Futon auf dem Boden und einer Glühlampe unter der Decke, die ich in eine leere Konservendose gehängt hatte, um es mir gemütlich zu machen. In einer Zeitschrift hatte ich Bilder von Wohnungen gesehen, die die Stadtguerilla soeben aufgegeben hatte, und so ähnlich sah es auch bei mir aus, ein Lager für vier Wochen, für drei Monate höchstens, das man ohne große Verluste würde zurücklassen können. Ich dachte damals wirklich, dass London eine Episode in meinem Leben bleiben würde, ein schräger Berufseinstieg, allemal gut zum Perfektionieren der lingua franca der Wirtschaftswelt. Ich hatte doch nicht Betriebswirtschaft studiert, um anderen Leuten zu helfen, Geld zu verdienen. Ich dachte daran, beim Aufbau einer Ökobank mitzumachen oder für Ärzte ohne Grenzen zu arbeiten. Es war Zufall, dass ich plötzlich in London war, oder das glaubte ich jedenfalls, und meine Bude war der Beweis, die tägliche Buße dafür, dass ich meinen altruistischen Absichten untreu geworden war, sobald sich die Chance geboten hatte. Nämlich sofort.

Dass ich in die Lage kam, mit sechsundzwanzig Jahren und nichts anderem als einem deutschen Hochschuldiplom in einen Filmverleih hineinzurutschen, der ganz England belieferte, hatte mit meinen Vorgängern in der Buchhaltung zu tun. Turnstyle Movies war mit Finn in der Hand eines ursprünglichen Eigentümers, aber rott wie ein Familienbetrieb in vierter Generation. Am Anfang hatten Finn und Stanley, Partner mit gleichen Rechten und Pflichten, alles selbst gemacht, die Akquise der Filme, die Verträge mit den Produzenten, die Absprachen mit den Kinoleuten, den Versand. Dann hatten sie einen Vertreter, später drei, die nur herumreisten und Kinos besuchten. Die Buchhaltung wurde professionalisiert. Das ging eine Weile gut. Bis der älteste Vertreter auf einer Dienstreise verunglückte. Das war für den zweiten ein Grund aufzuhören, und der dritte war so ein Typ, der während der Vorführung eines brandneuen Films draußen eine rauchen geht. Als auf Computer umgestellt wurde, kündigte der Buchhalter. Nach der Eingabe der Zahlen zeigte sich, dass Geld fehlte, nicht viel allerdings, und man konnte nichts beweisen. Der neue Buchhalter war ein honoriger Herr, der mit Mühe »Computer gelernt« hatte und seine Zeit bis zur Rente überbrücken musste. French Connection war der letzte Film, den er selbst im Kino gesehen hatte – 1971! –, und er hatte ihm nicht einmal gefallen. Es sah also nicht gerade gut aus für Turnstyle insgesamt als einem von drei unabhängigen Verleihern, die England und Nordirland mit Autorenfilmen und Musikdokus versorgten.LMD war größer, teilweise auch schon dran an amerikanischen Filmen. Sirius war sehr viel kleiner, aber bei weitem besser aufgestellt im Dokumentarbereich. Wenn man damals den Mann auf der Straße gefragt hätte: Wer ist Stephen Frears? Nichts als Schulterzucken. Oder Kurosawa – eine Kampfsportart? Tarkowski – vielleicht der polnische Außenminister? Die besten Filmemacher der Welt waren praktisch Geheimtipps.

War Stanley schockiert, als er einmal die Gelegenheit hatte, mein spartanisches Zuhause zu besichtigen. Am Tag drauf fragte er mich, ob ich mein Apartment – so drückte er sich aus – als Location verleihen würde. Gleich am Abend kam er mit dem Ausstatter vorbei, und es hieß, dass ich alles so liegen lassen sollte, wie es gerade war, inklusive der Zahnbürste. Das muss man sich mal vorstellen, ein Film über einen Junkie, und sie suchten einen Drehort für den letzten Trip. Na klar, für den Goldenen Schuss. Und dafür war meine Wohnung bestens geeignet. Der Produzent wollte mich für zwei Tage in einem Dreisternehotel einquartieren, aber stattdessen bekam ich eine Einladung nach Islington von Finn und Betty. Dasselbe Haus wie heute, aber damals gehörte ihnen nur die Wohnung im Parterre. Die Söhne gingen schon in die Schule. Es war so schrecklich gewöhnlich da draußen, das bisschen Grün und das Kinderkreischen und die warmen Mahlzeiten. Aber genau das tat mir gut. Es fiel mir wie Schuppen von den Augen, wie sehr ich an England gerade die häusliche Seite mochte, den Übergang von der Küche zum Garten, diesen Hauch von Anarchie oder Nachlässigkeit, wie man’s nimmt. Dass der Fernseher im Wohnzimmer stumm läuft und niemand hinguckt. Der Bildschirm als Lampion.