Schrei der Nachtigall - Andreas Franz - E-Book
SONDERANGEBOT

Schrei der Nachtigall E-Book

Andreas Franz

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Landwirt Kurt Wrotzeck vom Heuschober stürzt und sich das Genick bricht, deutet zunächst alles auf einen Unfall hin. Weder bei ihm zu Hause noch in seiner Umgebung ist von Trauer etwas zu spüren, denn der Tote war im höchsten Maße unbeliebt. Peter Brandt übernimmt die Ermittlungen und glaubt nicht an einen Unfall – sehr zum Missfallen von Staatsanwältin Elvira Klein. Warum besucht der Uhrmacher Marco Caffarelli jeden Tag Wrotzecks Tochter, die nach einem Autounfall im Koma liegt? Und welche Rolle spielt die Witwe des Opfers? Peter Brandt stößt auf ein Geheimnis, das sich als der Schlüssel zu diesem Fall erweist … Schrei der Nachtigall von Andreas Franz: Spannung pur im eBook!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 442

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Franz

Schrei der Nachtigall

Kriminalroman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungPrologMittwoch, 18. August 2004Donnerstag, 7.30 UhrFreitag, 6.45 UhrSamstag, 0.45 UhrFreitag, 22.20 UhrSamstag, 8.30 UhrSonntag, 13.00 UhrEpilog
[home]

Für Alfred Franz

(1924–1991)

[home]

Prolog

Allegra Wrotzeck und Johannes Köhler waren seit dem frühen Freitagabend bei ihren Freunden Ferdi und Anne gewesen, sie hatten sich Erin Brokovich auf DVD angeschaut und sich anschließend noch unterhalten. Die beiden jungen Männer hatten Cola getrunken, während Allegra und Anne sich eine Kanne Tee gemacht hatten. Irgendwann, während die Männer in ein Gespräch über Fußball verwickelt waren, hatte Anne sich mit ihrer Freundin auf den Balkon gestellt und leise und mit einem Augenzwinkern zu ihr gesagt: »Ihr benehmt euch ja schon fast wie ein altes Ehepaar. Wollt ihr nicht endlich mal heiraten? Ich meine, das wird ja immer ernster mit euch.«

»Ich weiß nicht, was du unter immer ernster verstehst«, entgegnete Allegra ausweichend, »doch wenn du denkst, dass ich …«

»Ich denke gar nichts, ich beobachte euch nur. Aber ganz ehrlich, ich bin zwar auch schon ’ne Weile mit Ferdi zusammen, aber so wie ihr, das könnt ich nicht. Fühlst du dich nicht zu jung für so was Festes?«

»Keine Ahnung, die Zeit wird es zeigen. Aber bitte, ich möchte heute nicht darüber reden, mir ist nicht danach. Ein andermal, okay?« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Du meine Güte, es ist ja schon so spät. Ich muss gehen, ich will nicht schon wieder einen Anschiss kriegen.«

»Herrje, du bist achtzehn und kannst so lange wegbleiben, wie du willst. Mein Vater macht jedenfalls keinen Stress, wenn ich erst morgens um vier nach Hause komme oder bei Ferdi übernachte.«

»Du kennst doch meinen. Ist aber auch egal …«

»Find ich nicht. Du lässt dich von ihm rumkommandieren und dir alles verbieten. Ich krieg die Krise, wenn ich das hör. Manchmal möchte ich ihm am liebsten«, sie sah Allegra plötzlich entschuldigend an, »na ja, du weißt schon, was.«

»Und was, meinst du, soll ich dagegen tun? Ich wohne eben noch zu Hause. Und außerdem, wieso kommst du ausgerechnet heute damit?«, erwiderte sie ungewohnt gereizt.

»Weiß nicht, einfach so. Vielleicht, weil du meine Freundin bist und ich stinksauer auf deinen alten Herrn bin.«

»Er ist mein Vater. Aber wenn du willst, können wir ja ein andermal drüber reden.« Sie gingen wieder in das warme Zimmer. Allegra tippte mit dem Zeigefinger auf ihre Armbanduhr. »Schatz, können wir?«

»Sofort, ich trink nur schnell aus.« Johannes, der im vergangenen Herbst sein Medizinstudium begonnen hatte, setzte das Glas an, wischte sich nach dem letzten Zug über den Mund und stand auf. »Tja, dann, wir sehen uns«, sagte er, legte einen Arm um Allegra und begab sich mit ihr zu seinem Ford KA, den sein Vater ihm im vergangenen Jahr zum bestandenen Abitur geschenkt hatte. Allegra hatte noch einen knappen Monat, bis auch sie ihr Abschlusszeugnis in der Tasche haben würde. Sie kannte bereits ihre schriftlichen Noten und war einigermaßen zufrieden. Jetzt hing es nur noch von den mündlichen Prüfungen ab, ob sie ihren bisherigen Schnitt von 1,6 würde halten können. Doch sie war zuversichtlich, auch wenn die Abinote für ihre Zukunft eher zweitrangig war, denn sie wollte Musik studieren und eine Gesangsausbildung machen, was ihrem Vater gründlich gegen den Strich ging. Für ihn gehörte eine Frau ins Haus und hinter den Herd, hatte Kinder zur Welt zu bringen und sich liebevoll um ihren Mann zu kümmern. Aber das war nicht das, was Allegra im Sinn hatte, heiraten und Kinder schon, irgendwann, nur erst würde sie ihren Traum verwirklichen und das tun, was ihre Musiklehrerin und der Leiter des Kirchenchors, in dem sie Mitglied war, ihr angeraten hatten, nämlich das Beste aus ihrem Talent zu machen.

Allegra war eins sechzig groß, schlank und sehr hübsch. Ihr volles braunes Haar fiel, wenn sie es nicht zu einem Zopf geflochten hatte, bis weit über ihre Schultern, die smaragdgrünen Augen schienen alles um sie herum sehr genau wahrzunehmen, geradezu aufzusaugen, ihr Mund war wie gemalt, und die Finger wirkten fast fragil, als würden sie zerbrechen, wenn sie etwas Schweres anhoben.

Doch trotz ihrer äußeren Zartheit war Allegra stark. Vor allem hatte sie einen ungebrochenen Willen, mit dem sie sich ein ums andere Mal gegen den scheinbar übermächtigen und überaus dominanten und keinen Widerspruch duldenden Vater zur Wehr setzte. Und sie war beliebt, es gab kaum jemanden, der sie nicht mochte, denn sie hatte eine unverfälscht natürliche Art, versuchte jeden liebenswürdig und vor allem gleich zu behandeln, obwohl die bisherigen achtzehn Jahre für sie selbst nicht gerade ein Zuckerschlecken gewesen waren. Es waren allein ihr Durchsetzungsvermögen und ihr unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen, die ihr halfen, selbst die schwierigsten Situationen zu meistern. Niemand, ihr Vater ausgenommen, vermochte sich ihrem Charme zu entziehen. Sie vermittelte stets den Eindruck von Fröhlichkeit und Beschwingtheit. Und auch dies gehörte zu ihrem Wesen, es war ihr in die Wiege gelegt worden, das Ernsthafte, bisweilen Melancholische, das sich vor allem in ihren Augen widerspiegelte. Wenn sie sprach, war ihre Stimme sanft, manche behaupteten, samten, und wenn sie lachte, klang es warm und weich.

Allegra war eine besondere junge Frau. Bereits als sie ein Kind war, hatten sich die Jungs um sie geschart wie die Bienen um den Nektar, doch schon seit dem Kindergarten gab es nur einen für sie, Johannes, mit dem sie alt werden wollte, der sie verstand und in ihrem Bemühen unterstützte, vielleicht eine Karriere als Opernsängerin zu machen, was noch ein Traum war, der sich aber möglicherweise erfüllen würde.

Einmal, es war erst vor wenigen Tagen, hatte er in einem seiner seltenen Anflüge von Wehmut gefragt, ob sie ihn wohl fallen lassen würde, wenn sie Erfolg hätte. Und sie hatte ihm mit einem Lächeln geantwortet, dass ihre Liebe für ihn stärker sei als ihr Streben nach Ruhm, und außerdem wisse doch keiner von ihnen, ob ihr großer Berufswunsch jemals in Erfüllung gehen würde. Daraufhin erzählte er ihr von einem Traum, in dem sie beide Hand in Hand über eine Wiese spazierten, doch sie sprachen nicht miteinander, sie sahen sich nicht einmal an, während sie sich auf den Horizont zubewegten, der schier unendlich weit schien. Mit einem Mal war Wasser zwischen ihnen, anfangs nur ein schmales Rinnsal, das jedoch schnell immer breiter wurde, bis sie sich nicht mehr an den Händen halten konnten. Die ganze Landschaft veränderte sich, aus dem Rinnsal war binnen Sekunden ein reißender Fluss geworden, der Himmel hatte sich verdunkelt, schwarze Wolken bedeckten ihn. Schließlich sahen sie sich über den Fluss hinweg an, und ihre Blicke waren traurig, und er erzählte, sie habe sich immer weiter von ihm entfernt, weil das Wasser so breit und auch so tief war, dass sie unmöglich zusammenbleiben konnten. Ihm kam es vor wie eine Trennung auf ewig, und er war von diesem Traum verstört und schweißgebadet aufgewacht. »Das hat nichts zu bedeuten«, hatte Allegra daraufhin gesagt, »das war nur ein dummer Alptraum. Es gibt nichts, was uns trennen kann.« An jenem Abend war alles anders als sonst, stiller, bedrückt, und sie hielten sich lange umarmt. Und Allegra spürte intuitiv, dass dieser Traum kein gewöhnlicher Alptraum gewesen war, doch sie hütete sich davor, es auszusprechen, denn sie selbst war zu verwirrt und wollte auch nicht mehr darüber nachdenken, obwohl das Erzählte sie noch an den folgenden Tagen beschäftigte.

Sie stiegen in das Auto ein und fuhren zu einem nahe gelegenen Parkplatz, wo sie oft standen, um Abschied voneinander zu nehmen, obgleich sie sich schon am nächsten Tag wiedersehen würden. Sie unterhielten sich über den zurückliegenden Abend, Allegra legte ihren Kopf an seine Schulter, er streichelte über ihr Haar.

»Ich würde am liebsten mit dir fortgehen und dich heiraten«, sagte Johannes leise. »Weit, weit weg.«

»Ich auch«, erwiderte sie nur.

»Warum ist das Leben bloß so schwer? Warum können wir nicht einfach zusammenleben?«

»Das Leben ist gar nicht so schwer, es kommt nur drauf an, aus welchem Blickwinkel man es betrachtet.«

»Ja, ja, du Philosophin«, sagte er mit einem Anflug von Lachen, auch wenn ihm nicht danach zumute war. Überhaupt lachte er seit dem Tod seiner Mutter vor drei Jahren nur noch selten, zu sehr hatte ihn dieses tragische Ereignis mitgenommen und beschäftigte ihn auch heute noch. »Mich würde zu sehr interessieren, wie unsere Kinder wohl aussehen werden. Bestimmt wie du, dann wären es die schönsten Kinder der Welt.«

»Jetzt mach aber mal halblang. Nicht das Äußere ist entscheidend, das habe ich dir oft genug gesagt.«

»Du bist schön.«

»Auch eine Frage des Blickwinkels. Außerdem siehst du auch nicht gerade schlecht aus, aber deswegen habe ich dich nicht ausgesucht. Wir sind eben füreinander bestimmt.«

»Meinst du wirklich?«

»Sicher.«

»Wie sicher?«

»So sicher wie das Amen in der Kirche.« Sie betonte es mit fester Stimme, auch wenn der Traum, den Johannes gehabt hatte, mit einem Mal wieder vor ihren Augen erschien.

Sie schwiegen eine Weile, Allegra schaute aus dem Seitenfenster in den sternenklaren, fast mondlosen Himmel. Der milde, sonnige Frühlingstag war einer kühlen Nacht gewichen. Sie fühlte sich wohl, wenn Johannes sie im Arm hielt, sie sich an ihn lehnen konnte. Mit ihm wurde es nie langweilig, ganz gleich, ob sie wie jetzt schwiegen oder sich unterhielten. Und obwohl sie sich nun schon seit ihrer frühesten Kindheit kannten und liebten, war jeder Tag, den sie miteinander verbrachten, ein besonderer Tag.

Schließlich sagte sie: »Lass uns fahren, ich will keinen Ärger kriegen. Du weißt, wie mein Vater ist, wenn er getrunken hat.«

»Ich möchte zu gerne wissen, was in seinem kranken Hirn vorgeht. Der hasst mich, aber ich frag mich immer, was ich mit dem ganzen Streit zwischen unseren beiden Familien zu tun habe. Ich hab ihm doch nichts getan.«

»Er ist nun mal so. Er ist mit sich und der Welt nicht im Reinen. Ich würde auch am liebsten meine Sachen packen und abhauen, aber das könnte ich meiner Mutter nicht antun. Thomas will ja schon weg, und mein Vater macht deswegen einen Aufstand, das ist kaum auszuhalten.«

»Ich kann Thomas verstehen, und der soll bloß keinen Rückzieher mehr machen, sonst kriegt er’s mit mir zu tun. So, und jetzt fahr ich dich heim, auch wenn ich viel lieber die ganze Nacht mit dir verbringen würde.«

»Ich auch. Die Zeit wird kommen«, sagte sie mit einem melancholischen Unterton, den Johannes jedoch nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte.

Es war kurz nach Mitternacht. Johannes ließ den Motor an und fuhr langsam vom Parkplatz herunter. Gut vier Kilometer lagen vor ihnen, vier Kilometer, auf denen ihnen, wie meist in dieser Gegend und um diese Uhrzeit, kein Auto begegnen würde. Eine ausgebaute Landstraße mit wenigen Kurven, zu beiden Seiten Wiesen und Felder. Johannes hatte die aktuelle CD von Dido eingelegt, die Lautstärke war gemäßigt. Allegra hatte ihren Blick wieder aus dem Seitenfenster gerichtet, und sie war in Gedanken versunken. Johannes fuhr etwa neunzig. Er hatte das Fernlicht eingeschaltet, um so besser auf eine mögliche Begegnung mit einem Reh, einem Hirsch oder einem Hasen vorbereitet zu sein. Es hatte gerade hier schon einige Wildunfälle gegeben, und er wollte nicht unbedingt zu jenen gehören, deren Auto hinterher nur noch reif für die Schrottpresse war. Glücklicherweise war bei diesen Unfällen noch nie ein Toter zu beklagen gewesen.

Mit einem Mal geschah etwas Unerwartetes, und es geschah so schnell, dass Johannes keine Zeit mehr zum Reagieren hatte. Er verlor urplötzlich die Kontrolle über sein Fahrzeug. Er versuchte gegenzusteuern, ohne zu bremsen, wie er es in der Fahrschule gelernt hatte. Für einen Moment schien ihm dies auch zu gelingen, doch Johannes war nicht mehr in der Lage, das Lenkrad festzuhalten. Tausend Gedanken schossen durch seinen Kopf.

Alles spielte sich innerhalb weniger Sekunden ab. Sie hatten nicht einmal mehr Zeit zu schreien, als der kleine Ford KA sich auf dem Acker mehrfach überschlug und schließlich auf den Rädern zum Stehen kam.

Es verging fast eine Stunde, bis ein anderer Autofahrer das Wrack entdeckte. Er hielt an, sprang aus seinem Wagen und rannte zu der Unfallstelle. Im Licht der Taschenlampe sah er die beiden jungen Menschen, die zersplitterten Scheiben und vor allem das viele Blut. Von seinem Handy aus rief er die Polizei an, die zusammen mit einem Notarztwagen nur zehn Minuten später am Unfallort eintraf.

»Hier ist nichts mehr zu machen«, sagte einer der beiden Notärzte kopfschüttelnd, nachdem er Johannes untersucht hatte, und blickte einen neben ihm stehenden Streifenbeamten ratlos an. »So jung. Na ja, wahrscheinlich von der Disco gekommen, zu viel getrunken oder Pillen geschluckt, was weiß ich. Kennt ihn jemand?«

Kopfschütteln.

»Das Mädchen lebt noch«, sagte der andere Notarzt aufgeregt. »Sofort ab ins Krankenhaus. Ich glaub aber nicht, dass sie es schafft. Da müsste sie schon tausend Schutzengel haben.«

Allegra wurde mit Blaulicht nach Hanau gebracht. Sie hatte schwere äußere und innere Verletzungen, von denen die gravierendste ein Schädelhirntrauma war. Ihre Mutter war einem Zusammenbruch nahe, als die Polizei ihr von dem Unfall berichtete. Sie wurde von ihrem Sohn Thomas in die Klinik gefahren, weil ihr Mann wie so oft wieder einmal in irgendeiner Bar oder Kneipe in Hanau, Offenbach oder Frankfurt versackt war. Nach nur einer Stunde wurden sie von dem behandelnden Arzt gebeten, wieder nach Hause zu fahren, man werde sie benachrichtigen, sobald Allegra ansprechbar sei. Doch er wollte ihnen auch keine unnötigen Hoffnungen machen, die Chance, dass sie am Leben bleibe, stehe eins zu hundert. »Beten Sie für Ihre Tochter«, hatte er zum Abschied gesagt, auch wenn es klang, als würde er selbst nicht daran glauben, dass dies helfen könnte.

Als Liane und Thomas Wrotzeck um drei Uhr morgens nach Hause kamen, trafen sie beinahe zeitgleich mit Kurt Wrotzeck ein, der, nicht mehr ganz nüchtern, fragte, was los sei, und als seine Frau es ihm unter Tränen berichtete, nur lakonisch bemerkte, dies sei eben Schicksal, sie hätte sich halt nicht mit diesem Taugenichts von Köhler einlassen dürfen. Danach war er ins Bett gegangen, nein, er war die Treppe wie immer hinaufgetrampelt und hatte die Tür hinter sich zugeknallt.

Im Ort waren alle, die von dem Unfall erfuhren, erschüttert, kannte man doch die beiden jungen Leute nur zu gut. Für einige Tage war es nicht nur in dem winzigen Bruchköbeler Ortsteil Butterstadt das Gesprächsthema schlechthin, doch schon bald ging man wieder zur Tagesordnung über, genau genommen nach der Beisetzung von Johannes Köhler, der mehr als zweihundert Personen beiwohnten.

In den folgenden drei Wochen stabilisierte sich Allegras Zustand zur Verblüffung der behandelnden Ärzte, die Wunden verheilten, die Brüche und die inneren Verletzungen. Aber sie verharrte in ihrer Bewusstlosigkeit, die Augen waren geöffnet und blickten an die Decke in dem Einzelzimmer, nur ab und zu bewegten sich ihre Lider. Über eine Magensonde wurde sie künstlich ernährt, Geräte zeichneten ihre Vitalfunktionen auf. Sie befand sich im Wachkoma, und keiner wusste, ob sie jemals wieder daraus erwachen würde. Aber es gab Menschen, die aus tiefster Überzeugung sagten, dass, wenn sie es bis hier geschafft habe, auch der Tag kommen werde, an dem das bewusste Leben in sie zurückkehre.

[home]
Mittwoch, 18. August 2004

Die Sommerferien neigten sich dem Ende zu, Peter Brandt hatte zusammen mit Andrea Sievers zwei Wochen Urlaub in Italien gemacht, in dem Ort, wo die Wurzeln seiner Mutter lagen und wo sie fast zwanzig Jahre gelebt hatte, bis sie seinen Vater kennenlernte. Sarah und Michelle verbrachten die Sommerferien wieder bei ihrer Mutter in deren Luxusdomizil in Spanien, doch Brandt hatte bereits, wie schon im vergangenen Jahr, für die Winterferien eine dreiwöchige Reise nach Teneriffa gebucht.

Seit Montag war er wieder im Dienst. Sein Schreibtisch war aufgeräumt, nachdem er es gerade noch vor Reiseantritt geschafft hatte, den riesigen Aktenberg abzuarbeiten. Seine Töchter waren ebenfalls seit dem Wochenende wieder zu Hause, braun gebrannt und mit reichlich Geschenken im Gepäck, die ihre Mutter ihnen mitgegeben hatte, nur hatte er diesmal nicht das Gefühl, dass es sich dabei um Bestechungsgeschenke handelte, sondern seine Ex den Mädchen einfach nur etwas Gutes tun wollte.

Die Hektik und der Stress im Präsidium, die vor allem im Mai und Juni nach zwei brutalen Morden in Offenbach geherrscht hatten, waren verflogen, und die übliche Sommerruhe war eingekehrt. Bis auf zwei waren alle Beamten wieder im Einsatz, doch außer einer schweren Vergewaltigung und einem bewaffneten Raubüberfall, die sich während Brandts Abwesenheit in Obertshausen ereignet hatten, gab es nichts sonderlich Erwähnenswertes. So war er zusammen mit Nicole Eberl und acht weiteren Kollegen seit Montag wieder damit beschäftigt, eine Gruppe albanischer Männer zu observieren, die im Verdacht standen, Drogenhandel in größerem Stil zu betreiben. Doch bis jetzt gab es keine konkreten Hinweise, die eine Verhaftung gerechtfertigt hätten, was entweder damit zusammenhing, dass die Bande von der Observierung Wind bekommen hatte oder sie sich einfach clever verhielten oder überhaupt nicht in verbrecherische Aktivitäten verwickelt waren. Für Brandt war die ganze Aktion nichts als eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme seitens der Staatsanwaltschaft, insbesondere von Elvira Klein, die vor drei Wochen die Order ausgegeben hatte, im Offenbacher Stadtteil Waldhof ein ziemlich runtergekommenes Mehrfamilienhaus rund um die Uhr zu observieren.

Andrea Sievers war über Nacht bei Brandt geblieben. Sie stand als erste auf, machte sich im Bad zurecht, während die Mädchen noch schliefen. Brandt deckte derweil den Frühstückstisch, kochte Kaffee und wartete, dass auch er ins Bad durfte.

Während sie aßen, unterhielten sie sich noch einmal über den vergangenen Urlaub, bis Andrea fragte: »Hast du Lust, heute abend mit ins Kino zu gehen?«

»Was läuft denn?«

»Wir können doch einfach hinfahren und uns einen Film aussuchen«, sagte sie. »Damit würden wir uns selbst überraschen.«

»Du und deine spontanen Einfälle. Aber gut, ich bin dabei.« Er trank von seinem noch heißen Kaffee, stellte die Tasse ab und meinte: »Sag mal, ist dir an Sarah irgendwas aufgefallen?«

»Was meinst du?«, fragte Andrea zurück und schmierte sich eine Scheibe Toast mit Margarine und Ananasmarmelade.

»Ach komm, das merkt doch ein Blinder mit Krückstock, dass da irgendwas im Busch ist, seit sie bei ihrer Mutter war. Hat sie dir nichts erzählt?«, fragte er mit hochgezogenen Brauen.

»Du siehst Gespenster«, erwiderte sie, ohne ihn anzusehen.

»Aha, und wieso weichst du dann meinem Blick aus? Ihr habt doch gestern fast zwei Stunden in ihrem Zimmer verbracht, und dabei habt ihr euch bestimmt nicht über Fußball oder das Wetter in China unterhalten.«

»Vielleicht verrat ich’s dir, wenn du deine Stimme ein bisschen dämpfst.«

Er beugte sich nach vorn und sagte im Flüsterton: »Was ist mit Sarah los? Hat sie einen Freund?«

Andrea druckste einen Moment herum und antwortete: »Nein, oder ja, das heißt, nicht richtig. Sie hat ihn in Spanien kennengelernt und ist natürlich total hin und weg …«

»Aha, deshalb ist sie also diesmal so gut gelaunt zurückgekommen. Und ich hab mich schon gewundert. Darf ich auch erfahren, wie alt dieser Don Juan ist?«

»Achtzehn.«

»Ich glaub, ich spinn, Sarah ist gerade mal fünfzehn! Und diese Typen dort unten warten doch nur auf eine Gelegenheit …«

»Ich hab gesagt, du sollst leise sein. Vielleicht darf ich dich daran erinnern, was du mir über deine Zeit als Jugendlicher erzählt hast. Du warst doch mit fünfzehn auch bis über beide Ohren verliebt, ohne dass auch nur das Geringste zwischen dir und deiner Angebeteten gelaufen ist. Oder hab ich da was falsch verstanden?«

»Das war damals eine ganz andere Zeit …«

»O ja, natürlich, damals war alles anders«, entgegnete Andrea spöttisch. »Das sagen alle, wenn sie von früher sprechen. Hör zu, deine Tochter wird allmählich flügge, und du wirst dich wohl oder übel damit abfinden müssen. Aber tröste dich, sie ist verliebt in einen Jungen, der mehr als zweitausend Kilometer von hier entfernt wohnt. Gib ihr ein paar Tage oder von mir aus auch ein paar Wochen, und sie wird ihn vergessen haben. Aber es wird auch noch andere Jungs in ihrem Leben geben, denn sie wird nicht jünger. Sie wird nicht immer dein kleines Mädchen sein, das du behüten und beschützen kannst oder musst. Sie wird das auch gar nicht wollen. Und auch Michelle wird schon bald in das Alter kommen …«

»Es reicht, okay. Außerdem muss ich los«, sagte er mit mürrischem Gesicht und stand auf.

»He, spiel jetzt um Himmels willen nicht die beleidigte Leberwurst. Du wolltest unbedingt wissen, was mit Sarah ist, und ich hab’s dir gesagt. Aber ich kann in Zukunft natürlich auch alles für mich behalten, wenn dir das lieber ist. Und außerdem kannst du froh sein, dass sie mich ins Vertrauen gezogen hat. Tu mir deshalb bitte einen Gefallen und erwähn ihr gegenüber nicht, dass ich mit dir darüber gesprochen habe. Vielleicht erzählt sie’s dir ja von sich aus.«

»Schon gut, ich werde dann also so tun, als wüsste ich von nichts. O Mann, ich werde wohl tatsächlich älter.«

»Zum Glück noch nicht so alt, dass ich dich füttern muss.« Andrea legte ihre Arme um seinen Hals und lächelte ihn an. »Wieder gut?«

»Hm«, brummte er.

»Hört sich nicht gerade berauschend an. Und wenn du noch einen kleinen Moment wartest, komm ich gleich mit, ich hab nämlich zwei Obduktionen vor mir. Aber erst räumen wir noch den Tisch ab.«

Nach fünf Minuten verließen Brandt und Andrea die Wohnung und begaben sich zu ihren Autos. »Ich bin so gegen sechs wieder hier«, sagte sie, bevor sie einstieg. »Es bleibt doch beim Kino, oder?«

»Klar. Bis nachher«, antwortete er und winkte ihr noch einmal zu.

Auf der kurzen Fahrt ins Präsidium dachte er unentwegt an Sarah. Natürlich hatte er gewusst, dass die Zeit kommen würde, wo mit einem Mal nicht mehr der Vater die größte Rolle in ihrem Leben spielen würde, und doch war es ein seltsames Gefühl zu wissen, dass das kleine Mädchen, das er noch vor wenigen Jahren auf den Schultern getragen hatte, auf dem besten Weg war, erwachsen zu werden. Und er meinte zum ersten Mal so richtig zu spüren, wie die Zeit in immer schnellerem Tempo dahineilte. Er erinnerte sich, als er fünfzehn war und das Erwachsenwerden noch Lichtjahre entfernt schien, und jetzt war er schon seit über einem Vierteljahrhundert bei der Polizei, war verheiratet gewesen und hatte zwei reizende Töchter, deren Geburt er selbst miterlebt hatte. Und aus diesen damals winzigen Geschöpfen waren mittlerweile recht selbständige und manchmal auch eigenwillige junge Damen geworden.

Bevor er noch länger nachdenken konnte, bog er auf den Präsidiumshof ein, stellte seinen Wagen ab und ging in den ersten Stock, wo Bernhard Spitzer und Nicole Eberl bereits hinter ihren Schreibtischen saßen und telefonierten. Ein kurzer Blick, ein dahingemurmeltes »Guten Morgen«.

Eberl schrieb, während sie telefonierte, mit dem Kugelschreiber eine Notiz auf ein Blatt Papier und deutete demonstrativ darauf, als Brandt sich bereits an seinen Schreibtisch begeben wollte. Er las, runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Was soll ich damit?«, flüsterte er, denn er konnte mit dem Dahingekritzelten nichts anfangen.

Eberl winkte ab und sagte zu ihrem Gesprächspartner am andern Ende der Leitung: »Wir sind in spätestens einer halben Stunde da«, und legte auf.

»Hi, Peter. Das war eben unser Kollege Heinzer aus Hanau …«

»Das kann ich noch entziffern. Und?« Brandt nahm hinter seinem Schreibtisch Platz.

»Er hat vorhin einen anonymen Anruf erhalten, laut dem ein gewisser Kurt Wrotzeck aus Bruchköbel ermordet worden sein soll. Ob wir uns drum kümmern können, die haben im Augenblick keine Kapazitäten frei.«

»Moment, Moment, mal schön der Reihe nach. Erstens, was heißt ermordet worden sein soll? Wurde er nun ermordet oder nicht? Zweitens, war schon jemand vor Ort, Spurensicherung, Fotograf et cetera?«

»Dieser Wrotzeck war Landwirt und ist am 23. Juli bei einem Unfall ums Leben gekommen. Er ist vom Heuschober gefallen …«

»Es gibt doch heutzutage keine Heuschober mehr, zumindest kaum noch«, wurde sie von Brandt unterbrochen.

»Jetzt lass mich doch mal ausreden! Ich gebe nur das wieder, was Heinzer gesagt hat. Jedenfalls ist Wrotzeck aus etwa vier Meter Höhe gestürzt und hat sich dabei das Genick gebrochen. Er liegt längst unter der Erde, weil es damals keine Hinweise auf Fremdeinwirkung gab und der herbeigerufene Arzt eine entsprechende Mitteilung auf dem Totenschein vermerkt hat, weshalb es auch keine rechtsmedizinische Untersuchung gab. Nun, du weißt ja, wie knapp deren Etat bemessen ist.«

»Das ist ja fast einen Monat her. Warum kommt erst jetzt jemand damit, dass dieser Wrotzeck umgebracht worden sein könnte? Kleine Verarsche, oder was?«

»Keine Ahnung, aber wir müssen es überprüfen.«

»War der Anrufer ein Mann oder eine Frau?«, fragte Brandt.

»Eine Frau, allerdings von einer Telefonzelle in Hanau aus. Das wurde schon überprüft. Sie hat außerdem gesagt, dass Wrotzeck es auch nicht anders verdient hätte. Mehr haben die Kollegen nicht aus ihr rauskriegen können, denn sie hat auch gleich wieder aufgelegt.«

Brandt schaute auf seinem Tischkalender nach und meinte: »Der dreiundzwanzigste war ein Freitag. Ich brauch als erstes Einsicht in die Unterlagen, vorher unternehm ich gar nichts …«

»Wir können sie uns in Hanau abholen«, wurde er von Eberl schnell unterbrochen. »Wie sieht’s aus?«

»Und die Observierung?«

»Sag bloß, du bist scharf auf diese langweilige Nummer! Das können doch wohl auch andere übernehmen. Jetzt tu nur nicht so, als ob du an dem Fall nicht interessiert wärst. Ich seh doch an deinem Gesicht, wie es dir in den Fingern juckt.«

»Weiß Bernie schon Bescheid?«

»Woher denn, ich hab doch gerade eben erst mit Hanau telefoniert.«

»Also gut, gehen wir’s an. Ich hoffe nur, dass sich da keiner einen üblen Scherz mit uns erlaubt, mir ist nämlich heute nicht danach zumute.«

»Schlechte Laune?«

»Blödsinn, nur schlecht geschlafen«, schwindelte er. »Informieren wir unsern Boss, und dann ab in die Pampa.«

Brandt und Eberl begaben sich ins Nebenzimmer, wo Spitzer noch immer telefonierte, seinen beiden Kollegen jedoch mit einer Handbewegung bedeutete, dazubleiben. Er wirkte aufgeregt, sein Gesicht war gerötet, als er sagte: »Ja, wird erledigt … Sie können sich drauf verlassen, dass wir Sie auf dem laufenden halten … Ja, ich melde mich, sobald ich Näheres weiß.« Er legte auf, ließ sich zurückfallen und atmete ein paarmal tief durch.

»Was wird erledigt, und wen wirst du auf dem laufenden halten?«, fragte Brandt mit einem breiten Grinsen auf den Lippen, als wüsste er genau, was Spitzer gleich antworten würde.

»Du brauchst gar nicht so blöd zu grinsen! Die Klein, diese dumme Kuh! Keinen Schimmer, was die wieder hat, aber sie will unbedingt, dass wir diese Albaner endlich hochnehmen. Ich hab ihr versucht klarzumachen, dass die Kerle uns bis jetzt keinerlei Gründe für eine Festnahme geliefert haben, aber die hat mich so zugelabert …«

»Vielleicht hat sie ihre Tage«, bemerkte Brandt nur.

»Dann hat sie wohl andauernd ihre Tage.«

»Pass auf, mal weg von der Klein und den Albanern. Unsere Leute in Hanau haben einen anonymen Anruf erhalten, laut dem ein Unfalltod angeblich kein Unfall war. Nicole und ich fahren da jetzt hin, schauen uns die Unterlagen an und hören uns bei seinen Hinterbliebenen und eventuell der Nachbarschaft um. Danach entscheiden wir, ob und wie wir weiter vorgehen, vorausgesetzt, es gibt überhaupt Anhaltspunkte für ein Fremdverschulden. Behalt das aber erst mal für dich, die Klein sollte besser noch nicht Wind davon bekommen.«

»Die kann mich sowieso mal kreuzweise. Das Problem ist nur, dass mir dadurch zwei Leute für die Observierung fehlen.«

»Ach komm, du wirst schon jemanden auftreiben, der das gerne übernimmt«, sagte Eberl lächelnd. »Falls wir es mit einem Mord zu tun haben …«

»Haut schon ab, ich krieg das hier auch ohne euch auf die Reihe.«

Mittwoch, 9.45 Uhr

Hauptkommissar Heinzer hatte eine dünne Akte auf seinem Schreibtisch liegen, als Brandt und Eberl in sein Büro kamen. Heinzer war neunundfünfzig, seine Frau vor einem halben Jahr nach langem Dahinsiechen an Krebs gestorben. Er hatte sie aufopferungsvoll gepflegt und in der Todesstunde ihre Hand gehalten. Die vergangenen Jahre hatten deutlich sichtbare Spuren bei ihm hinterlassen, seine Wangen waren eingefallen, das Gesicht grau, er war Kettenraucher und schien mehr, als ihm gut tat, zur Flasche zu greifen. Auch jetzt meinte Brandt, einen leichten Geruch von Alkohol inmitten des verräucherten Zimmers wahrzunehmen. Er kannte ihn seit über zwanzig Jahren, und war Heinzer früher ein Polizist mit Leib und Seele gewesen, so hatte sich dies mit der Erkrankung und dem qualvollen Tod seiner Frau genau ins Gegenteil verkehrt. Seine Augen waren leer, sein Elan dahin, es schien, als würde er nur noch auf seine Pensionierung hinarbeiten – oder auf seinen Tod. Jeder, der ihn etwas näher kannte, wusste, wie viel ihm seine Frau bedeutet hatte. Fast vierzig Jahre (für eine Polizistenehe beinahe eine Ewigkeit) waren sie unzertrennlich gewesen, bis dieser Schicksalsschlag alles veränderte. Aber das vielleicht Schlimmste für ihn war, dass seine vier erwachsenen Kinder, für die er sich krumm gelegt hatte, sich kaum noch bei ihm blicken ließen. Sie gingen ihre eigenen Wege und schienen ihn einfach seinem Schicksal zu überlassen.

»Hallo«, begrüßte er die Eintretenden mit energieloser Stimme, »nehmt Platz. Ist gerade gekommen«, fuhr er fort und schob die Akte über den Tisch. Brandt schlug sie auf, Eberl las mit.

»Ist das etwa alles?«, sagte Brandt, als er den dünnen Ordner in der Hand hielt, der lediglich aus vier Seiten bestand. Dazu noch sechs aus unterschiedlichen Winkeln aufgenommene Fotos, die den Toten auf dem Bauch liegend zeigten.

»Was hast du erwartet? Es gab keine Ermittlungen, weil es als Unfall behandelt wurde.«

»Schon gut. Wie hat sich die Anruferin angehört? Glaubwürdig oder eher wie eine Spinnerin?«

»Schwer zu beurteilen, auf jeden Fall hat sie nicht wirr rumgefaselt. Ich denke, ihr solltet euch mal in Wrotzecks Umfeld über ihn kundig machen.«

»Wieso kommt jemand erst jetzt damit? Warum nicht schon einen oder zwei Tage, nachdem es passiert war?«

Heinzer zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich. Vielleicht hat da jemand ein schlechtes Gewissen. Oder unsere große Unbekannte will sich wichtig machen.«

»Eher unwahrscheinlich«, bemerkte Brandt, »dann hätte sie sich nicht anonym gemeldet. Ich kenne die Wichtigtuer, die platzen ins Büro und tischen uns eine haarsträubende Geschichte auf, nur weil sie sonst niemanden haben, mit dem sie reden können. Mit dem Material hier können wir jedenfalls recht wenig, um nicht zu sagen, gar nichts anfangen, sollte es sich um einen unnatürlichen Tod handeln. Es hat keine Autopsie stattgefunden, der Arzt hat Tod durch Sturz aus mittlerer Höhe attestiert, das einzige, was gemacht wurde, war eine Blutprobe etwa acht Stunden nach Todeseintritt, und da hatte er immer noch über ein Promille. Also, vergessen wir die Akte und hören uns mal bei der Familie des Verblichenen um. Adresse haben wir, Telefonnummer auch … Gut, dann war’s das schon. Wir lassen dich wissen, was wir rausgefunden haben. Ach ja, wie hat sich denn ihre Stimme angehört?«

»Was meinst du?«

»Na ja, klang sie aufgeregt, nervös oder eher ruhig?«

»Bisschen zittrig, aber das will nichts weiter bedeuten.«

»Und was schätzt du, wie alt sie war?«

»Warst du schon jemals in der Lage, anhand einer Stimme das Alter einer Person zu bestimmen? Wenigstens annähernd? Ich nicht. Aber trotzdem, wenn du mich so fragst, sie klang ziemlich jung.«

»Okay, wir hauen ab.«

»Macht’s gut, ich hab ’ne Menge zu tun, meine Leute sind auch alle im Einsatz«, sagte Heinzer, der sich bereits die dritte Zigarette ansteckte, seit Brandt und Eberl vor gut zehn Minuten in sein Büro gekommen waren. Heinzer tat ihm leid, er war ein stets korrekter Beamter gewesen, dessen Leben nun völlig aus den Fugen geraten war. Am besten, dachte er, wäre es, er würde in den Vorruhestand gehen. Aber Heinzer war trotz aller Trauer, die ihm ins Gesicht gemeißelt war, zu stolz, um diesen Antrag zu stellen. Was sollte er auch zu Hause. Da waren keine Kinder mehr, die sich um ihn kümmern würden, sie lebten weit weg und hatten längst eigene Familien. Also würde er, sofern sein Körper das noch mitmachte, durchhalten, bis er dreiundsechzig war, und dann, wenn nicht ein Wunder geschah, noch mehr trinken und trinken und trinken.

»Das ist ja die reinste Räucherkammer«, sagte Eberl auf dem Weg zum Auto. »Ich frag mich, wie man so was auf lange Zeit aushält. Ich wär schon längst unter der Erde.«

»Er ist einfach fertig mit der Welt. Auf zu den Wrotzecks.«

»Weißt du denn, wo das ist?«

»Denk schon«, sagte Brandt nur und startete den Motor.

Mittwoch, 10.45 Uhr

»Ziemlich großer Hof«, bemerkte Eberl, als sie vor dem Haus hielten, das sich etwa fünfzig Meter von der Straße entfernt befand.

»Das ist kein Hof, das ist schon eher ein Gut. Da hinten die Kuhweide, die Pferdekoppel und … Scheint alles dazuzugehören, so weit das Auge reicht. Fast wie im Wilden Westen«, bemerkte Brandt grinsend.

Ein Mann in einem blauen Arbeitsanzug kam ihnen entgegen und sagte: »Wo soll’s hingehen?«

»Zu Frau Wrotzeck«, antwortete Brandt, ohne sich und Eberl vorzustellen. »Das ist doch der Wrotzeck-Hof?«

»Schon. Müsste daheim sein, ihr Wagen steht jedenfalls hier.«

Ziemlich wortkarg, dachte Brandt, bedankte sich bei dem Mann, ging mit Eberl zur Haustür und drückte auf die Klingel. Kurz darauf erschien eine etwa einsfünfundsechzig große Frau an der Tür. Sie hatte kurze braune Haare und grüne Augen, Brandt schätzte sie auf Anfang bis Mitte vierzig. Sie musterte die Beamten kritisch und distanziert. Auffällig waren die tiefen Falten zwischen Nase und Mund, die tief hängenden Mundwinkel und die fahl wirkende Haut, obgleich sie geschminkt war.

»Ja, bitte?«, fragte sie.

»Frau Wrotzeck?«

»Ja.«

Brandt hielt seinen Ausweis hoch, stellte sich und Eberl vor und sagte dann: »Wir würden gerne kurz mit Ihnen sprechen.«

»Warum? Was habe ich mit der Polizei zu tun?«

»Nicht zwischen Tür und Angel. Dürfen wir reinkommen?«

»Bitte«, sagte Liane Wrotzeck und ließ die Beamten eintreten. Sie ging vor ihnen in das geräumige Wohnzimmer und deutete auf eine Sitzgruppe. Brandt und Eberl nahmen Platz, während sie stehenblieb, die Arme über der Brust verschränkt. »Um was geht es?«

»Das ist nicht so einfach zu erklären, Frau Wrotzeck. Möchten Sie sich nicht lieber hinsetzen?«

Sie hob leicht die Schultern und setzte sich den Beamten gegenüber auf einen Stuhl, der zu einem wuchtigen dunklen und alten Sekretär gehörte, der wahrscheinlich über Generationen weitervererbt worden war und auf dem eine Vase mit einer Rose darin stand.

»Es geht um den Tod Ihres Mannes.« Brandt beobachtete die Reaktion in dem Gesicht von Liane Wrotzeck, die ihn verwundert anblickte.

»Wieso um den Tod meines Mannes? Ich verstehe nicht ganz, was Sie da von mir noch wollen?«

»Ich will auch nicht lange um den heißen Brei herumreden. Unsere Kollegen in Hanau haben einen Anruf erhalten, laut dem Ihr Mann nicht durch einen Unfall, sondern eines gewaltsamen Todes gestorben sein soll. Deshalb auch unser Besuch.«

Liane Wrotzeck kniff die Augen zusammen und sagte mit leicht belegter Stimme: »Bitte? Soll das ein Witz sein?«

»Ob es sich um einen Witz handelt, wissen wir nicht, aber es ist unsere Pflicht, auch anonymen Hinweisen nachzugehen. Für uns ist wichtig zu wissen, was sich am Abend des Unfalls Ihres Mannes zugetragen hat. Glauben Sie mir, wir wollen Sie nicht unnötig belästigen, doch …«

Sie winkte ab und sagte: »Entschuldigung, aber damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin wirklich sehr verwundert, dass jemand behauptet, mein Mann sei ermordet worden. Ich habe das doch richtig verstanden, oder?«

»Ja, aber …«

»Nein, nein, hören Sie, das ist absurd. Mein Mann ist vom Zwischenboden der Scheune gefallen. Die Polizei war hier, ein Notarzt und … Mein Gott, wer denkt sich denn so etwas aus? Es war ein Unfall, das können Sie doch sicherlich nachlesen, es gibt doch bestimmt Unterlagen darüber.«

»Das haben wir bereits getan. Dennoch sind wir, wie bereits gesagt, verpflichtet, auch solchen Hinweisen nachzugehen. Der Anrufer hat erklärt, dass Ihr Mann es auch nicht anders verdient habe. Was könnte er damit gemeint haben?« Brandt vermied bewusst zu erwähnen, dass es sich um eine Anruferin gehandelt hatte.

Liane Wrotzeck machte ein beinahe mitleidsvolles Gesicht, als würde sie voraussetzen, dass Brandt über die Verhältnisse im Ort Bescheid wusste. »Was weiß ich. Kennen Sie die Leute hier? Na ja, wahrscheinlich nicht, aber es gibt Neider, vor allem unter den Landwirten. Mein Mann war äußerst erfolgreich, unser Hof wirft einen überdurchschnittlich guten Ertrag ab und … Trotzdem, dass mein Mann ermordet wurde, halte ich für ziemlich ausgeschlossen, da muss sich jemand einen makabren Scherz erlaubt haben. Tut mir leid, wenn ich Ihnen nicht weiterhelfen kann.«

»In den Akten steht, dass einer Ihrer Angestellten ihn gefunden hat. Wie viele Angestellte haben Sie auf dem Hof?«

»Zehn. Aber der, der ihn gefunden hat, arbeitet nicht mehr hier.«

»Warum?«

»Saisonarbeiter. Wir haben vier Festangestellte und sechs für die Saison. Die Festangestellten kümmern sich um die Ställe und das Vieh, die andern um das Getreide, die Zuckerrüben, das Gemüse und die Kartoffeln und erledigen auch noch andere Arbeiten, die zwischen Anfang April und Ende September eben so auf dem Hof anfallen. War’s das?«

Brandt hatte das Gefühl, als wollte sie ihn und Eberl schnellstmöglich wieder loswerden, was er auch irgendwie verstehen konnte. Keiner hatte gerne die Polizei im Haus, es sei denn, ihnen selbst war etwas zugestoßen, ein Einbruch, ein Raubüberfall, Körperverletzung … Aber sobald es unangenehm wurde, blockten die meisten ab. »Nein, noch nicht ganz. Hatte Ihr Mann Feinde?«

Liane Wrotzeck zögerte mit der Antwort und sagte schließlich: »Und wenn? Aber Sie würden es ja sowieso rausfinden. Mein Mann war kein einfacher Mensch, ganz im Gegenteil. Sagen wir es so, er ging keinem Streit aus dem Weg, obwohl er sich damit selbst am meisten geschadet hat. Er war ein Außenseiter und hier im Ort nicht sonderlich beliebt, nein, er war, glaub ich, der meistgehasste Mensch in der ganzen Gegend. Aber darin gleich ein Motiv für einen Mord zu sehen, halte ich für maßlos übertrieben.«

Sie drückt sich ungewöhnlich gewählt aus, dachte Brandt, gar nicht so, wie er es von einer Landwirtin erwartet hatte. Auch war sie, was ihre Erscheinung betraf, alles andere als das Abbild einer Frau, die sich um einen riesigen Hof kümmern musste, eher wie eine Geschäftsfrau, die sich elegant kleidete, ihre Bewegungen hatten etwas Elegantes, wenn sie sprach, war es leise und wohl formuliert, allein ihre Gesichtszüge wirkten etwas starr.

»Gibt es auch Namen derjenigen, die ihm nicht so wohlgesinnt waren?«, fragte Brandt.

»Unser Nachbar, Herr Köhler. Die beiden lagen sich ständig in den Haaren. Aber kommen Sie deswegen nicht gleich auf falsche Gedanken, für Köhler lege ich meine Hand ins Feuer. Mein Mann kam mit niemandem in der Gegend gut aus, da können Sie fragen, wen Sie wollen.«

»Was war der Auslöser für den Streit zwischen Ihrem Mann und Herrn Köhler?«

Liane Wrotzeck lachte kurz und trocken auf und schüttelte den Kopf. »Es ging um ein paar läppische Meter Land. Neun Meter, um genau zu sein …«

»Wie groß ist denn Ihr Hof?«, fragte Eberl.

»Meinen Sie alles Land, das uns gehört?«

»Ja.«

»Gut vierhundert Hektar, aber etwa die Hälfte davon ist in der Wetterau, und längst nicht alles wird landwirtschaftlich genutzt. Es gehören auch Waldstriche und Wiesen dazu. Und da wird wegen neun Metern ein solcher Streit vom Zaun gebrochen.« Sie tippte sich an die Stirn. »Das ist einfach verrückt. Wissen Sie, dieser Hof wird seit sieben Generationen bewirtschaftet. Und ähnlich ist es bei den Köhlers. Viele leben schon seit einer Ewigkeit hier in der Gegend. Und nie gab es Streit wegen diesem bisschen Land. Aber irgendwann sind meinem Mann alte Bücher und Urkunden in die Hände gefallen, und da kam er auf die fixe Idee, dass diese elenden neun Meter zu seinem Land gehören. Das war so vor zehn oder elf Jahren, genau kann ich’s nicht sagen. Er hat Köhler daraufhin aufgefordert, ihm diesen Teil zu überlassen, was der natürlich ablehnte, was ich ihm auch nicht verdenken kann. Schließlich gibt es zwei Urkunden, laut denen sowohl mein Mann als auch Köhler recht hat. Und dann eskalierte der Streit, und mein Mann hat versucht, das seiner Meinung nach ihm zustehende Land gerichtlich einzuklagen. Er ist dabei sogar bis vors Oberlandesgericht gezogen und hat verloren. Das ist natürlich mächtig ins Geld gegangen, und mein Mann ist daraufhin erst richtig in Rage geraten. Er hat keine Gelegenheit ausgelassen, Köhler eins auszuwischen.«

»Was hat er gemacht?«

»Er hat ihn beschimpft und alle möglichen Gerüchte über ihn und seine Familie in die Welt gesetzt. Ach, da ist so viel vorgefallen, das würde zu weit führen, Ihnen das alles zu erzählen.«

»Das hört sich nicht gerade freundlich an, wie Sie über Ihren Mann sprechen.«

»Soll ich etwas beschönigen, wo es nichts zu beschönigen gibt? Das war eben mein Mann.«

»Und wie hat Köhler auf die Anfeindungen Ihres Mannes reagiert?«, wollte Brandt wissen.

»Sie werden Köhler ja sicherlich auch noch kennenlernen, der ist die Ruhe in Person. Und selbst meinem Mann ist es nicht gelungen, ihn aus der Ruhe zu bringen, was Kurt natürlich noch wütender machte. Köhler ist das genaue Gegenteil von meinem Mann, der wäre nie zu einem Mord fähig. Er hatte doch gewonnen, und die Leute im Ort stehen fast geschlossen hinter ihm. Aber seit dem Unfall ist er nicht mehr er selbst. Eigentlich ist er ein gebrochener Mann, erst seine Frau, dann sein Sohn.«

»Was für ein Unfall?«, fragte Brandt mit hochgezogenen Brauen.

»Entschuldigung, Sie können das ja gar nicht wissen, aber ich bin im Augenblick ein wenig durcheinander. Sein Sohn Johannes und unsere Tochter Allegra waren sehr eng befreundet, und seit Johannes tot ist, ist mit Erhard, ich meine, mit Herrn Köhler, nicht mehr viel anzufangen. Johannes war sein ein und alles. Er hat letzten Herbst mit dem Medizinstudium begonnen und wollte, soweit ich weiß, den Hof später nicht übernehmen. Aber das hat Erhard nicht gestört. Ihm war es wichtiger, dass sein Sohn glücklich ist, als dass er etwas macht, woran er keine Freude hat. Aber Johannes wollte den Namen Köhler mindestens noch eine Generation weitergeben. So wird es vielleicht die letzte Generation der Köhlers sein, die den Hof bewirtschaftet. Was danach kommt«, sie zuckte mit den Schultern, »das wissen allein die Götter. Es sei denn, er findet noch mal eine junge Frau, die ihm einen Sohn schenkt und dem die Landwirtschaft in die Wiege gelegt wird. Aber das halte ich für eher unwahrscheinlich.«

»Was war das für ein Unfall?«, hakte Brandt, den die Nachwuchsgeschichte der Köhlers im Moment herzlich wenig interessierte, etwas energischer nach.

»Ein Autounfall, nur zwei Kilometer von hier.«

»War Ihre Tochter bei dem Unfall dabei?«

»Ja, leider. Sie liegt im Krankenhaus, Wachkoma. Seit vier Monaten.«

»Das tut mir leid. Ihre Tochter und der Sohn Ihres größten Feindes waren ein Liebespaar?«, sagte Brandt verwundert. »Wie hat denn Ihr Mann dazu gestanden? Das muss ihm doch ein Dorn im Auge gewesen sein.«

»Erhard ist nicht mein Feind, er war es nie und wird es auch nie sein. Was glauben Sie, was hier los war, als mein Mann rausgekriegt hat, dass Johannes und Allegra was miteinander hatten?! Der hat ein Theater gemacht, ich hab Angst gehabt, dass er alles kurz und klein schlägt. Er hat getobt und geschrien und Allegra verboten, sich noch einmal mit Johannes zu treffen. Und das, obwohl die beiden sich schon seit dem Kindergarten kannten.« Liane Wrotzeck lächelte still, bevor sie fortfuhr: »Aber Allegra hat sich nicht einschüchtern lassen, genauso wenig wie Johannes. Sie haben sich weiterhin getroffen, und ich bin sicher, sie hätten eines Tages auch geheiratet und … Nun, das Schicksal hatte etwas anderes mit ihnen vor«, sagte sie mit traurigem Blick.

»Was sagen die Ärzte über ihren Zustand?«

»Was sollen die schon sagen? Die sind genauso hilflos wie ich. Es kann sein, dass sie irgendwann wieder aufwacht, es kann aber auch sein, dass sie noch Jahre im Koma bleibt, bis sie stirbt. Bei Wachkomapatienten ist alles möglich, sie kann heute oder morgen plötzlich wieder da sein – oder eben nie.« Sie machte eine kurze Pause, während der sie ihre Gedanken sortierte und wieder versonnen lächelte, als würde sie ihre Tochter vor sich sehen und stumm mit ihr kommunizieren. Schließlich fuhr sie fort: »Sie hätten sie kennenlernen sollen, sie ist so hübsch, und sie war bis zu dem Unfall so lebenslustig, auch wenn mein Mann ihr das Leben manchmal sehr schwer gemacht hat. Aber sie hat das weggesteckt, einfach so. Erst diese Tragödie hat sie gebremst.«

»Wie war das Verhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Mann?«

Liane Wrotzeck sah kurz von Brandt zu Eberl, verzog leicht den Mund und erklärte: »Wir waren verheiratet.«

»Damit haben Sie aber meine Frage nicht beantwortet. War Ihre Ehe glücklich?«

»Es gibt sicher glücklichere Ehen«, entgegnete sie lapidar. »Aber was hat das mit dem Tod meines Mannes zu tun?«

»Wir wollen uns ein Bild machen, um dann zu entscheiden, ob wir weiterermitteln oder nicht. Haben Sie außer Allegra noch weitere Kinder?«, fragte Brandt, der merkte, dass dies nicht der passende Moment war, über die Eheverhältnisse der Wrotzecks zu sprechen. Er würde ohnehin keine zufriedenstellende Antwort erhalten. Aber irgendwann würde er es erfahren, vorausgesetzt, es gab einen Grund, dies weiter zu hinterfragen. Außerdem konnte er sich schon denken, dass diese Ehe alles andere als glücklich gewesen war, sonst hätte Liane Wrotzeck nicht so ausweichend geantwortet. Wäre sie glücklich gewesen, hätte sie ihn entrüstet angeschaut und geschnaubt, was er sich erlaube, natürlich habe sie ihren Mann über alles geliebt, und er sie. Doch nichts von dem hatte sie gesagt, nur »es gibt sicher glücklichere Ehen«.

»Ja, Thomas.«

»Können wir mit ihm sprechen?«

»Natürlich, aber er wird Ihnen auch nicht viel weiterhelfen können. Warten Sie, ich schau nach, ob er schon wach ist. Er war letzte Nacht mit Freunden unterwegs und ist erst heute morgen nach Hause gekommen.« Sie verließ das Zimmer und ging die Treppe nach oben.

Nachdem Liane Wrotzeck außer Hörweite war, sagte Eberl leise: »Ich glaube, wir werden diesem anonymen Hinweis doch nachgehen müssen. Oder was meinst du?«

»Mal sehen«, antwortete Brandt nur, während er sich im Zimmer umblickte und ein Foto entdeckte, das die ganze Familie zeigte. Ein Foto, das aussah, als wäre es vor hundert oder mehr Jahren gemacht worden, und doch ein Foto aus der jüngeren Vergangenheit. Er nahm es in die Hand und sah einen Bären von einem Mann neben seiner Frau stehen, neben ihr ein bildhübsches Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren und grünen Augen, die seltsam melancholisch wirkten – Allegra, die jetzt im Krankenhaus lag. Und neben dem Vater stand ein junger Mann, der äußerlich sehr viel Ähnlichkeit mit diesem zeigte. Er war fast so groß und breitschultrig, lediglich sein Gesichtsausdruck war nicht so verkniffen. Brandt war gespannt auf ihn.

»Das ist die Familienidylle schlechthin«, sagte Brandt sarkastisch. »Wie Fotos doch lügen können.«

»Das Mädchen passt da irgendwie nicht rein«, bemerkte Eberl im Flüsterton.

»Nach den bisherigen Schilderungen passt der Vater nicht rein. Ich stell mir nur vor, wie das war, wenn der zugelangt hat. Der war doch mindestens einsneunzig groß und hundertzehn bis hundertzwanzig Kilo schwer.«

»Meinst du, er hat’s getan? Ich meine, hat er zugelangt?«

»Keine Ahnung, ich hoffe nicht«, entgegnete Brandt nur und stellte das Foto wieder zurück auf seinen ursprünglichen Platz. »Sieht gar nicht aus wie in einem Bauernhaus«, bemerkte er.

»Hast wohl zu viele alte Heimatfilme gesehen. Das ist ein hochmoderner Wirtschaftsbetrieb, und die Dame des Hauses läuft auch nicht mit Kopftuch, Schürze und Gummistiefeln rum.«

»Hab’s mir trotzdem anders vorgestellt. Und deine Meinung zu ihr?«

»Verschlossen, zurückhaltend. Aber was will das schon heißen? Außerdem darf man nicht vergessen, was sie in …«

Liane Wrotzeck stand plötzlich wieder im Wohnzimmer, ohne dass die Beamten sie hatten kommen hören.

»Thomas wird gleich hier sein, er hat noch geschlafen. Was werden Sie jetzt tun?«

»Als nächstes Ihren Sohn befragen, und dann schauen wir weiter.«

»Ich begreif nicht, wie jemand so etwas behaupten kann. Mein Mann war zwar schwierig, aber die Leute hier sind keine Mörder. Ich würde es jedenfalls niemandem zutrauen. Und Sie werden auch bald feststellen, dass ich recht habe.«

Thomas Wrotzeck kam herein. Er hatte sich eine Trainingshose und ein T-Shirt angezogen und wirkte noch verschlafen. Er war groß, mindestens einsfünfundachtzig, schlank, mit noch breiteren Schultern als auf dem Foto und kräftigen Armen. Seine blauen Augen musterten die Beamten kritisch. Ein gutaussehender junger Mann, der sicher mächtig Schlag bei den Frauen hat, dachte Eberl.

»Thomas, das sind die Polizisten …«

Brandt erhob sich und unterbrach Liane Wrotzeck: »Brandt, Kripo Offenbach, und das ist meine Kollegin Frau Eberl. Ihre Mutter hat Ihnen schon erzählt, um was es geht?« Er reichte Thomas die Hand, der erst zögerte, sie dann aber doch nahm.

»Sie sind hier, weil Sie denken, dass mein Vater umgebracht wurde«, sagte Thomas, ging in die angrenzende Küche, um sich ein Glas Milch einzuschenken, und kehrte gleich darauf zurück. »Also, wie kann ich Ihnen helfen, diesen Unsinn aus der Welt zu schaffen?« Er ließ sich in einen Sessel fallen, schlug die Beine übereinander und fuhr sich mit einer Hand durch das modisch kurzgeschnittene dunkelblonde Haar.

»Vielleicht, indem Sie uns einfach ein paar Fragen beantworten. Zum Beispiel, wo Sie am Abend des 23. Juli waren.«

Thomas lachte auf und schüttelte den Kopf. »Ach, so läuft das also. Aber gut, wenn Sie’s unbedingt wissen wollen. Ich war mit einer Bekannten im Kinopolis im Main-Taunus-Zentrum, wenn Ihnen das was sagt, danach sind wir noch was trinken gegangen, und so gegen eins war ich wieder zu Hause.«

»Und daran können Sie sich so genau erinnern?«

»Hören Sie, wenn man am nächsten Morgen erfährt, dass der eigene Vater tot ist, weiß man, was man am Abend zuvor gemacht hat. Das ist wie ein Film, der immer wieder abläuft.«

»Wie war das Verhältnis zu Ihrem Vater?«, fragte Brandt.

Thomas zuckte mit den Schultern, wandte den Blick für einen Moment ab und antwortete: »Beschissen wäre geprahlt. Und glauben Sie mir eins – ich habe nicht getrauert, als ich erfahren habe, dass er tot ist, und ich werde auch in Zukunft nicht trauern. Dazu ist in der Vergangenheit zu viel vorgefallen.«

»Was denn?«, wollte Eberl wissen.

»Alles Mögliche. Haben Sie so viel Zeit? Es könnte nämlich ein paar Stunden dauern, Ihnen das alles zu erzählen«, sagte er ironisch.

»Thomas, bitte!«, ermahnte ihn seine Mutter, doch er sah sie nur an und schüttelte den Kopf.

»Mama, lass gut sein, irgendwann muss dieser ganze Mist doch mal raus. Ja, ja, ich weiß, er war mein Vater, aber eigentlich nur mein Erzeuger, was anderes fällt mir nicht ein. Er hat mich gezeugt, aber alle Qualitäten, die ein Vater haben sollte, sind ihm völlig abgegangen. Für ihn gab es nur den Hof und noch mal den Hof und wieder den Hof. Seine Kühe, Bullen, Schweine und Hühner waren ihm wichtiger als seine Familie. Da war ja Geld mit zu machen, doch wir haben nur gekostet. Alles andere interessierte ihn einen feuchten Dreck. Der hat sich nie dafür interessiert, wie Allegra und ich in der Schule waren, der hat sogar einige Male unsern Geburtstag vergessen. Und Weihnachten war jedes Mal der reinste Horror, wenn der Alte denn überhaupt zu Hause war.« Er hielt inne, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, trank sein Glas leer und stellte es auf den Tisch. »Aber als ich ihm sagte, dass ich den Hof nicht übernehmen, sondern stattdessen Jura studieren werde, da hätten Sie ihn erleben sollen, der ist ausgeflippt. Ich glaub, der stand kurz davor, mich umzubringen. Aber er wusste, dass ich, wenn er mich angerührt hätte, zurückgeschlagen hätte, ohne mit der Wimper zu zucken. Er hat jedenfalls wochenlang kein Wort mit mir gesprochen.«

»Hätten Sie ihn umgebracht?«, fragte Brandt trocken.

»Wenn Sie mich damit in eine Ecke drängen wollen, in die ich nicht gehöre, haben Sie sich geschnitten. Aber um Sie zu beruhigen, ich hätte den alten Wrotzeck nie umgebracht, dazu ist mir mein Leben in Freiheit viel zu kostbar.« Dabei verzog er die Mundwinkel verächtlich.

»Kennen Sie andere, die ein Motiv gehabt hätten?«

Thomas beugte sich nach vorn und sagte, indem er Brandt direkt anschaute und seine Hände hochhielt: »Sehen Sie die zehn Finger? Nehmen Sie die mal fünf, dann haben Sie vielleicht die Zahl derer, die ihm nur allzu gern ans Leder gewollt hätten. Aber es war ein Unfall, glauben Sie mir. Sie verschwenden nur Ihre kostbare Zeit.«

Ohne auf die letzte Bemerkung einzugehen, sagte Eberl: »Haben Sie auch fünfzig Namen für uns?«

»Nein, denn ich werde niemanden anschwärzen. Und sollte es wider Erwarten doch Mord gewesen sein, auch dann werden Sie von mir keine Namen erfahren. Mein alter Herr hat so viel Porzellan zerschlagen und Menschen kaputtgemacht, nee, ohne mich.«

»Würden Sie denn nicht wissen wollen, wer es war, sollte es doch Mord gewesen sein?«

»Ganz ehrlich? Nein, denn derjenige hat meiner Meinung nach die Welt nur von einem Tyrannen befreit. Könnten Sie mit meiner Schwester reden, was ja leider nicht möglich ist … Das wird wahrscheinlich nie möglich sein. Meine Mutter hat Ihnen doch erzählt, was passiert ist?«

»Ja, und das tut uns leid für Sie.«

»Als das mit Allegra passiert ist, da ist für mich eine Welt zusammengebrochen«, sagte Thomas traurig. »Wenn es jemanden gab, der Sonne in dieses finstere Haus gebracht hat, dann sie. Glauben Sie mir, Allegra fehlt hier. Sie fehlt an allen Ecken und Enden.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Eberl.

»So, wie ich es gesagt habe. Dieser verdammte Unfall hat alles verändert. Mit einem Mal war Allegra nicht mehr da. Und keine Sau weiß, wann und ob sie überhaupt jemals wieder aufwacht. Aber ich hoffe es inständig.«

»Wo liegt Ihre Schwester?«

»In Hanau.«

»Besuchen Sie sie regelmäßig?« Eberl sah Thomas an, der den Blick senkte und den Kopf schüttelte.