Schriften / Land der Sprachlosigkeit. Schriften 7 - Ulrich Sonnemann - E-Book

Schriften / Land der Sprachlosigkeit. Schriften 7 E-Book

Ulrich Sonnemann

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Beschreibung

- Eine gebildete Sprache – was sie leisten muss - Verteidigung des langen Satzes - Vom Wesen der Mitlaute - Lob der Interpunktionen - Der Dativkomplex - Angewandter Versinnlichungs-Zwischenruf - Ein Bonmot, das Furore gemacht hat - Die Schulen der Sprachlosigkeit. - Thesen zur Frage der Sprachkritik und sprachlichen Praxis - Information in der Demokratie - Journalistensprache als Öffentlichkeitskastration - Aus der Arbeit eines Seminars über bundesdeutsche Fernsehdiskussionen - Hegels Sprache: Pathos und Humor - Kritik an einem (Heidegger-)Referat - Sprachlosigkeitsregelung. Selbstzensur als Geschichtsverleugnung - Theologische Kopfbräuche in Deutschland, und wie man sie loswird - Der unteilbare Etikettenschwindler oder Die Mauer als Müßigkeit - Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache - Arbeitsweisen der Schriftsteller

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Ulrich Sonnemann

Schriften in 10 Bänden

Herausgegeben von Paul Fiebig

(unter Mitarbeit von Elvira Seiwert)

Band 7

mit einem Geleitwort

von Lisa Spalt

zu Klampen

Ulrich Sonnemann

Land der Sprachlosigkeit

Deutsche Reflexionen (4)

Erste Auflage 2020

© 2020 zu Klampen Verlag, Springe

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung und Satz: Friedrich Forssman

Umschlagphotographie: Digne Meller Marcovicz

Gesamtherstellung: Wanderer Werbedruck Horst Wanderer GmbH

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2020

ISBN 978-3-866747-69-2

Die Schriften Ulrich Sonnemanns werden gefördert von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und der Ulrich Sonnemann-Gesellschaft.

Im Grunde gibt es nur ein Identitätsmerkmal, das wirklich konstituierend ist für so etwas wie »Deutschsein«, und das ist: Deutsch zu seiner Muttersprache haben. Das läßt sich auch geschichtlich belegen, es hat ursprünglich nichts anderes bedeutet als die Menschen deutscher Sprache. Und jetzt ist das Paradoxe, daß gerade diese Eigenschaft, diese Modalität, diese Seite des Identisch-Seins mit dem Deutschen, was immer sonst das sein könnte, einerseits eben diese Unzweifelhaftigkeit hat und andererseits die einzige unter allen denkbaren ist, die ohne geschichtliche Schuld ist. Es hat ja zu Beginn der Naziherrschaft wirklich eine Emigration, zum erstenmal in der Geschichte, praktisch einer ganzen Literatur gegeben, und das Leben einer Sprache ist in keinem Bereich intensiver als in dem ihrer eigenen Literatur, das kann man nachprüfen, wenn man sich überlegt, wer alles damals rausging, also die allerdivergentesten Figuren: Thomas Mann, Bert Brecht, Stefan George sind ja wirklich extrem divergierende Gestalten, Zusammenfassungen des sprachlichen Lebens. Und das alles verließ Deutschland. Und insofern ist da keine geschichtliche Schuld. Gut. Da liegt aber zugleich eine Hoffnung, die dann wiederum im Moment, in dem man sie realisiert, als Hoffnung in seinen Gedanken realisiert, sich verbindet mit der Entdeckung, daß von allen Völkern eigentlich die Deutschen diejenigen sind, die das prekärste, schwierigste, auch unfreundlichste Verhältnis zur Sprache überhaupt, speziell aber zu ihrer eigenen haben. Da habe ich ja öfters Thomas Mann zitiert, also Settembrini im ›Zauberberg‹, sein Wort zu Hans Castorp: »Die artikulierte Welt weiß nicht und erfährt nicht, woran sie mit Ihnen ist […] Sie lieben das Wort nicht oder besitzen es nicht oder heiligen es auf eine unfreundliche Weise«. Solange das gilt, ist es dann wiederum nicht so unbegreiflich, daß auch die deutsche Geschichte immer wieder mißglückt, weil: wenn die Sprachzugehörigkeit so entscheidend ist für eine nationale Identität, dann ist ein unbequemes Verhältnis in ihr und zu ihr natürlich geradezu eine Garantie dafür, daß das Leben mit genau dieser Identität von allem möglichen belastet sein wird, was sich als Unheil herausstellen dürfte. Und das tut es dann auch und hat es getan und tut es, fürchte ich, bis man das wirklich erkannt, durchdrungen und abgeändert hat, weiter.

Ulrich Sonnemann

Cover

Titel

Impressum

Geleitwort

Erste Abteilung

Eine gebildete Sprache – was sie leisten muß?

Verteidigung des langen Satzes

Vom Wesen der Mitlaute

Lob der Interpunktionen

Der Dativkomplex

Angewandter Versinnlichungs-Zwischenruf

Ein Bonmot, das Furore gemacht hat

Die Schulen der Sprachlosigkeit.Deutschunterricht in der Bundesrepublik

Vorwort

Das alte Unwahre oder Die Innerlichen. Bundesdeutsche Schullesebücher I

Die Aufgeschlossenen und die neue Ware. Bundesdeutsche Schullesebücher II

Gereiztes vom Rande. Aufsatzmarginalien als Denkverbote

Die ab- und auskochende Germanistik und die deutsche Literatur. Von Pensumsbewältigungen

Verfügende und erkennende Sprache. Das Einheitsdeutsche als Umschlagplatz für gesellschaftliche und seelische Druckzustände

Der vereitelte Dialog und der Harmonieschwindel. Kritik des Bekenners

Der Deutschlehrer als Defraudant und als Opfer und Objekt von Geschichtsbetrug. Über die Trägheit des Schulmeisterlichen und die unbequeme Anlage der deutschen Sprache

Nachgefragt. Zu den ›Schulen der Sprachlosigkeit‹

Fragen an den Autor

Ein Rundfunkinterview

Anhang (apropos Sprache der Justiz)

Anhang zur ersten Abteilung

Thesen zur Frage der Sprachkritik und sprachlichen Praxis

Zweite Abteilung

Information in der Demokratie. Eine Rundfunkdiskussion

Fragen und Antworten

Gespräch

Pardon wird nur nach oben gegeben.Journalistensprache als Öffentlichkeitskastration

›Zeitschriften-Dinge‹

›Labyrinth‹

Diktatur des Verdachtes

Krise der Kulturzeitschrift?

Der institutionalisierte Gesinnungskauf

Deutsche Ideologie in den ›Vorgängen‹

Exposé zur Neugestaltung der Zeitschrift ›Vorgänge‹

… auch Zeitungs-Dinge

Ulrich Sonnemann behauptet

Ulrich Sonnemann antwortet

APOs Opa – sehr lebendig

Durcheinander

Entwurf eines Leserbriefs

Die Zitterrochen des Kanals und ihr Zitterröcheln. Aus der Arbeit eines Seminars über bundesdeutsche Fernsehdiskussionen

Hegels Sprache: Pathos und Humor

»In der Not stehen«. Kritik an einem (Heidegger-)Referat

Sprachlosigkeitsregelung. Selbstzensur als Geschichtsverleugnung

Vortrag

Aus der Diskussion

Theologische Kopfbräuche in Deutschland, und wie man sie loswird

Der unteilbare Etikettenschwindler oder Die Mauer als Müßigkeit

Die Geburt des Unmenschen aus dem Schlaf der Sprache

Anhang zur zweiten Abteilung

›Arbeitsweisen der Schriftsteller‹

Gespräch

Zitaten-Anhang apropos (Ulrich Sonnemanns) Sprache

Kleine Abfertigung einer Retourkutsche

Wissenschaft oder Wehrdorf?

Antwort(en) auf eine germanistische Buchbesprechung

Replik

Antwort

Postscriptum

Editorische Nachbemerkung

Glossar

Personenregister

Endnoten

Geleitwort

Das Wort ist Gott. Es erschafft die Welt. Wenn ich es ausspreche, kann ich jedoch nicht umfassend kontrollieren, welche Welten andere in ihm finden. Und ich habe höchstens eine Ahnung, was beim Gegenüber sich mit einem Mal verflüchtigt haben wird. Das ist es, was so oft zu Beschimpfungen der als Mutter heilig gewollten Sprache führt: daß sie dem Verkehr dient. Darüber kann ich wehklagen wie ich über die Notwendigkeit, essen zu müssen, in Verzweiflung geraten kann. Bei Zebrafischen sind nach den Beschwerden der letzten Jahre Gene eingepflanzt worden, die ihnen die Photosynthese ermöglichen. Ich darf also hoffen. Oder ich lese Sonnemann. Sonnemann ist, unaufhörlich, um die Mitteilung bemüht, deren Horizont, immer, in der Zukunft liegt. Essen und Sprechen: Ich kann es mit zugehaltener Nase tun, oder ich kann etwas für den Sinn und die Sinne daraus machen. Das Schönste an Sonnemanns Weise, Sprache in den Mund zu nehmen: daß er die Unwägbarkeiten der Kommunikation als Wegweiser zu einem möglichen, zu einem utopischen Leben nimmt.

Seit einiger Zeit habe ich einen andauernden Albtraum, in dem das Verhältnis zwischen Kunst und Politik verschoben ist. Der Traum spielt in einem Land namens Instagram, in diesem sind alle magische Künstler. Der wiedererstandene Beuys, der die Leute erschaffen hat, steht am Rand des Gebiets und faucht zum Gaudium aller wie ein Tiger, während ihm in unregelmäßigen Intervallen der Hut hochgeht, der ihn zu einem der Ihren macht. Alle dürfen jetzt ihre eigenen Ansichten in den mit Verve vorgebrachten Satztrümmerverhauen der mit Künstlerschal verzierten Redner, die sie nun alle sind, wiederfinden. Alle dürfen coram publico Figuren und Ereignisse erdichten und die entstandenen Kunstharzelemente zur Möblierung einer von ihnen noch nicht einmal erahnten Welt benutzen.

Die Aussage fördert sowieso nie Wahrheit zutage? So gibt es doch, eigentlich, keine Lüge, nicht? Verbindlichkeit der Rede? Hier in Instagram nimmt die schlagende Studentenverbindung ihren Platz ein und schon wird auch der tausendundeinte Nazisager mit einem schlichten »der redet ja nur« abgehandelt. Zu verstehen hat man jetzt vor allem (wieder) Befehle, daher ist die Befehlsform auch die in den örtlichen Business-Seminaren vorrangig gelehrte. »Den Konjunktiv abschaffen – so schnell wie möglich!«, ruft der Coach und sammelt Tausende von Followern, die mit elektronischen Kandelabern hinter ihm hergehen. Willfährig antwortet ihm eine Lehrerin, man möge doch endlich den Konjunktiv zwei abschaffen, um das gründliche Erlernen der deutschen Sprache auch für die heutigen Kinder möglich zu machen – die man anscheinend für minderbemittelt hält, man will ihnen demnächst auch noch die Schreibschrift ersparen. Dann wieder probt ein sich als »Rechter« (Gerechter?) bezeichnender Politiker den Auftritt aus den Kulissen. Auftritt von links – oder vielleicht doch mittig, Gott sei bei uns? Der Herr präsentiert sich als Erbe der deutschen Romantiker, beschwört die Schönheit von Ruinen und vermeldet, »dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein«1 zu geben. Mir wird übel. Schon meldet sich auch ein mit solchen Zaubersprüchen aus dem Jenseits gerufenes »Volk« zu Wort und wird am Übergang in die Selfie-Gesellschaft in einen frisierten Pudel verwandelt. Im Jenseits der Poesie dagegen segelt, wie ich durch ein verkehrt herum gehaltenes Fernrohr sehen kann, tatsächlich immer noch das Luftschiff herum, daraus die Romantikerin auf die dummen, stets noch kleiner werdenden »Normalos« hinunteräugt und ihnen die Nichtigkeit ihres Erlebens vor Augen führt. Nur sehen die nicht mehr hin. Oben wundert man sich: Was fallen die vor Angst Schlotternden da unten auf das Klappern der Schlangen herein?

Und plötzlich steht da Ulrich Sonnemann mit der Kelle und regelt den unschönen Verkehr …

In ›Diktatur des Verdachtes‹ weist er auf die Impertinenz hin, mit der ein Herr namens Helmut Klein meint, er wisse besser als Werkstudenten, wie diese fühlten oder – besser noch – fühlen sollten. Auch künstlerische Verachtung wird hier kritisiert: die Verachtung derer, die man so gerne als Publikum der eigenen Höhenflüge begrüßen würde, die man aber gleichzeitig für zu dumm dafür hält. Da unten im Süden des Publikumsraums sitzen im Theater für gewöhnlich die, denen die Zivilisation gebracht werden muß. Sonnemann schält den bitteren Kern aus dem räudigen Pudel, nämlich die Verachtung nicht nur für bestimmte Menschen, sondern für das Menschliche schlechthin: »Was die Werkstudenten wahrnehmen und denken, darf in Frage gestellt werden, beileibe nicht vom Wahrgenommenen, Gedachten, sondern daher, daß die Werkstudenten Menschen, ihre Wahrnehmungen und Gedanken also von den inneren und äußeren Umständen ihrer eigenen Lage bestimmt sind: eine so leidige wie verbreitete Schwäche«.

Unbeeinflußtheit, absolute Individualität wäre also das Kennzeichen der Elite. Draufkommen will sie, wer eine vor der gegenseitigen Beeinflussung von Ei und Samenzelle nicht gewesen ist. Und die Poesie? Der Mitteilungscharakter der Sprache bringt – wie das Wort schon sagt – ein Mischwesen hervor, das von allen Gesprächspartnern etwas und vom nötigerweise Allgemeinen der Sprache auch einiges enthält. Wo sich daher die Poesie der ›Aussage‹ enthält, weil sie als »reiner Ausdruck des Persönlichen« und als präziser einer sowieso nicht erreichbaren Erkenntnis nicht möglich scheint, wo Pilze massenhaft in den Mund genommen, aber eben niemals gegessen werden, sodaß sie auf der Zunge vermodern und den charakteristischen faden Geruch erzeugen, haben mittlerweile andere das Wort an sich gerissen und machen aus ihm ein Vermögen. Den bösesten Ausdruck erfährt der Umstand in einem Film wie ›Idiocracy‹2. Lange Zeit haben nur noch die Kinder bekommen, die sich um die Bildung nicht scherten. Die Welt wurde dem sinkenden Intelligenzquotienten stetig angepaßt. Ein Besucher aus einem früheren Jahrhundert, der auf Bildung selbst immer gepfiffen hat, muß nun die Menschheit vor dem Verhungern retten. Und unsere Gegenwart? In der Öffentlichkeit derselben repräsentieren die Brüder und Schwestern aus dem unheiligen Orden der gebrochenen Syntax. Das Gemeinte ihrer Rede ist so sehr nicht festzumachen, daß Gruppen der von mir im Fach Deutsch Unterrichteten zuweilen geschlossen der Meinung sind, jene drückten genau das aus, was sie auch sagen wollten. Dabei sind sie, wenn ich nachfrage, ganz unterschiedlicher Ansicht.

Sonnemanns Ausweg aus der selbstverschuldeten Mundlosigkeit? Er hält nicht schwatzhaft den Mund, mischt sein Sprechen in die öffentliche Rede, ohne Angst, sich in der Mitteilung zu verlieren. Er spricht als Teil der Gesellschaft. Von ihr geprägt zu sein, ist ihm selbstverständlich – und auch, daß die Sprache nicht reiner Ausdruck eines Einzelnen sein kann, sondern einen Gutteil Allgemeinheit birgt, damit sie so gut funktioniert, wie sie eben kann. – Es sprechen, wenn ich spreche, immer schon »zehntausend Tote« mit? Sonnemann setzt gegen solches Beklagen einer verlorenen, weil nie erreichten, dem Einzelnen eigenen und doch vermittelnden Sprache eine Haltung, die Geschichte annimmt und fortführt, verführt – im Sinne eben von »woandershin«. Was ist so demütigend daran, teilzuhaben, Ergebnis einer Mischung zu sein, sich mit einer Sprache zu beschäftigen, die nun einmal für ein notwendigerweise immer wieder ungefähres Abgleichen untereinander und nicht für Absolutheiten und Endgültigkeiten erfunden ist? Sich beleidigt aus dem Spiel ständig neuer Anstrengung zu nehmen, ist Sonnemann kein Ausweg aus der Abhängigkeit von Beziehungen. Einmischung ist unumgänglich. Auf engem Raum faßt er seine Haltung am Beginn der ›Gangarten einer nervösen Natter bei Neumond‹3 körperbezogen zusammen: »Die Illusion, in der allgemeinen Unfreiheit einen eigenen Weg gehen zu können, der sich nicht von ihr stören ließe oder zu ihrer Zerstörung ein Beitrag wäre, führt zu einer Darmverschlingung der Seele.« Sprechen heißt handeln, das Spiel ist ein anderes Wort für Bewegungsfreiheit in den Verbindungen.

Das hier ist der Punkt, an dem die Lektüre Sonnemanns meine Sicht auf die Poesie beeinflußt. Da klebt nichts am selbsterhebenden Religionsuntersatz des Ewigen, Absoluten und Reinen. Hier ist der grün umwucherte, teilweise von Bäumen verlegte Weg heraus aus Ohnmacht und Fatalismus, der in den letzten Jahrzehnten von irgendwelchen schlechtgelaunten Gärtnern und ihren Roundup-Spritzen, die die rahmenden Urwälder vernichteten, unkenntlich gemacht worden ist. Der gern in Gestalt eines im Mönchsgewand auftretende, von Zeit zu Zeit den Rock überm eisernen Keuschheitsgürtel hebende Geist der Vermeidung warnt mich, von solcher Lebendigkeit erschreckt, plötzlich nicht mehr fuchtelnd vor dem Absturz ins Alltägliche, Ephemere, Dumme, Banale, Fehlgehende, Vorläufige. Sein verunsichertes Grinsen macht erkennbar, daß die Angst vor dem Fehlgehen für gewöhnlich vor dem Stehenbleiben keine Angst hat und dem Stillstand dann nur lange und fröhlich Gesellschaft leistet. Das Reine, Absolute, das Jenseits-der-schnöden-Welt, das Für-immer-Wahre, das Göttliche – alle diese Geister der Kunst, deren Leintücher mit aufgemalten Augen dem lebendig Menschlichen übergezogen werden sollten, führten nicht nach Utopia. Bei Sonnemann geht Sprachkritik mit der alltäglichen Sprache um, sie ist dauernder, gemeinsamer Prozeß und entpuppt sich als so lebendig, wie es nur möglich ist, weil sie die Notwendigkeit für Resignation nicht sieht. Sie ist kein Lamentieren über die Obrigkeit, die als Über-Ich in der Sprache sitzt und die Peitsche der syntaktischen Regeln schwingt, kein Jammern über das Allgemeine, in dessen unnachgiebiger Hülle es dem Subjektiven, Persönlichen ergeht wie dem Angeklagten in der Eisernen Jungfrau, kein Wehklagen über das nicht mögliche Verstehen ebenso wie die Unmöglichkeit, von wie zufällig auch immer generierter Sprache nichts zu verstehen, sie beklagt sich nicht darüber, daß Erkenntnis das Knetmaterial fortlaufenden Verhandelns ist. Es geht Sonnemann nicht darum, Kritik zu üben am Hammer, der nur für das ungefähre Einschlagen von Nägeln verwendbar sei, oder darum, der Heizdecke den Versuch der Vertuschung des Mordzeitpunkts anzulasten, wie es in einer Folge der Krimi-Serie ›Columbo‹4 die Mörderin versucht. Bei ihm tritt Sprache daher auch nicht als verräterische Geliebte auf, die vor aller Augen auch mit dem Nachbarn schläft. Sonnemann wirft sich hinein ins »volle Menschenleben« und stellt kurzerhand meine Logophobie auf die Probe: Er richtet Wörtern, vor denen mich zu fürchten ich gelernt habe, erschreckend furchtlos »die Wadln fieri«. Die Rede, die wieder »das Deutsche« feiert, ließ mir bis zur Lektüre dieses Sonnemann-Bandes die Zähne klappern und versetzte mich immer wieder in einen Starrkrampf, von dem ich hoffte, daß er mich die nächsten hundert Jahre teilnahmslos verschlafen lassen möge, damit ich in einer neuen Gesellschaft aufwachen könne wie weiland Edward Bellamys Julian West in ›Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf das Jahr 1887‹. Sonnemann dagegen hat ganz einfach die Chuzpe, »das Deutsche« im Gegensatz zur Nation, die ihn in der Zeit der Herrschaft der Nationalsozialisten existenziell bedrohte, als – seine – Sprache zu verstehen und diese noch dazu als »Heimat« zu bezeichnen. Ja, eigentlich nimmt er so gut wie jedes Wort, das seit 1945 einen Sprengstoffgürtel trägt, in den Mund und wandelt es, gerade indem er es scharfmacht, zur brauchbaren Pflugschar um. Es verblüfft, wenn einer, der in der Zeit des Nationalsozialismus aus Deutschland flüchten mußte, ausgerechnet den dieser Vertreibung angeklebten Begriff des »Vaterlandes« in den Mund nimmt. Sonnemann gelingt es, auch diesen Berg zu versetzen: »Zum Vaterland«, meint er, »führt der Weg über den Neugewinn seiner Sprache und den der in ihr offenbarten großen Tradition des Gedankens; welcher, weg von der in sich selbst verstrickten, haftenden Privatwelt der Zyniker wie der Schwärmer nach der Freiheit und Sammlung des offenen Platzes verlangt, der Koinonia und Kategoria: als jenem Hier und Jetzt des Menschen und der Gesellschaft, jener in ihrer eigenen Bewegung ruhenden öffentlichen Wirklichkeit der Person und des Volkes, die der Gedanke selbst bilden hilft, indem er sie fordert und sucht.«5 So verwandelt sich die Klage über die Veränderlichkeit dessen, was die Wörter bezeichnen, in eine Chance, sich wieder bewegen zu können.

Daneben kann aber auch der zeitgenössische Dauerkampf um die von Konzernen, die ihren Angestellten dabei mit dem implantierbaren Überwachungschip winken, bejubelte Individualität, welche als ständig tabubrechende aus der Kunst in die Wirtschaft und das Zusammenleben verrutscht ist, in einen Frieden mit der eigenen Bedingtheit münden. Das Unglück dieses künstlerischen, von der Realität obszönerweise auf dem Pannenstreifen überholten Kults und des damit verbundenen anti-gesellschaftlichen, anti-solidarischen, anti-terrestrischen Verhaltens erscheint endlich fragwürdig. Gerade noch schien jeder Bruch von Verbindlichkeiten erlaubt, damit man der flunderhaft-gallertigen Ausbreitung der eigenen Persönlichkeit, die sich widersinnigerweise in der schablonisierten »Personalisierung« vorgefertigter Software und Produkte erschöpft, Vorschub leisten könne. Ohne Du zerfloß das Ich und verdünnte sich ins homöopathische Nichtvorhandensein des Wirkstoffs. Sonnemann dagegen besteht angesichts der Geste, die der Jugend in einer neugegründeten Zeitschrift namens ›Labyrinth‹ den eigenen, unkritisierten Ausdruck ermöglichen will, auf dem Sokratischen, dem Dagegenhalten. Es bestehe, meint er, sonst die Gefahr, »daß die Jungen gerade dann nicht zum eigenen Wort finden, wenn man, es ausdrücklich von ihnen erwartend, ihnen den Widerstand entzieht, an dem das Wort wie immer sich entzünden will«6. Sich einmischen, also in die Mischung gehen, beweglich interagieren und sich dabei selbst riskieren, anstatt sich außen vor zu halten; in Gesellschaft schreiben, anstatt über sie – diese Tür macht Sonnemann auf und wirbelt die staubige Luft in einem Raum auf, der dadurch als Tanzsaal für mich erst sichtbar wird. Das bewegliche Interagieren mit dem Gegenüber, das beispielsweise von Donna Haraway in ihrem viel beachteten Buch ›Staying With the Trouble. Making Kin in the Chthuluzän‹ als Ausweg aus der Ohnmacht angesichts der Zerstörung der Welt beschrieben wird, ist bei Sonnemann längst gedacht. In der ›Labyrinth‹-Vorrede polemisiert er gegen die Starrheit der »Gesinnung«, anstelle derer heute meistens nur die Haltung aufgegeben wird. Gesinnung entstehe, so Sonnemann, wenn »die Seele, anstatt sich aufs Offene ihrer Welt selbst einzulassen, auf sich selber zu schielen beginnt. In diesem alles verflachenden, entwesenden, enträumlichenden Schein, in dem die Fragmente der Realität als tote Fakten herumliegen, gedeiht an der leergebliebenen Stelle der nicht länger erschauten, erfahrenen, ergriffenen Welt, des ihr länger nicht offenen Denkens, jener trübe und blinde, milchglashafte Ersatz, der seiner selber spottend Weltanschauung heißt.«7

Aufmerksamkeit, Beweglichkeit: Nicht von ungefähr führt Sonnemann gegen das Heer der nominalen Wendungen die Liebe zum Verb ins Feld, da Substantive für ihn »fertige Abstraktionen sind, also den Denkvorgang nicht gegenwärtig machen, sondern verdecken, dem sie selber entsprossen sind«8.

Ich bekomme, davon lesend, wieder Sehnsucht nach einer Poesiesprache, die mit der Sprache spielt, weil im Spiel Kontakt hergestellt werden kann. Ich ahne, es könnte so etwas wie ein gemeinschaftliches, verbindliches Spiel sein. Ich will nicht auf der Bühne sitzen und Angst haben, daß einer der da draußen heulenden Kojoten, welche ich als die eigene Menschlichkeit und daher Unmöglichkeit erkenne, das Lichtkabel durchbeißt, um mir später im Dunkeln zu begegnen. Schade wäre, wenn meine Sprache das bliebe, was Literatursprache heute den meisten ist: »etwas Besonderes, statt das Allgemeine des Verkehrs zu sein menschlicher Erfahrung mit sich selbst und einander: einschließlich Selbsterfahrungen, Denkerfahrungen; also auch kritischer Rechenschaften«.9 Schade aber auch, wenn sie sich am Facebook-Chat das Vorbild nähme. Die Zumutung einer beweglichen Sprache müßte schon sein dürfen. Andernfalls bliebe nur noch die reglementierte Simplizität, wie sie heute nicht mehr Goebbels, sondern das Internet verschreibt.

Sonnemann trifft mich diesbezüglich auch als Unterrichtende, vor allem, wenn ich den eigentlich an die Presse gerichteten Vorwurf lese, den er in ›Pardon wird nur nach oben gegeben‹ formuliert: »Seit 1949, als ihre öffentliche Erziehungsarbeit hätte beginnen sollen, dient der Zustand des deutschen Publikums der deutschen Presse als Vorwand, ihn einzufrieren, statt als Grund, ihn zu ändern: ihre Ausrede, das Publikum reagiere auf Schockbehandlungen doch nur mit Ablehnung, ja Verhärtungen, kann mangels irgendwelcher Versuche dazu jedenfalls ein Erfahrungsurteil nicht sein – es gibt keine Daten, die es im geringsten belegen würden«. Ich muß den Lernenden zutrauen, daß sie die herrschende Sprache bis zu einem hohen Grad der Beherrschung erlernen können, die über den Dialogansatz »I bin Karlsplatz! – Was? Ja, bin i ja Karlsplatz!« oder das Argument-Schrapnell »Wir, die heutige Jugend, sind nicht selbstsüchtig, denn wir sind ehrgeizig und verfolgen unsere persönlichen Ziele« hinausgelangen dürfte.

Zumutung muß sein: Das, was der Text sagt, wächst mit der Weise, in der er es sagt – er wächst mit ihr simultan und über sich hinaus. Als ich in einem meiner Bücher versuchte, Halbsätze gegeneinander sprechen zu lassen, nämlich wie Individuen in der Gesellschaft einander widersprechen, dabei aber dennoch am Ende »die Gesellschaft« bilden, wurden vor allem die »Schachtelsätze« beklagt – welcher Klage Sonnemann übrigens amüsant entgegenhält, sie rühre womöglich vor der Angst vor dem weiblichen Geschlechtsteil her, das man mit der Schachtel in Verbindung bringe. Wäre es sinnvoll gewesen, über das Phänomen zu sprechen, anstatt es auszuprobieren? Sonnemann meint: »Die legitime Gegliederheit und die falsche Schwierigkeit, auch Abstraktheit genannt, eines Sprachgebrauchs sind zwei verschiedene Dinge.«10 Und er sagt auch: ›Die Schonwiederverhärtung Deutschlands geht mit der Aufweichung des Spracherwerbs einher.‹11 Ich erinnere das Trump-Wort »Wählt Gouvernor X, denn er ist ein guter Athlet!« Wie mit einem solchen – nicht nur von Trump produzierten – Irrsinn spielend die Lesenden erreichen, da die Welt in der Nachrichtenblase des Facebook-Accounts wie in der Seifenblase kopfsteht? Kritik wird derzeit als Ausdruck einer lebensverneinenden Negativität gegeißelt, die das Wellness-Dümpeln stört (»Mensch, Leute, die dauernd kritisch sind, mag echt keiner« – Äußerung eines meiner Kursteilnehmer), und Nachrichten werden nach dem Bestellzettel des ständig an die Vorlieben der schnell frustrierten »Benutzer« angepaßten Algorithmus serviert.

Sonnemann riet dem zaudernden, willfährigen Journalismus, der sich vor der Empörung des Publikums in einer Art von anbiederndem Schleiertanz wand, dieses unbedingt zu schockieren, wenn es die Welt, die Verantwortlichkeit, erfordere. Wenn ich mich als Lehrende den Auszubildenden schon mit einer Entschuldigung auf den Lippen dafür nähere, daß ich ihnen die böse Tante der deutschen Sprache mit ihren tausenden Regeln zur Pflege überlasse, sollte ich dann nicht wagen dürfen, darauf hinzuweisen, daß ihnen die Gute als Lohn für ihre Mühe ein reiches Erbe verspricht?

Brächte Sonnemann die zerfallende Sprachmächtigkeit vieler Jugendlichen, die aufgrund der Konzentriertheit auf die Formate des Digitalen in Satzfetzen und Kürzeln konversieren, mit der zerfallenden Gesellschaftlichkeit, mit dem mangelnden Gefühl, für andere und für sich selbst im Gefüge verantwortlich zu sein, in Verbindung? Eine meiner Kursteilnehmerinnen meinte unlängst, es sei doch wohl einerlei, ob man einem Menschen »ein umständliches Liebesgedicht« schenke oder ihm auf elektronischem Wege ein »hdl« für »hab dich lieb« sende. Ist es das? Sonnemann formuliert zur Abkürzung des Kasseler »Aufbau- und Verfügungszentrums« als AVZ: »Woher soll ein fremder Besucher wissen, daß AVZ nicht Ambulanzstation für die Verhinderung von Zusammenbrüchen bedeutet, keine Arbeitsgemeinschaft verängstigter Zettelkästen und auch nicht Allzweckbau für die Verinnerlichung von Zement.«12 Sobald die Verbindung zwischen den Menschen zerbricht, wird sie, vermute ich, durch die Plaques sinnentleerter, des grausig Maschinenhaften nicht mehr achtenden Kürzel ersetzt. Sonnemann meinte, die deutsche Sprache verliere ihre Bewahrungswürdigkeit, wenn die Sprechenden ihrer leistungsfähigen Syntax nicht achteten. Interessanterweise wird gegen diese gerade in einer Zeit polemisiert, in der »das Deutsche« als nationale Gemeinschaft wieder beschworen wird und gleichzeitig die Party für das ewig Geburtstag feiernde Individuelle gar kein Ende mehr nehmen will. Die dem Gegenstand angemessene, dialogische Rede dagegen würde bewegliche Gemeinschaft bewirken, dann nämlich, wie Sonnemann meint, »wenn die Aufmerksamkeit beider Partner so auf eine gemeinsame Sache versammelt ist, daß für das eigene Sosein (das umso kräftiger es selbst ist, je unbewußter es sein darf) keine Aufmerksamkeit übrig bleibt«13. Ich wünschte mir sehr, daß ich im dialogischen Schreiben mit anderen diese Auffassung Sonnemanns vom Sprechen zu pflegen vermöchte.

Lisa Spalt Linz, im Mai 2019

Erste Abteilung

Eine gebildete Sprache – was sie leisten muß? (um 1975)

Unter dem Thema der Frage laufen meist ganz verschiedene Fragen durcheinander.

In den Antworten, die in der Regel gegeben werden, setzt sich dieses Durcheinander dann fort.

In Deutschland spaltet sich die Sprache, weil es sich, wie wir wissen, überhaupt spaltet.

Dagegen ist eine öffentlichkeitsfähige Gesellschaft auch sprachlich so sehr eine, daß in Frankreich mit seinem ganz anderen gesellschaftlichen Stellenwert von Literatur und Rhetorik die Frage gar nicht verstanden würde.

Eine gebildete Sprache muß dreierlei leisten:

1.) Der Verständigung dienen, mit sich selbst und den Mitmenschen.

2.) Die Verständigung hat Themen, also muß Sprache deren Anspruch – das heißt, verwickelten Ansprüchen – gerecht werden – bis in die Nuancen.

Entscheidend und 3.) Sprache muß eigene Neigung abwehren, sich in Begriffen, substantivischen Abstraktionen, zu verfestigen, bei denen jeder nur noch glaubt, sich etwas zu denken, während es keiner mehr tut.

Solche Begriffe setzen sich in Deutschland mit seiner glaubenskämpferischen Tradition an die Stelle der Wirklichkeit, die in der Sprache zu vertreten sie vorgeben.

Etwa die freiheitlich-demokratische Grundordnung: sie ist entweder das, was wirklich im Grundgesetz steht, oder ein wortmagischer Fetisch, der, was da wirklich steht, gerade ersetzen und zunächst also verschleiern soll.

Im ganzen hat diese Sprachtendenz bei uns einerseits zu diesen Weltanschauungs- und Erbauungssprachen, anderseits zu den Fachsprachen geführt, einem unredlichen Privileg von Verwaltern, Technikern und Juristen, das der Versteckung der Wahrheit dient.

Aufgabe der Intellektuellen wäre es, die Sprache von beidem strikt freizuhalten, aber wie fangen sie’s an?

Sie können es nur so anfangen, daß sie die Kräfte der Sprache selbst gegen diese Begriffsverfestigung, dieses Schwelgen in verdinglichten Substantiven und unkontrollierbaren, bloß Eindruck machenden Adjektiven mobilisieren. Das Gegenmittel ist das Verb.

Speziell im Deutschen liegen die Abwehrkräfte der Sprache, also des Verbs, in den reichen Möglichkeiten seiner Syntax, seinem unendlich variablen Satzbau, von dem kaum noch Gebrauch gemacht wird.

Gerade die Sätze vieler sogenannter Intellektueller laufen selbst immer nach dem gleichen Bauplan ab.

Als modellhaftes Gegenbeispiel wäre Adorno zu nennen, nicht bloß: »Zille klopft dem Elend auf den Popo«1, sondern auch: »Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles«2. Was sich knapper und genauer, ergo konkreter, nicht sagen läßt.

Warum wird gerade er dann als abstrakt, nicht bloß als schwierig – was seine Gedanken ja selbst sind – verschrieen, ja auch noch als dünnblütig nach einer sprachlichen Nazi-Tradition, und zwar gerade von Intellektuellen?

Das kommt daher, daß das gar keine sind, denn Intellekt heißt Verstand; und daß die Denkfähigkeit eben etwas sehr Abwehrbereites, Militantes hat, was sich selbst als Gesetz verkündet. Sie verlegt ihre Interessen daher klüglich ins Proletariat.

Aber wenn die Sprache syntaktisch mobilisiert wird, wie sie es in den besseren deutschen Zeiten, als die Verwaltungstechniker noch nicht herrschten, gewesen ist, sind unter Studenten die viel zu wenigen Arbeiterkinder dafür viel empfänglicher als die von Geschäftsreisenden und von Metzgern.

Was als Problem dann allenfalls bleibt, ist als Elend unserer Schulen ebenfalls eine Hinterlassenschaft des Dritten Reiches. Vergessen wir nicht, daß es die größte Katastrophe einer modernen Kultur war und noch vor dreißig Jahren bestand.

Die auch sprachlich unterprivilegierten Klassen werden dieser Unterprivilegierung aber nicht entrissen, indem man das Produkt eben dieses Unrechts für die Norm erklärt, nach der sich die Gesellschaft zu richten hat.

Was not tut ist eine Revolutionierung der Schule, zumal ihres Deutschunterrichts. Wie in Frankreich und den angelsächsischen Ländern braucht sie nicht nur ein unbefangeneres Verhältnis zur Literatur, sondern die Einführung von Unterricht in Rhetorik, also in öffentlicher Rede- und Diskussionskunst.

Die Oberschicht, das beweist sich an dem verarmten und vielfach auch falschen Deutsch, das sich über unsere Presse verbreitet hat, ist sprachlich heute nicht weniger verkrüppelt als es die Kinder von Arbeitern sind; allenfalls auf ein bißchen andere Weise.

Mit den Fremdwörtern schließlich hat die ganze Frage nur sehr bedingt was zu tun. Wo es eine genuine stammdeutsche Entsprechung für sie gibt, aber nur dann, und diese Fälle sind verhältnismäßig selten, soll man sie wirklich vermeiden; andernfalls sie einfach so lernen wie den Rest der Sprache. Warum eigentlich nicht? Entweder ein Wort ist in die Sprache aufgenommen oder es ist es nicht. Grundsätzlich haben in der Zivilisation die Vokabeln der Sprache genau soviel Gleichberechtigung in ihr wie im Staate die Bürger.

Ungedruckt (handschriftlich überliefert). Nähere Umstände nicht bekannt.

Verteidigung des langen Satzes (1937)

Angriffen wehren ist Sache des Verteidigers, keine leichte mitunter, hin und wieder eine freudige; aber wie verteidigt man etwas gegen Flucht? Da die Periode, der gegliederte und gliedernde, Leidenschaften bindende, Bilder bannende, Gedanken ineinanderfügende Satz, von niemand angegriffen, bloß ihr Gebrauch im deutschen Sprachbereich von einer immer stärker werdenden Mehrheit von Zeitgenossen geflohen wird: ist zu folgern gestattet, daß man Angst vor ihr hat?

Nicht, daß man es zugäbe! Mit der Angst geht Verstellung einher, und wer schiene, wer gern scheint, lieber als das Gegenteil dessen, was er ist? Unsere Telegrammstilisten zum Beispiel legen auf nichts so wie darauf Gewicht, für keck zu gelten, und ihre – es bleibt dunkel, wovon – animierte, aus Superlativen und Punkten bestehende, zwar keinen Gegenstand bewältigende, aber auch keinen verschonende Sprache bevorzugt einen gelassenen, ja, ausgelassenen Ton. Aber zieht ihr das Mäntelchen der Manier aus, dies billigbunte, aus Schlagwort-Viscose geschneiderte, keiner kritischen Zerreißprobe standhaltende Gewand, und was bleibt, ist die Leere des Hirns und die Kürze des Atems, ist der Mangel dessen, was bei Nietzsche einmal die »antike Lunge« heißt. »Solche Perioden«, steht in ›Jenseits von Gut und Böse‹, »wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zweimal schwellend und zweimal absinkend und alles innerhalb eines Atemzugs: das sind Genüsse für antike Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu schätzen wußten – wir haben eigentlich kein Recht auf die große Periode, wir Modernen, wir Kurzatmigen in jedem Sinne!«1 Wenn einer, vertraut mit den Geheimnissen der Sprache wie kein anderer seines Zeitalters, schon 1886 solche Urteile fällte, so wird nicht allein deutlich, wie beängstigend weit wir auch in dieser Beziehung auf der Bahn gekommen sind, die er warnend voraussah; sondern freilich auch könnte man fragen, ob jenes »Recht« den Heutigen nicht entschiedener noch als ihren Großvätern zu bestreiten, nicht die Verkümmertheit ihrer Sätze dem unnachdenklichen, distanzlosen und leichtgläubigen Zustand ihres Geistes angemessener sei. Indessen, wer hier auf eine bloße Legitimitätsfrage abstellte, beginge den Fehler, in der Sprache einzig einen Höhenmesser des Geistes zu erblicken statt auch ein Höhensteuer – ein mögliches Höhensteuer, versteht sich, das, um es wirklich zu werden, heute mehr als je vorher der Pilotenkunst guter Pädagogen bedürfte. Schematismus könnte dem Verderben nicht steuern, und es wäre auch müßig, in dem erörterten Problem ein bloß syntaktisches zu erblicken.

Das Problem der Satzgestaltung ist vielmehr – im Deutschen noch mehr als in andern Sprachen – mit dem der Wortbildung engstens verknüpft. Daß in einer Zeit der Wortinflation der sandkuchenartige Zustand großer Teile des gebräuchlichen Vokabelschatzes sie ungeeignet macht, solide Steine zum Periodenbau zu liefern, ist schließlich nicht verwunderlich. Das Schicksal seiner Sprache gibt dem deutschredenden Geschlecht von heute und morgen ein Problem auf, wie es sich seit Luthers Zeit nicht mit ähnlicher Schwere gestellt hat, doch sind seine Elemente nicht durchweg neu, sondern in einem großen Teil in allen Epochen unserer Literaturgeschichte nachweisbar. Ist die Periode, deren sich Grimmelshausen, Jean Paul, Goethe, Kleist, Keller und Immermann auf höchst verschiedenartige Weise bedient haben, die eine Möglichkeit sprachlicher Formung, so ist der kurze, konzisierende Satz, von Luther gestanzt, von Lessing, Lichtenberg und Nietzsche zu höchstem stilistischen Glanze geschliffen, die andere, und nichts wäre hier unweiser als eine billig verallgemeinernde Parteinahme. Beide Möglichkeiten haben ihre Vorzüge und ihre Gefahren, und verteidigen wir die Periode, so verteidigen wir den kurzen Satz mit – gegen Mißbrauch. Es versteht sich am Rand, daß gegen diesen auch die Periode mitnichten gefeit ist. Von Grimmelshausen als erstem Deutschen verwandt, ist sie in unserer Prosa die spezifische Sprachform des Barocken geblieben, und ihrer bedient sich die epische Ausschweifung, das Behagen am Wort, die Lust an gebändigt überquellender Vielfalt. Wie aber neben dem launenhaften Bombast der Fürstenhöfe des frühen achtzehnten Jahrhunderts der heimlichere, mächtigere, so viel weiter tragende Barock der Denksysteme von Leibniz und Pascal, der d’Alembertschen Mathematik und der Bachschen Fuge steht als der Erdenwandel eines ebenso leidenschaftlichen wie selbststrengen Zeitgeistes, so stehen in späterer Zeit neben dem krausen, fabulierenden Überschwange Jean Pauls, den (wenn auch auf anmutvollsten Pfaden) seine Sätze führen statt er sie, der klare, gemessene Vortrag der ›Wahlverwandtschaften‹ und die sublime Formgewalt Kleistscher Novellen, in deren gehämmerter und spröder Schönheit höchste Gegliedertheit höchster Konzision sich vermählt und der Sprachstrom, in welchem kaum ein Wort ersetzbar oder mißbar scheint, einem wohltemperierten Klavier gleicht, bei dem es Thema, Gegenthema, alle Kunstgriffe wechselnder Tempi, nur keinen feierlichen Umstand, keine gefälligen Dekorationen, keine »Gemütlichkeit« gibt. Liest man ›Michael Kohlhaas‹, so scheint die Alternative, hie Bündigkeit, hie Periodizität, fragwürdig, fast sinnlos zu werden.

Sie scheint es, – aber Kleist ist doch ein Einzelner und Sonderfall geblieben, mag er gleich zum pädagogischen Vorbild wie wenige taugen. Der knapp pointierende Satz, der im Gegensatz zur Periode keinen geistigen Raum mit sich ausfüllt, sondern sich – man erkennt dies am deutlichsten bei Lessing – in ihm in der Richtung auf erkorene Ziele bewegt, bleibt als ebenbürtiger Bruder der Periode bestehen. Führt diese aus, so spannt er auf verhaltene Art oder redet auch »zwischen den Zeilen«, schöpft sie alle Möglichkeiten aus, welche die Syntax, einer Klaviatur gleich, ihr bietet, so scheint er, in der Hand eines begnadeten Fechtmeisters der Sprache, der geheimeren Syntax didaktischer Strategie zu gehorchen, und bei Nietzsche erinnert er förmlich an schwimmende Eisberge, deren größere Teile die Tiefe des Meeres dem Anblick verhüllt. Aber leider war Nietzsche, so gewaltig als Erscheinung, so verhängnisvoll bis heute als Vorbild. Man imitierte ihn, man übernahm die Requisiten seines Stils, man mißverstand, wie seine Gedanken, auch deren Form, und hatte er Berge aus Eis in den Himmel getürmt, so fertigten beflissene Programmatiker, auf seiner Spur sich wähnend, Eisberge aus Seifenschaum an, deren sichtbare Erscheinung einen unsichtbaren Fortsatz zu Unrecht verhieß. Schon an der Schwelle des ersten Weltkriegs begann die literarische Betätigung von Leuten, die sich, unter sinniger Anspielung auf ihre absurde Ausdrucksunfähigkeit, Expressionisten nannten, und als ihr Gelall, das die Sätze auf die Länge von Dschungelschreien verkürzt hatte, verstummt war, war die »Sachlichkeit« da, – ihre Attitüde vielmehr. In Biographien, Reiseschilderungen, Reportagen und »Sommerromanen« begann der Telegrammstil seinen Lauf.

Was ist er? Aber das ist eine unmögliche Frage, weil es sein wesentlichster Charakterzug ist, daß er nichts ist und am wenigsten, was er wahrscheinlich sein soll: konzis. Sind, die ihn pflegen, allen Ernstes der Ansicht, ein berühmtes Sprichwort wolle sagen, daß Kürze der Würze Gewähr sei? Die musikalische Unergiebigkeit des Telegrammstils, sein gänzlicher Mangel an jeglichem Zauber der Form (sogar jenem der unerwarteten, überraschenden, plötzlichen Kürze!), seine seelische Atemnot, welche die Sprache von Pünktchen zu Pünktchen wie ein schwimmenlernendes, etwas kränkliches Kind von Holzplanke zu Holzplanke vorankeuchen läßt, alles das, doch vor allem die Arroganz, mit welcher seine Schreiber ihre Nöte als Tugend maskieren, macht seine Erscheinung verächtlich – verächtlicher wohl als selbst gestelzter Mißbrauch und gespreizte Entartung der Periode je sein können. Gerade gegen diese sind ja nur Ohren empfindlich, die in der Aufnahme von Perioden geübt sind. Wo in dem einen Falle die wuchernde Einzelheit den tragenden Gesamtbau eines Satzes in Stücke sprengt; wo in einem andern der periodische Faltenwurf schief wird, weil er Gedankenleere oder -krummheit birgt: das zu erkennen, braucht es nicht weit Besseres als in einem ebenso unaufmerksamen wie unwahrhaften Zeitalter selbst vom »besseren Durchschnitt« erwartet werden kann? Die zerstörerischen Wirkungen, die der Bandwurm-, um nicht zu sagen Spaghetti-Stil Adolf Hitlers ausgeübt hat und auszuüben fortfährt, sind dem leichter begreiflich, der des allgemeinen Rückgangs im Gebrauch der Periode mit Besorgnis und Tadel gedenkt.

Überliefert in einer Manuskript- und einer Druckfassung. Erstdruck in: Neue Zürcher Zeitung 1414/1937 (6. August) (Blatt 2/Morgenausgabe); nachgedruckt in: Müllberge des Vergessens. Elf Einsprüche. Herausgegeben von Paul Fiebig. Stuttgart/Weimar 1995, S. 1–4. Im vorliegenden Band wird dagegen die Manuskriptfassung geboten (ohne daß noch zu klären wäre, inwieweit die späteren Abweichungen mit Ulrich Sonnemann dann abgesprochen waren, gar von ihm selber stammen; allemal sind sie nicht von jener Art, wie Tageszeitungsredakteure sie für nötig erachten).

Vom Wesen der Mitlaute (1937?)

Wenn anima, humus, Lebensdunst einer Sprache die Vokale ausmachen, so begegnet uns in den Konsonanten das fügende und herrschende Element des Gesetzlichen. Dies Beispiel ruft wie kein zweites das Grundverhältnis zwischen den Urkräften des Lebens und den Gegenkräften des Bewußtseins in Erinnerung: jene bedürfen ursprünglich nicht dieser, das Chaos spricht in Selbstlauten, alle tierischen Laute sind ebenso Vokale wie beim Menschen die reinen Äußerungen des Schmerzes und der Lust. Wie das Gesetz aber nichts ohne das ist, worüber es gesetzt ward, so vermögen wir eine ganze Reihe von Mitlauten überhaupt nicht ohne einen Vokal zu bilden, während den wenigen, bei denen dies angeht, ursprünglich eine Art Gegenfunktion gegen die gefühlhafte Freischweifigkeit der Selbstlaute, mehr, gegen alles Lautwerden überhaupt, zugeordnet scheint. So bedienen wir uns des Zischlautes sch!, um Ruhe zu heischen, das bewundernde mmmh! ist ein verweigertes ah!, während ffh! den Schmerz zugleich verbeißt und verrät. Übrigens sei an dieser Stelle auf das deutsche Wort »Weh!« verwiesen, dessen Ursprung, von seltener Durchsichtigkeit, sich uns in einem Herrwerden des Äußerungsdranges über die Schmerzverhaltung offenbart – einem Gerade-noch-Herrwerden, eben ausreichend zur Bildung des farblosesten Vokals.

Der Doppelnatur des Geistes entsprechend, welcher, Widerpart des Lebens, doch nur auf dessen Ruf hin und in seinem Elemente erscheint, sind es – im Mittelmeerbereich – die kräftigsten, die Ursprachen, diejenigen, in deren Tiefgang und lyrischer Kapazität sich ihre ständige Beziehung zum Elementaren zeigt, welche zugleich die konsonantreichsten sind: das Russische und Deutsche, ebenso wie die Sprachen der semitischen Völker, deren besonderer Hang zum Gesetzlichen (mit dem die Vernachlässigung des Vokals im Schriftgebrauch psychologisch zusammenhängen dürfte) als Überkompensierung eines chaotischen Seelengrundes zu verstehen ist, sind diejenigen, welche solchen Reichtum sich am besten leisten können, während die romanischen Sprachen durch Maßhaltung in diesem Punkt (auch durch Abschleifung des lateinischen Mitlautbestandes) zu ihrer großen Harmonie kommen und im Englischen eine eigenwillige Behandlung der Vokale Seelenbedürfnissen dient, denen im Deutschen und Russischen der größere Konsonantenreichtum Genüge tut. In manchen der kleineren osteuropäischen Sprachen, die unter unbewältigten Mitlautmassen zu ersticken scheinen, verrät sich uns eine tragische, dem Realitätssinn – vielbestätigten Erkenntnissen der Seelenwissenschaft nach – abträgliche Spannung zwischen seelischem Potential und moralischem Selbstanspruch, Es und Über-Ich ganzer Völker, während Unschulds- und Paradies-, etwa Südseezustände, die Bildung viersilbiger, völlig konsonantfreier Wörter zulassen, ohne daß das Gewissen sich einmischt.

Wir kommen zur Wesensbestimmung einzelner Mitlaute.

Das h, das Hamann in seiner bezaubernden ›Neuen Apologie des Buchstabens h‹ als Luft- und Geist-Zeichen anspricht1, und das wir in der Tat zu Beginn einer Unzahl von Bildungen finden, welche das Hohe, Helle, Hauchige, Hallende, Heilige, Hirnliche und Himmlische bezeichnen, besitzt darüber hinaus eine sehr deutliche Beziehung zur Bemächtigung, welche uns in Wörtern wie Hand, haben, halten, herrschen, Hort, heischen, haschen und hegen ebenso wie in verwandten Beispielen aus unzähligen andern Sprachen entgegentritt. W, das nicht nur in den indogermanischen Sprachen, sondern etwa auch im Estnischen (Väin, Meerenge) und Chinesischen (Wan, Bucht) das spezifische Wasser-Zeichen ist, steht auch am häufigsten für die Bewegung (Quelle, Wirbel, wallen, wandern, Wahn, Wille, werden etc.); im Deutschen mit den Tiefenvokalen i und u verbunden, bezeichnet es den Urzustand der Dinge, soweit er nicht als beruhigt (wofür m tritt; vergleiche hierzu Weib und Mutter, ferner das völkerpsychologisch wichtige Beispiel Welt/world und mundus), sondern als Wust und Wirrwarr gedacht ist, ferner auch alles, was in diesen dunklen Untergrund des Lebens hineinstößt: Wunde und Wurzel, das Wühlende und das Wünschende.

L mit seiner besonderen, schnell nachprüfbaren, leichter als die des w gearteten Verwandtschaft zur Geschlechtssphäre meint ursprünglich nur das von einem Zentrum nach außen Wirkende. So in lachen, laichen, lauten, leuchten, locken. Loch, das dem lateinischen lagus zugrundeliegt und im Gälischen noch direkt See bedeutet, steht außer mit der weißen Farbe (Leiche, Laken etc.) mit lugen und blicken (gleich be-lücken) im Zusammenhang; wenn das Verhältnis lagus–lugen in dem von See und sehen seine Parallele findet, so bedeutet es offenbar nur ein Bewußtwerden ursprünglichster seelischer Gegebenheiten, wenn noch die Dichtung aller Völker Seen Augen verglich. M, wie schon angezeigt, bedeutet, dem Wankend-Weichen gegenüber, das Gesättigte, Mächtige, Sichere: so in Mann, meinen, Messer, Mauer, Mark. In mehreren ural-altaischen Sprachen steht das gleiche Wort für Mutter einer-, Land, Scholle andererseits: maa. N stellt sich in sämtlichen indoeuropäischen Sprachen und über sie hinaus dort ein, wo negiert, dann aber auch, wo ernüchtert oder neutralisiert oder auf Ausgangszustände reduziert wird: so in Not, Nord, Nacht und nigrum, in allem Niederführenden. Der Konsonantbestand von Linnen ist im Zusammenhang des über l und n Gesagten besonders aufschlußreich. Mit vorangehendem k bedeutet n das noch Unentwickelte, Angelegte, Keimhaft-Knappe: Knäuel, Knolle, Knabe, Knospe. Daß im Deutschen das Wort Klugheit mit den gleichen Konsonanten wie Kleinheit beginnt (und: Klage!), scheint mir als Beitrag zu Nietzsches Forderung, sich der Sprachwissenschaft zur moralgenealogischen Forderung zu bedienen, wie auch in Verbindung mit Abschnitt 10 der ersten Abhandlung seiner ›Genealogie der Moral‹2 von Wichtigkeit.

Während g die Überflußzustände, das Festlich-Geistige, Gunst und Gnade Gottes bezeichnet und der Genius der Sprache ohne Zweifel wußte, was er tat, als er in Ge-lück, Verge-nügen die e’s ausfallen ließ, hat r ausgesprochen bedrohlichen Charakter. Es liebt das u und verbindet sich gern mit ihm, um, mit Grund und Ursache, die Mächte der Vergangenheit, des Schicksals, der Ökonomie, der niederziehenden Schwere zu symbolisieren; seine Richtung ist das Zurück, seine Anwesenheit in Nord, Nornen, mors, Rad, rechnen, Reim, Rache, radix, Ruhe, Uhr bedeutsam, seine introversive Natur leuchtet aus einem Wörtchen wie her einzigartig ein. Mit g zusammen wirkt es verdrießend.

»… Jedem Worte klingt

Der Ursprung nach, wo es sich her bedingt:

Grau, grämlich, griesgram, greulich, Gräber, grimmig,

Etymologisch gleicherweise stimmig,

Verstimmen uns«

heißt es in ›Faust‹3. Anders st, welches, selbst in zahllosen Wörtern Stehendes und Stetiges meinend, dem r gern den Halt leiht, den es braucht, damit aus der Rund- und Rückbewegung die in einer Richtung stoßende werde: wie in Strahl, Strom, Strich, Straße, Streit. Das tr bedeutet Täuschung und Verrat, das Nicht-Geheure: in Trug, Traum, truc und trick, in tromper, Troll, tarnen und allen Bildungen, denen das todesmutig wagende trans zugrundeliegt und von denen ich nur trahere mit seinem typischen Doppelsinn und trance erwähne, – ferner auch im finnischen träsk, das sumpfiges Gelände heißt, und in einer Reihe orientalischer Wörter. Zwischen diesen allen und treu–trauen–truth schlägt, wie man errät, der Affekt eine Brücke, während die Bildung des deutschen Trost, des englischen trust, pessimistischem Grundgefühl entsprungen scheint.

Für eine Betrachtung wie diese, die in das Reich ihrer Gegenstände nicht tiefer eindringen kann als ein Schacht in den Erdball, ist weitere Untersuchung von Konsonanten und Konsonantenverbindungen entbehrlicher als Klarstellung dessen, was im dichterischen Gebrauch der Konsonant sein kann und sein sollte. Wir sind davon ausgegangen, daß er das Gesetzliche in der Sprache darstelle, tun aber nun gut daran, uns der Zwiefachheit des Gesetzlichkeitsbegriffs zu entsinnen. Die Konsonanten sind Äderung im Elementaren. Kein Elementares aber kennt sich. Mag es Bewußtsein tragen von anderem Elementaren, mag es dessen Gesetzlichkeit begreifen und aussprechen: es kann das nur tun, insofern es sich unreflexiv, ja, blind, zu sich selbst verhält, denn nur so eben ist es elementar.

Hieraus ergibt sich, daß es sich bei der Gesetzlichkeit der Konsonanten um eine objektive oder morphologische handelt, von welcher der Sprechende, ja, gerade auch der Sprachschöpferische, ihr – mit Ahnung, mit Intuition – am gehorsamsten Dienende, nichts weiß. In vollkommener Übereinstimmung hiermit sehen wir den Stabreim, der die Verse weder frei fügt noch mit dem Mittel des End- und Silbenreims, sondern durch konsonantischen Gleichklang bindet, niemals auf den Höhen der Literaturgeschichte auftreten. Wo der Äußerungsdrang überbordet, die Hingabe an den Gegenstand rückhaltlos ist, Mächtigkeit und Fülle der Mitteilung goethische Grade erreichen, ist das Verhältnis zur Sprache, außer, sie sei selbst ausdrücklich Gegenstand, viel zu gesund und unbefangen, die Auswahl unter ihren Mitteln zu spontan, zu freizügig, zu instinktiv richtig, seiner Erscheinung im geringsten Raum zu geben. Der Stabreim, der Rückwendung des Ich, Bewußtmachung des Unbewußten, voraussetzt, ist die Versart der Introversion, der Selbstbespiegelung, des Narzißmus. Dessen »infantiler« Form, die naiv und oft sehr frisch ist, mögen die stabgereimten Sänge des Althochdeutschen entsprechen; seiner Morbidform entsprechen die Richard Wagners, – wobei nebenher auf die simple, aber eigentümliche Tatsache verwiesen sei, daß unter allen Konsonanten, mit denen der stabreimende Komponist seine Wechselsänge bestritt, r und w die Hauptrolle spielen. Wo, unter apokalyptischen Träumen, eine Gestalt des Lebens zu Ende geht, der »Sinn« fragwürdig, die Gemeinsprache brüchig wird, wo Krisen sich ankündigen, Reichtum und Müdigkeit sich in einem Menschen durchdringen und die Seele in genialer Selbsterniedrigung nach sich selbst zu fragen anhebt, wird auch der Stabreim sich einstellen. Das Leitmotiv ist eigentlich nur seine Entsprechung im Maßstabe des Gesamtwerks – ein musikalischer Stabreim, Selbstzitat und figürliches memento, jenen andern Zeitigungen der Zeitfeindschaft und großen Angst, jenen bannend-mahnenden Formeln der Verehrung verwandt, die auf den Tafeln orientalischer Gesetzesvölker den Jahrtausenden den Krieg machen und in deren steinerner Erscheinung der Vokal eine so untergeordnete Rolle wie das Weib vor ihrer gesprochenen spielt.

Die Meinung, daß der Konsonant eigentliches Erbteil der Sprachen, das Bleibende, Gerüsthafte in ihnen, der Vokal »nur« der sie flüchtig belebende Hauch sei, wird durch einen Blick über die Sprachgeschichte zugleich gesichert und im Kerne berührt. In der Tat gleicht dieser Blick ein wenig jenem, mit welchem man etwa an einem hellen Frühlingsmorgen die Gestalt eines zu Tal schießenden Baches umfängt und an den reinlich übersprühten Steinen ein regenbogenfarbenes Glitzern im Gange sieht. Nichts hat hier Bestand, kein einzelnes Lichtlein; aber das Ganze besteht, es erzeugt sich sekündlich, wir verweilen noch bei ihm und werden uns morgen und übers Jahr wiederum an seinem Bilde erfreuen, während die Unvergänglichkeit des stürzenden Wassers für uns in der ein wenig schalenhaften Gewißheit sich erschöpft, daß es bald unverloren irgend ins Meer falle. Die Vokale, deren es ungefähr so viele wie Zonen im Spektrum gibt, mögen immerhin vergänglich sein, sie sind eben damit und allem sehr Vergänglichen gleich das tiefer und wahrhafter Allgegenwärtige; jeder, der ihnen, in großen Dichtungen fremder Sprachen, als dem reinen Euphon, der Quelle und tragenden Substanz des Geistes, begegnete, hat noch den Widerstand verspürt, den, weit stärker als ihre konsonantischen Behälter, gerade diese »Flüchtigen« dem entgegenbringen, der das Gastrecht brechen, sie mitnehmen, sie übersetzen möchte, – statt zufrieden zu sein, sie aufsuchen, sich in sie hineinversetzen zu dürfen … Hieran ist nichts sonderlich, denn alles Seiende wurzelt, ist »angewachsen«, widerstrebt dem Transport, und die Vokale sind, – sind, eben indem sie vergehen. Es ist ihre Seinsweise; die der Konsonanten, wie wir sahen, ist nur ewiges Mit-Sein.

Offenbar ungedruckt. Erhalten haben sich zwei Niederschriften, deren zweite, hier wiedergegebene, fraglos die endgültige ist. Entstanden wohl – nach (Maschinen-)Schrift – in den späteren 1930er Jahren, in Nachbarschaft zum hier vorgehenden Text, der ›Verteidigung des langen Satzes‹.

Lob der Interpunktionen (1961)

Die Sinnfälligkeit unserer Satzzeichen, dieser so schnellen wie verschwiegenen Diener des geschriebenen Wortes, wird bei stillerer Besinnung zur Überfälligkeit der Dankesschuld, die den Bescheidenen abzustatten die Schriftsteller immer wieder versäumen.

Gleich allem, was aus dem Reiche der Urbilder kommt, ist auch ihre Gestik einfach; aber deuten wir sie, tauchen wir sie ins Scheidewasser der Sprache, deren Leistung das Auslegen, Auseinanderlegen ist, so wandelt sich die Geschlossenheit ihrer Gebärden ins Offene, vielfältig Deutbare: mag das Symbol in seiner Ursprünglichkeit sprechender als jede Analogie sein, die Bekundung dieser Deutlichkeit durch das Wort bleibt angewiesen auf das ihr Analoge. So kann der Punkt ein feststellender Hammerschlag, der den Gedanken in den Hintergrund des Ungedachten nagelt, aber auch das Sinkenlassen des Atems: im reinen, nichtigen Ablauf und Dahinrinnen der Zeit der regelnde Augen- und Rückblick sein, der ihrem Weitermüssen Widerstand bietet, so daß sie ausruhen und sich sammeln darf und jene Wirklichkeit gewinnt, die Gegenwart heißt. Das Komma ist ein Tanzbein, fällt daher leicht aus dem Takt und rutscht auf dem Parkett des periodischen Stiles am bösesten aus. Wohin, auf wie Entlegenes, wir blicken, und sei es eine scheinbar so willkürliche, dem Gefüge der eigentlichen Interpunktionen periphere Konvention wie der Gebrauch von Schrägstrichen zur Trennung zwischen Versen, die ein Prosatext zitiert: die Treffsicherheit dieser Konvention, die das Bild der Schichtung, eines vertikalen Ordnens, auf den Plan ruft, überall finden wir die Einheit und Selbst-Verständlichkeit einer Welt von Gestalten bezeugt, deren Ursprung, der etwas anderes ist als die Geschichtsherkunft der Satzzeichen selber, nicht jünger gedacht werden kann als der Mensch, dessen Sprache sie dienen: unterliegen noch die typographischen Bräuche nicht der gleichen Gesetzmäßigkeit? So ist die Unterstreichung ein Sockel, das Sperren ein Spreizen, während das kursiv gesetzte Wort sehr sichtbar ein Anliegen, besonderes Ansuchen, hat, das zum Sinn des Lesers gern den Weg fände.

Als Wimpern, es können aber auch Wimpel sein, sind die Anführungsstriche augenblicklich erkennbar; doch bleibt für den Deutschen, in dessen Schriftgebrauch das eine dieser Pärchen unter die Zeile fällt, nur das andere zur oberen Buchstabenzone aufsteigt, die erste Deutung plausibler. Der zwinkernde Wechsel der Höhenlage scheint dem Leser bedeuten zu wollen, mit so listig äugendem Wort müsse auch was ganz besonderes los sein, und leider entspricht dem der plumpe, es sich leicht machende Mißbrauch des Zeichens durch die bloße Prätention einer Ironie, die selbst nicht geleistet wird: die Fratze der platten Humorigkeit oder schnöden Herabsetzens. Dagegen ist der beide Pärchen in gleicher Höhenlage setzende westliche, etwa englische Usus unbewußt-zwanglos von seefahrerischem Geiste geprägt: statt zu intimem Blinzeln kommt es hier zu öffentlicher Flaggenhissung. In einen fremden Hafen fährt das Wort-Schiff ein, nun legitimiert es seine Fremdheit, indem es sie herausstreicht, – was es jedenfalls auch lassen kann, denn andere, zumal französische Typographien bedienen ja seitlich angebrachter Doppelwinkel sich an Stelle der Fähnchen: die Besonderheit wird nicht herausgestrichen, sondern gehütet, ein terrestrisches Symbol, der Zaun, tritt an Stelle des maritimen. Bäuerlichem Bereich, worauf schon ihre kaum vermeidbare Schwerfälligkeit weist, gehört auch die Fußnote, ein unterirdischer Höhlenspeicher, an, dessen Lagemarkierung allein über das Gelände meist etwas erhöht wird; wie im Umkreis unseres Gegenstandes kaum eine der zeitlosen Sphären menschlichen Handelns zu kurz kommt, in deren Zeichen die Existenz sich erfährt und begreift.

Ein Lasso, unverkennbar, ist der Gedankenstrich, da, wo er einen flüchtigen Nachgedanken gerade noch einfängt. Nur in parenthetischem Gebrauch wird er stattdessen zur distanzgebietenden Hellebarde, die der Unordnung vorbeugend für einen fremden Gast Raum und Respekt heischt, während das zu ähnlichem Zweck geübte Einklammern etwas Überfülltes hat: Vorratskammern werden hier angelegt, sie können Rumpelkammern sein, doch auch den spielerischen Überfluß noch meistern helfen, der aus dem Geist barocker Prosa quillt. Der dem Satz oder Absatz nachgestellte Gedankenstrich ist klar die Spur der schweigend verstreichenden Zeit; die drei Pünktchen, die seit dem Impressionismus mit scheinbar ähnlicher Bewandtnis in Gebrauch kamen, nicht minder klar die Fußspur eines Schleichens. Was aber schleicht hier, und wohin? Das Unendliche, dessen Richtung die Manier beschwört, wird kaum erschlichen, das Subtile nicht demonstriert: das Verschwiegene bedarf keiner Gebärde, ja es erträgt keine. Sollte es nicht, allzu oft, er selber sein, der Sinn des sich so überzart auflösenden Satzes, der auf koketter Bahn da geheimtuerisch sich davonstiehlt? Aber, wie alles hier, bleibt auch diese Frage offen.

Angesichts des Ausrufungszeichens stellt eine ähnliche sich nicht: mag es beschwörend, Stab, Degen oder Fackel, in die Höhe gereckt werden, was wären diese Macht- und Bannzeichen selbst, wo nicht Riesenprojektionen des erhobenen Zeigefingers? Ein solcher läßt an seinem Sinne nichts zu fragen oder zu deuteln, und so wahrt noch in der Umkehrung, als Semikolon, dies Zeichen sehr klar seinen Grundsinn als ein Fingerzeig; doch wird nun auf das Untere, das musikalische Flußbett gewiesen, worin der Satz verborgen weiterströmt, oder ein Stab ganz anderer Art, die Wünschelrute, von empfindsamen Händen geführt, hinabgehalten, soll ihm witternd dies Bett finden, in der Hoffnung auf Wasserreichtum. Kann es wundernehmen, daß ein harthöriges Zeitalter, dem auch die Sprache noch zur Utilität wurde, gerade das Semikolon gern für überflüssig erachtet, für die Distanzen, die es zugleich setzt und bewältigt, so wenig wie für die ein Organ hat, die es von beiden Nachbarn unterscheiden, die in seinem Bilde vereint sind, – ja, von Verwendung und geheimer Macht des musischsten der Satzzeichen immer weniger weiß? Die Frage ist rhetorisch. Sie gehört einem bestimmten Fragetyp an, tut also dar, wie mannigfaltig gefragt werden kann. Die Ausdrucksmacht des Zeichens der Frage steht dahinter nicht zurück: ihre schier unerschöpfliche Deutbarkeit entspricht dieser Vielfalt.

Etwa kann es das Schlänglein sein, das vom Baum der Erkenntnis zu essen verführen will; doch wird es in bescheidenerem Gebrauch viel eher zu einem Ohr, das eine Neugier ganz alltäglicher Art aus der Wand des blanken Unwissens spitzt, welche ihrerseits doch nur Vor-Wand sein kann für die verschlagene Kunst eines Redners. So proteushafte Wandelbarkeit, der wir nachspüren können, nicht mehr, da kein noch so heftiger Drang zur Systematik sie ausschöpft, ist auch dem Doppelpunkt nicht fremd: vom Männlichsten zum Weiblichsten reicht hier die Spanne der Verknüpfungen. So kann jener der Zangengriff, womit im Gebrauche von Logikern der Vor-Satz die conclusio schließend packt, kann aber, klar bezeugt, auch die Brust sein, die mehr oder weniger pralle, die Sententia nährend ihrem Gedankenkinde reicht.

Stumm, aber gedankenvoll ist dies Reich flüchtig angedeuteter Urbilder: die Konvention bedient sich seiner Macht, erfunden hat sie seine Zeichen niemals. Sollte deren Gebärdensprache weniger reich als die in Worten verlautende sein, deren Gliederung und Regelung sie so unauffällig fördern? Ihre Zurückhaltung, auch die Achtlosigkeit, womit wir das Gewohnte als das Selbstverständliche hinnehmen, bringt es mit sich, daß der ursprüngliche Schatz an möglichen Sinnsignalen, dessen Zeugen diese Diener der Schrift sind, leicht unterschätzt wird: daß man seine Fülle erst ermißt, wenn man, an einem Beispiel aus fremdem Gebrauch, des unendlichen Vermögens der Idee: der überdauernden Bilder gewahr wird, das im Reiche der Kleinen immer Zeitloses neu hervorbringend waltet; denn Unendlichkeit ist dort, wo in Freiheit gedacht und gespielt wird, »unbewußt«, wie man jetzt gern und unzutreffend dafür sagt; – was aber heißt das? Das heißt selbstvergessen, absichtslos, ohne Blick auf die Uhr noch Seitenblick auf den Nutzen. So der Doppelgebrauch des Fragezeichens im Spanischen, wo dieses den Fragesatz auch einleitet. Es stellt sich dabei auf den Kopf: das Ohr ist an die Schiene gelegt. Der Zug wird gleich einbrausen, mit all dem Ungestüm einer fordernden, der Welt prall sich mitteilenden Neugier, – mit ihrer Glut, ihrem Ernst, mit dieser den Andern ganz meinenden Inquisitionslust iberischen Fragens; es aber, das Dienerchen, weiß es schon von weitem.

Erstveröffentlicht in: Jahresring 61/62. Beiträge zur deutschen Literatur und Kunst der Gegenwart. Stuttgart 1961, S. 185–188 (wobei es in manchem klingt respektive danach aussieht, als verdankte es den späten Neunzehnhundertdreißigern schon seine Existenz). [Zweitveröffentlicht in: Tunnelstiche. Reden, Aufzeichnungen und Essays. Frankfurt am Main 1987, S. 60–63.]

Der Dativkomplex

Von einem Symptom deutschen Sprachverlusts, das zum Regelkreis seiner waltenden Schaltordnung Schlüssel ist, da es gar nicht bemerkt wird (1984)

Um einem Mißverständnis, das der Titel nahelegt, vorzubeugen: daß die Berliner, wenigstens gerüchtweise, mir und mich verwechseln, hat mit dem Dativkomplex nichts zu tun. Überhaupt werde ich mich dessen Bestimmung nur sehr schrittweise annähern können. Nicht, daß mit Berlin im deutschen psychohistorischen Kontext nicht auch komplexhafte Positionen bezeichnet wären, NS- über Weimarer wie auch reichshauptstädtische über preußischen Traumata, und über alledem nun diese Dauerspannung aus ambivalentesten Insulaneraffekten, aber bei aller Vielfalt seiner Aspekte, unter denen es natürlich auch sprachliche gibt: nach einer Psychogrammatologie ruft das kaum. Gerade Insellagen scheinen den Vorteil zu haben, deren Verwicklungen aus dem Wege zu gehen. Wie der Fall des Englischen dartut, in dem beides, mir wie mich, schon seit altangelsächsischer Zeit einfach me heißt, muß die Abschleifung ursprünglicher Flexionsformen, wie sie tendenziell in jener grammatischen Sorglosigkeit sich verrät, nicht den spezifischen Reichtum einer Sprache, auch nicht den ihrer Syntax, beeinträchtigen, und übrigens trifft der genannte Hang ja auch immer schon, wie der Dativkomplex gerade nicht, Korrekturinstanzen, nämlich ein ihn registrierendes und kritisierendes Schullehrerbewußtsein, das sein heutiges Sprachgehör für perfekt hält. Aber wenn es das wäre, wie könnte es (ich komme bald darauf) den Dativkomplex gar nicht bemerkt haben? Und kann es denn sicher sein, daß die Flexionsformen, die es vorschreibt, überhaupt die einzig richtigen, optimalen sind, sich den in ihnen ausgedrückten Erfahrungen anzumessen? »Wer ruft mir?« würde einem kleinen Kreuzberger glatt als Fehler von jener berlinischen Besonderheit angekreidet, dabei antwortet so nicht nur der Erdgeist in ›Faust‹ I, erste Szene1, nein, er hat ja auch recht, bezeugt er doch damit, daß er den Ruf des verbitterten Akademikers eben als einen erfährt, der ihn nicht einfach ausquetscht, kommunikationsidiomatisch ausgedrückt also keineswegs ihn schnell mal bloß anmacht, als wäre er ein Salat. Vielmehr als etwas, das ihm begegnet, zustößt, hinreichend in seiner Verborgenheit nahekommt, ihn wirklich aus dieser auf und zur Erscheinung in Faustens Studierzimmer zu veranlassen: eine Verwandlung, wie sie der Akkusativ, der seine Relata einander äußerlich sein und bleiben läßt, gar nicht geschafft hätte.

Wäre der Dativkomplex nicht Komplex: nie, in Ermangelung nicht bloß der Nötigkeit, auch der Möglichkeit, höbe ich ihn als Begriff, als Phänomen gibt es ihn längst, aus der Taufe. Nur unter der Voraussetzung seiner horizonthaften Unbewußtheit läßt solche Priorität mit der heutigen Verbreitung, unglaubwürdigen Geläufigkeit sich zusammendenken, die eine bestimmte Art falscher Dative in der nachhitlerischen deutschen Gesellschaft gewonnen hat, merkwürdigerweise eine, die die Sensibilität eben auch ihrer Studienräte, da sie sie nicht einmal wahrnehmen, überfordern muß, obwohl es sich um gar keine Sache von besonderem philologischen Feinanspruch handelt, vielmehr um grobe, wenn auch offenkundig affektbesetzte Grammatikschnitzer, die sich von jenen angeblichen berlinischen durch die sprachsoziologische Auffälligkeit unterscheiden, daß sie ausschließlich in Texten der sogenannten Bildungsschicht auftreten, akademischen oder journalistischen, die ihrem Tenor nach gerade auf grammatische Richtigkeit so sehr Anspruch erheben, daß erst dies das Problem schafft. Aber was für ein Affekt kann da im Spiel sein, und warum, aus der ganzen Deklinationsskala, heftet er sich so inbrünstig ausgerechnet und partout an den Wemfall? Jedenfalls geht die fragliche Sache in den Erscheinungen, die sie nun zunächst belegen werden, nicht auf: das Moment, mit dem sie die Konstitutionsbestimmungen, die ja nichts Wohlfeiles haben, des Begriffes Komplex erfüllt, kann erst das verborgen waltende Verhältnis zwischen jener Unbewußtheit und diesem Affekt sein: schließlich hat auch der Fall des sich ausbreitenden wegen dem (anstatt des) – der Grund wird in Kürze erkennbar sein – mit dem Komplex nichts zu schaffen.

Damit ist der Platz, auf dem er uns begegnen will, eingegrenzt. Er tut es jetzt sofort, entschuldigen Sie bitte die Verzögerung. Ich zitiere:

»Der heute 77jährige Aron, der 1931 und 1933 in Berlin lehrte und durch alle Wechsel hindurch auf seinem Verständnis des ›totalitären Phänomens‹ beharrte, stand lange im Schatten Sartres, seinem Mitschüler und Freund […]«

Oder:

»Solche Experimente beschäftigen vor allem Physiker, die den magnetischen Einfluß des Plasmas, dem Gas aus elektrisch geladenen Teilchen, für die Kernfusion untersuchen.«

Oder:

»Wir da oben, Ihr da unten – per verstecktem Video schnorcheln die Herren die ›Fidelitas‹-Büros nach Opfern ab […]«

Oder:

»Mit der offiziellen Einweihung der ›Museumspassage‹, dem Hauptübergang zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt, ist Beirut am Donnerstag wiedervereinigt worden.«

Oder:

»Er ist Privatgast des Grafen Caspar von Oeynhausen-Sierstorpff, dem Besitzer des größten privaten deutschen Heilbades […]«

Was geht da vor? Von dem einzigen Fall abgesehen (aus dem ›Spiegel‹2), in dem sogar das lateinische per, dem es gewiß nicht an der Wiege gesungen war, einen solchen regieren muß, lösen grundlos alle zitierten Dative einen ihnen voraufgegangenen, Nachfolge fordernden Genitiv ab, anstatt ihn zu übernehmen. Die Liste könnte fortgesetzt werden – sie umfaßt auch Entsprechendes, wenn es auch seltener ist, für vorausgegangene Akkusative –, keineswegs ist meine Sammlung3, die nur aus Abwehr drohender Uferlosigkeit vorerst abgeschlossen wurde, mit ihr erschöpft, aber für diese Vorstellung sind die gebrachten Beispiele ausreichend, da sie in allen Merkmalen übereinstimmen. Erstens, es gibt für die Ablösung nicht den geringsten grammatischen Grund, unter jedem Kriterium ist sie schlicht falsch, also stellt sich die Frage, was dieses spezifische, offenbar unwiderstehliche, epidemisch gewordene Abirren motiviert. Zweitens, während dieses dem Dativ gilt, also dessen offenbar besonderer Reiz, der auf genannten Regelfall sich ja auch nicht beschränkt, zu bestimmen bleibt, kann er nicht der Grund eines Typus von Schnitzern sein, deren Zuwegekommen in jedem Fall Harthörigkeit für die Ordnung eines jeweils eigenen Satzes voraussetzt. Das ist eine andere Konstellation als für das wegen gilt, das mit dem Dativ verbunden wird, denn zwar stößt ja auch dieses eine den Genitiv fordernde Vorschrift um, da er aber mangels faktischer Benutzung zuvor gar nicht selber erschienen ist, wird von dem Regelbruch, der sich übrigens rechtfertigen läßt, zwar ein Kanon verletzt, aber nicht die Ordnung des Ohrs: nicht die Kontinuität, die Person heißt, in ihrer verbindlichen Zeitgestalt als erscheinende Selbsttreue eines Sprechens.

Daß die Harthörigkeit, die diese vereitelt, zunächst als scheinbar zweierlei sich herausstellt: Dystrophie des Gedächtnisses und Mangel an Sinnlichkeit des Gehörs, spiegelt freilich, drittens, eine dichotome Pathologie vor, wo es nur eine einzige geben kann: offenbar könnte diese Dualität nur die täuschende Folge reifizierter Begriffe sein, verstünde man sie als eine solche bloß zusammentreffender separierbarer Komponenten, während einem nachprüfenden zweiten Blick selbst die