Graphologie. Schriften 1 - Ulrich Sonnemann - E-Book

Graphologie. Schriften 1 E-Book

Ulrich Sonnemann

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Beschreibung

'Graphologie hatte mich bereits als Kind interessiert, und Joseph Roth, der in meinem Elternhaus verkehrte und ebenfalls graphologisch interessiert und tätig war, hat mich darin bestärkt, sodaß es sehr früh zu einer Vertiefung in die Physiognomik expressiver Bewegung kam. In Amerika, bei der Armee, bestand meine Tätigkeit als klinischer Psychologe im wesentlichen darin, ›projektive Techniken‹ anzuwenden; und die Graphologie, von der gar nicht bekannt war, daß sie etwas Seriöses haben könne, wo sie sich auf eine Theorie der Ausdrucksbewegung gründet, die führte ich da ein. Von daher kam es, nach dem Krieg, zu meinem Graphologie-Buch, das zwanzig Jahre lang mit immer erneuten Auflagen auf dem Markt blieb, und zu den Vorlesungen, die ich auf Veranlassung befreundeter Psychoanalytiker über den gleichen Gegenstand am New Yorker City College hielt. Später nur ergab sich ein steigender Widerwille gegen die Vermarktung der Sache, vor allem nach den Regeln der ›industrial psychology‹ in Amerika und der marktwirtschaftlichen hier. Mein Interesse aber – ob an Graphologie oder Astrologie, an UFOs oder Atlantis – gilt dem, was an ungelösten Problemen, an erkenntnistheoretisch potentiell sehr produktiven Beziehungen dahintersteckt.'

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Ulrich Sonnemann

Schriften in 10Bänden

Herausgegeben von Paul Fiebig

Band1

mit einem Geleitwort von Miriam Ehrenberg

zu Klampen

Ulrich Sonnemann

Graphologie

Handschrift als Spiegel

Irrationalismus im Widerstreit

Erste Auflage 2005

© 2005 zu Klampen Verlag, Springe

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung und Satz: Friedrich Forssman

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

ISBN 978-3-866743-54-0

Die Schriften Ulrich Sonnemanns werden gefördert

von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur

und der Ulrich Sonnemann-Gesellschaft.

Die Übersetzungen von ›Handwriting Analysis‹ und ›Existence and Therapy‹

wurden von der Universität Kassel im Rahmen eines Forschungsprojekts

der DFG über die Vorstudien zur ›Negativen Anthropologie‹

von Ulrich Sonnemann ermöglicht, das von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

und Rolf-Peter Warsitz unter Mitarbeit von Claus-Volker Klenke u.a.

durchgeführt wurde.

Mir ging es immer um die Gegenposition zur Hegelschen, die Vernunft entmächtigenden, Ausweitung ihres Begriffs auf ihr eigenes Gegenteil. Wenn das Ganze vernünftig ist, bleibt nichts, woran die Vernunft sich abzuarbeiten hätte. Ihre ganze eigene Aufgabe in der Welt, sich mit vielem auseinanderzusetzen, was auf den ersten Blick als irrational erscheint, vielleicht auch wirklich mit Recht dafür gilt, aber auch jedes Recht hat, selber nicht bereits Vernunftträger zu sein, wird verwischt, wo der Begriff der Vernunft sich so maßlos erweitert, daß es am Schluß überhaupt nichts mehr gibt, was ihm nicht subsumiert werden kann; oder dort, wo es nicht erfolgreich subsumiert werden kann, als gleichgültig ad acta gelegt wird. 

Ulrich Sonnemann1990

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Geleitwort

Erste Abteilung: Graphologie

Handschriftenanalyse im Dienste der Psychodiagnostik - Eine Darstellung der allgemeinen und klinischen Graphologie

I Einleitung

Wesen und Absicht der Graphologie. Geschichte und Grundannahmen

Die Probleme der Persönlichkeitspsychologie und die Theorie der Ausdrucksbewegung

Wie objektiv ist die Graphologie?

II Die graphologische Methode

Grundbegriffe

Die Schriftprobe als Ganzes

Die Bewertungsdimensionen

Die interpretative Synopse

III Allgemeine und klinische Anwendungen

Zwölf Zeilen von Joan. Eine Demonstration der graphologischen Methode

Ein Problem bei der Personalentscheidung

Graphologische und psychiatrische Persönlichkeitsbegriffe

Psychopathologische Haupttypen und ihr graphischer Ausdruck

Einige abnorme Schriftproben und ihre Analysen

Zusammenfassung

Literaturverzeichnis

Anhang zur ersten Abteilung

Lebenserwartung in der Handschrift

Graphologische Bewertung und Vorhersage der Eignung und des Erfolgs als Führungskraft

Handschrift als Spiegel

Zweite Abteilung: Das ›Irrationale‹

Über den Widerspruch im Irrationalismus

Hellseherei

Max Picard, ›Hitler in uns selbst‹

Der Teufel und sein deutsches Privileg

Die Feyerabend-Kontroverse

Theorieverbote des Wissenschaftsglaubens

Dei ex machinis

Auferstehung der Windmühlen

Astrologie und Erkenntnis

Beispiel Atlantis

Das wiederaufgetauchte Atlantis

Anamnesis. Warum Atlantis ans Licht will

Atlantis Trauma

Riegel des Gedächtnisses und des Golfstroms

Uhr-Sprünge. Wie tönte Atlantis?

Anhang zur zweiten Abteilung

Gurs 1941. Geschichte von der Gegenrichtung des Uhrzeigers

Editorische Nachbemerkung

Glossar

Personenregister

Fußnoten

Geleitwort

Auf Ulrich Sonnemanns nachgerade magische Kräfte als Graphologe wurde ich in den frühen neunzehnhundertfünfziger Jahren aufmerksam, als ich am College of the City of New York (das sich heute City University of New York nennt) an einem Seminar über projektive Techniken des Master ofArts-Programms im Fach Psychologie teilnahm. Geleitet wurde das Seminar von einem Psychiater, Bela Mittelmann, der uns als erstes eine Fallgeschichte eines seiner Patienten präsentierte und anschließend, einmal die Woche, mit dem Protokoll eines projektiven Tests bekanntmachte, dessen blind analysis von einem zuständigen Experten durchgeführt wurde. Den ›Thematischen Apperzeptions-Test‹ analysierte Leopold Bellak, der dafür der erste Fachmann war; den Szondi-Test kommentierte Susan Deri, die über ihn das maßgebliche amerikanische Buch geschrieben hatte; den ›Zeichne eine Person‹-Test betreute Karen Machover, Nummer eins auf diesem Gebiet; usw. Die Handschriftenanalyse war Ulrich Sonnemanns Domäne. Von all den graduierten Psychologie-Studenten des Seminars hatte zuvor noch keiner davon gehört, daß es sich bei der Handschriftenanalyse etwa um eine seriöse Angelegenheit handeln könnte; wir waren überrascht, daß sie es überhaupt unter die projektiven Tests geschafft hatte.

Die Analyse der Testprotokolle nun war durchaus bemerkenswert, mal war das Ergebnis mehr, mal weniger erhellend, keine aber erschloß das Wesen des Klienten, wie Mittelmann es vorab skizziert hatte. Als Sonnemann seine Interpretation der Handschriftenproben vortrug, war die Klasse baß erstaunt, niemand wollte ihm so recht glauben, daß er keine Vorkenntnisse über den betreffenden Klienten gehabt habe. Über seine außergewöhnlich weitreichende, lebendige Beschreibung der Persönlichkeit des Klienten hinaus ging Sonnemann ins genaue Detail, was die Belastungen auf dessen beruflicher Laufbahn und was dessen physische Kondition betraf. Beispiels- und korrekterweise hob er auf die Musikalität eines Klienten ab, bezeichnete ihn als »ausübenden Musiker«, verbesserte sich dann aber und sagte: »Nein, er ist zwar ausübender Musiker, in Wirklichkeit aber will er komponieren, er ist nur blockiert, er hat sich zum Trost aufs Instrumentale verlegt.« Sie werden es sich bereits gedacht haben, daß genau das der Konflikt war, unter dem dieser Klient litt. Ein anderes erstaunliches Detail, das Sonnemann aus einer Handschriftenprobe herauslas, kam in der Bemerkung zum Ausdruck, der Klient habe ein Geschwür im Verdauungstrakt, doch schon verbesserte er sich wieder: »Nein, ein Magengeschwür«, und erneut hatte er den Finger auf ein Hauptproblem gelegt.

Fasziniert von Ulrich Sonnemanns glänzenden Einsichten, folgte ich ihm an seine Unterrichtsstätte, die Graduate Faculty der New Yorker New School for Social Research (der heutigen New School University), wo ich mehr über Graphologie lernen und mein Graduiertenstudium unter seiner Mentorschaft fortsetzen konnte. Sonnemann hielt an der New School ein einjähriges Graphologie-Seminar ab, bei welchem er seinen Studenten durchaus eine gewisse Befähigung zum Handschriftenlesen vermitteln konnte, wenn auch keiner von uns seinem Genie auch nur nahekam. Das Unterrichtsmaterial bestand aus Schriftproben, die die Studenten aus ihrem Bekanntenkreis mitbrachten: die Klasse analysierte sie, Sonnemann verbesserte und erweiterte unsere Ergebnisse, und regelmäßig wurde das, was er herauslas, von denjenigen bestätigt, die uns die entsprechenden Handschriftenproben zur Verfügung gestellt hatten. Als Sonnemann die New School verließ, organisierte eine kleine Gruppe von Studenten ein privates Seminar mit ihm, um unsere Graphologie-Studien weiterzutreiben. Es traf sich gut, daß wir eine Mitstudentin hatten, deren Ehemann als Henry James-Biograph angesehen und überhaupt ein Homme de lettre war. Er versorgte uns mit Handschriftenproben etlicher literarischer Tagesgrößen, ohne deren Identität zu enthüllen, ehe wir mit unseren Analysen fertig waren. Stets wieder– wir erwarteten es längst nicht mehr anders– zeigte Sonnemann sich zielsicher in der Lage, eine Beschreibung sowohl der offensichtlichen wie versteckten Persönlichkeitszüge des Schreibers als auch von dessen Lebenskonflikten und gesundheitlichen Problemen zu liefern.

Ansonsten übernahm Sonnemann während seiner Zeit in den Vereinigten Staaten Handschriftenanalyse-Aufträge insbesondere für Vick Chemical Company und für die Metropolitan Life Insurance. Erstere wollte geklärt wissen, ob die Handschrift sinnvollerweise bei der Personalauswahl eingesetzt werden könnte. Obwohl die Untersuchungen rundum erfolgreich waren, indem sie den Beweis lieferten, daß auf diesem Wege präzise Angaben über künftige wie derzeitige Angestellte beizubringen sind, fügte Vick, meines Wissens, die Handschriftenanalyse ihrem Kriterienkatalog für die Personalauswahl nicht, jedenfalls nicht auf Dauer hinzu. Die Untersuchungen für die Metropolitan Life Insurance hatten mit dem Herauspicken von Leuten zu tun, die ein Versicherungs-Risiko darstellten, weil bei ihnen ein Herzleiden oder Krebs zu erwarten war. Sonnemanns Aufgabe bestand darin, Stöße von Handschriftenproben derzeit wie ehedem versicherter Personen mit nur ihm nicht bekannten Krankengeschichten in solche, die ernsthaft und lebensbedrohlich krank, und solche, die gesund waren, auseinander zu sortieren. Auch diese Untersuchungen blieben, wiewohl in hohem Maße erfolgreich, folgenlos für die praktische Anwendung der Graphologie. Da die Untersuchungen privatfinanziert waren, wurden die Berichte nie in vollem Umfang in den wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, sodaß sich am Negativ-Image der Handschriftenanalyse und ihres Nutzens in den Vereinigten Staaten bis heute so gut wie nichts geändert hat.

Mir war es möglich, etliche Personen für eine Diagnose an Ulrich Sonnemann zu verweisen, und immer gelang es ihm, in Auswertung der Handschriften aufsehenerregend genaue Personencharakterisierungen und im übrigen einschneidende Befunde zu liefern, derer die Schreiber nicht gewärtig gewesen waren. Einer der Fälle, die mir im Gedächtnis geblieben sind, war der eines Installateurs, der Hilfe suchte, weil er mit einem Male zu einem ängstlichen und deprimierten Menschen geworden war. Ohne über den Schreiber mehr zu wissen als wie alt, welchen Geschlechts und ob er Rechts- oder Linkshänder war, sagte Sonnemann, es treibe ihn eine große Sorge um seine, wörtlich, »interne Installation« um– was später als Störung im Magen-Darm-Trakt verifiziert wurde. Eine andere Handschriftenprobe identifizierte er zutreffend als die eines Architekten, der zwischen der Architektur und dem Wunsch nach einer Musikerlaufbahn hin- und hergerissen war. Überdies lehrte er mich, den Schriftzügen Hautstörungen abzulesen, wie sie sich in Form von Ausschlägen bemerkbar machten, bei Klienten, die buchstäblich zu dünnhäutig waren und übersensibel reagierten auf die Schwingungen der Personen in ihrer Umgebung. Einer derjenigen, die ich an Sonnemann für eine Handschriftenanalyse vermittelte, ein Unternehmensanwalt, war von den Ergebnissen derart beeindruckt, daß er, mit Sonnemann als Direktor, ein Graphologie-Institut errichten wollte, damit sich die Handschriftenanalyse in unserem Lande endlich weiter verbreiten könnte. Das Projekt gedieh immerhin bis zur Registrierung des Namens, unter dem das Institut an die Öffentlichkeit treten wollte, beim Staate New York, das war es dann aber auch schon.

Übrigens war Sonnemanns in seiner amerikanischen Zeit geschriebenes Buch ›Handwriting Analysis‹ der Basistext unseres Kursus. Der amerikanischen Leserschaft geradezu entgegen kam Sonnemanns Art zu schreiben nicht, sodaß sich das Buch, trotz seiner mehreren Auflagen, allemal nicht weit genug verbreitete. Traurigerweise steht man in den Vereinigten Staaten der Handschriftenanalyse nach wie vor mit großer Skepsis gegenüber. Die meisten Psychologen betrachten sie abschätzig als Gesellschaftsspiel oder als projektive Technik ohne sonderlichen Wert. Sie tun gerade so, als hätte sich das jemand aus den Fingern gesogen, daß in der Handschrift als einer Ausdrucksbewegung der Person deren ganze Fülle eben zum Ausdruck kommt im Augenblick des Schreibens. Die meisten unserer grundlegenden Psychologielehrbücher halten es schlicht für nicht angebracht, die Handschriftenanalyse in ihre Darstellung projektiver Techniken oder diagnostischer Hilfsmittel einzubeziehen. Die den klinischen Tests gewidmeten Lehrbücher ignorieren oder verwerfen die Handschrift gleicherweise. Graphologie wird genauso behandelt wie alles andere mit paranormalen Erfahrungen in Zusammenhang Stehende– man betrachtet sie als ein Phänomen, das im Umkreis wissenschaftlichen Arbeitens nichts zu suchen hat. Und so bleibt das Schreiben über Graphologie– unwert einer jeglichen akademischen Bemühung– denen überlassen, welche die bunten Seiten der Tagespresse beliefern.

Einiges kommt da zusammen bei dieser Blindheit seitens der amerikanischen Psychologen. Unberücksichtigt blieb bereits, daß, mit Sonnemann zu sprechen, die Aufmerksamkeit am Offensichtlichen immer schon vorbeischweift: so selbstverständlich, wie wir den Boden nehmen, auf dem wir stehen, interessiert uns an den Schriftzügen zuerst und zuletzt der mitgeteilte Inhalt, kaum aber die Person, die sich in ihnen offenbart. Unglücklicherweise waren die bei dem Versuch einer wissenschaftlichen Erforschung der Handschrift angewandten Methoden alles andere als wissenschaftlich. Immer – Sonnemann wurde nicht müde darauf hinzuweisen– müssen Untersuchung und Gegenstand aufeinander bezogen sein, nie darf sich die Untersuchung, wie in der Handschriftenforschung geschehen, von der in diesem Sinne wissenschaftlichen Methode entfernen. Die Handschrift aber, die ihre Bedeutung dann am besten zu erkennen gibt, wenn sie als Ganzes in den Blick genommen wird, zerfiel in ihre Bestandteile; soll heißen: die »Zeichen«-Methode wurde über die Handschriftenanalyse verhängt– man nahm t-Striche, i-Punkte, Neigung, Größe und derlei mehr unter die Lupe, ließ den Zusammenhang unter den Tisch fallen und die Zeichen damit bedeutungslos werden. So wenig ein »Aussenden und Empfangen« von Gedanken und Bildern in künstlich erzeugter Laborsituation mit spontaner telepathischer Erfahrung zu vergleichen ist, so untauglich ist der Versuch, bestimmte Zeichen in der Handschrift zu Persönlichkeitszügen in Beziehung zu setzen, gemessen am Vertiefen in die Person als ganzer, wie sie eine jede Handschriftenprobe uns vor Augen stellt. Wir sollten, Sonnemann folgend, »die Phänomene selber zum Sprechen bringen«, statt sie in bedeutungsleere Fragmente zu zersplittern. Im Namen von Rationalität und Wissenschaftlichkeit rückte die Psychologie in den Vereinigten Staaten irrationalerweise von menschlichen Erfahrungen ab, bloß weil sie ihr unbegreiflich waren.

Leider konnte Ulrich Sonnemann seine schier unheimliche Fähigkeit niemandem vererben, was womöglich auch der Schreibweise seines Buches geschuldet ist, gewiß aber und zuerst unserem Mangel an der in seiner Person lebendigen bemerkenswerten Einfühlsamkeit in die Nuancen der Schreibspur.

Miriam EhrenbergNew York, im Februar 2004

Aus dem Englischen von Paul Fiebig

Erste Abteilung: Graphologie

Handschriftenanalyse

im Dienste der Psychodiagnostik

Eine Darstellung der allgemeinen und klinischen Graphologie

Aus dem Englischen von Claus-Volker Klenke

I. Einleitung

Wesen und Absicht der Graphologie.

Geschichte und Grundannahmen

Daß etwas so »Persönliches« wie die Handschrift uns etwas über den Charakter, das Temperament und die geistige Verfassung einer Person sagen kann, ist eine simple und beinahe selbstverständliche Erwartung. Schon lange, bevor eine irgend systematische Erforschung der Handschriftenpsychologie aufgenommen wurde, war sensiblen Beobachtern des menschlichen Verhaltens, unabhängig voneinander, aufgefallen, daß die Handschrift verschiedener Personen dauerhaft und unausweichlich ein Kennzeichen von deren Individualität darstellt. Das wirft eine interessante Frage auf. Gewiß verzeichnen wir gegenwärtig in diesem Lande unter professionellen Psychologen ein wiedererwachendes Interesse an dem, was sich psychologisch durch die Handschrift mitteilt, warum aber erhielt sie, zumindest in Amerika (die Entwicklung in Europa nahm einen ganz anderen Verlauf), nicht schon lange vor unserer Zeit den ihr angemessenen Platz in der Persönlichkeitsforschung? Warum blieb zu einer Zeit, als in Europa für Psychologiestudenten das Studium von Klages’ grundlegenden Büchern zu diesem Gegenstand verpflichtend geworden war, die Handschriftenanalyse hierzulande fast ausschließlich den »Quacksalbern« überlassen– um von diesen dann je nach Absicht und Verständnis zurechtgemodelt zu werden? Lassen Sie uns diese Fragen an geeigneter Stelle wieder aufnehmen, nachdem wir zuvor erkundet haben, was Handschriftenanalyse ist und will und welche Vor- und Grundannahmen ihrem so kniffelig verästelten Apparat zugrunde liegen.

Aus dem Blickwinkel der psychologischen Forschung bietet die Handschrift sich für zwei verschiedene, scharf zu trennende Ziele an. Das eine ist ihre Verwendung zu psychodiagnostischen Zwecken, das andere die zu Zwecken der Identifikation. Auch wenn es sich vom Material her in einigen Untersuchungsbereichen mit unserem Gegenstand überschneidet, fällt das letztgenannte Ziel nicht in den Rahmen dieser Studie, die sich auf die Graphologie im eigentlichen Sinne, nämlich die psychologische Handschriftenanalyse zum Zwecke der Erforschung und Beschreibung der Persönlichkeit beschränkt.

Gegenwärtig kann man bei den Graphologen, je nach ihren Denk- und Herangehensweisen bei der Verfolgung ihrer dergestalt definierten Zielsetzung, drei Gruppen unterscheiden.

Die eine unternimmt einen bloß intuitiven und impressionistischen Versuch, angesichts einer vorliegenden Handschriftenprobe und mittels einer sich auf die visuelle Erfahrung ihrer Ausdrucksqualitäten insgesamt stützenden Einfühlung sich selbst mit deren Urheber zu identifizieren und dadurch Einsicht in dessen Charakter zu gewinnen. Zwar erweist sich die in solch einem Verfahren implizierte Haltung einer wachsamen und doch unvoreingenommenen Aufmerksamkeit für Gesamteigenschaften des visuellen Musters als unabdingbar für einen graphologischen Erfolg mit gleich welcher Methode, doch ist der rein intuitive Zugang, da er keinerlei systematische Kontrollen einschließt, subjektivistisch bis hin zu möglicher Willkür; zumindest also ist er unzuverlässig.

Ein zweiter, in jüngerer Zeit aufgekommener Ansatz stützt sich in starkem Maße auf die statistische Methode, nicht als ein Hilfsmittel für die endgültige Validierung der graphologischen Persönlichkeitsbilder, sondern als einen am Aufbau des grapho-analytischen Systems selbst mitwirkenden Faktor. Das Konzept der Korrelationen zwischen bestimmten psychologischen Trends und Zügen der Handschrift wird, zwecks Überprüfung, einer statistischen Analyse des gehäuften Auftretens quantitativer Verstärkungen und Verminderungen solcher Züge unterzogen, und die Ergebnisse vergleicht man dann mit auf die fragliche Gruppe zutreffenden sozialen, psychologischen und klinischen Indikatoren. Dieser Ansatz wurde bisher selten praktisch angewandt. Aus Gründen, die im methodologischen Teil dieser Studie diskutiert werden, dürfte er kaum adäquater sein als der erstgenannte.

Die dritte Methode– die, die wir hier entwickeln werden– ist die Frucht vieler Jahrzehnte systematischer Untersuchung der Handschriftenanalyse, die in Europa von Ludwig Klages und einigen seiner Schüler sowie unmittelbareren Vorläufern betrieben wurde. Diese vom graphologischen Dilettantismus vor ihrer Zeit so klar unterschiedene Untersuchung gründete auf einer Erforschung der Ausdrucksbewegungen im allgemeinen. Was sind Ausdrucksbewegungen? Um die Leistungen von Klages zu erfassen, müssen wir einen ersten Blick auf diesen äußerst grundlegenden und entscheidenden Begriff werfen.

In einem weiter gefaßten Sinne können alle von einem beliebigen Organismus wann und wo immer ausgeführten Bewegungen aus dem einfachen Grund solche des Ausdrucks genannt werden, daß die jeweilige Art und Weise ihrer Ausführung, auch wenn der Zweck und die äußeren Umstände der Bewegung »konstant« sind, nicht nur von individuellem Organismus zu individuellem Organismus, sondern auch innerhalb des Rahmens der Aktivität eines einzelnen Organismus’ von einem Auftreten der Bewegung zum anderen variiert. Da seitens eines Organismus’ biologisch keine mathematisch genaue automatische Wiederholung ein- und derselben Bewegung möglich ist, kann das Element der Einzigartigkeit in jeder Bewegung weder ihrem Zweck noch ihren äußeren Umständen, sondern nur einem strukturellen Prinzip innerhalb des Organismus, das in genau dieser Einzigartigkeit sich ausdrückt, zugeschrieben werden. Insoweit die Bewegungen eines Organismus im Vergleich zu denen eines anderen allesamt einzigartig sind– insoweit sie durch Analogien struktureller Merkmale verbunden sind –, spiegelt diese globale Einzigartigkeit ihrerseits die Individualität des Organismus als ganzem wider; insofern die Bewegungen des Organismus sich voneinander unterscheiden, spiegelt die Einzigartigkeit einer jeden von ihnen den je besonderen Zustand des Organismus innerhalb des gesamten zeitlichen Spielraums seiner Individualität wider. Je bestimmter dieser temporale Zustand, d.h. je ausgeprägter die Ausdruckskraft der Bewegung ist, desto leichter wird sie von anderen, die sie beobachten, verstanden werden: Der mimische Ausdruck des Schreckens z.B. vermittelt die Erfahrung des Schreckens mit solcher Überzeugungskraft, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, was er meint. Diese Überzeugungskraft kann nicht aus vorausgehenden Erfahrungen seitens des Beobachters mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens erklärt werden, da aus dem Axiom der Einzigartigkeit jeder Ausdrucksbewegung folgt, daß solche vorausgehenden Erfahrungen streng genommen nicht stattgefunden haben können; Assoziationen seitens des Beobachters mit vorausgehenden Erfahrungen mit dem Gesichtsausdruck des Schreckens können somit nur nachträglich, aufgrund einer Ähnlichkeit, gemacht werden; Ähnlichkeiten wiederum können erst gesehen werden, nachdem zuvor die ähnlichen Dinge »gesehen«, d.h. in ihrer Ganzheit und Einzigartigkeit erfahren worden sind, ohne welche es folglich keine Basis für spontane Assoziationen mit vorausgehenden Erfahrungen geben kann.

Daraus ergibt sich die Annahme, daß das Element der Ausdruckskraft, d.h. der Bedeutung, in organismischen Bewegungen einen zentralen vereinheitlichenden Faktor darstellt, der die Bewegung als das Ganze, welches vom Beobachter erfahren wird, »organisiert«, und daß der Beobachter zu dieser Erfahrung dadurch befähigt wird, daß es in ihm ein zentrales vereinheitlichendes Prinzip gibt, das potentiell mit demjenigen– zu ihm »isomorphen«– korrespondiert, das die Bewegung organisiert. Diese Annahme, einer der grundlegenden Lehrsätze der Gestaltpsychologie, liegt gleichermaßen der in diesem Buch vorgestellten graphologischen Methode wie der Theorie der Ausdrucksbewegungen überhaupt zugrunde. Das Beispiel, das gewählt wurde, um sie zu illustrieren, war absichtlich ein ziemlich plattes: Der Gesichtsausdruck des Schreckens ist etwas, dessen Sinn jedermann im Alltag versteht, ohne dazu Ausdrucksbewegungen studiert haben zu müssen. Die Bedeutung einer bestimmten individuellen »Geste« in der Handschrift einer Person zu verstehen gehört zu genau der gleichen Art von Erfahrungen wie das angeführte Beispiel. Der Unterschied zwischen ihnen ist ein gradueller, kein prinzipieller: Um graphische Bewegung psychologisch einschätzen zu können, bedarf es eines höheren Grades an Sensibilität für visuelle Muster, als wir sie im Alltagsleben brauchen. Das zweite Erfordernis– die Notwendigkeit geordneten Denkens, um die gemachten Beobachtungen zu organisieren und sie mit größtmöglichem Gewinn zu verwenden– unterscheidet die Graphologie nicht von anderen wissenschaftlichen Unternehmungen.

Auch wenn die wissenschaftliche Graphologie ihre Existenz ohne Frage Klages verdankt, so ist er doch selbst einer Reihe von Vorgängern verpflichtet, die um nahezu fünfzig Jahre ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Abgesehen von vereinzelten Andeutungen wie spontanen Beschreibungen von Handschriften zur Charakterisierung einer bestimmten Persönlichkeit, die sich durch alle Jahrhunderte und Nationalliteraturen verstreut finden, entstand die Graphologie als systematische Forschungsrichtung, als Jean-Hippolyte Michon 1875 sein ›Système de Graphologie‹ veröffentlichte, das Ergebnis einer jahrzehntelangen vergleichenden Forschung, die auf Briefen, die Michon erhalten hatte, und auf seiner Bekanntschaft mit den Briefschreibern beruhte.

Was Michon– und nach ihm sein systematischer arbeitender, aber weniger talentierter Schüler Jules Crépieux-Jamin– begründeten, war die sogenannte Graphologie der Zeichen, die nach der Zeit dieser beiden Franzosen zu jener Art Graphologie degenerierte, wie sie noch heute von vielen Amateuren und Scharlatanen in diesem Bereich praktiziert wird, obwohl man auch sagen könnte, daß der typische amateurhafte Ansatz gegenwärtig eher noch eine inkonsistente Vermischung der »Graphologie der Zeichen« mit dem in diesem Kapitel beschriebenen völlig unsystematischen Zugriff auf die Handschrift geworden zu sein scheint. Für Michon repräsentieren bestimmte isolierte Haken, Schleifen, Überschneidungen usw. bestimmte Charaktereigenschaften, und der Charakter selbst galt ihm als die Summe dieser Eigenschaften. Dank seiner bemerkenswerten persönlichen Beobachtungs- und Kombinationskraft sind Michons Entdeckungen keineswegs unterzubewerten, sein »système« aber erwies sich, nachdem es ihm einmal aus den Händen genommen war, als dermaßen inadäquat, daß es jenes allgemeine Urteil hervorrief, das die psychologische Untersuchung der Handschrift als zwangsläufig unwissenschaftlich abwertete– eine Ansicht, die sich in diesem Land im Grundsatz bis heute erhalten hat. Ihre wesentlich frühere Überwindung in Europa verdankte sich sowohl der enormen Verfeinerungs- und Systematisierungsarbeit, die die führenden Experten in diesem Feld vollbracht hatten, als auch den neuen Denkschulen, die in Europa etwa zur Zeit des Ersten Weltkriegs eine führende Rolle in der akademischen Psychologie selbst erlangten.

Von Michons Entdeckungen angeregt, fand diese Entwicklung in erster Linie in Deutschland statt, wo Wilhelm Langenbruch, Hans H. Busse, Albrecht Erlenmeyer und Wilhelm Preyer zu ihren einflußreichsten Beförderern wurden. Preyers ›Psychologie des Schreibens‹ von 1895 stellte, seinem Titel zum Trotz, noch keinen Fortschritt der psychologischen Begriffe dar, unternahm aber zum ersten Mal eine methodische Analyse der Eigenschaften und Bestandteile der graphischen Bewegung. Von da an und angeregt durch graphologische Periodika, die in Deutschland gegründet wurden, beschleunigte sich die Entwicklung. Georg Meyers ›Die wissenschaftlichen Grundlagen der Graphologie‹, wie die meisten hier genannten Werke nie ins Englische übersetzt, war die erste Annäherung an die Handschriftenanalyse durch einen professionellen Psychologen. Meyers Buch ist extrem konservativ und befaßt sich mehr damit, die theoretische Möglichkeit zu demonstrieren, eine wissenschaftliche Graphologie zu entwickeln, als daß es das wirklich täte; es überwindet die naive Spezifizität von Michons Interpretationen, ersetzt sie durch allgemeinere Begriffe, versäumt es dann aber, den Weg zu jener kritischen Eigenheit zu zeigen, die nach ihm von dem Philosophen und Psychologen Ludwig Klages erreicht wurde.

Alle heutige Graphologie mit irgendeinem Anspruch, als psychologisches Instrument zu dienen, verdankt sich Klages, der als erster eine allgemeine Theorie des Ausdrucks formuliert hat. Seine wesentlichen graphologischen Werke –›Die Probleme der Graphologie‹, 1910, ›Handschrift und Charakter‹ (das bedeutendste), 1917, ›Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft‹, 1923, ›Prinzipien der Charakterkunde‹, 1928, und ›Graphologisches Lesebuch‹, 1930– regten nicht nur viele professionelle Psychologen zur Handschriftenforschung an, sondern erwirkten auch die Hochschulwürde für die Graphologie und veranlaßten Schulen, Krankenhäuser, Beratungsbüros, Geschäftsbetriebe und Gerichte, für ihre unterschiedlichen Zwecke graphologische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Neben Klages wurde das meiste an herausragenderer moderner Arbeit geleistet von Robert Saudek, dessen Werke, mit Ausnahme einer Abhandlung über die amerikanische Handschrift, ins Englische übersetzt wurden; von Max Pulver –›Symbolik der Handschrift‹, 1931, ›Trieb und Verbrechen in der Handschrift‹, 1934, beide unübersetzt –, der Begriffe analytischer Herkunft in das Feld einführte; von Minna Becker, die 1926 ein exzellentes Buch über Kinderhandschrift schrieb; von Roda Wieser, die ebenfalls über die graphischen Erzeugnisse von Kriminellen geschrieben hat; und von Johannes Walther, der sich insbesondere in der Analyse der Bindungsformen hervortat. Hierzulande haben Joseph Zubins und Thea Stein-Lewinsons Monographie, die die statistische Analyse einzelner graphischer Züge, wie sie zuvor in diesem Kapitel erwähnt wurden, entwarf, und Werner Wolffs mehr analytisch beeinflußte Arbeiten auf unterschiedliche Weise die von Klages’ Schule gelieferten Vorgaben aufgenommen.

Heute noch zieht sich der Einfluß von Klages’ Schule durch den gesamten Bereich graphologischer Arbeit und Forschung. Zu einem beträchtlichen Teil dürfte dies nicht nur den meisten hier genannten Arbeiten als Verdienst angerechnet werden, sondern zugleich auch deren Unzulänglichkeiten erklären. Der wachsende Einfluß, den die Gestalt-Schule in den letzten zwanzig Jahren auf die europäische Psychologie ausgeübt hat, ebnete den Weg für eine verständige Aufnahme der Graphologie auf seiten von Colleges und Universitäten, aber obwohl er dieser Schule in manchen Aspekten seines Denkens sehr nahestand, war Klages ihr in anderen doch zu fern, um seine Theorie über gewisse Grenzen hinaus zu entwickeln. Diese Grenzen, die hauptsächlich aus seiner– hoch dogmatischen– philosophischen Theorie des Bewußtseins als notwendig störendem Faktor im Zusammenspiel der Lebenskräfte im Menschen herrührten, führten zu einer Vereinfachung seines Begriffs des graphischen Rhythmus’, der zu grob war, ihn die grundlegende Differenz zwischen integrierten und desintegrierten Zuständen der Persönlichkeit als in der Handschrift reflektiert verstehen zu lassen. Sein graphologisches System erwies sich in der Konsequenz als für psychodiagnostische Zwecke derart unzureichend, daß es eine Revision einiger seiner entscheidendsten– zugleich aber verzerrtesten– Begriffe durch den Verfasser erforderte. Im vorliegenden Buch ist diese Revision im Kapitel über Rhythmus und Regelmaß, Integration und Fluktuation formuliert. Zur Anwendung kommt sie sowohl im systematischen Teil, der es unternimmt, die Struktur der Bewertungsebenen neu aufzubauen, als auch in den klinischen Kapiteln, die, auch wenn sie nur vorläufige Befunde vorlegen, die Früchte langjähriger Beobachtung und Erfahrung auf diesem Gebiet sind.

Die Probleme der Persönlichkeitspsychologie

und die Theorie der Ausdrucksbewegung

Die Bedeutung aller Ausdrucksbewegungen als relevanter Charakterindikatoren wurde schon zuvor in unserer Diskussion berührt. Hinsichtlich einiger seiner spezifischen Aspekte impliziert das Konzept der »Isomorphismen« oder Analogien von Systemeigenschaften die Existenz gesetzmäßiger, bedeutungsvoller und notwendiger Verbindungen zwischen der psychologischen Verfaßtheit einer Person und ihren Formen des Verhaltens; diese Verbindungen schienen den Verhaltensformen eine morphologische und ästhetische Einheit zuzuschreiben, recht ähnlich nicht nur der Formeinheit in individuellen Organismen, sondern auch denen des »Stils« in künstlerischen Schöpfungen, der Denk- und Kultur-»Muster« in sozialen und ethnologischen Entitäten und vieler anderer auf diese Bereiche bezogener »physiognomischer« Phänomene. Persönlichkeit fungiert diesem Konzept zufolge als ein konfiguratives Ganzes, das in der Dimension der Zeit ausgedehnt ist, innerhalb dessen aber die Teile in erster Linie nicht durch ihre Abfolge in der Zeit bestimmt sind (kausative Determination) und auch nicht durch irgendwelche anderen unmittelbar wechselseitigen Beziehungen zwischen zweien von ihnen; ebensowenig gibt es das kontinuierliche Wirken eines zugrundeliegenden gemeinsamen Prinzips der Systemaktivität, auf das die individuellen Verhaltenstatbestände (in ihren physiologischen wie psychologischen Aspekten) zurückgeführt werden können und, um verstanden zu werden, auch müssen. Ein Prinzip der Systemaktivität wie jenes, das den organismischen Gesamtprozeß regelt, ist nicht die Gesamtmenge mehrerer Zwei-Faktoren-Beziehungen, sondern stellt eine grundsätzlich andere logische Kategorie dar: In Zwei-Faktoren-Beziehungen und ihren Aggregaten sind die Relata, und zwar beide, unabhängig von der Dimension ihrer Verteilung; in Systemen dagegen sind die Komponenten stets das, was immer ihre Position im System sie zu sein bestimmt; ihre Verteilungsdimension wird somit selbst konstitutiv für das System. Zwei-Faktoren-Beziehungen und ihre Aggregate kommen zwar in der Tätigkeit des Organischen vor, sie betreffen jedoch nie den gesamten Organismus; vielmehr müssen sie als besondere und äußerst vereinfachte Manifestationen eines Prinzips von Systemaktivität verstanden werden, das relativ unabhängig von demjenigen ist, das den organismischen Gesamtprozeß regiert und das sich auf seine zeitliche Dimension beschränkt. Betrachtet man diesen Prozeß als ganzen und folgt man Andras Angyal (›Foundations for a Science of Personality‹), der wesentlich an der Entwicklung dieser Kategorien beteiligt war, lassen sich drei Hauptdimensionen des Funktionierens der Persönlichkeit unterscheiden.

1. Eine Fortschrittsdimension, in der Persönlichkeitsfunktionen nach dem Gesetz der Finalität, das ihrer zeitlichen Ordnung in der bewußten Verfolgung von Zielen zugrunde liegt, bestimmt sind.

2. Eine Tiefendimension, in der Persönlichkeitsfunktionen nach den unbewußten Bedürfnissen des Organismus, denen sie entsprechen, bestimmt sind.

3. Eine transversale Dimension, in der Persönlichkeitsfunktionen nach der Ordnung ihrer wechselseitigen Koordinierung bestimmt sind.

Im Bereich der Ausdrucksbewegungen wird die Fortschrittsdimension durch das Maß an Aufwands- und Richtungskonsistenz repräsentiert; die Tiefendimension durch das Maß an Impulsentbindung; die transversale Dimension durch das Maß an rhythmischer Integration. Sowohl Impulsentbindung als auch rhythmische Integration sind Funktionen, deren Operationen dazu neigen, der bewußten Kontrolle der Person zu entgleiten; Aufwands- und Richtungskonsistenz tun dies in geringerem Maße, können aber nur auf Kosten von Impulsentbindung und rhythmischer Integration bewußt manipuliert werden, eine Tatsache, die einen einfachen Nachweis solcher Manipulationen gestattet. Ausdrucksbewegungen sind, in anderen Worten, umso aussagekräftiger und tatsächlich ausdrucksvoller, je weniger sich ein Individuum ihrer Ausdrucksqualitäten bei der Ausführung bewußt ist. Vor allem aus diesem Grund ist die Handschrift ein System von Ausdrucksbewegungen von besonderem psychologischem Wert: Zwar ist der Schreiber der von ihm verwendeten Schulschrift-Muster durchaus gewahr und konzentriert sich bewußt auf den Inhalt, den er mit seinem Schreiben vermitteln will, kaum jedoch ist er der Art und Weise inne, in der er das Muster individuell verändert, und im allgemeinen überhaupt nicht, was solche Veränderungen bedeuten mögen. Wie dunkel sein Bewußtsein von »seiner« Handschrift ohnehin sein mag, es schwindet in dem Maße, wie die Inhalte seines Schreibens seine Gedanken in Anspruch nehmen und seine emotionalen Impulse hervorrufen und absorbieren.

Diese besondere Natur der Bewegungsimpulse postuliert allem Anschein nach eines der fundamentalsten Gesetze des Ausdrucks: Ihre »zwingende« Kraft hinsichtlich sowohl der Wucht als auch der Richtungskonsistenz steigt und sinkt reziprok zur introspektiven Aufmerksamkeit, die das Bewußtsein des Schreibers– das im Maß dieser Aufmerksamkeit von seinen äußeren Absichten unabsorbiert bleibt– diesen zuwendet und damit von seinen eigentlichen– spontaneitätsweckenden– Zielen ablenkt. Das ist der Grund, warum unter den verschiedenen Typen von Handschriftenproben Briefe und Manuskripte gegenüber Abschriften vorgegebener Texte und– mehr noch– gegenüber jeglichen im Bewußtsein einer darauffolgenden graphologischen Auswertung produzierten Proben für die psychologische Analyse generell vorzuziehen sind.

Hinsichtlich der in Ausdrucksbewegungen spontan angestrebten Ziele sollte wiederum das Ausdrucksziel, dessen der Organismus, was das Ausmaß der Bestrebung angeht, nicht gewahr ist, vom bewußten Zweck der Bewegung unterschieden werden. Bei der Handschrift ist dieser bewußte Zweck durch die Aufgabe determiniert, bestimmte Briefe, Wörter, Sätze und ganze Texte graphisch auszuführen; das Ausdrucksziel hingegen durch die innere Erfahrung des Schreibenden bei der Ausführung dieser Aufgabe. Daraus folgt, daß in Ausdrucksbewegungen im Sinne der gesamten organismischen Erfahrung offenbar Ziele der folgenden zwei allgemeinen Kategorien gleichzeitig wirksam sind: Erstens das zweckhafte Ziel der Bewegung, das den Verhaltensaspekt in der Fortschrittsdimension der Persönlichkeit bestimmt; zweitens das ausdruckshafte Ziel der Bewegung, das den Verhaltensaspekt in der Tiefendimension der Persönlichkeit bestimmt.

Zusätzlich kann durch die von der Umlenkung bewußter Aufmerksamkeit auf das Selbst bewirkte Impulshemmung eine dritte, nur potentiell wirksame, allgemeine Kategorie des Strebens erzeugt werden. In Übereinstimmung mit dem oben aufgestellten Ausdrucksgesetz scheint sie aus einem Konflikt zwischen dem zweckhaften und dem ausdruckshaften Ziel der Handlung zu resultieren und das Funktionieren der Persönlichkeit in der transversalen Dimension, der der Koordination, zu beeinflussen.

Um die Dichotomie von zweckhaften und ausdruckshaften Zielen zu illustrieren, können Alltagsbeispiele von Bewegungen von Nutzen sein, die stark von einem der beiden auf Kosten des anderen geprägt sind. Die hoch mechanisierten Bewegungen eines an einem Fließband beschäftigten Arbeiters sind durch zweckhafte Ziele in einem Ausmaß bestimmt, das ihre ausdruckshafte Zielgerichtetheit sicherlich vernachlässigbar, wenn auch keineswegs nichtexistent macht; die spontane Schreckgeste, mit der er von seinem Gesicht eine Gefahr abwehrt, die gar nicht seiner Person droht, mit der er vielmehr auf den Anblick eines Unfalls reagiert, der einem anderen, entfernter Arbeitenden zustößt, ist durch seine innere Erfahrung in einem Ausmaß bestimmt, das wiederum die zweckhafte Zielgerichtetheit der Geste zumindest vernachlässigbar macht.

Während sich in beiden Fällen in extremem Maße die Vorherrschaft einer Art von Zielgerichtetheit findet, sind die meisten alltäglichen Handlungen hinsichtlich der zweck- und ausdruckshaften Ziele, denen sie dienen, weit ausgeglichener. Dazu stimmt, daß einer der größten praktischen Vorteile, den die graphische Bewegung der psychologischen Analyse bietet, in ihrer kombinierten und ziemlich gleichen Empfänglichkeit für Ziele beider allgemeinen Kategorien besteht. Über ihre relativ enge Analogie mit der vorherrschenden Struktur der meisten Lebenssituationen hinaus scheint dies auch eine reichliche und wohlgeordnete Versorgung mit psychologischen Indikatoren zu erleichtern. Im Unterschied zu anderen Ausdrucksbewegungen bietet die Handschrift dem Beobachter eine fixierte Aufzeichnung, eine praktische und leicht verfügbare Spur solcher Bewegungen, während z.B. eine Untersuchung des Ganges, um systematisch durchgeführt werden zu können, ziemlich aufwendige Filmaufzeichnungen erforderte.

Wie objektiv ist die Graphologie?

Jede Wissenschaft, ohne Ansehen ihres jeweiligen Gegenstandes, hat sich ursprünglich auf der Grundlage einer Systematisierung alltäglichen empirischen Wissens entwickelt. Die graphologische Methode, die auf einem besonderen Gebiet die gewohnte menschliche Tätigkeit des Erkennens, Klassifizierens und Interpretierens von Verhalten betreibt, bildet von dieser Regel keine Ausnahme. Der graphologische Laie wird kaum das Gefühl haben, sich eine Blöße zu geben, wenn er eine extrem unordentliche Handschrift unordentlich nennt oder eine extrem regelmäßige ordentlich, aber er wird dazu neigen, alle weiterreichenden Feststellungen spekulativ zu nennen, und so legt er kritiklos die Grenzen seiner eigenen Sensibilität für ausdrucksmäßige Eigenschaften als Scheidelinie zwischen Objektivität und Subjektivität fest.

Nun erklärt diese Haltung zwar die Häufigkeit, mit der die Graphologie des »Subjektivismus« bezichtigt wurde, sie beantwortet aber nicht die Frage, wie »gültig« die graphologische Methode tatsächlich ist; und oft wurde der Vorwurf laut, daß die Graphologen sich der Aufgabe der Objektivierung einfach nicht in ausreichendem Maße stellen. Angesichts dieser Kritik mag es nützlich sein, auf die schon geleistete Validierungsarbeit ein- und der Frage nachzugehen, wie Versuchsanordnungen für die weitere Validierung und Gruppenuntersuchungen aufgebaut sein sollten, um aussagekräftig zu sein. Hierzulande wird von Gegnern der Methode immer wieder auf den 1919 von Clark L. Hull und Robert B. Montgomery durchgeführten Versuch verwiesen, der in einem Desaster endete (wenn nicht für die Graphologie, so doch für das, was immer in diesem Versuch auf die Probe gestellt wurde). Er war indes unwissenschaftlich gleichermaßen aus Sicht der Graphologie wie der Experimentaltheorie. Die von Hull und Montgomery getestete Methode befaßte sich mit den Auf- und Abwärtsorientierungen der Wörter, den Weiten der kleinen ms und ns und den Längen von t-Balken, die alle als potentiell korrespondierend mit bestimmten Charakterzügen und deren individuellen Variationen eingeschätzt wurden, das aber war noch Michons Graphologie der Zeichen, die zu dieser Zeit, achtzehn Jahre nach der Veröffentlichung von Meyers Arbeit und, je nachdem, neun bzw. zwei nach Klages’ ersten Veröffentlichungen, längst überholt war. Die Versuchsanordnung bestand, objektiv nicht weniger fragwürdig, aus einer Collegeverbindung, einer engverstrickten Gemeinschaft von Studenten, zum größten Teil homogen nach Anschauungen, Herkunft und Wertvorstellungen, alle ungeübt in der Rolle, die sie in diesem Versuch zu spielen hatten und die darin bestand, gegenseitig ihre Charaktere hinsichtlich einiger jener Züge zu bewerten, von denen angenommen wurde, daß sie mit den von Hull und Montgomery ausgewählten und quantitativ gemessenen graphischen Kennzeichen (und zwar jeweils ein Zug mit einer Eigenheit der Handschrift) korrespondierten. Graphologischer- wie experimentellerseits inadäquat, konnte von dem Unternehmen nicht erwartet werden, irgend bedeutsamere Ergebnisse zu zeitigen, als die Methode es war, mit der es sich seinen Gegenständen näherte.

In Europa wurden häufiger Einzelversuche in blinder graphologischer Diagnose durchgeführt, bei denen erfahrene Anwender aus den Schulen von Klages, Pulver und Saudek getestet wurden. Die Ergebnisse entsprachen in der überwiegenden Zahl der Fälle– und vervollständigten sie in vielen– den verfügbaren sozialen und klinischen Belegen in so hohem Maße, daß die ursprüngliche Skepsis der Forscher im Hinblick zumindest auf die Validität, wenn nicht sogar die Zuverlässigkeit der Methode stark gemindert wurde; man stellte fest, daß sich bei Versuchen mit handschriftlichen Kopien standardisierter Texte, zu denen allein Alter und Geschlecht der Schreibenden angegeben wurde, auf der Basis reinen Zufalls eine unbegrenzte Anzahl möglicher Persönlichkeitsbeschreibungen ergeben konnte; und daß folglich hoch spezifische Persönlichkeitsbeschreibungen, die, gerade in ihrer Spezifizierung, mit dem sozialen und klinischen Bild übereinstimmten und zu denen verschiedene Anwender mit dem gleichen methodischen Ansatz unabhängig voneinander gelangt waren, keinen Zweifel an der Validität dieser Methode lassen konnten. Allerdings stellte man, als die Methode sich weiterentwickelte, auch die Notwendigkeit fest, einen angemessenen Grad an Zuverlässigkeit zu gewährleisten, und so kam es zu den vielen Objektivierungsexperimenten, die in Deutschland zum größten Teil von den Instituten für Industrielle Psychotechnik durchgeführt und hierzulande von Gordon W. Allport und Philip E. Vernon in ihrem Buch über Ausdrucksbewegungen dargestellt wurden. Das experimentelle Setting lieferten hier in den meisten Fällen die Arbeitsbewertungen einzelner Angestellter gemäß der Beurteilung ihrer Arbeitgeber auf der einen Seite und graphologische Bewertungen ihrer entsprechenden Eigenschaften (wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Leistungsfähigkeit) auf der anderen. Die durch die Verwendung von Punkteskalen erreichten Korrelationen lagen alle weit oberhalb bloßen Zufalls, und zwar am auffälligsten bei denjenigen Versuchen, die graphologische Bewertungen von Robert Saudek, Richard Couvé, Gertrud von Kügelgen und besonders Kurt Seesemann einbezogen, dessen graphologische Angestelltenbewertungen eine dreiundneunzigprozentige Übereinstimmung mit den Beurteilungen der Arbeitgeber zeigten.

Erfolgreiche Objektivierungsexperimente hinsichtlich der Graphologie waren aber keineswegs auf Europa beschränkt. Erwähnt werden sollte hier Ruth L. Munroes ›Three Diagnostic Methods Applied to Sally‹ und ›A Comparison of Three Projective Methods‹ (letzteres gemeinsam mit Thea Stein-Lewinson und Trude Schmidl-Waehner), die mit sehr ermutigenden Ergebnissen vergleichende Untersuchungen von »blinden« Persönlichkeitsbeschreibungen unternahmen, die, unabhängig voneinander, auf der Rorschach-Methode, Schmidl-Waehners Kunsttechnik und der Graphologie beruhten.

Obwohl alle diese Ergebnisse eher als erste Schritte auf dem Weg hin zu einer umfassenden Objektivierung der Methoden denn als schlüssige Beweise ihrer Zuverlässigkeit angesehen werden können, erscheinen sie doch als höchst ermutigend, wenn man die Komplexität nicht so sehr der Methode selbst als ihres Gegenstandes, der Persönlichkeit, in Betracht zieht. Das grundsätzliche Problem der Gewinnung objektiver Kriterien, anhand derer Persönlichkeitsbeschreibungen– auf der Basis der Graphologie ebenso wie jeder anderen Technik– aussagekräftig überprüft werden können, wird noch verwickelter, wenn wir die relativ einfache Situation, die die für Punkteskalen geeigneten Persönlichkeitsbewertungen auf bestimmte Züge sozialen Funktionierens hin darstellen, hinter uns lassen und auf das klinisch weit interessantere Feld graphologisch gewonnener umfassender Persönlichkeitsbeurteilungen vorrücken. Um einen korrekten Bezugsrahmen für die Objektivierung solcher Beurteilungen aufzustellen, müssen wir zuerst wissen, welche allgemeine Ordnung von Phänomenen sie beschreiben, da nur dieses Wissen uns in die Lage versetzen wird, nach der korrespondierenden Ordnung von Phänomenen in der Realität zu suchen.

Im Vorfeld der systematischen Analyse, der die Schriftprobe in den verschiedenen Bewertungsdimensionen unterzogen wird, konzentriert der Gutachter sich auf die Probe als ganze, eliminiert ihren Inhalt gänzlich aus dem Beobachtungsfeld und läßt das letztere zu einem Muster von Bewegungsspuren werden. In der passiven und doch aufmerksamen visuellen Erfahrung dieses Musters spielen die spezifischen sozialen Funktionen des Schreibens für den Beobachter keine Rolle mehr, und jegliche intellektuelle Aktivität auf seiner Seite ist noch ausgeschaltet. In dieser Phase der Untersuchung und kraft ihrer kann der Gutachter nicht nur einen Gesamteindruck der Probe gewinnen, sondern auch zulassen, daß einzelne oder wiederkehrende Eigenschaften derselben seine Aufmerksamkeit erregen; und genau dieser ganzheitliche Blickwinkel wird in der Untersuchung noch einmal am Ende eingenommen, wo er zur Wiederherstellung eines eigentlichen Gesamtbezugsrahmens dient, in den die verschiedenen Beobachtungsdaten eingefügt werden können, der ihre relative charakterologische Bedeutung– ihre »Position« im Persönlichkeitssystem– bestimmt und der im Prozeß der Konzentration auf einzelne graphische Details und Bewertungsbereiche verloren gegangen sein kann. Das hierbei angegangene Phänomen ist ersichtlicherweise nicht der eine oder andere »Zug«, sondern Persönlichkeit als eine funktionale Einheit; also kann nur die Persönlichkeit als funktionale Einheit das eigentliche objektive Kriterium sein, an dem graphologische Befunde zu messen sind. Das schließt nicht die graphologische Untersuchung der Persönlichkeit hinsichtlich spezifischer Linien des sozialen Funktionierens aus (die oben zitierten europäischen Versuche konzentrierten sich alle auf Untersuchungen dieses Typus’), wohl aber jegliches direkte und isolierte graphologische Urteil zu einzelnen »Zügen«: Urteile dieser Art müssen aus der ganzen Persönlichkeitsstruktur erschlossen und dürfen nicht auf isolierten und außerhalb ihres gegebenen Gefüges interpretierten Eigenschaften der Handschrift begründet werden.

Daraus folgt, daß Quantifizierungsverfahren in der Graphologie (und möglicherweise nicht nur dort), um ihren Kern nicht völlig zu verfehlen, eher auf der Ebene umfassender Persönlichkeitsbewertungen (oder spezifischer daraus abgeleiteter Feststellungen) als auf der irgendwelcher spezifischer interpretativer Annahmen durchgeführt werden sollten: Die letzteren stellen, in ihrer individuellen Anwendung, stets nur Versuche dar, stets implizieren sie einen bestimmten Spielraum an charakterologischer Bedeutung. Die Extrempositionen innerhalb ihres Spielraums können einander hinsichtlich der sozialen und moralischen Werte diametral entgegengesetzt sein, und die Fixierung bestimmter, durch eine Bewertungsdimension eindringlich nahegelegter Züge der Persönlichkeit wird immer dadurch erreicht, daß man nichts weniger als die gesamte Konfiguration von Indikatoren inner- und außerhalb dieser besonderen Dimension in Betracht zieht. Alle anderen Vorgehensweisen sind notwendig atomistisch und nicht objektiv, insofern sie dogmatisch dazu neigen, die Bedingungen zu diktieren, unter denen ihre Gegenstände sich wissenschaftlicher Erkenntnis erschließen sollen, anstatt sie durch die Natur der zu untersuchenden Phänomene bestimmen zu lassen. In einem funktionalen Ganzen haben die Komponenten keine Signifikanz, wenn sie aus ihrer Position innerhalb dieses Funktionssystems herausgelöst werden. Wenn man eine Melodie in eine andere Tonart transponiert, bewahrt keine einzige Note ihre Identität; die Melodie aber sehr wohl. Ebenso können für ein und dasselbe Individuum in verschiedenen Lebenssituationen und in verschiedenen Perspektiven externer Beobachtung völlig unterschiedliche Konzeptionen von »Zügen« hinsichtlich des sozialen Verhaltens zutreffen, auch wenn ihr möglicher Umfang in signifikantem Maße durch die Persönlichkeitsstruktur selbst begrenzt ist; um seine Identität zu erkennen, erfordert es das Bild der gesamten Struktur.

Das heißt, daß die Quantifizierung einzelner graphischer Züge hier und da für Verfahrenszwecke von Bedeutung sein kann, um den Untersuchenden bei der Orientierung auf sein Beobachtungsfeld zu unterstützen, daß sie aber als Grundlage für direkte psychologische Interpretation und darauf gestützte vergleichende statistische Studien völlig zufällig wäre. Das wird durch die innere Situation der grapho-analytischen Arbeit selbst bestätigt, und ein Beispiel mag das illustrieren. »Druck« in der Handschrift wird allgemein verstanden als Anzeichen für konzentrierte Arbeitsenergie und zielgerichtetes Streben, die ungefähr im selben Grad wie der Drucks vorhanden seien. Die atomistische Methode zur Überprüfung dieser Annahme würde eine Skala zur quantitativen Messung des Drucks aufstellen, sie auf Handschriftenproben anwenden, versuchsweise die Stärke des Drucks als Stärke an äußerlich verfügbarer Energie interpretieren, die Interpretation an sozialen und klinischen Belegen überprüfen und sich beträchtlichen Überraschungen aussetzen: Jenseits eines bestimmten Punkts an Intensität kehrt sich die Richtung der psychologischen Bedeutung von »Druck« nämlich um und deutet im Maße seiner weiteren Verstärkung auf das Vorliegen eher hemmender innerer als herausfordernder äußerer Hindernisse hin, die durch dieses Zurschaustellen von Kraft überwunden werden sollen. Der exakte Ort des Umkehrungspunktes auf der Intensitätsskala ist wiederum variabel und hängt von der individuellen Konfiguration ab. Komplizierter noch wird die Situation durch die Tatsache, daß der in der Stichprobe vorfindliche Druck unter Umständen in Bewegungen verschoben werden kann, die normalerweise nach motorischer Entspannung verlangen, und daß andere Eigenschaften die interpretative Basis dafür auf virtuell unendlich viele Arten modifizieren können, die sich einer geordneten Quantifizierung vollständig entziehen und, um verstanden werden zu können, auf das ihnen gemeinsam zugrundeliegende Prinzip der Systemtätigkeit zurückbezogen werden müssen. Denn wenn es auch selbstverständlich möglich ist, die grundsätzliche Bedeutung einer graphischen Eigenschaft wie etwa eines bestimmten Grads an Druck theoretisch unabhängig von Indikatoren, die sie verändern oder spezifizieren, zu beschreiben, wäre der daraus resultierende Begriff viel zu allgemein und charakterologisch umfassend, um mit irgendwelchen positiven und differenziellen, am Verhalten beobachtbaren Persönlichkeitseigenschaften zu korrespondieren, und würde sich deshalb nicht für derartige Beobachtungen einschließende Experimente zum Nachweis ihrer Validität eignen. Außer der Notwendigkeit, Versuche dieser Art nur auf der Grundlage umfassender Persönlichkeitsbilder durchzuführen, folgt daraus, daß graphologische Arbeit, um systematisch durchgeführt werden zu können, ihre Beobachtungen durch qualitative Klassifizierung ausdruckshafter Eigentümlichkeiten organisieren muß und daß weder die Übung im Sehen solcher Eigentümlichkeiten noch ein kritisches Ausbalancieren ihrer interpretativen Werte durch ein mechanisches Ausmessen einzelner quantitativer Aspekte ersetzt werden kann.

Die Objektivität jeglicher Untersuchungsmethode hängt letzten Endes von der Natur ihres Gegenstands ab. Persönlichkeit ist nicht nur keine Summe quantifizierbarer Verhaltenszüge; sie unterscheidet sich überdies von den Gegenständen der Naturwissenschaften durch ihre weit engere Verwobenheit in die eigene Existenz des Forschers, weshalb sie von ihm grundsätzlich anders erfahren wird, als er irgendwelche naturwissenschaftlichen Objekte wahrnimmt. Da unausweichlich bereits auf der Wahrnehmungsebene Werturteile in die Erkenntnis seiner Gegenstandssphäre einfließen, ist der Begriff des Gegenstands, Persönlichkeit, selbst im Verhältnis zu jeglichen in dieser Hinsicht erdachten Testmethoden weit weniger fest etabliert als der der physischen Kräfte oder chemischen Elemente im Verhältnis zu den zu ihrer Messung erdachten Testmethoden. Ein von menschlichen Wertvorstellungen– die sich von Interpretierendem zu Interpretierendem deutlich unterscheiden können– unabhängiger Begriff von Persönlichkeit existiert nicht. Viele Unterschiede zwischen Persönlichkeitsbildern, zu denen unterschiedliche Gutachter mit auf ein und denselben Fall angewandten psychologischen Methoden gelangen, sind weder einer Unangemessenheit und Ungenauigkeit der verwendeten Methoden noch Unterschieden in ihrer Anwendung geschuldet, sondern verschiedenen Wertvorstellungen, die Unterschiede im Fokus der Interpretation verursachen.

Auf der Quantifizierung einzelner graphischer Züge zu beharren beseitigte nicht diese Schwierigkeit, sondern vielmehr den jeweiligen Kontext, in dem allein diese Züge irgendeine Bedeutung hätten. Als ein aus der Sicht angeblicher wissenschaftlicher Objektivität erforderliches und auf vergleichende Studien solcher »quantifizierter« Züge abzielendes Validationsverfahren würde dies die Behauptung implizieren, daß diejenigen Phänomene, die Individualitäten konstituieren, im strengen Sinne nicht Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis sein können. Das wäre eher eine unkritische Ausdehnung der metaphysischen Position des Positivismus auf Inhalte, die geeignet sind, den Schatten eines Zweifels auf diese Position zu werfen, als ein Argument, das aus Erfahrung spricht. Nicht nur die personalistischen Psychologien, sondern jede Forschungsrichtung, die sich mit den morphologischen, ästhetischen, »topographischen« und historischen Dimensionen von Realität auseinandersetzt und mit Hilfe von Begriffen vorgeht, die der Natur der in diesen Dimensionen zu beobachtenden– stets »einzigartigen«– Phänomene angemessen sind, würden dadurch für ungültig erklärt. Wenn wir zu analysieren versuchen, was in unserer direkten Erfahrung unsere Vorstellung einer uns bekannten »Persönlichkeit« ausmacht, finden wir das Prinzip, das alle darin eingehenden Elemente verbindet, in einer gewissen qualitativ einheitlichen, ganz eigenen Art, die ausschließlich dieser Person zugehört und die eher eine »Wie«- als eine »Was«-Frage beantwortet. Der Inhalt selbst, Persönlichkeit, kann dann, als psychologische und nicht als soziale Kategorie, nur auf der Grundlage dieser Qualität der »individuellen Gestik« bestimmt werden, die genau das ist, was die Analyse der Ausdrucksbewegungen sich zu untersuchen vornimmt.

Die Probleme der Validierung von Befunden, die in Form von Gesamt-Persönlichkeitsbildern oder spezifischen Schlußfolgerungen aus ihnen angeordnet sind, sind deshalb in der Graphologie dieselben wie in irgendwelchen anderen der zur Zeit so einflußreichen projektiven Techniken. Der Rorschach-Test ist, unter streng statistischem Gesichtspunkt, weder zureichend validiert worden, noch ist die statistisch orientierte Schule der Psychologie in der Lage gewesen, in diesem Bereich hinreichend objektive Gültigkeitskriterien bereitzustellen. Als wie wenig überzeugend, unter einem Blickwinkel, der mechanische Zuverlässigkeit als Kriterium zur Bewertung psychologischer Techniken herausstreicht, die Anhänger dieser Schule, die die Existenz von Beziehungen zwischen Persönlichkeit und Handschrift bestreiten, die aufgezeichneten experimentellen Erfolge mit der graphologischen Methode auch beurteilen mögen, sie haben es versäumt, diese Erfolge, die ihrer Leugnung so scharf widersprechen, zu erklären. Die häufige Behauptung, daß Erfolge dieser Art sich einem besonderen »intuitiven Talent« des Graphologen verdankten, ist nicht nur unvereinbar mit den grundlegenden Glaubenssätzen der »objektivistischen« Schule, sondern auch ein Meisterstück unkritischen Denkens. Wenn der Forscher in einem kontrollierten Versuch, in dem er Zugang zu nichts als einer Handschriftenprobe strikt unverfänglichen Inhalts hatte, in der Lage ist, erfolgreich die psychologische Verfaßtheit des Urhebers der Probe zu beschreiben, dann muß sein »Talent«, gleich wie wir es definieren, ausschließlich auf der Grundlage der Handschrift des Subjekts arbeiten; welche genauen und spezifischen Befunde er deshalb auch immer im Hinblick auf dieses Subjekt liefern kann, sie müssen in der hier beschriebenen Situation in irgendeiner Weise in der Schriftprobe und in nichts sonst enthalten gewesen sein.

Der akademische »Widerstand« gegen die Graphologie findet daher, bedenkt man die Schärfe, die er in der Vergangenheit gezeigt hat, seine Haupterklärung wahrscheinlich in weniger rationalen Motiven als den von den Gegnern der Methode ausdrücklich vorgebrachten. Nach Ansicht des Verfassers liegt eines ihrer offensichtlichsten in dem vergleichsweisen Mangel des durchschnittlichen Wissenschaftlers an spezifischer Fähigkeit, Eigenschaften von Mustern adäquat wahrzunehmen, die in all ihrer Verschiedenheit zu erkennen der durchschnittliche Kunststudent etwa keine Schwierigkeiten hat; in der Rationalisierung dieser Unfähigkeit ist der Wissenschaftler leichterdings versucht, die »Vagheit« seiner eigenen Erfahrung solcher Qualitäten dem Erfahrungsgegenstand zuzuschreiben. Ein zweites zu vermutendes Motiv aber, das hinter dem »Widerstand« gegen die Graphologie am Werk ist, und eines, das auf lange Sicht ernsthafter sein könnte, ist die in unserer Zeit weitverbreitete Neigung, psychologische Methoden in einem Ausmaß zu popularisieren und zu »simplifizieren«, das mit ihrer Natur unvereinbar ist und das kein Chemiker oder Physiker in seinem Feld tolerieren würde. Als Neigung auf seiten der Graphologen und Pseudo-Graphologen selbst hat dies zu der Unzahl unverantwortbarer Annäherungen an das Thema beigetragen, die seinem Ruf so viel Schaden zugefügt haben; die befremdliche Tatsache aber bleibt, daß der »Objektivist«, sobald er dieses Thema mit scheinbar gutem Willen untersucht, für gewöhnlich dieselbe Tendenz dadurch nährt, daß er die Graphologie seiner eigenen Art und seinem eigenen Grad an psychologischem Verständnis anzupassen versucht. Indes ist diese Haltung nicht notwendig auf die »objektivistische« Schule beschränkt. Das Verlangen nach Patentlösungen, das sich bereits in jüngeren Formen der Rorschachlehre und verwandten Lehrgebäuden bemerkbar macht, steht notwendig im Widerspruch zu dem komplizierten Denkprozeß, der in der systematischen Handschriftenanalyse erfordert ist. Gewiß, dank der leichten Beschaffbarkeit des Forschungsmaterials ist der beachtliche ökonomische Vorteil der Graphologie gegenüber den meisten gebräuchlichen psychodiagnostischen Methoden offensichtlich; während es aber im ganzen weit weniger Zeit in Anspruch nimmt, eine graphologische Analyse durchzuführen, als einen Rorschachtest, erfordert sie einen weit höheren Aufwand im Sinne wahrnehmungsmäßiger und intellektueller Konzentration. Das bringt sie in Konflikt mit einer Geisteshaltung, die im Sinne der alten Graphologie der »Zeichen« und der summativen Verfahren gegenwärtiger psychologischer Tests »Listen diagnostischer Indikatoren« wünscht, in denen jeder graphische Zug seine vorgeblich festbestimmte Bedeutung hat, in denen die Namen von Zügen einfach abgehakt werden können und intellektuelle Anstrengung soweit wie möglich vermieden wird. Wenn der Graphologe sich dieser– mit den Prinzipien seiner Methode wie auch dem Wesen der Persönlichkeit selbst unvereinbaren– Geisteshaltung hingibt, ist er verloren; er hat dem »Objektivisten« erlaubt, die Graphologie zu entstellen und in einen Popanz zu verwandeln, und er braucht sich nicht zu wundern, wenn dieser Popanz dann in Versuchen wie dem von Hull und Montgomery nur allzu leicht zu Fall gebracht werden kann.

Wie können graphologische Befunde angesichts dieser Situation schlüssig objektiviert werden? Wir haben gesehen, daß keine Validierung aussagekräftig sein kann, wenn sie nicht auf der Grundlage vollständiger Persönlichkeitsbeschreibungen oder einzelner aus solchen Beschreibungen abgeleiteter Feststellungen unternommen wurde, die Frage des »validen Kriteriums« bleibt aber noch zu beantworten. Nach Ansicht des Verfassers und gemäß seiner vorstehenden Argumentation insgesamt besteht das einzige mögliche Kriterium von unstrittiger Relevanz für die Objektivierung von Persönlichkeitsbeschreibungen darin, daß die Identität des beschriebenen Subjekts durch Personen, die es gut kennen, wiedererkannt werden kann. Die einzig solide Lösung scheinen somit angepaßte Versuche zu sein, in denen eine Gruppe von Persönlichkeitsbeschreibungen, die auf der Basis »blinder« graphologischer Analysen gewonnen wurden, der Gruppe der beschriebenen Subjekte gegenübergestellt wird und in denen die »Richter«– die aufs beste mit der Persönlichkeit eines jeden von ihnen bekannt sein müssen– die Identität des Subjekts jeder dieser Beschreibungen zu bestimmen haben. Solche angepaßten Versuche können und sollten genau kontrolliert werden. Sie können und sollten der schärfsten statistischen Analyse unterworfen werden. Ja, um auch die Frage der Zuverlässigkeit der Methode als solcher– d.h. unabhängig vom individuellen graphologisch Arbeitenden– zu beantworten, müßten solche Versuche eine größere Zahl genauestens in der graphologischen Methode unterwiesener Psychologen einbeziehen. Gegenwärtig scheint in diesem Land keine solche Gruppe zu existieren. Daß der Tag nicht fern sein mag, an dem sie nicht nur existiert, sondern ihre Fähigkeiten sich letzten Endes– in der Erziehung, in der Sozialarbeit, in der Berufsberatung und vor allem in der Psychiatrie und klinischen Psychologie– jenseits allen Zweifels bewährt haben, ist die Hoffnung und vertrauensvolle Erwartung des Verfassers.