Schrödingers Cave - Uwe Brunotte - E-Book

Schrödingers Cave E-Book

Uwe Brunotte

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Beschreibung

Jeremy Doyle ist kein gewöhnlicher Teenager – er ist ein Zeitreisender. In seinen Träumen kann er die Vergangenheit als körperloser Beobachter erleben, ohne jedoch Spuren zu hinterlassen. Doch als er von dem mysteriösen Verschwinden der Schülerin Chris in den Bergen liest, verändert sich alles. Jeremy findet sich in der Höhle wieder, in der Chris gefangen ist – und zu seiner Überraschung kann sie ihn sehen. Gemeinsam müssen sie einen Weg aus der Höhle finden, doch sie erkennen schnell, dass sie in einer Dimension gefangen sind, die den Prinzipien der Quantenphysik zu folgen scheint. Während die Zeit für die Außenwelt weiterläuft, müssen sie herausfinden, wie sie die Höhle verlassen können, bevor die Realität um sie herum zerbricht.

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Seitenzahl: 210

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Schrödingers Cave

Uwe Brunotte
01. März 2013

©2024 Uwe Brunotte Umschlag, Illustration: Image Creator Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung “Impressumservice“, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Die Höhle

Jeremy Doyle war kein normaler Junge.

Obwohl man ihn eigentlich dafür halten konnte. Er war ein mittelmäßig guter Schüler, spielte in der Baseball-Mannschaft, spendete beim jährlichen Schulball für Tiere und arme Kinder in Ländern, die er nicht kannte, half seinem Vater, den Rasen zu mähen und hatte genau die richtige Anzahl Freunde aus den richtigen Kreisen. Mit diesen Eigenschaften konnte man ihn ohne Weiteres für einen ganz normalen Teenager des amerikanischen mittleren Westens Anfang des 21. Jahrhunderts halten.

Etwas ungewöhnlich war, dass er jeden Morgen die Zeitung las. Er hatte eine eigene lokale Zeitung abonniert, die er kurz vor der Schule und etwas ausführlicher an jedem Wochenende oder in den Ferien las.

Außerdem war Jeremy Doyle ein Zeitreisender und das war eindeutig nicht normal.

Für ihn selbst war das Reisen durch die Zeit keineswegs etwas Ungewöhnliches. Soweit er zurückdenken konnte, hatte er schon immer diese seltsamen Träume gehabt. Träume, an die er sich nach dem Aufwachen klar und deutlich erinnern konnte. Seine Mutter hatte ihm zugehört und ihm erzählt, er habe eine wirklich blühende Fantasie. Und sie lachte.

Als er anfing, Dinge zu erzählen, die zum einen nachprüfbare Fakten enthielten und die er zum anderen auf keinen Fall wissen konnte, lachte sie nicht mehr. Er musste so ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein, als er einen Traum erzählte, den er von seinen Eltern gehabt hatte. Einen Traum von der Nacht, als sie sich kennen lernten, viele Jahre vor seiner Geburt. Und er erzählte Dinge aus seinem Traum, die ihm seine Eltern ganz sicher nicht erzählt hatten und dies auch einem Kind niemals erzählen würden.

Statt zu lachen und seine blühende Fantasie zu bewundern, hatten seine Eltern angefangen zu streiten. So sehr, dass er sich in seinem Schrank versteckte, die Tränen nicht zurückhalten konnte und die wütenden Stimmen aus dem Wohnzimmer hörte. Jeder seiner Eltern war überzeugt, der andere müsse dem Kind diese Dinge erzählt haben und beide waren genauso von ihrer jeweiligen Unschuld überzeugt.

So lernte Jeremy sehr früh, seine Träume lieber für sich zu behalten. Aber er hatte sie weiterhin, fast in jeder Nacht und bald verstand er ihre Bedeutung. Wenn ihn etwas interessierte, so wie das Kinderbuch über das alte Ägypten oder die Fernsehsendung zum Jubiläum der Mondlandung, dann träumte er davon. Und in diesen Träumen war er wirklich dabei. Er hatte gesehen, wie die ersten Steine der großen Pyramide gesetzt worden waren. Er war mit in der Apollo 11 geflogen und hatte auf dem Mond gestanden. Allerdings keine Spuren dort hinterlassen. Er hinterließ nie Spuren, konnte nichts berühren und wurde nicht gesehen. Er war ein Beobachter, körperlos wie ein Geist.

Aber diese Träume waren die Wahrheit. Er hatte dies immer gewusst und mit den Jahren lernte er, mit Google die Träume nachzuprüfen und meist ließ ihn das Internet nicht im Stich. Warum nur ihm das geschah und, soweit er es herausbekommen konnte, sonst niemand, verstand er zwar nicht ganz, aber vielleicht war dies ja eine Gabe, die er nutzen konnte?

Es musste ein paar Jahre her sein, so zu der Zeit, als die ganzen Filme mit den Superhelden in den Kinos liefen. Das wäre doch etwas. Er stellte sich vor, wie er selbst zu einer Art Held würde. Einfach, weil es nichts gab, das er nicht entdecken konnte. Geheimnisvolle Verbrechen enträtseln, verschwundene Schätze finden, überall konnte er dabei sein und es herausbekommen.

Die Gelegenheit dazu ergab sich schon nach wenigen Tagen. Ein Unfall, über den die ganze Schule redete. Es waren Schüler, nur ein paar Klassen über ihm. Fahrerflucht, zwei Tote, zwei Schwerverletzte. Der Verursacher war weitergefahren, ohne sich um den Wagen, den er in den Graben abgedrängt hatte, zu kümmern. Jeremy war sich sicher, dass er von diesem Unglück träumen würde. Und er würde herausbekommen, wer der Schuldige war.

Zu seinem Entsetzen behielt er recht. Ohne eingreifen zu können, musste er den Unfall mitansehen. Niemand hatte ihn darauf vorbereitet, was das bedeutete. Ohnmächtig stand er neben dem zerborstenen Wrack, hörte die grausamen Schreie des eingeklemmten Mädchens, während ihr Freund auf dem Sitz neben ihr lag, fast geisterhaft weiß, still und mit seltsam verdrehten Gliedern. Der andere Junge hielt den blutigen Kopf seiner Freundin im Arm, immer wieder und wieder ihren Namen rufend.

Jeremy war davon gerannt. Hinter dem flüchtenden Kleintransporter hinterher, der einen Moment gebremst hatte, fast zum Stillstand gekommen, aber dann mit röhrendem Motor davongefahren war. Nur auf das Nummernschild starrend, war Jeremy gerannt, bis die Schreie hinter ihm allmählich verklangen. Die Ziffern einprägen. Immer wieder die kurze Folge von Buchstaben und Ziffern wiederholend, war er schweißgebadet aufgewacht. Es war mitten in der Nacht, aber bis zum Sonnenaufgang schlief Jeremy nicht mehr.

Das Schlimmste war, dass ihm der Sheriff, oder besser, die dusselige Kuh, die im Büro des Sheriffs am Telefon saß, nicht glaubte. Er konnte seinen Namen nicht sagen und ihm fielen auf die bohrenden Fragen der Frau, warum er sich an dem Abend dort aufgehalten hatte und warum er sich erst jetzt, mehrere Tage später, meldete, keine glaubhaft klingenden Antworten ein. Er sagte ihr das Nummernschild. Mehrmals. Er bat sie, das weiterzugeben und nach dem Fahrzeug zu suchen, aber als sie auflegte, war ihm klar, dass sie ihm kein Wort geglaubt hatte. Ob sie die Nummer überprüfte, ob der Verursacher jemals gefunden und zur Rechenschaft gezogen wurde, all das erfuhr er nie. In der Zeitung stand nur noch eine Meldung über das Begräbnis, das unter großer Anteilnahme der ganzen Stadt und besonders der Mitschüler stattfand. Dann nichts mehr.

Jeremy versuchte nie wieder, ein Held zu sein.

Etwas nutzen konnten ihm seine Träume aber doch. Er bekam in Geschichte ein in der ganzen Klasse sehr unbeliebtes Thema für das Referat, von dem die Note des ganzen Jahres abhing. Die Unabhängigkeitserklärung. Kaum ein Schüler konnte sich für diese abgedroschene Geschichte begeistern. Aber Jeremy freute sich darauf. Endlich etwas, für das er auf eine Weise recherchieren konnte, wie niemand anders, ob mit oder ohne Googles Hilfe.

So richtig spannend war dieser Traum aber nicht. Zunächst musste er feststellen, dass er am 04. Juli 1776 genau zwei Tage zu spät war und noch einmal zurückkehren musste, um die eigentliche Erklärung der Unabhängigkeit, die von einem Richard Henry Lee aus Virginia, von dem er noch nie gehört hatte, verfasst worden war, mit zu erleben.

Auch die Unterzeichnung der berühmten Urkunde, die er pflichtschuldigst wie alle Schüler im Nationalarchiv in Washington besucht hatte, war eher eine Enttäuschung. Die Liberty Hall in Philadelphia war vom siebenjährigen Krieg gezeichnet und sah schmutzig und heruntergekommen aus. Jefferson hatte nicht etwa selbst geschrieben, sondern jemanden schreiben lassen, den Jeremy von keinem der vielen Gemälde kannte. Franklin war mies gelaunt und ungeduldig und Livingston fast hysterisch vor Angst. Er wollte nicht unterzeichnen, jammerte, dass sie alle dafür gehängt werden würden und erklärte, seine Kolonie habe sich nicht ohne Grund enthalten und dieses Schriftstück würde zu einem furchtbaren Krieg führen. Es dauerte Stunden, bis er endlich überredet werden konnte, als letzter auch seine Unterschrift auf das Papier zu setzen.

Diese Details ließ Jeremy in seinem Vortrag vor der Klasse lieber aus. Dennoch war sein Lehrer nicht begeistert. »Zu wenig Pathos«, ließ er Jeremy wissen. »Bei dir kommt keine patriotische Begeisterung auf.«

Mittlerweile war Jeremy 17, fühlte sich sehr erwachsen und war zu dem Schluss gekommen, dass seine merkwürdigen Träume von der Vergangenheit weder für ihn noch für irgend jemand sonst von Nutzen seien.

Es war ein Wochenende, die Ferien hatten gerade begonnen und er saß am Frühstückstisch, genoss die Sonnenstrahlen und las seine Zeitung. Seine Eltern waren unterwegs, sie hatten längst gefrühstückt. Jeremy war ein Langschläfer, wenn er in Ruhe gelassen wurde.

In der Zeitung stand meistens irgend etwas Interessantes, von dem es sich zu träumen lohnte. Er hatte heute Zeit und konnte die Artikel ausführlich lesen.

Die Seiten mit Katastrophen und Unfällen überlas er. Und so überlas er fast auch die kleine Schlagzeile auf der dritten Seite, zwischen den aktuellen Baseball-Ergebnissen und dem Wetterbericht für die nächsten Tage (weiter sonnig und trocken).

Sechzehnjährige nach Schulausflug vermisst Am vergangenen Freitag verschwand in den Bergwäldern westlich von Sturgis eine Schülerin, die zusammen mit ihrer Klasse auf einem Schulausflug auf den Harney Peak war. Eine sofort eingeleitete Großfahndung der örtlichen Polizei blieb bislang erfolglos. Wie aus dem Büro des Sheriffs von Sturgis zu erfahren war, kommt es in dieser Gegend häufiger zu Erdrutschen und kleineren Bergstürzen. Eine Suche mit Hubschraubern und Wärmesuchkameras ist geplant, aber das erforderliche Gerät wird erst Beginn der nächsten Woche zur Verfügung stehen.

Obwohl Jeremy sich geschworen hatte, nicht noch einmal einen Unfall mit zu erleben, ging ihm diese kurze Meldung nicht mehr aus dem Kopf. Wie lange konnte man dort oben ohne Wasser überleben? Und wie konnte es passieren, dass jemand mitten aus einer ganzen Schulklasse spurlos verschwand? Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. Wirklich nicht. Aber sehr wahrscheinlich würde er davon träumen. Ziemlich sicher sogar.

* * *

Als Chris erwachte, war sie völlig orientierungslos. Es herrschte pechschwarze Dunkelheit und eine undurchdringliche Stille um sie herum. Was war geschehen? Sie hatte keine Erinnerung daran, was ihr passiert war. Alles fühlte sich unwirklich und nebelhaft an. War sie verletzt? Irgendwo gestürzt? Aber warum war es so dunkel und still? Einen entsetzlicher Gedanke schoss ihr durch den Kopf: War sie blind? Erschrocken riss sie die Augen auf und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Ihre Uhr. Sie hatte Leuchtziffern. Aber sie konnte den rechten Arm nicht bewegen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass sie auf dem Arm lag. Allmählich kam die Orientierung wieder. Sie lag auf der rechten Seite, zusammengekrümmt auf etwas, dass sich wie lehmige, feuchte Erde anfühlte. War sie verletzt? Sie spürte keinen Schmerz, nur dieses merkwürdige, nebelhafte Kribbeln. Irgendwas war nicht in Ordnung. Ganz und gar nicht in Ordnung. Wo war sie und wie war sie hierher gekommen?

Langsam, ganz vorsichtig, versuchte sie sich zu bewegen. Der linke Arm schien in Ordnung zu sein, sie spürte, wie ihre Hand den Boden berührte, spürte ihre Schultern, ihr Gesicht und etwas Feuchtes, Klebriges an ihrer rechten Schläfe. Sie hatte noch nie Blut angefasst, aber ihr war klar, dass es nichts anderes sein konnte. An ihrem Kopf, direkt über dem Ohr, ertastete sie eine mächtige Beule. Auch ihre Haare klebten.

›Das dauert ewig, das herauszuwaschen‹, war ihr erster Gedanke. Der nächste galt ihrer Jacke. Sie war ganz neu, gestern extra für diese Wanderung gekauft und ziemlich teuer gewesen. Aus dem Leder ging Blut bestimmt gar nicht mehr heraus.

Das Kribbeln und das merkwürdige neblige Gefühl ließen langsam nach, aber immer noch konnte sie nichts sehen. Vorsichtig stützte sie sich mit der linken Hand auf und drehte ihren Körper zur Seite. Ihr rechter Arm war nicht verletzt, zumindest nicht schwer. Und als sie den Ärmel der Lederjacke nach oben schob, erkannte sie zu ihrer Erleichterung die schwach grün leuchtenden Ziffern der Uhr. Aber die Uhrzeit passte nicht. Sie war am Nachmittag mit der Klasse unterwegs gewesen und jetzt standen die Zeiger auf kurz vor Mitternacht. Oder Mittag?

Sie drehte sich weiter und versuchte sich aufzurichten, aber ein grausamer, stechender Schmerz in ihrem linken Bein ließ sie aufschreien. Sie sackte zurück. Nur nicht bewegen, bitte mach, dass es aufhört.

Es dauerte quälend lange, bis das Gefühl, kurz über ihrem Knöchel stecke ein Messer in ihrem Bein, zumindest ein wenig nachließ und einem bohrenden, pochenden Glühen wich. Die gnädige, neblige Betäubung, die sie bisher eingehüllt hatte, war mit einem Schlag verschwunden. Neben dem entsetzlichen Schmerz, bestimmt war der Knochen gebrochen, merkte sie das dumpfe Hämmern in ihrem Kopf und viele Schrammen und Prellungen überall an ihrem Körper. Und noch etwas bemerkte sie, aber es dauerte einen Moment, bis ihr das ins Bewusstsein drang.

Ihr Schrei hatte merkwürdig geklungen. Irgendwie unwirklich. Vorsichtig rief sie: »Hallo?«

Der Ton wurde vielfältig zurück geworfen, echote zwischen unsichtbaren Wänden hin und her und verklang in der Ferne. Sie begriff, dass sie sich in einer Höhle befand. In einer ziemlich großen und sehr dunklen Höhle.

Wo war der Eingang? Warum schien kein Licht hinein?

Wieder brauchte sie Zeit, bis sie sich an die Stellung der Uhrzeiger erinnerte. Es war wirklich Mitternacht. Hier konnte kein Licht hinein scheinen und sie musste ausharren, bis es Morgen wurde.

Aber wie war sie hier herein geraten? Sie versuchte sich zu erinnern, aber nach dem Moment, in dem sie Lilly gebeten hatte, auf sie zu warten, weil sie es nicht mehr aushielt und jetzt unbedingt hinter den Büschen verschwinden musste, fehlte ihr jede Erinnerung. Kompletter Blackout.

Das traf auch auf ihre momentane Umgebung zu. Obwohl, so ganz langsam glaubte sie einen fahlen Lichtschein erkennen zu können. Oder war es Einbildung? Es schien, als würden die Wände und der Boden der Höhle selbst leuchten. Konnte das sein?

Ein leises Geräusch ließ sie erstarren. Es hatte wie ein sanftes Knirschen geklungen oder fast wie ein Schritt. Bei diesem Gedanken spürte sie ein Frösteln. War sie nicht allein hier unten in der Finsternis?

»Hallo? Ist da jemand?« Sie verfluchte das Zittern in ihrer Stimme. Wieder ein Geräusch. Es hörte sich verdammt nach einem Schritt an. Und diesmal war es eindeutig näher als beim letzten Mal. Und bewegte sich im Dunkel der Höhle nicht etwas? Ein Schatten, groß und düster, gegen das fahle Leuchten, das aus dem Boden stieg?

Ihr brach trotz der Kälte der Schweiß aus.

»Hallo? Bitte, können Sie mir helfen? Ich glaube, ich habe mich verletzt.« Verdammt, warum musste man die Tränen in ihrer Stimme hören.

Die Schritte, und es waren eindeutig Schritte, kamen näher. Wer (oder was) immer dort war, antwortete ihr nicht. Und jetzt sah sie in der Dunkelheit zwei kleine Lichtpunkte, die verschwanden, wieder auftauchten und wieder verschwanden.

Augen. Dort war jemand (oder etwas) und sah sie an. Und es kam näher.

»Bitte, ich sehe Sie doch. Wer sind Sie?« Sie konnte ihre Tränen nicht mehr zurück halten. Wieder die beiden Punkte, jetzt nur wenige Meter vor ihr. In der Dunkelheit bewegte sich etwas. Für sie sah es riesenhaft und bedrohlich aus.

Und dann hörte sie eine Stimme, die mit einem Schlag ihre Angst wegwischte. Eine junge, männliche Stimme, aus der nichts als abgrundtiefe Verblüffung klang.

»Du kannst mich sehen?«

Nach der Angst kam die Wut und zwar schlagartig.

»Ja, verdammt, ich sehe dich. Ich höre dich. Kannst du mir jetzt endlich helfen?« Sie schrie die Worte heraus und das Echo hallte lange in der Höhle wider.

Wer immer es war, er kam noch näher und sie erkannte vor dem geisterhaften Licht in der Höhle jetzt die Konturen. Es war nichts riesenhaftes an ihm. Ein Junge, der Stimme nach. Vielleicht so alt wie sie. Was um alles in der Welt hatte er in dieser Höhle zu suchen? Die glitzernden Pünktchen seiner Augen waren jetzt dicht vor ihr. Er schien ihren Blick zu suchen und mutig schaute sie dahin, wo sie sein Gesicht vermutete. Einen Moment blieb er still. Dann sagte er ganz leise: »Du kannst mich wirklich sehen?«

Ihr fiel nichts Besseres ein, als den linken Arm zu heben und ihm schwungvoll gegen die Schulter zu boxen. Sie spürte Stoff und kräftige Muskeln, dann kippte er mit einem überraschten Japsen nach hinten.

»Ja, und spüren, du Blödmann. Merkst du es auch?« Ihr kam kurz der Gedanke, dass dies vielleicht nicht die geschickteste Art des Umgangs mit dem einzigen Menschen war, der ihr helfen konnte, aber ihre Wut war noch nicht verraucht.

Er hatte sich aufgerappelt und kam wieder näher. »Sorry, aber das gibt es doch gar nicht.« Er schien eher mit sich selbst zu sprechen. Dann schüttelte er den Kopf, zumindest sah das Funkeln der Lichtreflexe seiner Augen so aus. Als er jetzt sprach, klang seine Stimme ruhiger und beherrschter. Und freundlicher.

»Bitte entschuldige, das muss dir sehr merkwürdig vorkommen. Zumindest geht es mir so. Ich heiße Jeremy.« Und sie spürte eine Hand, die er ihr entgegenstreckte, als hätten sie sich gerade auf einer Party kennen gelernt. Vorsichtig ergriff sie die Hand. »Ich bin Chris«, antwortete sie. Ihre Wut verrauchte so schnell, wie sie gekommen war. »Und ich habe keine Ahnung, wie ich in diese Höhle gekommen bin. Was ist deine Geschichte?« Er hatte einen kräftigen, warmen Händedruck. War er Sportler? Seine Konturen, soweit sie die in der Dunkelheit erkennen konnte, sahen danach aus.

»Du bist auf einen Haufen altes, morsches Holz getreten und in diese verborgene Höhle gepurzelt«, antwortete er, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. »Meine Geschichte ist ein bisschen komplizierter. Tut mir leid, wenn ich dich gerade erschreckt habe, aber eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein.«

»Schön«, meinte sie. »Dann sind wir schon zwei. Mir geht es genauso.«

Er stand auf, ein dunkler Schatten vor geisterhaftem Leuchten. »Nein, ist nicht dasselbe. Normalerweise bin ich nicht wirklich da. Ich meine, niemand kann mich sehen und ich kann auch nichts anfassen oder so. Ich bin einfach nur ein Beobachter. Ich habe keine Ahnung, was hier los ist und warum du mich auf einmal sehen kannst.«

Ihre Freude, hier unten nicht alleine zu sein, wich lähmender Enttäuschung. Offenbar war dieser Junge nicht ganz richtig im Kopf. Ob er auch in die Höhle gefallen war? Nur nicht auf das Bein, sondern auf den Kopf? Sie wusste nicht, was sie auf die verrückten Äußerungen sagen sollte und schwieg.

»Sorry, das kannst du gar nicht verstehen. Ich versuch’s mal zu erklären.«

›Na da bin ich gespannt‹, dachte Chris, behielt dies aber für sich. Solange er dummes Zeug erzählte, kam er nicht auf irgendwelche anderen Gedanken.

»Weißt du«, fuhr der Junge, der sich als Jeremy vorgestellt hatte, fort, »ich mache das schon mein ganzes Leben. Als unbeteiligter Beobachter durch die Zeit reisen, meine ich. Von dir habe ich in der Zeitung gelesen, ich glaube, es war übermorgen. Ja, am Sonntag.«

Na klasse. Nicht nur ein bisschen, sondern völlig plemplem. Aber sie hörte weiter zu, gespannt, wohin sich diese verrückte Geschichte entwickeln würde.

»Mit Zeitreisen ist das so eine Sache«, erzählte er. »Wahrscheinlich weißt du, dass sie eigentlich physikalisch unmöglich sind. Wegen des Großvater-Paradoxons und so. Hast du sicher mal von gehört.«

Nein, hatte sie nicht. Scince Fiction interessierte sie wirklich nicht, schon gar nicht in der desolaten Situation, in der sie sich gerade befand. Aber sie schwieg und ließ ihn weiterreden.

»Kurz gesagt kann niemand in der Zeit zurück reisen, weil die Zeit linear verläuft. Wer in die Vergangenheit geht und dort physikalisch vorhanden ist, also dort einen Raum einnimmt, der ursprünglich leer war, verändert die Vergangenheit. Und jede Veränderung in der Vergangenheit würde sich auf die Zukunft auswirken. Dazu reichen ganz winzige Veränderungen, die gewaltige Auswirkungen haben können. Das ist der Schmetterlingseffekt. Den kennst du bestimmt auch.«

Tatsächlich hatte sie davon in einer recht langweiligen Stunde über irgendwelche mathematischen Funktionen gehört. Frakturen? Hieß das so? Jedenfalls war es irgendwas zerbrochenes. Aber hübsche Bilder hatte der Lehrer gezeigt und etwas von dem Schmetterlingseffekt erzählt.

»Ja, den kenne ich«, meinte sie. »Aber kommt der nicht nur in Brasilien vor?«

Wenn sie etwas Dummes gesagt hatte, ließ sich der Junge nichts anmerken. »Zumindest spielt er in dem berühmten Beispiel von Edward Lorenz dort eine Rolle. Einfach gesagt kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Mexiko auslösen.«

»Das muss aber ein gewaltiger Schmetterling sein.« Sie verstand nicht ganz, was exotische Tiere in Brasilien mit seiner merkwürdigen Geschichte über Zeitreisen zu tun hatten.

»Nein, es reicht ein ganz kleiner. Das ist gerade das Geheimnis daran. Winzig kleine Ursachen können mit der Zeit ganz gewaltige Wirkungen haben. Sogar der Flügelschlag eines Schmetterlings kann das Schicksal ganzer Landstriche beeinflussen. Und genau deswegen sind Zeitreisen schlicht unmöglich. Wer auch immer in die Vergangenheit reist, würde dort durch seine bloße Anwesenheit die Zeitlinie ändern und es gäbe kein Zurück mehr, da die Zukunft, aus der er kommt, noch nicht geschrieben ist und ganz anders aussehen kann.«

Es dauerte eine Weile, aber Chris war nicht dumm und verstand allmählich den Zusammenhang. »Und deswegen bist du bei deinen Zeitreisen unsichtbar und eigentlich gar nicht da. Richtig?«

Jeremy wirkte erfreut: »Genau so ist es. Jeder Beobachter verändert das, was er beobachtet. Ich kann nur deshalb in meinen Träumen in andere Zeiten eintauchen, weil ich dort ein unbeteiligter Beobachter bin. Nur sehen, nichts anfassen.«

»Also wie ein Geist. Kannst du dann auch durch Türen und Wände gehen oder fliegen?«

Sie wusste nicht, wie viel sie von der verrückten Geschichte glauben sollte. Aber interessant war es auf jeden Fall. Und er machte abgesehen von dem, was er sagte, keinen besonders gefährlichen oder geisteskranken Eindruck.

»Nein, leider nicht«, antwortete er. »Wäre bestimmt manchmal nützlich. Aber Wände sind Wände, genau wie der Boden, auf dem ich stehe, nichts anderes als ein Boden ist. Ich kann nichts wirklich berühren. Wenn ich vor einer Wand stehe oder gegen eine Tür drücke, ist es ein ganz sanfter, aber fester Widerstand. So als würde das Universum mich leicht anstupsen und mir verbieten, hier weiter zu gehen.«

Seltsamer Weise war das der erste Moment, in dem sie anfing, ihm zu glauben. Für eine verrückte Fantasiegeschichte war diese Beschreibung einfach zu unspektakulär. Wer sich so etwas ausdachte, hätte sich bestimmt etwas Besseres einfallen lassen.

»Aber jetzt bist du hier«, meinte sie nachdenklich. »Du kannst mich sehen, mit mir reden und…« ›mich berühren‹, hätte sie beinahe gesagt, »…hier alles anfassen.«

Die beiden Lichtreflexe seiner Augen tauchten wieder vor ihr auf und bewegten sich nicht. Er sah sie an. »Ja, und ich habe keine Ahnung, wie das möglich ist. Es fing an wie jeder Traum, in dem ich durch die Zeit reise. Niemand aus deiner Klasse oder dein Lehrer hat mich gesehen und niemand…«

»Bitte«, unterbrach sie ihn, »Ich verstehe das auch nicht, aber du bist jetzt hier.« Sie hatte ihn schon zweimal gebeten, ohne dass er reagiert hatte. »Ich habe mich beim Sturz in die Höhle verletzt. Ich kann nicht aufstehen. Hilfst du mir?«

Er stand einen Moment still, nur die Lichtpünktchen blieben unverwandt auf sie gerichtet. ›Er ist doch verrückt‹, dache Chris. ›Er wird mir nicht helfen.‹

Dann kam er näher und seine Stimme klang anders. Weicher und entschieden weniger nach einem enthusiastischen Aushilfslehrer. »Ja, natürlich. Entschuldige bitte, ich war nur selbst so…. Egal, ich helfe dir. Kannst du mir sagen, was dir passiert ist?«

Sie hätte heulen können vor Erleichterung. »Mein linkes Bein tut weh und ich habe eine Beule am Kopf, die geblutet hat. Ich glaube, mein Bein ist gebrochen.«

Er kam noch näher und sie spürte seine Hand, die ihre Schulter berührte und dann sanft über ihre Wange zu den verfilzten und klebrigen Haaren über ihrem Ohr glitt. »Ja, ich habe die Beule gefunden. Ziemlich heftig, aber ich spüre kein frisches Blut mehr. Hat offenbar aufgehört. Ist dir schwindlig?«

Sie musste einen Moment überlegen. »Ich weiß nicht genau. Glaube nicht. Aber ich kann mich nicht aufrichten, um es herauszubekommen. Mein Bein…«

Er sagte nichts, aber sie spürte seine Hand, die über ihr Gesicht strich, ihre Schulter und ihren Arm entlang. Sie sah nichts als einen dunklen Schatten vor dem geisterhaften Leuchten, dass aus der Tiefe der Höhle zu kommen schien.

»Weißt du, was das für ein komisches Licht hier ist? Irgendwie ist es nicht ganz dunkel.«

»Pilze«, antwortete er sofort.

»Hier muss Holz oder ein anderes Pflanzenzeug hereingefallen sein«, erklärte er, während seine Hand weiter über ihren Körper tastete. »Es gibt Pilze, die auf altem Holz wachsen und dabei grünlich oder bläulich leuchten.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte sie. Sie wusste nicht, ob es ärgerlich, belustigt oder bewundernd klingen sollte. Vielleicht alles gleichzeitig.

»Ich hab ’ne Menge Bücher gelesen«, antwortete er. »Seit ich denken kann, habe ich diese merkwürdigen Zeitreise-Träume und ich wollte herausbekommen, was sie bedeuten und wie sie funktionieren. Also habe ich mir in der Bibliothek alles über Physik und Zeitmaschinen und so ein Zeug ausgeliehen. Zumindest hauptsächlich Physik. Aber ich glaube, ein bisschen Bio ist auch hängen geblieben.«

Wieder fühlte sie, dass sie ihm mehr und mehr glaubte. Es mochte viele Verrückte geben, aber bestimmt gab es nur sehr wenige, die sich freiwillig mit so einem Kram beschäftigten.

Plötzlich hielt er inne, gerade als er ihre Hand berührte. Einen Moment dachte sie, er wolle nach ihr greifen, aber seine Fingerspitzen verharrten einfach unbeweglich auf ihrem Handrücken.

»Ich glaube«, meinte er leise, wie zu sich selbst, »Ich glaube, ich habe eine Idee, wieso ich hier bin.« Die Lichtreflexe in seinen Augen blitzten, als er den Kopf drehte. »Hast du schon einmal von Schrödingers Katze gehört?«

Die Frage war so überraschend, dass sie eine Sekunde brauchte, um sie zu verstehen. »Katze? Nein, wir haben keine Katze. Ich reagiere allergisch auf die Viecher und meine Mutter wollte noch nie ein Haustier.«

Sie fühlte seine Fingerspitzen auf ihrer Hand zucken, als er herzlich zu lachen begann. Obwohl ihr klar war, dass er gerade über ihre Worte lachte, hörte es sich gut an. Es war das erste Lachen, seit sie in diese unmögliche, bizarre Situation geraten war und sie mochte es.