Schuld und Sühne - Fjodor Dostojewski - E-Book

Schuld und Sühne E-Book

Fjodor Dostojewski

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Beschreibung

»Der ganze psychologische Prozess eines Verbrechens.« Fjodor Dostojewski  

Der Student Rodion Raskolnikow begeht den perfekten Mord. Doch dann scheitert er an seinen Schuldgefühlen. Raskolnikow ist der große Neurotiker des 19. Jahrhunderts. Der Roman stand Woody Allens »Match Point« und Alfred Hitchcocks »Cocktail für eine Leiche« Pate.  

»Bei Dostojewki geht es immer um das große Ganze.« Wladimir Kaminer

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Seitenzahl: 1097

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Über das Buch

Der psychologische Prozess eines Verbrechens.

Der Student Radion Raskolnikow begeht den perfekten Mord. Doch dann scheitert er an seinen Schuldgefühlen. Raskolnikow ist der große Neurotiker des 19. Jahrhunderts. Der Roman stand Woody Allens »Match Point« und Alfred Hitchcocks »Cocktail für eine Leiche« Pate.

»Bei Dostojewski geht es immer um das große Ganze.« Wladimir Kaminer

Über Fjodor Dostojewski

Fjodor Dostojewski (1821–1881) wurde in Moskau als Sohn eines Militärarztes und einer Kaufmannstochter geboren. Er studierte an der Petersburger Ingenieurschule und widmete sich seit 1845 ganz dem Schreiben. 1849 wurde er als Mitglied eines frühsozialistischen Zirkels verhaftet und zum Tode verurteilt. Unmittelbar vor der Erschießung wandelte man das Urteil in vier Jahre Zwangsarbeit mit anschließendem Militärdienst als Gemeiner in Sibirien um. 1859 kehrte Dostojewski nach Petersburg zurück, wo er sich als Schriftsteller und verstärkt auch als Publizist neu positionierte.

Wichtigste Werke: »Arme Leute« (1845), »Der Doppelgänger« (1846), »Erniedrigte und Beleidigte« (1861), »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« (1862), »Schuld und Sühne« (1866), »Der Spieler« (1866), »Der Idiot« (1868), »Die Dämonen« (1872), »Der Jüngling« (1875), »Die Brüder Karamasow« (1880).

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Fjodor Dostojewski

Schuld und Sühne

Roman in sechs Teilen mit einem Epilog

Aus dem Russischen von Margit und Rolf Bräuer

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Newsletter

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Vierter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Fünfter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Sechster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Epilog

Kapitel 1

Kapitel 2

Anhang

Zu diesem Band

Anmerkungen

Impressum

Erster Teil

1

Anfang Juli, bei brütender Hitze, trat gegen Abend ein junger Mann aus seiner Kammer, die er in der S.-Gasse zur Untermiete bewohnte, hinaus auf die Straße und begab sich langsam, wie unentschlossen, in Richtung K.-Brücke.

Eine Begegnung mit seiner Wirtin auf der Treppe hatte er glücklich vermeiden können. Seine Kammer lag unmittelbar unter dem Dach eines hohen, fünfgeschossigen Hauses und glich eher einem Schrank als einem Zimmer. Seine Wirtin, die ihm diese Kammer inklusive Beköstigung und Bedienung vermietet hatte, wohnte eine Treppe tiefer, in einer separaten Wohnung, und jedesmal, wenn er aus dem Haus ging, mußte er notgedrungen an ihrer Küche vorbei, deren Tür zum Treppenhaus fast immer sperrangelweit offenstand. Und jedesmal, wenn er vorbeiging, durchzuckte ihn schmerzhaft ein Gefühl der Feigheit, deretwegen er sich schämte und die Stirn runzelte. Er hatte nämlich einen Haufen Schulden bei der Wirtin und fürchtete sich, ihr zu begegnen.

Nicht daß er derart feige und verängstigt gewesen wäre, ganz im Gegenteil; aber seit einiger Zeit war er in einem gereizten und erregten Zustand, der an Hypochondrie erinnerte. Er hatte sich so in sich selbst versenkt und von allen abgekapselt, daß er jede Begegnung fürchtete, nicht nur die mit seiner Wirtin. Die Armut hatte ihn erdrückt; aber selbst seine bedrängte Lage hatte er in letzter Zeit nicht mehr als Last empfunden. Er hatte völlig aufgehört, sich um seinen Lebensunterhalt zu kümmern, und verspürte auch keine Lust dazu. Im Grunde fürchtete er sich überhaupt vor keiner Wirtin, ganz gleich, was sie gegen ihn im Schilde führen mochte. Aber auf der Treppe stehenzubleiben, sich allen möglichen Unsinn anzuhören über den lästigen Alltagskram, der ihn ganz und gar nicht interessierte, all die Mahnungen wegen der Bezahlung, die Drohungen und Klagen, und sich herauswinden, entschuldigen und lügen zu müssen – nein, dann schon lieber wie eine Katze die Treppe hinunterschleichen und vorbeihuschen, damit ihn niemand sah.

Als er diesmal auf die Straße hinaustrat, wunderte er sich allerdings, daß er vor einer Begegnung mit seiner Gläubigerin Angst gehabt hatte.

Da nehme ich mir so eine Sache vor und fürchte mich vor solchen Lappalien! dachte er mit einem sonderbaren Lächeln. Hm … ja … alles liegt in der Hand des Menschen, und er läßt es sich vor der Nase wegschnappen – einzig und allein aus Feigheit … Eine typische Erscheinung … Interessant, was die Menschen wohl am meisten fürchten? Am meisten fürchten sie, einen neuen Schritt zu machen, ein neues, eigenes Wort zu sprechen. Aber ich rede zuviel. Daher tue ich auch nichts, weil ich rede. Vielleicht ist es aber auch umgekehrt: Ich rede, weil ich nichts tue. Das habe ich mir im letzten Monat so angewöhnt, herumzureden, während ich tagelang in meiner Ecke liege und über Gott und die Welt nachdenke. Warum gehe ich jetzt eigentlich los? Bin ich denn überhaupt dazu fähig? Habe ich das wirklich ernsthaft vor? Ganz und gar nicht. Das ist doch nur ein Spiel meiner Phantasie; ja, Spielereien sind das, nichts als Spielereien.

Auf der Straße war eine schreckliche Hitze; dazu eine Schwüle und ein Gedränge, überall Kalk, Gerüste, Ziegel, Staub und jener besondere sommerliche Mief, den jeder Petersburger, der sich nicht ein Sommerhaus auf dem Lande mieten kann, nur zu gut kennt; das alles zerrte mit einemmal an den ohnehin gereizten Nerven des jungen Mannes. Der unerträgliche Gestank der in diesem Stadtteil besonders zahlreichen Kneipen und die Betrunkenen, die einem auf Schritt und Tritt begegneten, obwohl es mitten in der Arbeitszeit war, rundeten das abstoßende und traurige Bild ab. Ein Ausdruck tiefsten Ekels zuckte über das feingeschnittene Gesicht des jungen Mannes. Er sah übrigens bemerkenswert gut aus, hatte schöne dunkle Augen, dunkelblondes Haar, war mehr als mittelgroß, schlank und wohlgebaut. Doch bald versank er in eine tiefe Nachdenklichkeit und schritt, eher schon wie geistesabwesend, dahin, ohne seine Umgebung wahrzunehmen, ja ohne sie wahrnehmen zu wollen. Nur hin und wieder brummte er etwas vor sich hin, gemäß seiner Vorliebe für Selbstgespräche, die er sich soeben eingestanden hatte. Im gleichen Augenblick wurde ihm bewußt, daß sich seine Gedanken manchmal verwirrten und daß er sehr erschöpft war: Schon den zweiten Tag hatte er fast nichts gegessen.

Er war so schlecht angezogen, daß ein anderer, selbst wenn er daran gewöhnt gewesen wäre, sich geschämt hätte, tagsüber in solchen Lumpen auf die Straße zu gehen. Freilich konnte man in diesem Stadtviertel durch seinen Aufzug wohl kaum jemanden in Staunen versetzen. Durch die Nähe des Heumarkts, die riesige Anzahl gewisser Häuser und die vorwiegend aus Fabrikarbeitern und Handwerkern bestehende Bevölkerung, die sich in diesen Straßen und Gassen im Stadtkern Petersburgs ballte, war das Gesamtbild manchmal von derartigen Subjekten bunt gesprenkelt, daß es sonderbar gewesen wäre, sich beim Anblick einer solchen Gestalt zu wundern. Aber in der Seele des jungen Mannes hatte sich bereits so viel bitterböse Verachtung angesammelt, daß er, ungeachtet all seiner mitunter sehr jugendlichen Empfindlichkeit, am allerwenigsten daran dachte, sich seiner Lumpen auf der Straße zu schämen. Etwas anderes war es, wenn er einem Bekannten oder früheren Kommilitonen begegnete – was er überhaupt nicht mochte … Als jedoch ein Betrunkener, den man gerade Gott weiß warum und wohin in einem riesigen Fuhrwerk, mit einem riesigen Lastgaul davor, durch die Straße kutschierte, ihm im Vorbeifahren zurief: »He, du mit deinem deutschen Deckel!« und aus vollem Halse grölend mit dem Finger auf ihn zeigte, blieb der junge Mann plötzlich stehen und faßte krampfhaft nach seiner Kopfbedeckung. Es war ein hoher, runder Hut von Zimmermann, aber schon völlig schäbig und verschossen, voller Löcher und Flecken, ohne Krempe und auf der einen Seite gräßlich eingebeult. Doch nicht Scham, sondern ein ganz anderes Gefühl, fast Entsetzen, packte ihn.

»Hab ich’s doch gewußt«, brummte er fassungslos, »hab ich mir’s doch gedacht! Das ist das Allerschlimmste! Irgend so eine Dämlichkeit, die banalste Kleinigkeit kann das ganze Vorhaben zum Scheitern bringen! Wie dieser zu auffällige Hut … Er ist lächerlich und fällt daher auf … Zu meinen schäbigen Lumpen brauche ich unbedingt eine Mütze, und sei’s irgendein alter Deckel, aber nicht dieses Ungetüm von Hut. Kein Mensch trägt so was, auf einen Kilometer weit bemerkt man ihn und erinnert sich daran … das ist die Hauptsache, man erinnert sich später daran, und schon hat man einen Beweis. Man muß möglichst unauffällig sein … Die Kleinigkeiten, die Kleinigkeiten sind am wichtigsten! Sie sind es, die immer alles verderben.«

Er mußte nicht weit gehen; er wußte sogar, wieviel Schritte es von seiner Haustür waren: genau siebenhundertdreißig. Er hatte sie einmal gezählt, als er völlig in seinen Träumen befangen war. Damals wollte er diesen Träumen selbst noch nicht glauben und ärgerte sich nur über ihre abscheuliche, aber aufreizende Dreistigkeit. Jetzt, einen Monat später, sah er sie schon anders und hatte sich – ungeachtet aller höhnischen Selbstgespräche über seine eigene Ohnmacht und Unentschlossenheit – sogar unwillkürlich daran gewöhnt, den »abscheulichen« Traum bereits als reales Vorhaben zu betrachten, obwohl er sich selbst immer noch nicht glaubte. Er war jetzt sogar unterwegs, um einen Versuch seines Vorhabens zu machen, und mit jedem Schritt wurde seine Aufregung immer größer.

Mit stockendem Herzen und nervösem Zittern näherte er sich dem riesengroßen Gebäude, das mit einer Seite an den Kanal, mit der anderen an die … – Straße grenzte. Es bestand aus lauter kleinen Quartieren, deren Bewohner allen möglichen Gewerben nachgingen – Schneider, Schlosser, Köchinnen, verschiedene Deutsche, Mädchen, die sich selbst aushielten, kleine Beamte und ähnliches Volk. Durch die beiden Haustore und über die beiden Höfe kamen und gingen ununterbrochen Menschen. Drei oder vier Hausknechte taten hier Dienst. Der junge Mann war höchst zufrieden, daß er keinem von ihnen begegnete, und schlüpfte unbemerkt vom Haustor gleich rechts zur Treppe. Das Treppenhaus war finster und schmal, eine richtige »Hintertreppe«, aber er kannte sich bereits aus und hatte die Örtlichkeit genau studiert, und sie gefiel ihm: In solch einer Finsternis war selbst ein neugieriger Blick ungefährlich. Wenn ich jetzt schon solche Angst habe, was würde erst sein, wenn es wirklich zur Ausführung der Tat kommen sollte, dachte er unwillkürlich und stieg zum vierten Geschoß hinauf. Hier versperrten ihm ausgediente Soldaten den Weg, die Möbel aus einer Wohnung hinaustrugen. Er wußte bereits, daß dort ein deutscher Beamter mit seiner Familie lebte. Offensichtlich zieht der Deutsche gerade aus, und in dieser Etage, in diesem Aufgang und auf diesem Treppenabsatz ist für einige Zeit jetzt nur das Quartier der Alten bewohnt. Das ist gut … für alle Fälle … dachte er und läutete an der Wohnungstür der Alten. Die Glocke rasselte schwach, als sei sie aus Blech und nicht aus Messing. In all den winzigen Wohnungen dieser Häuser sind fast überall solche Türglocken. Er hatte ihren Klang schon vergessen, und nun schien der besondere Ton ihn an etwas zu erinnern und es ihm deutlich vor Augen zu führen … Er zuckte zusammen, seine Nerven waren für diesmal schon allzu sehr strapaziert. Kurz darauf wurde die Tür einen winzigen Spaltbreit geöffnet: Durch diesen Spalt musterte die Wohnungsinhaberin den Ankömmling mit offenkundigem Argwohn, und man sah nur ihre winzigen Augen aus der Finsternis funkeln. Als sie aber auf dem Treppenabsatz die vielen Leute sah, faßte sie sich ein Herz und machte die Tür ganz auf. Der junge Mann trat über die Schwelle in den dunklen Flur, von dem durch eine Trennwand eine winzige Küche abgeteilt war. Die Alte stand stumm vor ihm und schaute ihn fragend an. Es war ein winziges, verhutzeltes Weiblein von etwa sechzig Jahren, mit stechenden, bösen kleinen Augen, einer kleinen spitzen Nase und bloßem Kopf. Die weißblonden, kaum ergrauten Haare waren dick mit Fett eingeschmiert. Um ihren dünnen und langen Hals, der einem Hühnerbein ähnelte, war ein Flanellfetzen geschlungen, und um ihre Schultern schlotterte, trotz der Hitze, eine völlig abgetragene und gelb gewordene Pelzjacke. Die Alte hustete und krächzte ununterbrochen. Der junge Mann mußte sie wohl irgendwie besonders angesehen haben, denn in ihren Augen blitzte plötzlich wieder der frühere Argwohn auf.

»Raskolnikow, Student, ich war schon vor einem Monat bei Ihnen«, murmelte der junge Mann hastig mit einer halben Verbeugung, eingedenk dessen, daß er möglichst liebenswürdig sein mußte.

»Ich weiß, mein Lieber, ich weiß sehr wohl, daß Sie hier waren«, sagte die Alte klar und deutlich, ohne den fragenden Blick von seinem Gesicht zu wenden.

»Ja, also … ich komme wegen der gleichen Sache …«, fuhr Raskolnikow fort, etwas verwirrt und erstaunt über ihren Argwohn.

Vielleicht ist sie immer so, und ich habe es letzthin nur nicht bemerkt, dachte er mit einem unangenehmen Gefühl.

Die Alte schwieg ein Weilchen, als überlegte sie, dann ging sie zur Seite, zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer und sagte, während sie dem Gast den Vortritt ließ: »Treten Sie ein, mein Lieber.«

Das kleine Zimmer, das der junge Mann betrat, mit gelben Tapeten, Geranientöpfen und Musselingardinen an den Fenstern, war in diesem Augenblick von der untergehenden Sonne hell erleuchtet. Auch dann wird die Sonne sicherlich so scheinen! fuhr es Raskolnikow unwillkürlich durch den Kopf, und rasch überflog er alle Gegenstände im Zimmer, um sich ihren Standort möglichst einzuprägen und zu merken. Aber es gab hier nichts Besonderes. Das Mobiliar, durchweg sehr alt und aus gelbem Holz, bestand aus einem Sofa mit einer riesigen, geschwungenen hölzernen Rückenlehne, einem ovalen Tisch davor, einer Waschkommode mit einem kleinen Spiegel zwischen den Fenstern, Stühlen an den Wänden und zwei, drei billigen Bildern in gelben Rahmen, die deutsche Fräulein mit Vögeln in den Händen zeigten – das war alles. In der Ecke brannte vor einem kleinen Heiligenbild das Ewige Licht. Alles war sehr sauber: Sowohl die Möbel als auch die Fußböden waren auf Hochglanz poliert. Lisawetas Werk, dachte der junge Mann. Kein Stäubchen war in der ganzen Wohnung zu finden. So eine Reinlichkeit pflegt bei bösartigen alten Witwen zu herrschen, fuhr Raskolnikow in seinen Gedanken fort und schielte neugierig nach dem Kattunvorhang an der Tür in das zweite winzige Zimmerchen, in dem das Bett der Alten und eine Kommode standen und wohin er noch keinen Blick hatte werfen können. Die ganze Wohnung bestand aus diesen beiden Zimmern.

»Was beliebt?« fragte die Alte barsch, während sie ins Zimmer trat und sich wie zuvor genau vor ihn hinstellte, um ihm direkt in die Augen zu blicken.

»Ich habe ein Pfand gebracht, hier!« Und er zog eine alte, flache silberne Uhr aus der Tasche. Auf der Rückseite war ein Globus eingraviert. Die Uhrkette war aus Stahl.

»Dabei ist doch das frühere Pfand schon überfällig. Vorgestern ist die Monatsfrist abgelaufen.«

»Ich bringe Ihnen die Zinsen für einen weiteren Monat; gedulden Sie sich.«

»Das hängt von meinem guten Willen ab, mein Lieber, ob ich mich noch gedulde oder Ihr Pfand jetzt verkaufe.«

»Was geben Sie mir für die Uhr, Aljona Iwanowna?«

»Lauter wertlosen Kram bringen Sie mir da, mein Lieber. Für den Ring habe ich Ihnen letztes Mal zwei Scheinchen gegeben, dabei kann man so was neu beim Juwelier schon für anderthalb Rubel kaufen.«

»Geben Sie mir vier Rubel, ich löse sie bestimmt aus, sie ist von meinem Vater. Ich bekomme demnächst Geld.«

»Anderthalb Rubel und die Zinsen vorab, wenn es Ihnen recht ist.«

»Anderthalb Rubel?!« rief der junge Mann.

»Ganz wie Sie wünschen.« Damit gab ihm die Alte die Uhr zurück. Der junge Mann nahm sie und war so erbost, daß er schon gehen wollte; aber gleich darauf besann er sich, da ihm einfiel, daß er sonst nirgends hingehen konnte und daß er ja noch aus einem anderen Grund hier war.

»Also geben Sie her!« sagte er grob.

Die Alte holte die Schlüssel aus der Tasche und ging in das andere Zimmer hinter den Vorhang. Der junge Mann, der allein mitten im Wohnzimmer zurückblieb, lauschte gespannt und überlegte. Er hörte, wie sie die Kommode aufschloß. Das oberste Schubfach offensichtlich, überlegte er. Die Schlüssel hat sie also in der rechten Tasche … Alle zusammen, an einem Stahlring … Und einer der Schlüssel ist größer als die anderen, dreimal so groß, mit einem gezackten Bart, der ist bestimmt nicht von der Kommode … da muß es noch eine Schatulle geben, oder eine Truhe … Das ist ja interessant. Truhen pflegen solche Schlüssel zu haben … Wie gemein das doch alles ist …

Die Alte kam zurück.

»Also, mein Lieber: Wenn wir pro Rubel zehn Kopeken im Monat berechnen, so bekomme ich von Ihnen für anderthalb Rubel fünfzehn Kopeken, für einen Monat im voraus. Und für die beiden Rubel von neulich schulden Sie mir dementsprechend noch zwanzig Kopeken. Alles in allem also fünfunddreißig Kopeken. Für Ihre Uhr gebe ich Ihnen jetzt einen Rubel fünfzehn. Hier ist das Geld.«

»Was? Jetzt nur noch einen Rubel fünfzehn?«

»So ist es.«

Der junge Mann widersprach nicht und nahm das Geld. Er schaute die Alte an und hatte es nicht eilig zu gehen, so als wollte er noch etwas sagen oder tun, wüßte aber selbst nicht, was eigentlich …

»Vielleicht bringe ich Ihnen in den nächsten Tagen noch ein Pfand, Aljona Iwanowna, ein silbernes … sehr schönes … Zigarettenetui … Sobald es mir ein Freund zurückgibt …« Verwirrt hielt er inne.

»Darüber sprechen wir dann, mein Lieber.«

»Leben Sie wohl … Sitzen Sie die ganze Zeit allein zu Hause? Ist Ihre Schwester denn nicht da?« fragte er so harmlos wie möglich, während er in den Flur hinausging.

»Was wollen Sie denn von meiner Schwester, mein Lieber?«

»Eigentlich gar nichts. Ich habe nur so gefragt. Und Sie sind gleich … Leben Sie wohl, Aljona Iwanowna!«

Raskolnikow ging völlig verwirrt. Diese Verwirrung wurde immer größer. Auf der Treppe blieb er sogar ein paarmal stehen, wie erschlagen von etwas. Und auf der Straße rief er schließlich aus: »Ach, mein Gott, wie abscheulich ist das alles! Und ich sollte, ich wollte … nein, das ist Unsinn, völliger Unsinn!« fügte er entschlossen hinzu. »Wie konnte mir nur so etwas Grauenvolles in den Sinn kommen? Zu welchem Schmutz mein Herz doch fähig ist! Ja, das ist es: schmutzig, niederträchtig und widerlich, so widerlich! … Und ich, ich habe einen ganzen Monat lang …«

Weder durch Worte noch durch Ausrufe konnte er seiner Erregung Herr werden. Das Gefühl unendlichen Ekels, das sein Herz schon auf dem Weg zu der Alten bedrückte und Übelkeit verursachte, hatte jetzt solche Ausmaße angenommen und war ihm so klar und deutlich geworden, daß er nicht wußte, wohin mit seinem Jammer. Wie ein Betrunkener ging er den Bürgersteig entlang, ohne die Passanten zu bemerken, rempelte sie an und kam erst in der nächsten Straße zur Besinnung. Er blickte um sich und sah, daß er neben einer Bierstube stand, zu der ein paar Stufen hinabführten, ins Kellergeschoß. Aus der Tür traten in diesem Augenblick, einander stützend und schimpfend, zwei Betrunkene und torkelten hinauf auf die Straße. Ohne lange zu überlegen, stieg Raskolnikow die Stufen hinunter. Noch nie hatte er eine Kneipe betreten, aber jetzt drehte sich ihm der Kopf, und außerdem quälte ihn brennender Durst. Er hatte Lust auf ein kühles Bier, um so mehr als er seine plötzliche Schwäche darauf zurückführte, daß er hungrig war. Er setzte sich in eine dunkle und schmutzige Ecke, an ein klebriges Tischchen, bestellte Bier und trank das erste Glas gierig aus. Augenblicklich wurde ihm leichter ums Herz, und er konnte wieder klar denken. Das ist ja alles Unsinn, sagte er sich hoffnungsvoll, es gibt überhaupt keinen Grund zur Aufregung. Physische Schwäche, weiter nichts. Ein einziges Glas Bier, ein Kanten Brot, und siehe da, im Handumdrehen ist der Verstand gekräftigt, das Denken klar, die Absichten fest. Pfui, wie erbärmlich das alles ist! Aber obwohl er dabei verächtlich ausspuckte, blickte er bereits fröhlich drein, als hätte er sich plötzlich von einer schrecklichen Bürde befreit, und ließ die Blicke freundlich über die Anwesenden schweifen. Aber selbst in diesem Augenblick hatte er das dumpfe Gefühl, daß dieser ganze Stimmungswandel zum Besseren ebenfalls krankhaft war.

In der Kneipe waren zu der Zeit nur noch wenige Leute. Außer den beiden Betrunkenen, denen er auf der Treppe begegnet war, hatte gleich darauf ein ganzer Trupp, fünf Mann mit einer Ziehharmonika und ein Frauenzimmer, das Lokal verlassen. Nach ihnen wurde es still und leer. Zurückgeblieben waren: ein leicht Angeschwipster, der hinter seinem Bier saß und wie ein Kleinbürger aussah; und sein stark angetrunkener Kumpan, groß, dick, in einem kurzen Kaftan und mit einem grauen Bart, der auf der Bank vor sich hin döste, dann plötzlich wie im Halbschlaf mit den Fingern schnalzte, die Arme ausbreitete und mit dem Oberkörper wippte, ohne von der Bank aufzustehen, wobei er irgendwelchen Unsinn sang und sich krampfhaft an den Text zu erinnern versuchte:

»Hab mein Weib verwöhnt ein Jahr,

Zärtlich und verliebt ich war …«

Oder er wachte plötzlich auf und sang:

»Gehe heute übern Platz,

Und da steht mein alter Schatz.«

Doch keiner wollte an seinem Glück teilhaben; sein schweigsamer Kumpan verhielt sich allen diesen Ausbrüchen gegenüber argwöhnisch und sogar feindselig. Noch ein dritter Mann war da, dem Aussehen nach ein verabschiedeter Beamter. Er saß abgesondert vor seiner Flasche, nahm hin und wieder einen Schluck aus seinem Glas und sah sich um. Er schien ebenfalls erregt zu sein.

2

Raskolnikow war an die Gesellschaft vieler Menschen nicht gewöhnt und floh sie, wie schon gesagt, vor allem in letzter Zeit. Jetzt aber zog es ihn plötzlich zu ihnen. Etwas Neues ging in ihm vor, und zugleich damit verspürte er einen Drang nach Menschen. Er war von diesem ganzen Monat konzentrierter Qual und dumpfer Erregung so erschöpft, daß er wenigstens für einen kurzen Augenblick in einer anderen Welt, wie auch immer sie sein mochte, aufatmen wollte, und so blieb er denn, trotz all des Schmutzes ringsum, mit Vergnügen in der Kneipe sitzen.

Der Wirt hielt sich in einem anderen Raum auf, kam aber häufig die paar Stufen herab in die Gaststube, wobei als erstes seine stutzerhaften Juchtenstiefel mit den breiten roten Stulpen sichtbar wurden. Er trug einen langen Mantel und eine schrecklich speckige schwarze Atlasweste, hatte keinen Schlips umgebunden, sein ganzes Gesicht aber glänzte wie ein eingeöltes Eisenschloß. Hinter der Theke stand ein Bursche von etwa vierzehn Jahren, und ein noch jüngerer brachte den Gästen, was sie bestellten. Es gab kleingeschnittene Gurken, geröstetes Schwarzbrot und Fischhäppchen; alles roch sehr schlecht. Es herrschte eine fast unerträgliche Schwüle, und außerdem war alles so vom Alkoholgeruch geschwängert, daß man schon von dieser Luft allein in fünf Minuten betrunken werden konnte, wie es schien.

Es gibt Begegnungen, sogar mit völlig fremden Menschen, für die man sich auf den ersten Blick interessiert, unversehens, urplötzlich, noch ehe man ein Wort gewechselt hat. Einen solchen Eindruck machte auf Raskolnikow eben jener Gast, der abseits saß und einem verabschiedeten Beamten glich. Der junge Mann erinnerte sich später einige Male dieses ersten Eindrucks und schrieb ihn sogar einer Vorahnung zu. Er schaute den Beamten unverwandt an, natürlich auch deswegen, weil dieser ihn ebenfalls unablässig anstarrte und offensichtlich liebend gern ein Gespräch mit ihm anknüpfen wollte. Die übrigen Anwesenden, einschließlich des Wirts, betrachtete der Beamte mit gewohntem, sogar gelangweiltem Blick, ja mit einem Anflug hochmütiger Geringschätzung, wie Menschen niederer Herkunft und Bildung, mit denen es nichts zu reden gab. Es war ein Mann über fünfzig, mittelgroß und kräftig, graumeliert und mit einer ziemlichen Glatze, das Gesicht vom ständigen Trinken aufgequollen und gelb, ja fast grünlich, mit geschwollenen Lidern, unter denen wie schmale Schlitze winzige, doch lebhafte gerötete Augen hervorblitzten. Aber irgend etwas sehr Sonderbares war an ihm: Aus seinem Blick strahlte etwas wie Verzückung – vielleicht auch Geist und Verstand –, doch zugleich leuchtete es darin wie Irrsinn. Er trug einen alten, völlig zerschlissenen schwarzen Frack mit abgerissenen Knöpfen. Ein einziger hing noch an einem Faden, und mit diesem hatte er den Frack zugeknöpft, offensichtlich weil er den Anstand nicht verletzen wollte. Unter seiner Nankingweste lugte ein völlig zerknittertes, beschmutztes und begossenes Chemisett hervor. Das Gesicht war, wie bei Beamten üblich, einst glattrasiert, aber das lag schon lange zurück, so daß es bereits von blaugrauen Bartstoppeln dicht bedeckt war. Auch seine Manieren hatten etwas durchaus Solides, Beamtenhaftes. Doch er schien in äußerster Unruhe, raufte sich die Haare und stützte ab und zu bekümmert den Kopf in beide Hände, die durchgewetzten Ellbogen auf den schnapsbegossenen und klebrigen Tisch gestemmt. Schließlich schaute er Raskolnikow direkt ins Gesicht und sagte laut und mit fester Stimme: »Darf ich es wagen, mein verehrter Herr, mich an Sie zu wenden und ein wohlanständiges Gespräch anzuknüpfen? Denn obwohl Sie keinen sehr gepflegten Eindruck machen, sagt mir meine Erfahrung, daß Sie ein gebildeter Mann sind, der das Trinken nicht gewöhnt ist. Ich habe geistige Bildung, gepaart mit Herzensbildung, stets geschätzt, und außerdem bin ich selbst Titularrat. Marmeladow ist mein Name, Titularrat. Darf ich fragen, ob Sie geruhen, im Staatsdienst tätig zu sein?«

»Nein, ich studiere …«, antwortete der junge Mann, einigermaßen verblüfft sowohl über die merkwürdige schwülstige Ausdrucksweise als auch darüber, daß man ihn so direkt und unverblümt angesprochen hatte. Obwohl es ihn gerade erst nach einem menschlichen Kontakt verlangt hatte, verspürte er beim ersten tatsächlich an ihn gerichteten Wort sogleich den gewohnten feindseligen und gereizten Widerwillen gegen jeden Fremden, der sich seiner Person näherte oder auch nur nähern wollte.

»Ein Student also oder ein ehemaliger Student«, rief der Beamte, »das dachte ich mir. Erfahrung, verehrter Herr, langjährige Erfahrung.« Und wie um sich selbst zu loben, führte er den Finger an die Stirn. »Sie waren Student oder kommen von der Wissenschaft! Gestatten Sie …« Er erhob sich schwankend, griff nach seiner Flasche und dem Glas und setzte sich zu dem jungen Mann, etwas schräg gegenüber. Er war angetrunken, sprach aber flüssig und reichlich viel, nur manchmal verhaspelte er sich und kam ins Stocken. Geradezu begierig stürzte er sich auf Raskolnikow, als hätte er ebenfalls einen Monat lang mit keinem Menschen gesprochen.

»Verehrter Herr«, begann er beinahe feierlich, »Armut ist keine Sünde, das ist wahr. Ich weiß auch, daß Trunksucht keine Tugend ist, das ist noch wahrer. Aber ein Bettlerdasein, verehrter Herr, ein Bettlerdasein ist eine Sünde. In der Armut bewahren Sie sich noch Ihre angeborenen hochsinnigen Gefühle, als Bettler können Sie das nie und nimmer. Als Bettler jagt man Sie nicht nur mit dem Stock, sondern fegt Sie mit dem Besen aus der menschlichen Gesellschaft hinaus, damit es besonders erniedrigend ist. Und das mit Recht, denn als Bettler bin ich zuallererst selbst bereit, mich zu erniedrigen. Daher auch das Trinken! Verehrter Herr, vor einem Monat hat Herr Lebesjatnikow meine Gattin geschlagen, und meine Gattin ist ganz und gar nicht so wie ich! Verstehen Sie? Gestatten Sie mir noch die Frage, einfach so, aus bloßer Neugier: Haben Sie schon einmal auf der Newa, auf den Heukähnen, genächtigt?«

»Nein, noch nie«, antwortete Raskolnikow. »Wieso fragen Sie danach?«

»Na, weil ich von dort herkomme, es ist schon die fünfte Nacht …«

Er goß sich ein, trank aus und versank in Nachdenken. In der Tat, auf seiner Kleidung und sogar in den Haaren sah man hier und dort haftengebliebene Heuhalme. Sehr gut möglich, daß er sich fünf Tage weder ausgezogen noch gewaschen hatte. Vor allem die Hände waren schmutzig, fettig und rot, die Fingernägel schwarz.

Sein Gerede schien allgemeine, wenn auch gedämpfte Aufmerksamkeit zu erregen. Die Bürschchen hinter dem Tresen begannen zu kichern. Der Wirt kam offenbar absichtlich aus dem oberen Raum herunter, um dem »Scherzbold« zuzuhören, und nahm ein Stück entfernt Platz, wobei er träge, aber nachdrücklich gähnte. Marmeladow war hier anscheinend ein alter Bekannter. Und auch seine Vorliebe, sich schwülstig auszudrücken, ging offensichtlich auf die Gewohnheit zurück, sich häufig mit allen möglichen Fremden in der Kneipe zu unterhalten. Diese Gewohnheit wird bei manchen Trinkern zum Bedürfnis, vor allem wenn sie zu Hause unter dem Pantoffel stehen und nichts zu sagen haben. Daher suchen sie sich bei ihren Trinkkumpanen gleichsam zu rechtfertigen und möglichst sogar Respekt zu erwecken.

»Scherzbold!« sagte der Wirt laut. »Warum arbeitest du denn nicht, warum gehen Sie nicht zum Dienst, wenn Sie Beamter sind?«

»Warum ich nicht zum Dienst gehe, verehrter Herr«, griff Marmeladow den Faden auf, wobei er sich ausschließlich an Raskolnikow wandte, als hätte der ihm die Frage gestellt, »warum ich nicht zum Dienst gehe? Bricht mir denn nicht selbst fast das Herz, daß ich so nutzlos herumlungere? Als Herr Lebesjatnikow vor einem Monat meine Gattin eigenhändig schlug und ich betrunken dalag, habe ich da etwa nicht gelitten? Gestatten Sie die Frage, junger Mann, ist es Ihnen schon passiert, daß Sie … nun … daß Sie ohne Hoffnung jemanden bitten mußten, Ihnen Geld zu leihen?«

»Gewiß ist mir das schon passiert … aber wieso ohne Hoffnung?«

»Nun, ich meine, völlig ohne jede Hoffnung, wenn man im voraus weiß, daß nichts dabei herauskommt. Wenn Sie beispielsweise von vornherein mit absoluter Sicherheit wissen, daß dieser höchst wohlgesinnte und höchst nutzbringende Bürger Ihnen um nichts in der Welt Geld geben wird, denn weshalb, frage ich, sollte er es wohl tun? Weiß er doch, daß ich es nicht zurückzahlen werde. Aus Mitleid? Aber Herr Lebesjatnikow, der sich für die neuen Ideen interessiert, hat erst unlängst erklärt, daß Mitleid heutzutage von der Wissenschaft geradezu verboten wird und man in England, wo es die politische Ökonomie gibt, bereits entsprechend verfährt. Weshalb, frage ich, sollte er es mir geben? Und obwohl Sie im voraus wissen, daß er es Ihnen nicht gibt, machen Sie sich trotz allem auf den Weg und …«

»Warum gehen Sie dann?« unterbrach ihn Raskolnikow.

»Und wenn man sonst niemanden hat, zu dem man gehen kann! Schließlich muß doch jeder Mensch wenigstens irgendwohin gehen können. Denn es gibt Zeiten, da muß man einfach irgendwohin gehen. Als meine einzige Tochter zum erstenmal mit dem gelben Schein auf die Straße ging, da bin auch ich losgegangen … Meine Tochter lebt nämlich mit dem gelben Schein«, fügte er gleichsam in Klammern hinzu und schaute etwas unruhig auf den jungen Mann. »Macht nichts, verehrter Herr, macht nichts!« beeilte er sich sogleich und anscheinend ruhig zu erklären, als die beiden Bürschchen hinter dem Tresen losprusteten und sogar der Wirt schmunzelte. »Macht nichts! Dieses Kopfschütteln geniert mich nicht, denn alle wissen ohnehin bereits alles, und alles Verborgene wird offenbar; ich nehme das nicht mit Verachtung hin, sondern mit Demut. Sollen sie, sollen sie doch! ›Sehet, welch ein Mensch!‹ Gestatten Sie, junger Mann: Können Sie … Nein, ich will es kräftiger und anschaulicher sagen: Nicht können Sie, sondern wagen Sie, wenn Sie mich jetzt so anschauen, ausdrücklich zu behaupten, daß ich kein Schwein bin?«

Der junge Mann erwiderte kein Wort.

»Nun denn«, fuhr der Redner unbewegt und sogar mit noch größerer Würde fort, nachdem er das erneut erfolgte Kichern abgewartet hatte. »Nun denn, mag ich ein Schwein sein, sie aber ist eine Dame! Ich bin ein Abbild des Tieres, Katerina Iwanowna, meine Gattin, aber ist eine gebildete Person und der Herkunft nach die Tochter eines Stabsoffiziers. Mag ich auch ein Schuft sein, meinetwegen – sie aber ist großmütig und dank ihrer Erziehung von edler Herzensbildung. Und trotzdem … hätte sie nur Mitleid mit mir! Verehrter Herr, verehrter Herr, schließlich braucht doch jeder Mensch wenigstens einen Ort, wo er Mitleid findet! Katerina Iwanowna aber ist zwar eine hochherzige Dame, aber ungerecht … Und obgleich ich sehr wohl begreife, daß, wenn sie mich an den Haaren zerrt, sie dies nur aus mitleidigem Herzen tut (denn, ich wiederhole es ohne Verlegenheit, sie zerrt mich an den Haaren, junger Mann«, bekräftigte er betont würdevoll, als er erneut das Kichern vernahm), »aber, mein Gott, wenn sie doch nur ein einziges Mal … Aber nein und nochmals nein! Alles ist vergebens, da hilft kein Reden! Denn nicht nur einmal ist mir widerfahren, was ich ersehne, und nicht nur einmal hat man mir Mitleid entgegengebracht, aber … das ist nun eben meine Natur, ich bin ein geborenes Vieh!«

»Und ob!« bestätigte der Wirt gähnend.

Marmeladow schlug mit der Faust energisch auf den Tisch.

»Das ist nun eben meine Natur! Wissen Sie, mein Herr, wissen Sie, daß ich sogar ihre Strümpfe vertrunken habe? Nicht etwa die Schuhe, das wäre ja noch irgendwie im normalen Rahmen, aber nein, die Strümpfe, ihre Strümpfe habe ich vertrunken! Und ihr Tuch aus feinster Ziegenwolle habe ich ebenfalls vertrunken, ein Geschenk von früher, das ihr persönlich und nicht mir gehörte; wir wohnen in einem kalten Loch, und sie hat sich in diesem Winter erkältet und zu husten angefangen, jetzt spuckt sie schon Blut. Wir haben drei kleine Kinder, und Katerina Iwanowna arbeitet von frühmorgens bis in die Nacht, sie putzt und scheuert und wäscht die Kinder, denn Sauberkeit ist sie von klein auf gewöhnt, aber sie ist schwach auf der Brust und neigt zur Schwindsucht, und ich fühle das. Meinen Sie, ich fühle das nicht? Und je mehr ich trinke, desto stärker fühle ich es. Deshalb trinke ich ja, weil ich im Trinken Mitleid und Mitgefühl suche. Nicht Freude suche ich, sondern nur Leid … Ich trinke, weil ich aus tiefster Seele leiden will!« Und wie verzweifelt ließ er den Kopf auf den Tisch sinken.

»Junger Mann«, fuhr er fort und richtete sich wieder auf, »in Ihrem Gesicht lese ich etwas wie Kummer. Als Sie eintraten, habe ich es bemerkt, deshalb habe ich mich sogleich an Sie gewandt. Denn wenn ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzähle, so nicht, um mich dem Schimpf und Spott dieser Tagediebe auszusetzen, denen ohnehin alles schon bekannt ist, sondern weil ich einen mitfühlenden und gebildeten Menschen suche. Wissen Sie, meine Gattin hat nämlich ein Pensionat für adlige Mädchen in der Gouvernementsstadt besucht und bei der Abschlußfeier in Anwesenheit des Gouverneurs und anderer Honoratioren mit dem Schal getanzt, wofür sie die Goldmedaille und eine Belobigungsurkunde erhielt. Die Goldmedaille, ja, die haben wir verkauft … schon vor langer Zeit … hm … die Urkunde aber bewahrt sie bis heute in ihrer Schatulle auf und hat sie erst unlängst der Hauswirtin gezeigt. Und obwohl sie sich mit ihr unentwegt herumzankt, wollte sie sich doch wenigstens vor irgendeinem Menschen brüsten und von den längst vergangenen glücklichen Tagen erzählen. Und ich nehme es ihr nicht übel, ganz und gar nicht, denn das ist das letzte, was ihr von ihren Erinnerungen geblieben ist, alles andere ist wie Spreu im Wind verflogen. Ja, ja; eine heißblütige Dame ist sie, stolz und unbeugsam. Sie schrubbt eigenhändig den Fußboden und lebt von Schwarzbrot, aber sie wird niemals dulden, daß man ihr den Respekt versagt. Deshalb wollte sie sich auch die Grobheit von Herrn Lebesjatnikow nicht gefallen lassen, und als Herr Lebesjatnikow sie dafür schlug, mußte sie sich nicht so sehr der Schläge wegen als wegen des verletzten Gefühls ins Bett legen. Ich habe sie geheiratet, als sie schon Witwe war, mit drei Kindern, eins kleiner als das andere. Ihren ersten Mann, einen Infanterieoffizier, hat sie aus Liebe geheiratet und ist mit ihm aus dem Elternhaus weggelaufen. Sie hat ihren Mann über alle Maßen geliebt, aber der fing an Karten zu spielen, wurde vor Gericht gestellt und ist darüber gestorben. Zuletzt hat er sie sogar geschlagen; und obwohl sie ihm das nicht schuldig blieb, wofür ich verbürgte Beweise habe, gedenkt sie seiner bis heute mit Tränen und hält ihn mir vor, und ich bin froh darüber, ich bin froh, weil sie doch wenigstens in ihrer Einbildung einst glücklich gewesen ist … Nach seinem Ableben blieb sie mit ihren drei kleinen Kindern in einem entlegenen und grauenvollen Nest zurück, wo auch ich mich damals aufhielt, und sie befand sich in einem so hoffnungslosen Elend, daß ich es, obwohl ich schon so manches Mißgeschick gesehen habe, nicht einmal beschreiben kann. Die Verwandten hatten sich alle von ihr losgesagt. Sie aber war stolz, über die Maßen stolz … Und da habe ich ihr, verehrter Herr, der ich ebenfalls verwitwet war und von meiner ersten Frau eine vierzehnjährige Tochter hatte, meine Hand angeboten, weil ich ein solches Elend nicht mit ansehen konnte. Welchen Grad ihre Notlage erreicht hatte, können Sie daraus ersehen, daß sie, eine gebildete und wohlerzogene Dame aus bester Familie, einwilligte, meine Frau zu werden! Und sie heiratete mich. Sie weinte und schluchzte und rang die Hände – aber sie heiratete mich! Weil sie nirgendwo hingehen konnte. Begreifen Sie, begreifen Sie das, verehrter Herr, was es heißt, wenn man nirgendwo mehr hingehen kann? Nein! Das können Sie noch nicht begreifen … Und ein ganzes Jahr lang habe ich hoch und heilig meine Pflicht getan und das hier« (er tippte mit dem Finger an die Schnapsflasche) »nicht angerührt, denn ich habe ja schließlich Gefühl. Aber auch das war noch nicht genug; dann verlor ich meine Anstellung, ebenfalls ohne mein Verschulden, wegen einer Etatveränderung, und da griff ich zur Flasche! … Anderthalb Jahre wird es wohl her sein, daß wir schließlich, nach langem Umherirren und vielen Schicksalsschlägen, in diese prächtige und mit zahlreichen Denkmälern geschmückte Hauptstadt gerieten. Und hier bekam ich eine Anstellung … Bekam sie und verlor sie wieder. Begreifen Sie? Diesmal aus eigenem Verschulden, denn meine Natur brach durch … Jetzt wohnen wir in einem Winkel, bei der Hauswirtin Amalia Fjodorowna Lippewechsel, aber wovon wir leben und womit wir bezahlen, das weiß ich nicht. Außer uns wohnen noch viele andere Leute dort … Sodom und Gomorrha, grauenvollst … hm … ja … Unterdessen ist auch meine Tochter, aus erster Ehe, herangewachsen, und was sie alles auszustehen hatte, mein Töchterchen, von ihrer Stiefmutter, während sie heranwuchs, darüber möchte ich lieber nicht sprechen. Denn obwohl Katerina Iwanowna von den edelsten Gefühlen beseelt ist, ist sie doch eine heißblütige und reizbare Dame und explodiert leicht … Ja! Doch wozu daran erinnern! Eine Erziehung hat Sonja, wie Sie sich vorstellen können, nicht erhalten. Ich habe vor etwa vier Jahren versucht, mit ihr Geographie und Weltgeschichte durchzugehen; aber da ich selbst in diesen Fächern nicht beschlagen war und außerdem auch keine anständigen Lehrbücher besaß, denn was für Schwarten hatte ich schon … hm … und auch die sind heute nicht mehr da, so fand der Unterricht damit sein Ende. Bei Kyros von Persien sind wir stehengeblieben. Später, als sie bereits herangereift war, las sie einige romanartige Bücher, erst unlängst, durch Vermittlung von Herrn Lebesjatnikow, hat sie mit großem Interesse ein Buch (die ›Physiologie‹ von Lewes, vielleicht kennen Sie es?) geradezu verschlungen und uns einige Passagen daraus sogar laut vorgelesen: Das ist ihre ganze Bildung. Und jetzt wende ich mich an Sie, verehrter Herr, und frage Sie ganz privat und persönlich: Meinen Sie, daß ein armes, aber anständiges Mädchen mit ehrlicher Arbeit viel verdienen kann? … Keine fünfzehn Kopeken am Tag verdient sie, mein Herr, wenn sie ehrbar ist und über keine besonderen Talente verfügt, und da muß sie sich schon sputen und darf die Hände nicht in den Schoß legen. Dabei hat ihr der Staatsrat Klopstock, Iwan Iwanowitsch (vielleicht kennen Sie ihn?), das Geld für das Nähen von einem Dutzend holländischer Hemden bis heute noch nicht gegeben, und nicht nur das, er hat sie sogar mit Schimpf und Schande davongejagt, hat mit den Füßen aufgestampft und sie unflätig beschimpft, unter dem Vorwand, der Hemdkragen sei nicht nach Maß genäht und säße schief. Und zu Hause die hungrigen Kinder … Katerina Iwanowna aber geht, die Hände ringend, im Zimmer auf und ab, und auf ihre Wangen treten rote Flecken, wie es bei dieser Krankheit so üblich ist. ›Du lebst hier auf unsere Kosten, du Schmarotzerin, ißt und trinkst und sitzt im Warmen‹ – was heißt ißt und trinkst, wo selbst die Kleinen drei Tage lang nicht eine Brotrinde zu sehen bekamen! Ich lag damals … nun, was soll’s! … ich lag betrunken da und höre, wie meine Sonja sagt (sie ist so demütig und hat ein so sanftes Stimmchen … hellblond ist sie, das Gesichtchen immer blaß und mager), wie sie sagt: ›Meinen Sie wirklich, Katerina Iwanowna, daß ich so etwas tun soll?‹ Darja Franzewna, ein böswilliges und der Polizei nur allzu gut bekanntes Frauenzimmer, hat nämlich schon dreimal durch die Hauswirtin nachfragen lassen. ›Na und‹, antwortet Katerina Iwanowna spöttisch, ›wozu aufheben? Schönes Kleinod das!‹ Aber verurteilen Sie sie nicht, verehrter Herr, verurteilen Sie sie nicht! Sie war ihrer Sinne nicht mächtig, als sie das sagte, sondern außer sich vor Erregung, dazu ihre Krankheit, das Weinen der hungrigen Kinder, und sie sagte es mehr, um sie zu kränken, als im buchstäblichen Sinne … Denn das ist nun mal Katerina Iwanownas Charakter, sowie die Kinder zu weinen anfangen, und sei’s vor Hunger, gleich schlägt sie zu. Und ich sehe, so zwischen fünf und sechs, wie Sonetschka aufstand, ihr Tüchlein umband, die Pelerine anzog und die Wohnung verließ und gegen neun wieder zurückkam. Sie kam, ging geradewegs zu Katerina Iwanowna und legte stumm dreißig Rubel vor ihr auf den Tisch. Nicht ein einziges Wort sagte sie dabei, schaute sie nicht einmal an, sondern nahm nur unser großes grünes Drap-de-dames-Tuch (wir haben so ein gemeinsames, ein Drap-de-dames-Tuch), hüllte den Kopf und das Gesicht völlig darin ein und legte sich aufs Bett, das Gesicht zur Wand, nur die schmalen Schultern und der ganze Körper zuckten immerzu … Aber ich lag noch in demselben Zustand da wie zuvor … Und da sah ich, junger Mann, da sah ich, wie Katerina Iwanowna, ebenfalls ohne ein Wort zu sagen, zu Sonetschkas Bettchen trat und den ganzen Abend zu ihren Füßen kniete, ihr die Füße küßte und nicht mehr aufstehen wollte, und wie dann beide so einschliefen, einander umarmend, ja, beide, einander umarmend … und ich, ich lag betrunken da.«

Marmeladow verstummte, als versagte ihm die Stimme. Dann goß er sich plötzlich eilig ein, trank aus und räusperte sich.

»Seit der Zeit, mein Herr«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »seit der Zeit mußte, infolge eines unglückseligen Zufalls und der Anzeige böswilliger Personen (woran Darja Franzewna besonders beteiligt war, angeblich, weil wir es an dem gebührenden Respekt ihr gegenüber haben fehlen lassen), seit der Zeit also mußte meine Tochter, Sofja Semjonowna, sich den gelben Schein besorgen und durfte aus diesem Grunde nicht mehr bei uns bleiben. Denn sowohl die Wirtin, Amalia Fjodorowna, wollte das nicht erlauben (dabei hat sie selbst Darja Franzewna früher darin unterstützt) als auch Herr Lebesjatnikow … hm … Wegen Sonja ist ja auch diese Geschichte mit Katerina Iwanowna passiert. Erst hatte er selbst was von Sonetschka gewollt, dann aber spielte er plötzlich den Beleidigten: ›Was, ich, ein gebildeter Mann, soll in ein und derselben Wohnung mit so einer da leben?‹ Katerina Iwanowna nahm das nicht hin, sondern verteidigte sie … nun, und da ist es eben passiert … Jetzt kommt Sonetschka mehr in der Dämmerung zu uns, sie greift Katerina Iwanowna unter die Arme und hilft ihr auch nach Kräften mit Geldmitteln aus … Sie wohnt bei dem Schneider Kapernaumow, hat sich dort eingemietet, Kapernaumow aber ist lahm und stottert, und seine ganze zahlreiche Familie stottert ebenfalls. Auch seine Frau stottert … Sie hausen in einem einzigen Zimmer, Sonja aber hat ihr eigenes, hinter einer Trennwand … Hm, ja … Ganz arme Leute, und stottern … ja … Kaum war ich am nächsten Morgen aufgestanden, zog ich meine Lumpen an, hob die Arme zum Himmel und begab mich zu Seiner Exzellenz Iwan Afanassjewitsch. Geruhen Sie, Seine Exzellenz Iwan Afanassjewitsch zu kennen? … Nein? Nun, dann kennen Sie einen gottgefälligen Menschen nicht! Er ist Wachs … Wachs vor dem Angesicht des Herrn; er schmilzt wie Wachs dahin! … Er brach sogar in Tränen aus, nachdem er geruht hatte, sich alles anzuhören … ›Nun‹, sagt er, ›Marmeladow, einmal hast du schon meine Erwartungen enttäuscht … Ich nehme dich noch einmal, auf meine eigene Verantwortung‹, so sagte er, ›merk dir das, und nun geh!‹ Ich küßte den Staub seiner Füße, in Gedanken, denn in Wirklichkeit hätte er das nicht gestattet, als hoher Würdenträger und Mann des neuen gesellschaftlichen und aufgeklärten Denkens; ich kehrte nach Hause zurück, und als ich erzählte, daß ich wieder in den Dienst aufgenommen sei und Gehalt bekommen würde, großer Gott, was da los war!«

Marmeladow hielt erneut in heftiger Erregung inne. In diesem Augenblick kam von der Straße eine ganze Horde ohnehin bereits betrunkener Saufbolde herein, und am Eingang erklang ein gemieteter Leierkasten und das brüchige Stimmchen eines siebenjährigen Kindes, das den »Bauernhof« sang. Es wurde laut. Der Wirt und die Bedienung kümmerten sich um die Ankömmlinge. Marmeladow aber schenkte ihnen keine Beachtung und erzählte weiter. Wie es schien, war er schon recht erschöpft, aber je mehr er trank, desto redseliger wurde er. Die Erinnerung an den kürzlichen Erfolg in bezug auf die Anstellung schien ihn zu beleben und verlieh seinem Gesicht sogar ein gewisses Leuchten. Raskolnikow hörte aufmerksam zu.

»Das war vor fünf Wochen, mein Herr. Ja … Kaum hatten die beiden, Katerina Iwanowna und Sonetschka, davon erfahren, großer Gott, da war’s, als sei ich ins Himmelreich gekommen. Früher lag ich da wie ein Stück Vieh und wurde nur beschimpft. Jetzt aber gehen sie auf Zehenspitzen und ermahnen die Kinder: ›Semjon Sacharytsch ist müde vom Dienst und ruht sich aus, pst!‹ Vor dem Dienst setzten sie mir Kaffee vor, mit heißer Sahne! Richtige Sahne haben sie besorgt, hören Sie? Und wo sie das Geld für einen anständigen Aufzug zusammengekratzt haben, elf Rubel und fünfzig Kopeken, ist mit unbegreiflich. Stiefel, Kalikovorhemden – ganz prächtige, einen Uniformrock, alles haben sie für elfeinhalb Rubel aufs allerfeinste irgendwie beschafft. Ich komme am ersten Vormittag vom Dienst und sehe: Katerina Iwanowna hat zwei Gerichte zubereitet, Suppe und Pökelfleisch mit Meerrettich, woran bis dahin überhaupt nicht zu denken war. Kleider hat sie keine, wirklich überhaupt keine, aber jetzt sah sie aus, als wollte sie zu Besuch gehen, sie hatte sich herausgeputzt, und ohne daß sie etwas gehabt hätte, nein, aus nichts verstehen sie eben alles zu machen: Sie frisieren sich, legen ein sauberes Krägelchen um, Manschettchen – und schon steht ein ganz anderer Mensch da, viel jünger und hübscher geworden. Sonetschka, mein Täubchen, hat nur Geld beigesteuert, aber für mich, sagt sie, schickt es sich vorläufig nicht, so oft bei euch zu sein, höchstens in der Dämmerung, damit es niemand sieht. Hören Sie, hören Sie? Nach dem Essen mache ich ein Schläfchen, und was meinen Sie wohl, da hält es doch Katerina Iwanowna nicht aus: Vor einer Woche erst hat sie sich mit der Wirtin, mit Amalia Fjodorowna, aufs schlimmste zerstritten, und jetzt lädt sie sie zu einer Tasse Kaffee ein. Zwei Stunden haben sie zusammengesessen und immerzu geflüstert: ›Semjon Sacharytsch ist nämlich wieder im Dienst und bekommt Gehalt, er ist höchstpersönlich zu Seiner Exzellenz gegangen, und Seine Exzellenz ist höchstpersönlich herausgekommen, hat alle warten geheißen und hat Semjon Sacharytsch am Arm genommen und in sein Arbeitszimmer geführt.‹ Hören Sie, hören Sie? ›Natürlich erinnere ich mich Ihrer Verdienste, Semjon Sacharytsch, sagt er, und obwohl Sie dieser leichtsinnigen Schwäche verfallen sind, so haben Sie mir doch schon das Versprechen gegeben, und da es obendrein ohne Sie schlecht bei uns gelaufen ist‹ (hören Sie, hören Sie nur!), ›so verlasse ich mich jetzt, sagt er, auf Ihr Ehrenwort.‹ Das alles, wissen Sie, hat sie sich ausgedacht und zusammengereimt, aber nicht etwa aus Leichtfertigkeit oder purer Prahlerei! Nein, sie selber glaubt an all das, sie erfreut sich an ihren eigenen Wunschträumen, bei Gott! Und ich nehme ihr das nicht übel, nein, ich nehme ihr das nicht übel! … Als ich vor sechs Tagen mein erstes Gehalt – dreiundzwanzig Rubel und vierzig Kopeken – vollzählig heimbrachte, da nannte sie mich ihr Schätzelchen: ›Du bist ein richtiges Schätzelchen‹, sagt sie. Und das unter vier Augen, verstehen Sie? Und dabei, was bin ich denn schon für eine Schönheit, was bin ich denn schon für ein Ehemann? Aber sie kneift mich in die Wange: ›Ein richtiges Schätzelchen bist du‹, sagt sie.«

Marmeladow hielt inne, wollte lächeln, aber plötzlich begann sein Kinn heftig zu zucken. Er beherrschte sich jedoch. Die Kneipe, das verwahrloste Äußere, die fünf Nächte auf den Heukähnen und die Schnapsflasche, und auf der anderen Seite diese krankhafte Liebe zu seiner Frau und seiner Familie, das brachte seinen Zuhörer völlig aus der Fassung. Raskolnikow lauschte gespannt, doch mit einem schmerzhaften Gefühl. Er ärgerte sich, daß er hierhergekommen war.

»Verehrter Herr, verehrter Herr«, rief Marmeladow, nachdem er sich wieder gefangen hatte, »o mein Herr, Ihnen kommt das alles vielleicht lächerlich vor, wie den anderen auch, und ich belästige Sie nur mit all diesen albernen und erbärmlichen Einzelheiten aus meinem häuslichen Leben, mir aber ist nicht zum Lachen! Denn ich fühle das alles … Und während dieses ganzen glückseligsten Tages in meinem Leben und dieses ganzen Abends wiegte ich mich selbst in flüchtigen Träumen: wie ich das alles einrichten wollte, wie ich die Kinderchen kleiden, ihr selber Ruhe schenken und meine leibliche Tochter aus der Ehrlosigkeit in den Schoß der Familie zurückholen würde … Und noch vieles, vieles mehr … Mit Verlaub, mein Herr. Nun, mein Herr« (Marmeladow schien plötzlich zusammenzuzucken, hob den Kopf und blickte starr auf seinen Zuhörer), »nun, und am nächsten Tag, nach all den Träumereien, das heißt vor genau fünf Tagen also, gegen Abend, habe ich auf hinterhältige Weise, wie ein Dieb in der Nacht, den Schlüssel von Katerina Iwanownas Schatulle entwendet, das restliche Geld von dem heimgebrachten Gehalt herausgenommen, wieviel, weiß ich schon nicht mehr, und nun seht mich an, alle! Den fünften Tag schon bin ich von zu Hause fort, und dort suchen sie mich, mit meiner Stellung ist es aus, und meine Beamtenuniform liegt in einer Kneipe an der Ägyptischen Brücke, für sie habe ich diesen Aufzug hier bekommen … und alles ist zu Ende!«

Marmeladow schlug sich mit der Faust gegen die Stirn, biß die Zähne zusammen, schloß die Augen und stützte sich mit dem Ellbogen fest auf den Tisch. Doch nach einer Minute veränderte sich sein Gesichtsausdruck plötzlich, er schaute Raskolnikow mit gespielter Schläue und vorgegebener Dreistigkeit an, lachte auf und sagte: »Und heute war ich bei Sonja und hab sie um Geld angepumpt, um den Kater hinunterzuspülen, hähähä!«

»Hat sie dir welches gegeben?« rief einer von den Neuankömmlingen herüber und lachte aus voller Kehle los.

»Diese Schnapsflasche hier ist von ihrem Geld gekauft«, sagte Marmeladow, nur an Raskolnikow gewandt. »Dreißig Kopeken hat sie mir herausgebracht, eigenhändig, die letzten, alles, was sie hatte, mit eigenen Augen hab ich’s gesehen … Sie hat nichts gesagt, nur stumm angeschaut hat sie mich … So trauert und weint man um einen Menschen … nicht hier, auf Erden, sondern dort … und macht keinen Vorwurf, keinen Vorwurf! Aber das tut mehr weh, viel mehr, wenn man keinen Vorwurf macht! … Dreißig Kopeken, ja … Und dabei braucht sie sie jetzt doch selber, oder? Was meinen Sie, mein lieber Herr? Schließlich muß sie doch jetzt auf Sauberkeit achten. Und diese Sauberkeit, eine ganz besondere Sauberkeit, verstehen Sie, kostet doch Geld. Verstehen Sie? Na, da muß man Pomaden kaufen, ohne die geht’s nicht; gestärkte Unterröcke und Stiefelchen, besonders raffinierte, um das Füßchen zu zeigen, wenn man über eine Pfütze steigt. Verstehen Sie, mein Herr, verstehen Sie, was diese Sauberkeit bedeutet? Und ich, ihr leiblicher Vater, habe ihr diese dreißig Kopeken da weggenommen, um meinen Kater hinunterzuspülen. Und trinke weiter! Habe sie bereits vertrunken! … Wer soll denn so einen wie mich bemitleiden? Was? Haben Sie Mitleid mit mir, mein Herr, oder nicht? Sagen Sie, mein Herr, haben Sie Mitleid oder nicht? Hähähähä!«

Er wollte sich einschenken, aber es war nichts mehr in der Flasche. Sie war leer.

»Dich und bemitleiden?« rief der Wirt, der sich wieder in ihrer Nähe aufhielt.

Gelächter und sogar Schimpfworte ertönten. Es lachten und schimpften die zugehört und die nicht zugehört hatten, allein über den Anblick des ehemaligen Beamten.

»Bemitleiden! Warum mich bemitleiden?« heulte Marmeladow plötzlich auf, erhob sich und streckte die Hand aus, wie in Ekstase, als hätte er nur auf diese Worte gewartet. »Warum mich bemitleiden, sagst du? Ja, ich verdiene es nicht, bemitleidet zu werden! Kreuzigen müßte man mich, ans Kreuz schlagen und nicht bemitleiden! Kreuzige ihn, Richter, kreuzige ihn, aber wenn du ihn gekreuzigt hast, erbarme dich seiner! Und dann werde ich selbst zu dir kommen zur Kreuzigung, denn nicht nach Freude dürste ich, sondern nach Leid und Tränen! … Denkst du denn, du Schnapsverkäufer, daß deine Flasche hier mir Lust bereitet hat? Leid, Leid habe ich auf ihrem Grund gesucht, Leid und Tränen, und ich habe sie gekostet, habe sie gefunden; und erbarmen wird sich unser der, der sich aller erbarmte und der alle und alles versteht, er ist der einzige, und er ist auch der Richter. Er wird an jenem Tag kommen und fragen: ›Wo ist die Tochter, die sich für die böse, schwindsüchtige Stiefmutter und für die fremden kleinen Kinder geopfert hat? Wo ist die Tochter, die sich ihres irdischen Vaters, eines schändlichen Trunkenbolds, erbarmte und nicht vor seiner Vertiertheit zurückschreckte?‹ Und er wird sagen: ›Komm her! Ich habe dir schon einmal vergeben … habe dir schon einmal vergeben … Auch jetzt werden dir deine vielen Sünden vergeben, denn du hast viel geliebt …‹ Und er wird meiner Sonja vergeben, er wird ihr vergeben, ich weiß, daß er ihr vergeben wird … Ich habe es in meinem Herzen gefühlt, vorhin, als ich bei ihr war! Und alle wird er richten und allen vergeben, den Guten und den Bösen, den Weisen und den Demütigen … Und wenn er sie alle gerichtet hat, dann wird er auch zu uns sagen: ›Kommt‹, wird er sagen, ›kommt auch ihr! Kommt her, ihr Trunkenbolde, ihr Schwachen und Schamlosen!‹ Und wir werden alle, ohne Scheu, kommen und vor ihn treten. Und er wird sagen: ›Schweine seid ihr! Ihr seid Abbilder des Tieres und sein Siegel; aber kommt auch ihr!‹ Und die Weisen und Klugen werden aufbegehren: ›O Herr! Warum nimmst du auch sie auf?‹ Und er wird sagen: ›Darum nehme ich sie auf, ihr Weisen, darum nehme ich sie auf, ihr Klugen, weil nicht ein einziger von ihnen sich selbst dessen für würdig gehalten hat …‹ Und er wird seine Hände nach uns ausstrecken, und wir werden zu Boden fallen … und weinen … und alles verstehen! Dann verstehen wir alles! … Und alle werden es verstehen … auch Katerina Iwanowna … auch sie wird es verstehen … Herr, dein Reich komme!«

Und er ließ sich auf die Bank sinken, kraftlos und erschöpft, ohne jemanden anzusehen, als hätte er, wie geistesabwesend, alles ringsum vergessen. Seine Worte riefen einen gewissen Eindruck hervor; für ein Weilchen herrschte Schweigen, aber bald erklangen wieder Lachen und Schimpfen wie zuvor.

»Redet was zusammen!«

»Ein Spinner!«

»Der und ein Beamter!«

Und so weiter und so fort.

»Lassen Sie uns gehen, mein Herr«, sagte Marmeladow plötzlich zu Raskolnikow und hob den Kopf, »begleiten Sie mich … Das Koselsche Haus, Hinterhof. Es ist Zeit … zu Katerina Iwanowna …«

Raskolnikow hatte längst gehen wollen; er hatte selbst schon daran gedacht, ihm behilflich zu sein. Marmeladow erwies sich auf den Beinen viel schwächer als mit der Zunge und stützte sich schwer auf den jungen Mann. Sie hatten zwei- bis dreihundert Schritte zu gehen. Je näher sie dem Haus kamen, desto unruhiger und ängstlicher wurde der betrunkene Marmeladow.

»Ich fürchte mich jetzt nicht vor Katerina Iwanowna«, murmelte er erregt, »und nicht davor, daß sie mich an den Haaren zerrt. Was bedeuten schon die Haare! Völlig belanglos! Wirklich wahr! Es ist sogar besser, wenn sie anfängt, mich an den Haaren zu zerren, nicht davor fürchte ich mich … Ich fürchte mich … vor ihren Augen … ja … vor ihren Augen … Vor den roten Flecken auf den Wangen fürchte ich mich ebenfalls … und außerdem … vor ihrem Atmen. Hast du schon einmal gesehen, wie man bei dieser Krankheit atmet … wenn man erregt ist? Vor dem Weinen der Kinder fürchte ich mich ebenfalls … Denn wenn Sonja ihnen nichts zu essen gebracht hat, dann … weiß ich nicht mehr aus und ein, nein, ich weiß es nicht! Vor Schlägen fürchte ich mich nicht … Weißt du, Herr, solche Schläge verursachen mir keinen Schmerz, sondern bereiten mir geradezu Genuß. Ohne sie würde mir etwas fehlen. Es ist besser so. Soll sie nur zuschlagen, ihrem Herzen Luft machen, es ist besser so … Hier ist schon das Haus. Es gehört dem Schlosser Kosel, einem reichen Deutschen … Begleite mich!«

Sie gingen vom Hof aus ins vierte Geschoß. Je höher sie stiegen, desto dunkler wurde die Treppe. Es war schon fast elf Uhr, und obwohl es in dieser Jahreszeit in Petersburg keine richtige Nacht gibt, war es am obersten Treppenabsatz sehr finster.

Eine kleine verrußte Tür am Ende der Treppe, ganz oben, stand offen. Ein Lichtstummel erleuchtete ein äußerst armseliges Zimmer von etwa zehn Schritt Länge; es war vom Flur aus vollständig zu überblicken. Alles lag unordentlich und verstreut herum, vor allem irgendwelche zerlumpten Kindersachen. Die hintere Ecke war durch ein löchriges Laken abgeteilt. Dahinter befand sich wahrscheinlich das Bett. Im Zimmer selbst gab es lediglich zwei Stühle und ein völlig abgewetztes Wachstuchsofa, vor dem ein alter Küchentisch aus Fichtenholz stand, weder gestrichen noch mit etwas bedeckt. Am Tischende stand in einem eisernen Kerzenleuchter ein heruntergebranntes Talglicht. Wie sich herausstellte, bewohnte Marmeladow zwar ein eigenes Zimmer und nicht nur einen Winkel, aber es war ein Durchgangszimmer. Die Tür zu den weiteren Räumen oder eher Käfigen, in die die Wohnung von Amalia Lippewechsel aufgeteilt war, stand halb offen. Dort gab es Lärm und Geschrei. Es wurde laut gelacht. Offensichtlich spielte man Karten und trank Tee. Ab und zu hörte man von dort äußerst derbe Ausdrücke.

Raskolnikow erkannte Katerina Iwanowna augenblicklich. Es war eine schrecklich abgemagerte Frau, zerbrechlich, ziemlich groß und schlank, mit noch immer schönem dunkelblondem Haar und tatsächlich auffälligen roten Flecken auf den Wangen. Sie ging in ihrem nicht sehr großen Zimmer auf und ab, die Hände an die Brust gepreßt, mit verkrusteten Lippen, und atmete unregelmäßig und stoßweise. Ihre Augen glänzten wie im Fieber, aber der Blick war stechend und starr, und dieses schwindsüchtige und erregte Gesicht machte beim letzten Schein des heruntergebrannten Talglichts, der darauf flackerte, einen krankhaften Eindruck. Raskolnikow schätzte sie auf etwa dreißig Jahre, und sie paßte wirklich nicht zu Marmeladow … Die Eintretenden hörte und bemerkte sie nicht. Sie wirkte geistesabwesend und sah und hörte nichts. Obwohl es im Zimmer stickig war, hatte sie das Fenster nicht geöffnet; von der Treppe roch es abscheulich, aber die Tür zum Treppenhaus war nicht geschlossen; aus den hinteren Räumen drangen durch die halboffene Tür ganze Schwaden von Tabaksqualm, sie hustete, machte aber die Tür nicht zu. Das jüngste Kind, ein vielleicht sechsjähriges Mädchen, schlief auf dem Fußboden, halb sitzend und zusammengekauert, den Kopf an das Sofa gelehnt. Ein Junge, ein Jahr älter als sie, stand am ganzen Leibe zitternd in der Ecke und weinte. Man hatte ihn offenbar eben geschlagen. Die älteste, ein etwa neunjähriges Mädchen, lang und dünn wie ein Streichholz, nur mit einem fadenscheinigen, ganz zerrissenen Hemd bekleidet und um die nackten Schultern ein abgewetztes Drap-de-dames-Mäntelchen geworfen, das man ihr offensichtlich schon vor zwei Jahren genäht hatte, weil es ihr jetzt nicht einmal mehr bis an die Knie reichte, stand in der Ecke neben dem kleinen Bruder und hatte ihren streichholzdünnen Arm um seinen Hals geschlungen. Sie schien ihn zu beschwichtigen, flüsterte ihm etwas ins Ohr und tat alles mögliche, damit er nicht wieder losheulte, zugleich aber folgte sie mit ihren übergroßen dunklen Augen, die in dem abgemagerten, erschrockenen Gesichtchen noch größer wirkten, voller Angst der Mutter. Ohne das Zimmer zu betreten, fiel Marmeladow gleich in der Tür auf die Knie und schob Raskolnikow vor. Als die Frau den Fremden erblickte, blieb sie zerstreut vor ihm stehen, kam einen Augenblick zur Besinnung und schien sich zu fragen: Warum ist der hier? Aber gleich darauf nahm sie wahrscheinlich an, daß er in eins der anderen Zimmer gehen würde, da ihr eigenes ja ein Durchgangszimmer war. Infolgedessen beachtete sie ihn nicht weiter, ging zur Flurtür, um sie zu schließen, und schrie plötzlich auf, als sie direkt auf der Schwelle ihren Mann knien sah.

»Ah«, rief sie außer sich vor Wut, »er ist wieder da! Verbrecher! Unmensch! … Und wo ist das Geld? Was hast du in der Tasche? Herzeigen! Und was ist das für ein Aufzug? Wo ist dein Rock? Und wo das Geld? Raus mit der Sprache!«

Und sie stürzte sich auf ihn, um ihn zu durchsuchen. Marmeladow streckte sogleich gehorsam und unterwürfig die Arme nach beiden Seiten aus, um ihr die Durchsuchung seiner Taschen zu erleichtern. Es war nicht eine einzige Kopeke darin.

»Wo ist das Geld?« kreischte sie. »O Gott, hat er wahrhaftig alles vertrunken? Es waren doch noch zwölf Rubel in der Schatulle!« Und plötzlich packte sie ihn, rasend vor Wut, an den Haaren und schleifte ihn ins Zimmer. Marmeladow selbst erleichterte ihr die Arbeit, indem er demütig hinter ihr auf den Knien herrutschte.

»Auch das bereitet mir Genuß! Auch das bereitet mir nicht Schmerz, sondern Genuß, verehrter Herr«, rief er, während er an den Haaren geschleift wurde und sogar einmal mit der Stirn gegen den Fußboden stieß. Das Kind, das auf dem Fußboden schlief, erwachte und fing an zu weinen. Der Junge in der Ecke konnte sich nicht länger beherrschen, begann zu zittern, zu schreien und stürzte in panischem Schrecken, fast in einer Art Anfall, zu seiner Schwester. Das ältere Mädchen bebte schlaftrunken wie Espenlaub.